Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Drittes Gebot III

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Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)
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Drittes Gebot III.
Du sollst den Feiertag heiligen!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten; sondern dasselbige heilig halten, gerne hören und lernen.

 Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege, und meine Gedanken, denn eure Gedanken. Jes. 55. 8, 9.


 Zwei Worte sind es, Gemeinde des Herrn, mit denen ich heute vor dich treten möchte. Das eine Wort ist aus der Tiefe der Not und Anfechtung gesprochen, wie ein Menschenherz sie hat und kennt, und das andere Wort aus der Tiefe der Anfechtung geredet, wie der Herr Christus, in einer schwersten Stunde allein, sie erfuhr; als Er dort vom unerkannten und doch erfühlten Feinde, umgeben von Versuchungen über die Treue seines himmlischen Vaters und über die Gewißheit seines Weges, umgarnt, umdroht und umdrängt ward, nirgend eine Hilfe und nirgend Heil sich fand, da hat Er, um aller feindlichen Widerwärtigkeit widerstehen zu können, das eine Wort gesprochen: Es stehet geschrieben. Mit diesem Worte hat Er sich getröstet, mit diesem Worte tröstet Er uns.

 Und so steht auch das andere Wort geschrieben, das am vorigen Sonntag durch so viele Herzen klang und zog: Sprich nur ein Wort, so wird dein Knecht gesund! Keine Rede, keinen wohldurchdachten Vortrag, keine leuchtenden Lehr- und Weisheitssprüche, nichts von den Tiefen der| Geheimnisse, die die hohen Geister ersinnen und durchschauen, sondern nur ein Wort, welches vom Mitleid geboren und von der Allmacht getragen ist.

 Seht, Geliebte, die zwei Worte nehmt mit in euer Heim, in euer Herz, in euer Leben und in euer Leiden: Es steht geschrieben! und niemand kann dieses Wort zerreißen und zerteilen. Die Wellen steigen an und kehren zurück, aber das Wort bleibt. Sie haben es verspottet und verhöhnt, bezweifelt und belächelt, mit Hohn bedeckt und mit Kritik überschüttet; sie verkünden dir’s jetzt aus den Anschlagsäulen neben dem greulichen Bild des Hexensabbats, daß das Christentum gefallen sei. Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer und der Herr spottet ihrer. Er wird mit ihnen reden in seinem Zorn. Was ist seit Tausenden von Jahren gegen dieses Wort geredet worden! Wie hat man sich bemüht es zu verkleinern: ein dumpfes, ein totes, ein lächerliches, ein armes, ein armseliges, ein betörendes, ein betrügendes Wort. Und doch haben Tausende dieses Wort an ihr klopfendes Herz gedrückt und es mit ihren erkaltenden Fingern umfaßt und haben das brechende Auge darauf gerichtet. Und aus tausend Herzen klingt es noch heute: Wenn Dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir ist nicht um tausend Welten, aber um Dein Wort zu tun. Wie wunderbar! muß ich manchmal denken, was der hochgelehrte Akademiker schreibt, das ist truglos und was euere Tageszeitung schreibt, das muß gelten – sonst würde es ja nicht gedruckt werden – und die albernsten Einfälle gegen das Wort Gottes haben immer ein gläubiges Publikum, aber dieses Wort soll nicht gelten! Was der Mensch des Augenblicks sagt, darauf schwören viele und was der Gott der Ewigkeit sagt, das gilt ihnen nicht. Die ungereimtesten Worte, wenn sie nur das Wort Gottes verwerfen, werden als ein neues Evangelium gepriesen und das alte Wort wird verachtet!

|  Nimm es in dein Herz und leg es in dein Gewissen: Es stehet geschrieben. Es steht geschrieben. Was Gott in die Zeit schrieb, was Er ins Herz legte, was Er in Schrift gefaßt sein läßt, das bleibt und steht und kann nicht fallen. Denn mit dem letzten Buchstaben fällt der, der ihn schrieb, und mit dem letzten Worte geht der zu Grabe, der es gesprochen hat: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.“ Und das andere: wenn die Kraft zum Beten weichen und der Ausblick der Hilfe ferne treten will und du kaum die Hände vor den Augen siehst und lauter Nebel und Nacht dich umgibt, dann rufe aus Herzensgrund: weil es geschrieben steht, sprich nur ein Wort; gerade das Wort, das ich brauche! Ich begehre kein großes – das könnte ich nicht fassen, und kein schweres – das könnte ich nicht tragen, und kein leuchtendes – das könnte mein Auge nicht in sich schließen. Aber sprich nur ein Wort, ein einziges, daß ich deines Schweigens verlustig gehe und deine heillose Ruhe nicht ertragen muß. Sprich nur ein Wort!

