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Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Auf den Schlachtfeldern von Mülhausen

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Streifzug in den Sundgau Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers
von Karl Müller
Durch das deutsche Land
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[11]
Auf den Schlachtfeldern von Mülhausen
I

In der Umgebung von Mülhausen haben um die Mitte August wiederholt hitzige Gefechte getobt: erstmals, als die Deutschen durch ihren Vorstoß am 9. und 10. August die Franzosen aus dem von ihnen am 8. August kampflos besetzten Mülhausen heraus- und über Dammerkirch und Altkirch in das Grenzgebiet von Belfort zurückwarfen; zum zweiten Male, als die Franzosen in den Tagen vom 17. bis zum 20. August neuerdings, diesmal mit bedeutend stärkeren Kräften, von Belfort her ins Oberelsaß vorrückten, Mülhausen abermals besetzten und die schwachen deutschen Deckungstruppen nach tapferer, verlustreicher Gegenwehr bei Dornach, Altkirch und Tagsdorf hinter die Ill zurückdrängten. Als Zweck der ersten Besetzung Mülhausens wurde [12] zuerst französischerseits die Zerstörung des dortigen Informationszentrums angegeben. Eine spätere Havasmitteilung des französischen Kriegsministeriums bezeichnete dagegen als „erstes Ziel“, das sich die Franzosen im Oberelsaß gesetzt hätten: die Deutschen über das Rheinufer zurückzuwerfen und die Rheinbrückenköpfe zu besetzen. Das war, entgegen der Havasmeldung, nicht gelungen. Die Proklamation des Generals Joffre beim Übertritt der ersten französischen Truppen auf elsässisches Gebiet und die Glückwunschdepesche des damaligen französischen Kriegsministers bewiesen, daß jedenfalls politische Beweggründe bei dieser militärischen Handlung mitgespielt hatten. Ob und in welchem Maße das auch beim zweiten Vorstoß ins Oberelsaß der Fall und welches dessen militärisches Ziel gewesen, ist auch heute noch unklar und wird wohl erst in späterer Zeit erkennbar sein. Am 22. August bezeichnete das französische Kriegsministerium in seiner Mitteilung an die Presse die zweite Besetzung Mülhausens als „großen Erfolg“. Am 26. August begründete dasselbe Ministerium die zweite, freiwillig erfolgte Räumung Mülhausens durch die Franzosen kurz und klar mit den Worten: „Der Generalissimus, welcher an der Maas alle Truppen nötig hat, befahl, nach und nach das besetzte Oberelsaß zu räumen. Mülhausen ist schon geräumt worden.“ Die Deutschen hatten Mülhausen am 17. August wieder geräumt und besetzten es neuerdings [13] mit schwachen Kräften nach dem zweiten Abzug der Franzosen. Dieser kurze Rückblick auf die kriegerischen Vorfälle um Mülhausen schien mir zweckmäßig zu sein zum besseren Verständnis des nachfolgenden Berichtes über einen Rundgang, den ich in den letzten Septembertagen über die Schlachtfelder von Mülhausen gemacht habe.

Die Mülhauser Straßenbahn führte mich an einem Vormittag nach dem viel genannten Vorort Burzweiler. Eine Basler Kriegskorrespondenz hatte, auf Grund von Erzählungen, die von Mund zu Mund, von Mülhausen bis an die Schweizergrenze weitergetragen worden waren, Mitte August gemeldet, Burzweiler sei „dem Erdboden gleichgemacht“. Das ist nun eine der Übertreibungen, die in Kriegs- und Friedenszeiten beliebt sind bei den leider nicht allzu seltenen Leuten, die gerne in Unglücksnachrichten schwelgen. Die Wahrheit von dem Zustand des Dorfes ist immer noch schlimm genug.

