Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Viertes Gebot III

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Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)
Fünftes Gebot I »
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Viertes Gebot III.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen; sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.

 ....bis solange, daß über uns ausgegossen werde der Geist aus der Höhe. So wird dann die Wüste zum Acker werden, und der Acker für einen Wald gerechnet werden. Und das Recht wird in der Wüste wohnen, und Gerechtigkeit auf dem Acker hausen, und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Gerechtigkeit Nutz wird ewige Stille und Sicherheit sein. Jes. 32, 15–17.


 Wir haben in der letzten Betrachtung von den Pflichten der Eltern und Herren geredet und haben darauf hingewiesen, wie notwendig es sei, daß Vorbild und Ermahnung der Persönlichkeit und der persönlichen Überzeugung das erste Stück im Erziehungswerke bedeute. Aber freilich, schreibt Paulus im 3. Kap. des 1. Korintherbriefes, wir pflanzen und begießen und Gott gibt das Gedeihen dazu. Auch die treueste Mühe in der Erziehung kann nicht Wunder schaffen. Das eine Kind derselben Eltern und der gleichen Erziehung gerät, das andere schlägt fehl. Unsere alten Väter haben darauf hingewiesen, wie das erste Elternpaar, das in allen seinen Kindern den kommenden Messias erblicken mußte, mit Abel Freude und an Kain das schwerste Leid erleben mußte. Es war dieselbe Sonne, die hier Blüten und dort Unkraut erweckte. Und schließlich bleibt| es doch dabei, daß der Mensch das wird, wozu er sich macht. Wenn wir so von dem Erziehungswerk und von den Eltern- und Herrenpflichten Abschied nehmen, tun wir es nicht ohne zu bitten, daß der Herr, unser Gott, allem Werk in Haus und Schule, in Kirche und Staat sein gnädiges Gedeihen geben wolle. Wo Autorität nicht mehr ist, da wanken die Grundfesten des Hauses und Staates und wo der Eltern Wille nichts mehr gilt, kann auf die Dauer ein Land sich nicht mehr behaupten. Darum wenden wir uns jetzt zu den Elternrechten und den Kindespflichten.
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 Zum ersten: dem Kinde seien die Eltern die höchste Autorität! Der erste Trieb, der im Kindesleben erwacht, ist der Trieb der Bewunderung, dem der Feind alles Lebens den Trieb zur Zerstörung als Gegengewicht gibt. Das Kind weiß nichts Größeres als seinen Vater und nichts Herrlicheres als seine Mutter und sucht diese Bilder ins Herz zu nehmen und durch Nachahmung ihnen gleich zu werden. So wie die Eltern mit Schrecken ihre eigenen Sünden und Fehler, ihre Bequemlichkeit und ihre Lässigkeit der Selbsterziehung in dem Wesen ihrer Kinder wieder erblicken und in den Fehlern ihrer Kinder ihre eigenen Sünden nur allzu deutlich sich wiederspiegeln sehen, so dürfen sie auch den Kampf der Heiligung, den sie führen, und den Ernst der Selbstzucht, den sie üben, in der bewundernden Nachahmung ihrer Kinder sehen. Darum wehre niemand, wenn ein Kind in seinen Eltern das Höchste und Herrlichste auf Erden erblickt; denn aus der Bewunderung entsteht das Autoritätsgefühl und das Kind, das nicht mehr bewundern kann, wird auch Autorität nicht mehr anerkennen! Diese Bewunderung und Autorität spiegelt sich in der Gedankenwelt des Kindes. Wenn ein Kind noch so müde ist, der Gedanke an die Eltern macht es froh und frisch; wenn es noch so traurig und betrübt durch Krankheit und Leid| ist, der Anblick der Eltern macht es genesen. Wie oft dürfen Eltern sehen, daß Kinder in ihrer Gedankenwelt ganz von ihren Eltern beherrscht sind: wie sie ihren Eltern Freude machen wollen, wie sie ihrer Eltern froh bleiben möchten, wie sie nichts mehr betrübt, als daß sie einmal der