 Laßt mich nun drei ganz einfache Gesichtspunkte in dieser Abendstunde euch darstellen:

Von wem ist dieses Wort gesprochen?
Für wen ist es gesprochen?
Wozu ist es gesprochen?

 Von wem ist dieses Wort gesprochen? Dieses Wort, wie ihr es hier in eurer Bibel habt. Ihr sagt alle: es ist von Gott eingegeben.

 Habt ihr wohl schon überlegt, was es Großes ist, wenn im Alten Testament die Propheten anheben: So spricht der Herr! In die Nacht des tiefen, dumpfen Schweigens, über die Wellen des bebenden Völkermeeres, in die Zeiten des Verfalles, in die Zeiten des Unterganges, in diese schwere, bange Zeit spricht der Herr! In die Ungewißheit,| da einer den andern nicht mehr kennt noch versteht, in die Unsicherheit, da keiner dem andern mehr traut, in die Ängstlichkeit, da das Weib dem angetrauten Gemahl, der Mann dem Weibe seiner Wahl nicht mehr ganz glauben kann, in diese Zerfahrenheit und Auflösung aller Verhältnisse spricht der Herr. Alles vergeht, Staub zu Staub, Asche zu Asche, Geschlechter drängen sich von der Weltbühne hinab in den Abgrund, Völker vergehen, Welten stürzen zusammen, und in diesen großen Weltenbrand, in diese Verstörung all dessen, was bleibt, spricht der Herr. In die Schöne der Kunst und des Klanges, in die Herrlichkeit der Farbe und des Bildes, in die wunderbar seligen Melodien und höllischen Klänge, in diese ganze wundersame Welt spricht der Herr. Und in eines einzelnen Menschen Herz, eines armen Hirten, eines landflüchtigen Wanderers, eines Fischers, der über zerrissenen Netzen weint und am morschen Kahne einsam lehnt, spricht der Herr. In die Seele eines, der den Pfad verloren, in das enttäuschte Leben eines Weibes, das verraten hat und verraten ist, in die Tränen der Sünderin, die ihre Salbe vor ihm ausgießt, in die suchende Seele des auf dem Wege nach Damaskus Schreitenden spricht der Herr. Seht, keine Welt ist ihm zu groß, daß Er nicht sie übertönte, übermöchte. Und keine Welt ist ihm zu klein, daß Er ihr nicht sein teueres Wort gönnte. Er ruft in die Weiten, in die Jahrtausende hinein und Er spricht in die kurze Spanne eines Menschenlebens. Er wendet sich an Jahrhunderte als Tröster und Er begibt sich zu einem einzelnen Armen, den die Welt nicht nennt und nie kennen wird. So spricht der Herr.
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 Und dieser Herr, so sage ich, will mich nicht betrügen, denn Er ist treu. Und wenn sie es mir tausendmal nachweisen würden, daß dieses Wort sich widerspricht, daß es nicht so sein kann, daß es nicht so sein darf, so würde ich aus der Erfahrung meines Lebens und aus der Vergebung| meiner Sünde und aus dem Trost meiner Tage heraus bezeugen: Treu ist Gott und kein Böses an ihm.

 Er will mich nicht täuschen; Er gibt mir nicht einen Stab in die Hand, auf den ich mich stütze, daß er mir durch die Hand gehe und mich verwunde. Er führt mich nicht an einen Irrweg, an dessen Ende der Abgrund gähnt. Er will mich nicht täuschen. Denn wenn dieses Wort trugvoll wäre, was hättest du denn dann? Wer sollte dich dann trösten? Wem solltest du dann trauen? Wer sollte dich halten in deinen Heimsuchungen, wenn das, worauf dein ganzes Herz sich verließ, dich täuschte? Weißt du, was du deiner Seele zumutest, wenn du dir einreden lässest, Gott wolle dich betrügen? Wenn man einem Kinde klar machte, daß seine Mutter es belogen habe und belügen will, so hat man an dem Kinde einen Mord vollbracht und das Kind selbst zum Selbstmorde geistlicher Art verleitet. Und wenn ich es der Gemeinde einreden wollte, daß ihr Gott sie betrügen will, dann müßte meine Zunge an meinem Gaumen kleben und mein Leben jäh auslöschen; denn ich wäre der Mörder der Seelen. Nein, sagt es dem Teufel, der euch betrügen, dem Feinde, der euch täuschen, der Sünde, die euch betören will, sagt es ihr tausendfältig und tausendstimmig: Gott will mich nicht betrügen!