Am 9. August war’s, im Nachtgefecht. An der Doller, in Lutterbach und Pfastatt (nordwestlich Mülhausen) lagen die Franzosen. Der Angriff des rechten Flügels der Deutschen entwickelte sich aus dem Hardtwald und von der Napoleonsinsel her über Sausheim, Modenheim und Illzach. In Burzweiler fand der Hauptzusammenstoß statt. [14] Gleich bei der Endstelle der Straßenbahn beginnt das Bild der Zerstörung. Eine Brandruine starrt mir entgegen. Einige Schritte weiter. Ganze Reihen von Häusern rechts und links der Straße liegen in Schutt und Asche. Die Ziegelei und ein neues großes Fabrikgebäude, dessen Besitzer, wie man mir erzählt, als deutscher Offizier im Felde steht, liegen großenteils in Trümmern. Bekanntlich sollen in Burzweiler deutsche Soldaten aus den Häusern beschossen worden sein. Zur Strafe dafür wurden die betreffenden Gebäude niedergebrannt. Auffallenderweise stehen mitten im abgebrannten Quartier einzelne Häuser oder ganze Häusergruppen völlig unversehrt da, was darauf schließen läßt, daß nicht wahllos niedergebrannt wurde. Mich reizt es zu erfahren, was die Dorfbewohner sagen. Da kommen einige Dorfkinder, lustig plaudernd, aus der Schule. Ich frage sie nach der Ursache der Zerstörung der nächsten Häuser. „Anzündet hän sie’s.“ — „Ja, wer denn?“ „Die Ditsche.“ „Warum denn?“ Verlegenes Schweigen. „Ist vielleicht d’raus geschossen worden?“ „Nei, nei!“ schallt’s mir im Chor entgegen, „niemed het g’schosse.“ Ein Mensch mit unheimlich flackernden, haßerfüllten Augen macht sich, wie er meine Teilnahme für das Schicksal des Dorfes bemerkt, an mich heran und fängt sogleich, heftig gestikulierend, zu erzählen an. Zur nahen Kirche führt er mich, wo an einer Ecke drei frische Grabhügel aufgeworfen find. „Da liegen sie, mein Schwager und sein neunzehnjähriger Sohn [15] und noch ein Bürger; die haben’s erschossen, weil sie sagten, sie hätten aus den Häusern geschossen. S’ist aber nit wahr g’wesn.“

Wer will da die Wahrheit ergründen? Wer will es den Leuten verdenken, die für die Unschuld ihrer Angehörigen, ihrer Dorfgenossen eintreten und mit aller Bestimmtheit verbürgen, auch was sie nicht mit eigenen Augen gesehen haben? Und wer will anderseits die Krieger verurteilen, die ihr Leben fürs Vaterland einsetzen, wenn sie sich hinterrücks überfallen, dem feigen Meuchelmorde ausgesetzt sehen oder auch nur glauben, und in der wahnwitzigen Wut, die der mörderische Kampf des Nachtgefechts auslöst, den Schuldigen oder Schuldiggeglaubten kurzerhand niederstrecken? Das ist der Krieg, der hüben und drüben Unschuldige hinmäht und die größten Schuldigen, in weiter, weiter Ferne, wo sie sicher geborgen sind, verschont. Das ist der Krieg, der große Kampf um das Dasein eines Volkes, in dem das Einzelwesen nichts, das große Ziel der Gesamtheit alles ist. Das ist der Krieg, der die Not gebiert, die kein Gebot kennt.

Der Burzweiler Bürger erzählt mir weiter, wie die Dorfbewohner auf dem Schulhaushof zusammengeführt und mit „Hände hoch“ durchsucht wurden. Er zeigt mir die Stellen, wo das Dorfgefecht gewütet, die Felder und Äcker, wo die meisten Toten lagen, so daß ich mir ein Bild von den Gefechtsstellungen machen kann. Dann führt er mich zum Massengrab, das unweit [16] der Kirche liegt. Achtundsechzig Krieger liegen hier begraben, sechs Deutsche, die andern Franzosen. Verwelkte Kränze und Blumen und einige Kreuzlein aus Holz sind vorläufig ihr Schmuck.