Eltern Liebe unwert sein möchten. In diese Gedankenwelt muß die Erziehung mit keuscher Hand eingreifen. Wenn die Mutter dem Kinde das „Gute Nacht“ versagt und der Vater dem Kinde die Hand verweigert, muß das die größte Strafe sein, die bis in die nächtlichen Träume hinein das Kind so lange verfolgt, bis es kommt und spricht: ich habe gefehlt, verzeiht mir. Es ist etwas Wunderbares um diese Sinnenwelt des Kindes, das sich immer mehr mit Liebe und Zuneigung in die Eltern versenkt. Die kleinen Züge, die kleinen Gewohnheiten, die kleinen Angewöhnungen schatten sich ab auf dem Kindesantlitz. Die Kinder beginnen, je mehr sie den Eltern innerlich zugetan sind, ihnen auch äußerlich zu gleichen. Und dieses Autoritätsgefühl und seine Bewunderung und Nachahmung erstreckt sich zum andern auf die Worte. Was die Eltern sagen, das sprechen die Kinder, als von der größten Autorität kommend, nach; es stammt von der größten Entscheidung her: mein Vater hat es gesagt, meine Mutter hat’s mich so gelehrt. Das ist dem Kinde unverbrüchliches Gesetz. Und wenn die Kinder längst herangewachsen sind, will ihnen das Wort der Eltern in der eigenen Rede immer wiederkehren. Bestimmte Redensarten, besondere Redewendungen, die Gebete im Elternhaus, die Morgen-, Abend- und Tischgebete, werden von dem Kinde weitergeführt; so entsteht Familienbrauch und so erhält sich Familiensinn. Im Wort die Autorität ehren!
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 Ein solches Kind wird auch nach außen hin wissen und weisen: die Eltern haben mich so gelehrt, haben mich das geheißen; darum glaube und deshalb tue ich es. Wehe| dem Kinde, das eine Minute länger ausbleiben kann, als es die Eltern ihm erlaubten! Wehe den Eltern aber auch, die solch kleine Überschreitungen lächelnd übergehen. Es ist auch Autoritätspflege im Worte, wenn die Kinder keinen Makel auf ihre Eltern kommen lassen, sie verteidigen, Gutes von ihnen reden und alles zum Besten kehren. Es ist ein schauerlicher Zug, wenn die heranwachsenden Knaben und die heranreifenden Mädchen an ihren Eltern irgend einen Vorwurf haften lassen, statt daß sie vielmehr mit treuer Meinung und ernstem Worte all das verteidigen, was zu verteidigen, all das entschuldigen, was zu entschuldigen ist.
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 Und endlich: Autoritätspflege im Werke. Es muß das Kind seiner Eltern Wort und Befehl erfüllen. Je weniger die Eltern gebieten, desto mehr werden sie dem Kinde ein ungeschriebenes Gesetz, aber ein lebensvolles Gesetz. Jeder Blick der Eltern ist dem Kinde eine ganz bestimmte Weisung und die Frage: was wird mein Vater dazu sagen und wie wird meine Mutter davon denken? hat manches heranwachsende Kind vom Schlechten und Gemeinen mehr ferne gehalten als vielleicht die Rücksicht auf Gottes Gebot. In dieser Tatpflege der Autorität liegt die eigentliche Erfüllung des vierten Gebotes: „Daß wir unsere Eltern nicht verachten, noch erzürnen.“ Manches Verbot der Eltern erscheint den Kindern so unfaßlich, aber weil es das Recht der Autorität ist, erfüllt es das Gebot, welches es nicht begreift, und arbeitet so der großen Glaubenspflicht vor, die wir alle erfüllen müssen, wenn wir Wege gehen, die Gott uns führt, obgleich es uns ganz unfaßlich scheint und viele „Warum“ in uns aufsteigen möchten. Unsere Eltern nicht verachten, sondern jedes Wort von ihnen mit der gehorsamen und folgsamen Tat ehren, auch dann, wenn scheinbar ganz Gleichgültiges von den Eltern gleichsam als Probe ihrer Autorität uns auferlegt wird! Auch dann,| wenn die Eltern längst, längst aus den Augen sind und bleiben, wird das zur Autorität erzogene Kind das elterliche Gebot und elterliche Geheiß achten und befolgen und in diesem Autoritätssinn sich hüten, die Eltern zu erzürnen.