 Aber, so spricht der Feind, Er will es gewiß nicht, aber Er tut es doch; denn Er kann doch nicht alles wissen. Er kann nicht alle Bedürfnisse deiner Seele kennen und dieses Buch ist ja unter einem ganz andern Weltbild geschrieben. Dieses Gerede vom Weltbild hören wir jetzt zur Übersättigung; immer wieder wird uns von dem neuen Weltbilde vorgefaselt, unter dem jetzt die Gemeinde stehe. Ist das Weltbild wirklich ein anderes? Haben vielleicht die großen Entdeckungen des neuen Weltbildes, eure Maschinen, eure großen Werkzeuge eine einzige Seele aus| sich selbst erlöst? Ist das Weltbild wirklich ein anderes, also, daß in dem Menschenherzen unserer Tage andere Bedürfnisse wach sind, als im Herzen der Menschen dort in der Wüste oder in der Einsamkeit dort auf dem See? Das glaube ich ganz gewiß nicht. Die Beleuchtung, die auf das Wort Gottes fällt, mag vielleicht eine andere sein, das Wort selbst ist das gleiche. Ob eine wunderbare Landschaft im Morgenglanz oder im Abendrot euch begrüßt, das ändert an der Landschaft selbst nichts. Und ob die Glocken euch den Morgen einläuten oder den Feierabend, es sind dieselben Glocken. Das Weltbild ist nur ein äußerliches Ding, das Bild der Welt ist das gleiche. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens, ob es in der Brust eines Goethe oder eines armen Fischers schlug, ist böse von Jugend auf. Und die Wunden, ob sie von den neuen Geschossen oder von vergifteten Pfeilspitzen der Alten herrühren, heilt kein Kraut noch Pflaster, sondern nur Gottes Wort. Wenn sie aber sagen: als die Bibel entstand, als Er diese Worte sprach, wenn Er sie überhaupt gesprochen hat, da wußte Er doch so viele Sorgen des modernen Menschen noch nicht! Meine Geliebten! Die Sorgen des modernen Menschen unterscheiden sich von den Sorgen der Antike nur dadurch, daß sie einfältiger sind. Und so will der Herr uns nie betrügen. Er müßte in der Stunde, in der Er dir etwas Falsches sagte, in der Er dir sagte, was dir gefällt, nicht, was dir frommt, in der Er dir Sünde und Schuld als nichts Schweres darstellte, sich selbst aufgeben. Er ist getreu, Er ist ein Fels. Und weil Er dich nicht täuschen will, noch täuschen kann, darum täuscht Er dich auch nicht.
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 Glaubt es mir, dieses Buch ist geschrieben und dieses Wort ist gesprochen von dem Gott, der nicht schläft noch schlummert, der die Zeichen der Zeit bis an ihr Ende kennt und leitet, der die Entwicklung der Welt- und Herzensgeschichte bis auf das letzte durchschaut. Dieses Wort ist| von dem Gott gesprochen, dem alle Tiefen klärlich und alle Höhen erreichbar sind und alle Weiten zu Diensten stehen, von dem Gott, der es aufs beste mit dir meint.