Ein einsamer Waldweg führt mich nach Illzach, das in Zeitungsberichten ebenfalls als halbzerstört und verwüstet dargestellt wurde und doch das Bild des tiefsten Friedens bietet. Nur daß auf dem ersten Hause linker Hand die Fahne mit dem roten Kreuz weht. Nicht einmal ein Wachtposten ist zu sehen. Das Dorf ist, soweit ich es selbst feststellen kann und wie mir auf Befragen bestätigt wird, völlig unversehrt geblieben. Drüben in Kingersheim, dessen Kirche herübergrüßt, raucht ein Fabrikschlot, zum Zeichen, daß das wirtschaftliche Leben sogar in dieser schon zweimal vom Kriege überzogenen Gegend nicht völlig unterbunden ist.

Außerhalb des Dorfes gegen Modenheim zu erblicke ich bald, rechts und links der Straße, zum Freimachen des Schußfeldes gefällte Bäume und in Stoppeläckern und grünen Wiesen flüchtig aufgeworfene Schützengräben für kniende Schützen. Sie sind nach ihrer Schußrichtung und nach der Sachlage von den Vorposten der Franzosen bei ihrem zweiten Einfall erstellt worden.

An der Illbrücke zwischen Illzach und Modenheim steht ein Landsturm-Doppelposten, jenseits erblicke ich ein neues Massengrab. Die Schildwache läßt mich auf Vorweisung meines Passierscheines [17] ohne weiteres die Brücke überschreiten und die Gräber besuchen; es sind zwei lange Reihen, eine Reihe birgt die Deutschen, die andere die Franzosen. Über hundertundzwanzig Brave liegen hier im kühlen Schoß der Erde. Auch diese Gräber sind mit Kreuzen einfachster Art, mit Kränzen und Blumen geschmückt, die französischen fast reicher als die deutschen. Eine Kreuzstange auf dem Franzosengrab zeigt die verblichenen Farben blau-weiß-rot. Einige Schritte abseits ist eine Gruppe von Offiziersgräbern, acht deutsche und fünf französische Offiziere liegen hier friedlich nebeneinander; fast jedes Grab trägt den Namen, einige auch die Einteilung der Gefallenen. Von den Deutschen ist einer Generalmajor, drei sind Hauptleute, die übrigen Leutnants gewesen, alle von den Infanterieregimentern 169 und 170. Von den Franzosen waren zwei Hauptleute, drei Leutnants. Ein französisches Hauptmannsgrab trägt auf dem Kreuz außer dem Namen des Gefallenen die Widmung des Freundes, der das Kreuz und das blau-weiß-rote Band gestiftet, das am Kranze befestigt ist. Ein deutsches Grab, das mit einem etwas kunstvolleren Kreuze geschmückt ist, trägt die Inschrift:

Generalmajor v. Koschenbahr
Kommandeur der 84. Inf.-Brig.
Gefallen Mülhausen E.
9. August 1914.