 Kummer der Mutter, Leid des Vaters müssen, weil hier Gott in den Eltern vertreten ist, den Kindern so schwer vor der Seele stehen, daß sie mit größtem Ernste sich davor hüten, die Eltern irgendwie zu betrüben, sondern ihnen vielmehr an Lust und Erquickung, an Liebe und Licht zuführen, so viel sie nur können. Die Kinder, die erfindsam sind, für große Treue kleine Freuden zu spenden und sich mühen, für all das, was die Eltern ihnen tun, durch kleine Dienste ihre vergeltende Erkenntlichkeit zu zeigen und sich plagen mit der Treue, mit der Kinder den Eltern Gutes tun, erfüllen die Pflicht der Autorität.

 Aber wie wird es denn, wenn die Kinder der elterlichen Autorität entwachsen sind? Zwar manche Eltern wollen das nie glauben und lernen, was Johannes der Täufer sagt: Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen! Es ist immer ein greisenhafter Zug, wenn Eltern ihre erwachsenen Kinder behandeln, als wären sie noch unreife und unverantwortliche Geschöpfe; gar manche fromme Eltern haben dadurch ihr späteres Alter sich erschwert, daß sie nicht zur Zeit gelernt hatten, zurückzutreten und ihren Kindern Raum zu geben, sich dessen zu erinnern, daß ihre Zeit allmählich vorübergeht, während die Zeit ihrer Kinder heraufzieht.