 Also ist diese Schrift irrtumslos? Einer der größten Lehrer des 19. Jahrhunderts, der von mir so hochverehrte Kon. Hofmann sagt einmal: Wenn diese Schrift nichts weiter wäre als ein irrtumsloses Buch, wäre sie sehr wenig. Irrtumslos ist starr, ist Kälte, vornehme Abgesondertheit von allem Irrenden, Fehlenden und Fallenden. Wie eine Majestät unnahbaren Wesens würde sich dann Gott von dem irrenden Sohn des Staubes fernen, wie ein hochragendes Felsgebirge weit, weit entfernt ist von dem mühsamen Saumpfade an der Talwand. Die Schrift aber ist mehr als ein irrtumsloses Buch. Sie ist das Buch, in dem die Allmacht von der Barmherzigkeit und die Allwissenheit von der Gnade geheiligt wird. Der treue Gott spricht in diesem Buche, nicht wie Er es versteht, sondern wie du es brauchst; Er spricht nicht nach seiner Allwissenheit, sondern nach deiner Torheit; Er handelt mit dir nicht nach seiner Allmacht, sondern nach deiner Ohnmacht: dieses heilige Buch ist das größte Barmherzigkeitswerk, das je auf Erden geschah. So spricht die ewige Liebe: Ich will dich erquicken. Fehllos, truglos, irrtumslos ist alles viel zu wenig. Liebe hat dieses Buch geschaffen, Liebe hat es erhalten und in dieser Liebe ist die Wahrheit Grundton und Grundfarbe.

 Und wem gibt Er dieses Wort? Ihr sagt: was zu einem Jakob gesprochen wurde, das kann doch mir nicht gesprochen sein? Und was einer Maria galt, gilt das noch mir? Du sprichst: wenn ich nur wüßte, ob ich dieses Wort auch auf mich anwenden kann? Meine Geliebten! Wenn ich am Verhungern bin und am Verschmachten, dann frage ich nicht, ob das mir dargebotene Brot wirklich auch für mich paßt, ob es nicht vielleicht zu rauh oder zu spröde oder zu wenig schmackhaft sei. Nein,| ich nehme es herzhaft und esse es, damit ich genese. Und so ist es mit Gottes Wort auch. Es ist dem Menschen geschrieben, damit es die Menschen hätten; es ist der Seele gesagt, damit die Seelen seiner sich erfreuen. Dieses Wort, dem Menschen gegönnt, gilt der Menschheit und an den einzelnen gewendet, wendet es sich an alle. Wem ist es geschrieben, wem gilt es? Nicht den Reichen, nicht den Gewaltigen. Nicht den Weisen, die es gar oft vor einer staunenden Zuhörerschaft zum hundertsten Mal totsagen und begraben, die brauchen das Wort nicht und an die wendet es sich auch nicht. Und die in ihren Leitartikeln und Feuilletons und in ihren geistreichen Aperçus nachweisen, wieviel höher Buddha sei als der Eingeborene vom Vater und wieviel größer dieser Träumer und Schläfer in der Wüste sei als der, dem am Kreuze das Herz brach über euch und über mich  – die brauchen das Wort auch nicht und an die wendet es sich auch nicht.
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 Denn die dunklen Stellen in Gottes Wort rühren her von den dunklen Stellen in deinem Herzen, nicht daß sie dunkel wären, sondern weil du mit dunklem Blick sie siehst. An wen, frage ich, wendet sich das Wort? An das Volk, des man Greuel hat, an die Verstoßenen, die kein Klassiker mehr tröstet; an die zerrissenen Gemüter, in die kein Klang der Symphonie mehr dringt; an die Armen auf dem Krankenlager, an die Einsamen und Weltverlassenen, an die Armen, die wieder einmal den Staub von ihrer Bibel weghauchen, daß sie noch einmal zu ihnen rede wie einst; an all die, welche sich müde gesucht und müde gelaufen haben und fanden keine Quelle, die sie labte und keinen Ort, da sie wohnen konnten, hungrig und durstig und an der Seele verschmachtend; an alle, die da schweigen und feiern und mutlos sind und keinen Trost mehr haben, denen das Leben zu schwer und das Sterben zu leer ist, an diese alle wendet sich das Wort: „Euch will Ich erquicken.“| Und je leerer deine Seele und je ärmer dein Sinn und je verlassener deine Behausung, da aus allen Winkeln das Gespenst des Kummers und der Not grinst, je teuerer und treuer ist dieses Wort: komm, Ich will dir wieder den rechten Weg zeigen! Und auf einmal hörst du wieder die süße Stimme deiner Mutter, wie sie vor Zeiten dich zu sich beschied und dich tröstete, wie kein Mensch dich je seitdem getröstet hat. Und du vernimmst wieder die Klänge der heimatlichen Glocke, wie du sie nie mehr seitdem gehört hast. Und du kannst wieder weinen und das Wort tröstet dich aus tiefster Not. Denn in dieser Stunde wachen in dem Worte alle die Seufzer, Tränen, Klagen, Sorgen, Sünden, die seit Jahrtausenden ihm anvertraut sind, wieder auf, nicht mehr aber als ein bedrängendes Heer von Gespenstern, sondern als eine frohe Schar von Getrösteten; nicht mehr als schauerhafte Erinnerungen aus dem Grabe, Schemen und Lemuren, die man bannen möchte, sondern „was für ein Volk, was für eine edle Schar kommt dort gezogen schon?“ Die Getrösteten des Herrn! Seht, an alle Armen wendet sich dieses Wort. Und wenn du in der ärmsten Dorfkirche sitzest und rings um dich Dumpfheit und Stumpfheit und alles so schwül und gewohnheitsmäßig, der bleierne Kirchenschlaf sich bei deiner Umgebung einstellt und du hörst das Wort: So spricht der Herr: Kehre wieder, abtrünniges Israel! Ich will mich deiner erbarmen! Dann merkst du, ohne lange zu fragen, wem das Wort gilt. Das gilt dir! Welch eine wunderbare Gnade ist es doch, daß in die ungeweihten und unreinen Hände der Sünder und der Frevler dieser Schatz gelegt ist! Welch eine Gütigkeit ist es, daß auf die unreinen Lippen, die da leer, töricht, schamlos reden, diese heilsame Arznei gelegt wird. Denen gilt das Wort, die es brauchen und bei denen bleibt es auch, die es brauchen wollen.