In Modenheim sind zum Freimachen des Schußfeldes ganze Obstgärten umgeschlagen. Sonst [18] ist auch diese Ortschaft unversehrt. Am Ende des Dorfes aber, an der Straßenkreuzung Modenheim-Sausheim-Mülhausen steht die Ruine eines ausgebrannten Wirtshauses, das auf der einen Wand die Aufschrift trägt Brauerei Lasser, Lörrach, und neben dem Eingang zur Wirtschaft die Worte: Inhaber Michel Litt, Telephon 1555. Auch dieses Haus ging in der Schreckensnacht vom 9. August in Flammen auf. Der Inhaber der Wirtschaft wurde, weil daraus gefeuert worden sein soll, zum Verhör abgeführt; seinen Knecht, der sich in der Trunkenheit wehrte, mitzugehen, habe man am Morgen erschossen an der Straße gefunden. So erzählt mir auf Befragen ein Bürger, der mit einem Karren von Mülhausen nach Sausheim fährt. Drüben, jenseits der Straße, etwa hundert Meter Mülhausen zu, liegt ein großes landwirtschaftliches Gehöft in Schutt und Trümmern. Dreizehn Kühe seien bei dem Brande zugrunde gegangen. Gegenüber dem abgebrannten Wirtshaus liegt ein parkähnliches Gebüsch. Abgebrochene Zweige, Überreste von Stroh und kaum mehr sichtbare Brandstellen zeigen, daß hier eine französische Feldwache zur Sicherung und Beobachtung gegen die Napoleonsinsel und den Hardtwald zu, biwakiert hat. Nahe dabei, längs der Straße nach Sausheim erblickt man noch die schon wieder ausgebesserten Spuren von Schießscharten, welche die Franzosen in die Umfassungsmauer eines großen Gutes hart über dem Boden gebohrt hatten, um von da aus gedeckt [19] das offene Feld gegen die Napoleoninsel bestreichen zu können. Am Wege von Modenheim nach der Napoleonsinsel liegt auf dem offenen Felde noch eine weitere Brandstätte. Auch drüben im nahen Sausheim sind zwei Häuser in Flammen aufgegangen. Kurz vor der Napoleonsinsel ruht, hart am Straßenrand, eine Kompanie in Marschkolonne, die Gewehre zusammengestellt, die Leute fröhlich plaudernd, die Offiziere in einer Gruppe beisammenstehend, ein Bild des Friedensdienstes. Die Leute tragen die blaue Friedensuniform, es sind also Ersatzmannschaften, die zur Ausbildung auf einer Übung begriffen sind. Wann werden sie vor dem Feinde stehen?

Der Landsturm-Wachtposten an der Brücke über den Rhein-Rhone-Kanal besichtigt meinen Passierschein und gibt mich frei. So stehe ich nun vor der vielgenannten Napoleonsinsel, wo der Hüningerkanal in den Rhein-Rhone-Kanal mündet, und die Straßen Basel-Kolmar und Mülhausen-Neuenburg-Müllheim sich kreuzen, dicht am Hardtwald gelegen, fünf Kilometer nordöstlich vom Bahnhof Mülhausen. An der Straße nach Rixheim, wohin ich jetzt strebe, liegt, gleich jenseits des Bahndammes der Linie Müllheim-Neuenburg-Mülhausen ein einzelstehendes Haus, eine einfache Arbeiterkneipe. Da mein Magen mich mahnt, daß die Mittagsstunde vorüber ist, trete ich ein, um eine Erfrischung zu genießen und gerate mitten unter die Soldaten, von denen der kleine Raum gesteckt voll ist. [20] Es sind Leute verschiedener Waffengattungen und Altersklassen; an einem Tische sitzen die Unteroffiziere, ausnahmslos flotte Gestalten, in einer Ecke einige Bürgersleute. Ich setze mich grüßend an den ersten besten Tisch, wo ein Platz frei ist, und komme bald ins Gespräch mit meinen Nachbarn, denen ich, nachdem das Eis gebrochen und ein Gespräch angeknüpft ist, eine gewaltige Freude mache mit einigen elsässischen und badischen Zeitungen, die ich auf meinen Streifzügen immer mit mir führe. Zeitungen gehören nebst Rauchsachen zu den beliebtesten Soldatengeschenken. Denn sie sind gar so selten im Felde. Aber was ist das? Rechts oben an der südlichen, gegen Rixheim gerichteten Schmalseite des Raumes erblicke ich in der Wand ein großes, fast kreis-rundes Loch, das von einer französischen Granate geschlagen worden ist. Die Deutschen wurden hier auf ihrem Rückzug in den Hardtwald im zweiten Gefecht bei Mülhausen von den Höhen bei Rixdorf von französischer Artillerie beschossen.