 Aber wo rechte Autoritätspflege ist, da muß als zweites rechte Pietät einsetzen. Die Autorität ist unmittelbare Beziehung des Gehorchenden zum Gebietenden; Autorität ist unmittelbare Betätigung der Schuldigkeit, die dem Gebietenden aus seiner Person und Stellung heraus erwächst. Wie aber, wenn wir unsern Eltern längst entwachsen sind, ja wohl innerlich und äußerlich auch an Kenntnis und| Stellung über sie hinaus gelangt sind, werden sie dann noch ihre Autorität geltend machen können? Ich greife eines heraus: wie haben Eltern schon gefehlt, wenn sie in plumpem Autoritätsrecht ihr Kind zur Eingehung eines ihnen gefälligen Verlöbnisses zwangen. Welche Verantwortung haben sie da auf sich geladen, indem sie oft zu unseligen Ehebündnissen drängten! Und wie manches Kind hat später das Andenken an seine Eltern von einem schweren Schatten umdüstert gesehen, weil sie geboten, wo sie nur hätten raten dürfen und das befohlen, was sie nur hätten anempfehlen sollen und dürfen. Aber wenn das Weh einsetzt, das keinem Kinde erspart bleibt, auf daß man eben lerne: Er allein ist heilig! wenn das Weh eintritt, daß Eltern den Kindern die erste Enttäuschung bereiten, wenn zum Autoritätsgefühl die berechtigte Kritik sich gesellt und die Kinder auf einmal Schatten auf dem lichten Bilde ihrer Eltern erkennen, wenn das Kind mit Tränen in den Augen inne wird: auch die Treuesten haben der Wahrheit nicht ganz gedient! da muß dann die Pietät einsetzen, die Pietät, die durch das ganze spätere Leben fortträgt und fortgeht. Habe ich früher meine Eltern um ihrer Vorzüge willen geliebt und ihnen gehorcht, so liebe ich sie jetzt trotz ihrer Fehler. Und war ich als Kind von der Herrlichkeit meiner Eltern übermocht und überwunden, so will ich jetzt ihr Bild hoch halten und sie ehren, auch wenn manch schwerer Schatten auf ihm ruht. Es ist wohl an dem, daß auf die Periode der unbedingten Autorität den Eltern gegenüber eine schwere, düstere Zeit der Kritik folgt, und daß die heranwachsenden Söhne und heranreifenden Töchter auf einmal gleichsam einen Schleier wegziehen vom Bilde der Eltern und zugleich viel Dunkel erblicken, dann wohl alle Schäden der Eltern hervorkehren, um ihre eigenen Verfehlungen zuzudecken, und so plötzlich mit dem goldenen Traum der Jugend der ganze Goldschmuck elterlicher Größe| verblaßt. Da ist es dann das Gebet, das wieder die rechte Stellung zu den Eltern finden läßt. Da ist es die Flucht ins Heiligtum, daß uns Gott wieder die Augen öffne und den Blick schärfe für die verborgene Herrlichkeit elterlichen Lebens und Liebens. Und in späteren Jahren, wenn man selbst herangewachsen ist und weiß, welche Kämpfe schlecht geführt und welche Niederlagen des Lebens Recht bedingen, wird man wieder milder auch in der Beurteilung seiner geliebten Eltern und die Pietät kommt zu ihrem Rechte. Bei den Athenern war eine hohe, ernste Sitte so bedeutsam, daß sich Christen nicht schämen müßten, sie zu üben: wenn einer zu einem öffentlichen Amte gewählt werden sollte, so gingen die Wähler Tags vorher an das Grab seiner Eltern und wenn das Grab nicht gepflegt und geordnet war, haben sie diesem Mann ihre Stimme entzogen; denn seine Wahl wäre unheilvoll und dem Gesetze nicht genügend gewesen. Sie sagten: wie kann der einem Gemeinwesen rechte Dienste tun, der nicht einmal für seine eigenen Eltern Pietät hat? Und wenn wir durch unsere Gottesäcker gehen und sehen die verfallenen Gräber der Geistlichen und werden inne, wie Männer, die ihre Lebenskraft und ihr Lebensglück an eine Gemeinde setzten, vergessen wurden; wenn wir sehen, wie viele Kinder die Gräber ihrer Eltern ohne rechte Pflege lassen, müssen wir sagen: das ist entweder übergeistlich, wo man die Pflege und Pflichten gegen Vergangenes und dem Tode Verfallenes überhaupt nicht mehr kennt, oder – was wahrscheinlicher ist – das ist ungeistlich und unfromm.
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 Pflege der Pietät! Es ist etwas Furchtbares in dem Worte, das einmal Luther in seinen Tischreden erläutert, daß leichter ein Vater sieben Kinder ernähren kann, als sieben Kinder einen Vater. Und wer etwas in dem britischen Dichter zu Hause ist, wird mich verstehen, wenn ich auf das Beispiel des wahnsinnigen Königs Lear auf der Heide| hinweise, der verraten und verlassen ist von den Töchtern, für die er alles wagte. Wir, die wir auf dem Lande aufgewachsen sind, wissen, welch ein Weh dem Worte innewohnt: Austrag – Altensitz, wenn nun die Eltern wieder die Knechte und Mägde ihrer Kinder werden müssen, damit sie ihr täglich Brot, dürftig genug bemessen, verdienen. Wir können wissen, welch ein rauher Wind über die Eltern und ihre greisen Häupter dahingeht, wenn sie einmal nicht mehr verdienen und arbeiten können. Und in den sogenannten gebildeten Ständen? Wie leicht ist die Pietät gegen die Eltern vergessen! Wie wird das scherzende Wort, das zunächst harmlos gemeint ist, vergiftet und welche Wunden schlägt’s, weil man und wenn man über die Schwächen der Eltern sich allerlei Bemerkungen erlaubt und sich ihnen entzieht, weil sie grau und müde werden, oder ihrer sich entschlägt, sobald sie hingezogen sind.

 Ach, das ist rechte Pietätspflege, daß man das Andenken der Eltern auch dann noch treu und ernstlich pflegt, nachdem sie längst uns genommen sind, wenn wir ihnen in die Ewigkeit den Dank der Treue nachrufen und unser Leben so gestalten, wie es nach ihrer Meinung und in ihrem Sinne werden sollte; daß wir unsere Eltern nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, bis wir selbst draußen sind, und ihr Bild wohl pflegen und ihr Andenken wohl schmücken und ihrer in unserem Danken gedenken und ihrer uns in unserer Nachfolge freuen.

 Ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben. Pietät braucht kein Gesetz, sondern ist der unmittelbare und eigentliche Takt der Seele. Pietät braucht keine Vorschrift, sondern ist der zarte Hauch andenkender Treue. Pietät ist dieser innige Zusammenschluß der Gemeinschaft der Heiligen, derer, die noch kämpfen, mit denen, die überwunden haben, derer, die noch leiden, mit denen, die triumphieren. Pietätspflege! O wie möchte man dies| Wort in unsere pietätslose Zeit hineinbeten und hineinwirken! Kinder, die nicht pietätvoll sind, kein Andenken hüten, sind schlecht. Ich weiß, wie es mich einmal erschüttert hat, als ich einen Brief einer Mutter, einer treuen Mutter, zerrissen in einem Garten fand, unbeachtet und unbesehen! Wer das tun kann, wer sich so des Andenkens seiner Eltern entschlagen mag, kann viel große Züge sein Eigen nennen, aber, was der Apostel das Bild der Vollkommenheit nennt, das fehlt ihm.

 Autoritäts- und Pietätspflege auch bei den Dienenden! Nicht allein, wie Paulus an die Epheser schreibt, nicht allein den Gütigen und Gelinden, sondern auch den Wunderlichen, oder wie es eigentlich heißt, den Schiefen, Krummen! Die erste Aufgabe bei den Dienenden ist, daß sie um Gottes willen gehorchen mit dem ganzen Ernst und Willen auf das Wort und ohne Widerrede; daß sie auch eigenartigen Anordnungen ihr Herz erschließen und ihren Willen geben, auf daß sie so das Haus nicht gefährden, sondern kräftig aufzubauen helfen.

 Unsere Herren nicht verachten noch erzürnen. Je mehr die Dienstleute wider ihre Dienstgeber zu Dank und Willen sind, desto stärker schließt sich wieder das Haus zusammen und desto leichter wird die soziale Frage gefaßt und gelöst. Nicht einzelne haben Pflichten und Rechte, nicht einseitig sind Rechte und Pflichten verteilt. Sondern so gewiß die Dienstherren ernste Pflichten haben, auch gegenüber der Seelenpflege ihrer Untergebenen, der zarten Rücksichtnahme, des innigen Verstehens, so gewiß haben die Dienstleute die Pflicht des wortlosen Gehorsams, der Treue, die im Kleinen als große Tugend sich bewährt, der Schadloshaltung und gewissenhaften Bewachung fremden Eigentums.

 Autorität muß im Hause sein und zu ihr gesellt sich Pietät. Ohne Autorität ist Pietät ungesund, kraftlos und hat keinen Halt. Aber auf dem Hintergrunde der Autorität| erhebt sich dieses, oft durch Jahrzehnte hindurch gehende, ernste Verhalten der Treue, die dem Hause alles Gute gönnt. Da erblühen die treuen Dienstleute, die vom Vater auf den Sohn wie eine Überlieferung dienend übergehen, die ein Haus hegen und schützen, die da dienen nicht vor Augen, um den Menschen zu gefallen, sondern im Dienste Gottes und Christi.
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 Luther hat die ganzen großen Pflichten gegen die Obrigkeit in ein einfaches Wort zusammengefügt: Wenn wir so viel – sagt er – für die Obrigkeit beten wollten, als wir gegen sie urteilen, wäre beiden besser geraten. So ist in unserer Zeit, weil die Obrigkeit sich schüchtern von dem Recht der Gewalt und des Schwertes fernhält, nicht Wille, sondern Willkür und Zuchtlosigkeit Herrin. Weil die Obrigkeit sich scheut mit ernstem Wort einzugreifen, weil vor der Menge der Gesetze das ewige Gesetz entschwindet und verfällt, darum wird nicht mehr gehorcht, sondern auch das Wenige an Geboten nicht mehr beachtet. Wer nicht Autorität sein will, der ist’s auch nicht. Es gehört mit zu den betrübendsten Erscheinungen unserer Tage, daß die Obrigkeit den Mut zum Recht verloren hat. Der Lehrer will beliebt sein, darum schont er den Eigenwillen der Kinder, geht auf ihre törichten Launen ein. Der Vorgesetzte will den Ruhm eines gütigen Herren haben, darum drückt er die Augen zu bei allen Verfehlungen, darum schweigt er zu allem, darum läßt er Schaden geschehen. Die Obrigkeit in Staat und Kirche hat die Gewalt zum Schwert und den Ernst der Entscheidung verloren und damit später einmal von Güte und Leutseligkeit geredet werden wolle, verliert man die Pflichten an die Gegenwart. So soll es aber nicht sein. Obrigkeit, Kirche und Schule hat das Schwert nicht umsonst. Wer ein Amt hat, der sei am Amte und warte sein und tue es mit Ernst, schreibt Paulus. Und je mehr alle Obrigkeit sich ihrer Aufgabe| bewußt und eingedenk ist, desto ernster wird sie auch auf Gehorsam dringen können.