 Und nun laßt mich schließen mit der Antwort auf die Frage: wozu ist das Wort gesprochen?

|  Ich antworte mit dem Bescheid, den der alte, dem Tode nahe Paulus seinem Timotheus gibt: Alle Schrift, sagt er, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. Das Wort ist dir also gegeben erstlich zur Lehre. Ein Bibelchrist ist ein gebildeter Mensch, auch wenn er nicht weiß, wann und wo Rich. Wagner gestorben ist. Ein Bibelchrist ist ein gebildeter Mensch, denn er kennt nicht nur die Zeit und ihre Zeichen, sondern auch die Ewigkeit und ihren Reichtum. Ein Bibelchrist beschämt an persönlichem Takte und an der Gabe mit Menschen zu verkehren und an dem Ernst des Wesens und der Reinheit des Willens viele Tausende, die weit mehr gelernt haben als er. Denn zwischen Unterrichtet- und Gebildetsein ist ein großer Unterschied. Es gibt viele Gebildete, die nicht unterrichtet sind, es gibt aber weit mehr Unterrichtete, die nicht gebildet sind. Siehe, das Wort Gottes ist dir zur Lehre, zur Belehrung geschrieben. Wie soll ich mich in diesem Falle verhalten? Lehre Du mich tun nach Deinem Wohlgefallen! Wohin soll ich heute meine Schritte lenken? Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach Deinem Wort! Wie soll ich in dieser Frage entscheiden? Zeiche Du mir und tu mir kund, was Dir wohlgefällt! Durch dieses Wort kann ich beten und so ist es mir zur Unterweisung geschrieben.
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 Aber ferner auch zur Züchtigung. Kein Mensch sagt mir wirklich, wie ich bin; die einen über- die andern unterschätzen mich. Von wem man mehr lernt, ist die Frage. Vom Unterschätzen lernt man leicht die Selbstverachtung und von denen, die uns überschätzen, lernt man leicht die Selbstverwöhnung. Wer zeigt mir, was ich bin? Wer sagt mir mit ungeschminktem Ernste, aus dem aber doch die treue Wohlmeinung hervorleuchtet, wie mein Charakter geartet ist? Es ist sein Wort; es hält Zwiesprache mit mir. Es schärft mir den Blick zur Selbstkritik, es gewöhnt mich an mich selbst, der ich so| gerne mir entweichen möchte, und rastet nicht, bis ich den Mut gefunden habe, meinem Ich ins Auge zu sehen. Das Wort Gottes ist mir gegeben und geschrieben zur Züchtigung, zur Selbstprüfung, zur Selbstschau.

 Und weiter zur Besserung oder, wie es im Grundtext heißt, zur Aufrichtung. Wenn ich ganz darniederliege, die weltliche Traurigkeit mich bedrängt, niemand mich trösten will und ich, weil ich mir selbst ein Greuel bin, den Tag verwünsche, den ich noch durchleben soll, dann tritt leise ins Kämmerlein und legt linde mir die Hand aufs Haupt diese barmherzige Gottesoffenbarung: Fürchte dich nicht, Ich bin bei dir; weiche nicht, Ich bin dein Gott. Sei getrost, Ich habe die Welt überwunden!