Meine Tischgenossen sind ältere Leute, Landwehr zweiten Aufgebots, alle gut gebaut und von intelligentem Aussehen. Sie gehören einer technischen Waffe an und sind anscheinend zu Wiederherstellungsarbeiten hierher kommandiert. Es sind fast lauter Süddeutsche, Badener, Württemberger, Pfälzer und einige Rheinländer. Sie rühmen die gute Kameradschaft in der Einheit und das schöne Verhältnis zu ihren Vorgesetzten. [21] Unter den gemeinen Soldaten befinden sich manche Leute von hohem Bildungsgrad, Ingenieure, Architekten, Werkführer, Monteure usw. Mein mitteilsamer Nachbar zur Rechten ist ein Bursche von untersetzter, kräftiger Gestalt, wasserblauen Augen, rötlich-blondem Haar und Schnurrbart. Er trägt auf seinen breiten Schultern einen echten Alemannenschädel; er könnte ein Emmentaler oder Konolfinger sein, gibt sich aber als Sohn des Schwarzwaldes zu erkennen. Er stammt aus einer Bauernfamilie des Säckingeramtes. Da er mehrere Brüder und Schwestern hat und der Hof des Vaters nicht alle ernährt, hat er das Bauhandwerk erlernt und ist auf seinen Wanderfahrten auch in die Schweiz gekommen. In Worb bei Bern hat er längere Zeit in einem bekannten Geschäft gearbeitet. Dann ist er fortgezogen und hat zu seiner weiteren Ausbildung die technische Mittelschule zu Karlsruhe besucht und da die Staatsprüfung bestanden. Er erzählt, wie schwer diese Prüfung ist, wie er hat ochsen und schwitzen müssen. Jetzt stand er bis zum Kriegsausbruch als Bauführer in guter Stellung in einem angesehenen Privatgeschäft. Ein Leben voll Fleiß und Arbeit und pflichteifrigem Streben. Eine höchst einfache, alltägliche Geschichte. Ein Schulbeispiel für Tausende. Es gibt die Erklärung für den wunderbaren wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand des deutschen Volkes, um den es nun einen Lebenskampf kämpft.

[22]
II

Auf schnurgerader und vortrefflich unterhaltener Landstraße — Chaussee sagt man noch bei den Deutschen — gelangt ein rüstiger Wanderer in einer halben Stunde von der Napoleonsinsel, wo ich mich bei den Soldaten verweilt, nach dem Dorfe Rixheim, hinter dem sich ein sanfter Höhenrücken südwestwärts hinzieht. Vor dem Bürgermeisteramt ist noch der Aufruf des Kaisers an das deutsche Volk vom 6. August angeschlagen, dicht daneben hängt eine Bekanntmachung des Bezirkskommandos von Mülhausen vom 12. August, die jedem Hausherrn sofortiges Erschießen androht, der einen Franzosen, sei es in Uniform oder in Zivil, beherbergt, ohne Anzeige an die Behörde zu machen. Der Erlaß stammt, wie das Datum zeigt, aus den Tagen nach den ersten Gefechten bei Mülhausen vom 9. und 10. August, mit ihren Vorgängen in Burzweiler, bei Modenheim und Sausheim.