 Es geht der schreckhafte Zug der Meisterlosigkeit durch unsere Zeit: wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche! Man spricht viel vom individuellen Rechte der Dienenden, doch nicht vom individuellen Rechte der Gebietenden. So gehorcht man lieber hundert unsinnigen Einfällen, Wünschen und Launen, ehe man dem ernsten Gebote der Obrigkeit Gehorsam leistet. Da tritt uns der vor Augen, der untertan war allen menschlichen Ordnungen, der, obwohl ein König und Herr aller Dinge, mit seiner Mutter hinabging nach Nazareth und ihr dienete, der dem Kaiser gab, was des Kaisers war, weil Er Gott gab, was Gottes war. Da kommt der vor unsere Seele, von dem der Apostel sagt, daß Er gehorsam war bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.

 Und wenn in dir sich die Meisterlosigkeit regt und du nur deinem Willen wirklich Raum gibst und allen anderen außer und über dir in deinen Gedanken verneinst und wenn dir der Gehorsam so entwürdigend, verächtlich und unwürdig vorkommt, dann schau auf den, der gehorsam war für deine Freiheit und dessen Treue bis in den Tod dein Heil und deine Erlösung geworden ist, und wisse: je mehr wir gehorchen, desto mehr werden wir frei!

 Ihr alle, die ihr einst unter der Obrigkeit von Lehrern gestanden seid, habt ihr noch Pietät gegen sie? Gedenket ihr insonderheit der Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, die nicht um euer Wohlgefallen, wie jetzt die Schule und Kirche dem unreifen Geschlecht zu Dienst und Willen ist und zu ihm herab sich kauert, sondern um euere Seele warben, euch das Kreuz Jesu Christi vor Augen stellten. Insonderheit, gedenket ihr noch eures Konfirmationsunterrichtes in Pietät, die er verdient und braucht? Er war vielleicht nicht anregend, aber er war treu, er war| nicht vielseitig, aber er war echt; er war vielleicht nicht geistreich, wie man es jetzt liebt, und hat vor allen Dingen es verschmäht, auf alle modernen Probleme und auf den Unrat aller Einfälle einzugehen. Aber weil er selbst ein Bild von dem treuesten Herrn ins Herz gefaßt hatte, darum gab er dir nichts Größeres und Besseres als Jesum, den für unsere Sünden Geopferten. Gedenkt ihr noch eueres Konfirmationsunterrichtes? Es würde unsere Damenwelt sich nicht allen neuen Lehren so willig erschließen und nicht allen ungereimten Einfällen einer hoch einhergehenden Kritik so offen sein, wenn sie mehr ihres Konfirmationsunterrichtes wollte eingedenk sein. Denn die meisten unter den Frauen, die jetzt die Zeit erfüllen und beherrschen, haben einen frommen Konfirmationsunterricht erhalten. Sie würden dann nicht da sitzen, wo man über das Wort Gottes eilig hinwegfährt und zu Gericht sitzt über das Wort und Vermächtnis Jesu Christi! Sie würden dann nicht der Lektüre Auge und Herz öffnen, die da von dem einigen Grund wegzieht und das einzige Verlässige im Leben und Sterben bemißtraut. Weil es aber an der Pietät gegen die Vergangenheit fehlt, gegen die ernste kirchliche Unterweisung, darum fehlt es auch an der Pietät gegen den Herrn. Gedenket, so rufe ich noch einmal, gedenket an euere Lehrer, die euch nicht durch allerlei Großes blendeten, sondern die euch das Größte, das Wort Gottes, gesagt haben!
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 Und unsere Männerwelt, in der jeder sich seinen eigenen Altar und seinen eigenen Gott baut und die meisten dem großen Gotte „Unbekannt“ opfern! Unsere Männerwelt, die die religiösen Fragen als eine sich forterbende Schwachheit eines unfertigen Geschlechtes ansieht! Sie würde wohl mehr gesegnet sein, wenn sie eingedenk wäre dessen, was kirchliche Gewöhnung und Unterweisung ihr einst bot! Unsere meisten Gebildeten sprechen grundsätzlich nicht mehr über geistliche und göttliche Dinge; denn sie haben die| hohe Erkenntnis: wir wissen nicht und werden nie wissen! Das sind die, die einst am Konfirmationsaltar der Kirche Jesu Christi und ihrem Bekenntnis Treue gelobten und versprachen, des Evangeliums sich nicht zu schämen. Das sind die, die noch in späteren Jahren ein- oder das andermal das Herz erglühen spürten, wenn Christus ihnen die Schrift erschloß. Und nun ist es vorüber; mit der Autorität ist die Pietät zu Grabe getragen. Man schämt sich, einmal fromm im Sinne der Kirche oder richtiger im Sinne Jesu Christi gewesen zu sein.