 Das Wort Gottes ist mir nicht dazu gegeben, daß ich weltfremd, sondern weltfroh werde, und ist mir dazu geschenkt, daß ich aus der Weltfreude weltmächtig werde und aus der Weltbemächtigung heimkomme. Was für ein Trost ist das: es ist dir gegeben zur Aufrichtung (Besserung übersetzt Luther). Ich kann an diesem Worte mich wieder halten, ich wachse wieder empor, ich finde wieder den Mut, es mit mir zu wagen. Und, Geliebte, was die größte Lebenskunst ist, ich lerne wieder Geduld mit mir selbst haben.

 Und endlich ist es mir gegeben zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, zur rechten Lebensweise, zur Lebensweisheit, daß ich nicht mein Leben in einzelne Fragen zerteile und zersplittere, sondern daß ich eine Lebensanschauung erhalte, eine Lebensanschauung, die sich in die Worte fassen läßt:

Die Erde ist zu reich, des Himmels nur zu warten,
Ihn zu vergessen, ist nicht schön genug ihr Garten.

 Seht, dieses teuere Wort von Gott für mich armen Menschen gegeben zu meines Lebens Heil und Frieden und Segen, sollen wir in Ehren halten und heilig halten, gerne hören und lernen. Überlaßt die Bibelwitze und die Spässe aus der heiligen Schrift und die falschen Zitate| aus ihr denen, die Geist genug haben, die Schrift zu verspotten, aber zu wenig Geist, sie zu lieben. Überlaßt den Hohn und die Geringschätzung und die vornehme Bemitleidung dieses Wortes den bedeutenden Geistern, ihr aber bleibt bei der Armut eurer Kirche. Dasselbige heilig halten, nicht heilig machen. Es leuchtet ohne uns und ohne unsere Art, aber wir sollen es ins Herz nehmen und in der Hand halten und es weithin preisen.
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 Wenn dieses Wort nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elende. Hört dieses Wort gern! Je länger, je weniger, möchte, der hier redet, von seinem Eigenen etwas geben. Je länger, je mehr, möchte er Sein Wort reden lassen und selbst verstummen. Hört dieses Wort gern und lernt es! Es kommen wohl schlafarme Nächte; Opernmelodien können diese schlafarmen Nächte wohl vertreiben, doch nicht trösten. Lernt das Wort Gottes! Nachts regen sich die wilden Tiere; es kommen allerlei Anfechtungen, eure Sünden, eure Sorgen, es stehen auf aus den Gräbern die Beleidigten, die nicht zur Verzeihung gelangten. Wie wollt ihr euch ihrer erwehren? Nur durch das Wort Gottes! Lernt es, es kommen die einsamen Tage, wo man nicht immer an euer Krankenlager gehen und euch unterhalten kann, wo ihr allein sein müßt. Die Erinnerung an die Romane, die ihr gelesen, die können euch vielleicht eine kleine Weile die Zeit vertreiben. Aber dann erscheinen sie in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit und in ihrer ganzen Trostesarmut. Das Wort eures Gottes wird den schweren Tag verkürzen und die Zeit der Krankheit erhellen und die Einsamkeit besuchen und ihr werdet am Abend es preisen. Lernt das Wort Gottes, es kommt die Nacht, da niemand wirken kann, die letzte einsame Stunde, da ihr nach Worten sucht und jedes will euch gebrechen; da ihr um Rede sehr bange seid und keine stellt sich ein. Wie euer Heiland in der Todesstunde aus dem von Jugend| auf gelernten Worte sein letztes Seufzen holte, so schenke euch und mir der Herr, daß wir aus dem teueren Gottesworte letzten Trost und letzte Erquickung holen! Heilig halten, gerne hören und lernen. Wahrlich, es ist ein großes Wort, sich genügen lassen an seinem Worte! Denn, die sich an seinem Worte genügen lassen, sind reich und werden des immer reicher werden. Sein Wort gibt die Wahrheit, hält die Wahrheit und ist die Wahrheit. Wir aber, zur Wahrheit geschaffen, bitten den Herrn: hilf mir, daß ich einst an der Wahrheit genese!
Amen.





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