Auf einem einsamen Feldwege erreiche ich die Anhöhe und gelange bei einer einsamen Schenke auf die Straße, die von Eschenzweiler über Zimmersheim nach Mülhausen führt. Vor mir liegt nach der Karte der Schoffberg, der von einem ausgedehnten Walde gekrönt ist. Oberhalb Rixheim war schon im Gefecht vom 9./10. August die Artilleriestellung der Franzosen. Auf den Höhen zwischen Rixheim und Mülhausen lagen [23] sie nach der zweiten Besetzung von Mülhausen, die am 18. August erfolgte, mehrere Tage lang und legten Feldbefestigungen an, die bei meinem Besuche am 19. September, wenn auch schadhaft geworden, noch deutlich sichtbar sind. Die Höhen wurden befestigt mit gut verkleideten Batterie-Schanzen, an den Hängen hat sich die Infanterie eingeschnitten, meistens zweckmäßig und geschickt, doch nicht überall. Einzelne Schützengräben weisen wenig Schußfeld auf, und das Feuer aus ihnen kann bis auf kurze Entfernung unterlaufen werden. Viel Arbeit haben die Franzosen auch hier auf das Freimachen des Schußfeldes verwendet. Lange Reihen von Nuß- und Obstbäumen und ganze Waldstreifen wurden umgelegt. Die Verschanzungen zogen sich auf diesem Flügel der Stellung von Habsheim über den Zimmersheimer Rüstel und die Rixheimer Höhen bis gegen Riedisheim. Ein Bauer, der sich im Walde mit Zurüsten des ihm ohne sein Zutun geschlagenen Holzes zu schaffen macht, erzählt mir, wie ihm und den anderen Landbesitzern von den Franzosen strengstens verboten war, während der Anwesenheit der französischen Truppen ihre Waldungen und Felder zu betreten. In mehreren stark gelichteten kleinen Erlen- und Akazien-Gehölzen sind die Spuren der französischen Biwaks noch jetzt deutlich sichtbar: zusammengefallene Laubzelte und Windschirme aus Laubwerk, Feuerstellen, Konservenbüchsen u. dgl. Ein das Vorgelände beherrschendes, auf einer vorspringenden [24] Nase gelegenes solches Gehölz ist besonders sorgfältig zu einem Stützpunkt und zugleich zur Unterkunft eingerichtet worden: Hinter dem Rande des Wäldchens feindwärts ein starker Schützengraben, der mit einem Gerüste aus Zaunpfählen, Rebstöcken und Latten gedeckt ist, das Gerüst verkleidet mit Zweigen und Blätterwerk, zum Schutz gegen die Unbilden der Witterung. Das Innere des Wäldchens häuslich als Biwak eingerichtet. Die Franzosen hatten anscheinend hier einen neuen Angriff der Deutschen erwartet, zogen dann aber am 23. oder 24. August freiwillig wieder ab, worauf die Deutschen Mülhausen wieder besetzten. Jetzt sind die Verschanzungen schon halb verfallen, in den Grabensohlen ist frisches Grün gewachsen, und die Schutzgerüste sind zum Teil schon eingestürzt...

Im Weiterschreiten erblicke ich mitten in einer Wiese zwei weggeworfene Zwilchtaschen mit abgeschnittenen Lederriemen. Auf der einen Tasche steht ziemlich deutlich der Stempel zu lesen:

133e de L

Es waren also Mannschaften vom 133. französischen Linienregiment, die hier gelagert haben. Dieses Regiment gehörte zum VII. Armeekorps (41. Inf.-Division), das zu jener Zeit in dieser Gegend operierte.

Nicht weit davon entdeckte ich die Überreste einer weiteren Zwilchtasche, gestempelt mit den Zeichen:

[25]
35-11-15 ESC
ELIGERT
8274
                                              abgerissen

Der Inhaber gehörte zum 35. Infanterie-Regiment, 11. Komp., 15. Gruppe (Escouade). Eligert ist vielleicht der Name des Soldaten. Die Zahl 8274 dürfte eine Kontrollnummer sein. Das 35. Infanterieregiment gehört ebenfalls zum VII. Armeekorps.

Auf dem Rückweg nach Mülhausen werde ich noch Urheber eines lebhaften Wortgefechts zwischen einem Teil der Dorfjugend von Riedisheim. Ich frage zwei, drei barfüßige und barhäuptige Rangen, ob sie auch dabei gewesen wären, als die Franzosen kamen und das Gefecht stattfand. Da brauche ich nicht zweimal zu fragen. Haben die ein Mundwerk! Der eine weiß zu erzählen, wie die deutschen Granaten über das Dorf wegflogen, der andere fällt ihm ins Wort und will haben, daß es französische waren und der dritte, daß die deutschen und französischen kreuz und quer hinüber- und herüberflogen. Fast fahren sie einander in die Haare. Ein kleiner Bengel erzählt, wie ein verwundeter französischer Offizier erst vier Tage nach dem Gefecht in einem Gebüsch noch lebend aufgefunden wurde. Nein, erst am fünften Tage war’s, herrscht ihn ein anderer an. Und was denn die Ortsbewohner gemacht haben [26] während des Kampfes, frage ich. O, die einen versteckten sich im Keller, die anderen in der Küche, die dritten im Garten, aber wir, wir schauten zu. Und Angst hat natürlich keiner gehabt.