 Seht, das vierte Gebot wendet sich mit dem ganzen Ernste der Buße an uns alle. Die ihr über den Verfall der Volkssitte und des Volksglaubens klagt, was tut denn ihr in euerem Herzen, um die ewigen Grundfesten zu erhalten? Die ihr über den sinkenden Wert ewiger Güter Klage führt, was ist denn euch das Kreuz und Gottes Treue bedeutsam und wert? Ihr redet von dem Hinfall der Sitte und Zucht: der Sohn ehrt nicht mehr den Vater und der Sohn schämt sich seines Vaters und die Tochter ihrer Mutter; durch das Haus geht der finstere Geist der Verneinung und jene Toren reden davon, daß sie ihre Eltern erziehen müssen und sie endlich sich von den übererbten Vorurteilen frei machen müßten, ja, warum, ihr Erwachsenen, fangt ihr nicht die Reformation an euren eigenen Seelen an? Und ihr redet von Zucht- und Sittenlosigkeit beim Volk und wie viele von euch lesen allwöchentlich das Gemeinste in den zersetzenden und zerstörenden Witzblättern? Und welches Gerede wird in hohen und hochgebildeten Kreisen geführt, dessen praktische Auswertung auf der Straße Unzucht und Sittenlosigkeit bedeutet! Noch einmal: das vierte Gebot ruft uns zu: bauet die Säulen von unten aus, geht auf den Grund des Übels! Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.

|  Je mehr wieder Gottes Wort zur einigen Autorität unseres Lebens erwählt und die Pietät gegen das ewige Gut in unsere Gedanken- und Willenswelt hereingenommen wird, je mehr wir wieder das von den Vätern ererbte Glaubensgut mit unserer Ehre vertreten und es als unsere Ehre ansehen, ihm Treue zu halten, desto mehr werden wir auch auf unsere Umgebung wirken. Glaube mir, die Heiligung deiner Gedankenwelt bedeutet für die Masse ein Neues, und was du, o Christenmensch, in der Stille deiner Kammer durchleidest und durchkämpfst, das wird morgen ein dir Unbekannter als Lebensfrucht und Lebensgut erfahren. Aber unsere Niederlage gefährdet Staat und Kirche und unsere Lässigkeit läßt alles sinken. Um dessen willen, der von der Höhe des Sonntags Estomihi ruft: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem! und der zu seinem ernsten und heiligen Leiden im bleibenden Gehorsam sich geschickt hat, um Jesu Christi willen, an dessen Kreuz alle Willkür und Unredlichkeit und Unheiligkeit wirkungslos zerbrach, aber alle Heiligkeit und Ernstlichkeit erstand, rufen wir einander zu: Estomihi, sei Du mir ein starker Hort, daß ich fromm werde, und führe meine Seele auf den Weg der Gebote und mein Leben zur Nachfolge Deines Ernstes! Möge die nahende Passionszeit in dem kleinen Kreise derer, die um das alte Gotteswort und um dessen alte Verkündigung sich scharen, den Entschluß erwecken, daß es nichts Größeres auf Erden und nichts Seligeres in der Heimat gibt, als Treue zu halten und Treue zu üben. Diese Treue aber heißt: ich will Dir folgen, wohin Du gehst!
Amen.





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