Die eigentliche Stadt Mülhausen hat in den Kämpfen, die rings um sie herum gefochten wurden, verhältnismäßig wenig gelitten. Nur das gegen die Napoleonsinsel und den Hardtwald zu gelegene Nordostquartier kam in dem Gefecht vom 18./19. August in das Kreuzfeuer der französischen und deutschen Artillerie. Zerstört oder stark beschädigt durch Granatfeuer sind besonders mehrere Gebäude an der Baslerstraße und einigen benachbarten Straßen, der Frühlingstraße, Lorenzstraße und Zuberstraße. An der Nordostfront der schönen Genoveva-Kirche an der Frühlingstraße ist der Giebel der rechten Nebenpforte von einem Granatschuß heruntergeschlagen, auch die Strebepfeiler dieser Seite zeigen erhebliche Breschen, die von Granatsplittern herrühren. Nahe dabei, an der Ecke Frühlingstraße-Lorenzstraße hat eine Granate in einen Hof eingeschlagen, der als Parkplatz für Fuhrwagen diente. Das kreisrunde, etwa zwei Meter lange, einen Meter breite Loch, wo die Granate platzte, ist noch unverändert, die zersplitterten Wagen stehen noch am gleichen Orte, die Fassade der gegenüberliegenden Wirtschaft zur „Eintracht“ sieht wie gesprenkelt aus von den Granatsplittern. Schlimm mitgenommen sind einige weiter auswärts liegende Häuser an der Baslerstraße. Zertrümmerte [27] Dachgiebel, Fensterkreuze, Gartenmauern und Eisengeländer, große breite Öffnungen an den Fassaden oder Kahlmauern der Häuser zeugen von der gewaltigen Wirkung, welche die heutige Feldartillerie — denn nur solche und keine schwere Artillerie kam hier zur Verwendung — mit einem einzigen Granatschuß auf tote Ziele auszuüben vermag. Hier fielen dem Artilleriefeuer auch zwei Menschenleben zum Opfer. Ein Gastwirt, der eben heraustrat, um die Läden zu schließen, wurde unter der Tür seines Hauses tot hingestreckt. Nahe dabei erlitt in einem anderen Hause ein junger, neunzehnjähriger Mann, der unter ein Fenster des zweiten Stockwerkes trat, das gleiche Schicksal. Sonst sollen keine Bürger gefallen sein. Ein Straßenkampf hat, entgegen anderen Meldungen, hier nicht stattgefunden. Ähnliche Verwüstungen wie die geschilderten sind weiter sichtbar im südlicheren Teil der Baslerstraße: In einem großen Halbkreis ist hier das Asphaltpflaster des Bürgersteigs aufgerissen, da ein schöner Torbogen eingeschlagen, dort, an der Zuberstraße, eine starke Zementmauer auf mehrere Meter Breite zertrümmert; viele Häuserfassaden sind mit Löchern gespickt. Mancher leichtere Schaden an Dächern und Mauern ist schon wieder notdürftig geflickt. Viel schlimmer sieht es in der westlichen, hauptsächlich von Fabrikarbeitern bewohnten Vorstadt Dornach aus. Hier hat das französische Artillerie-Nahfeuer aus einer Entfernung von fünfzehnhundert bis zweitausend Metern, zum Teil [28] aus noch größerer Nähe, fürchterliche Verheerungen angerichtet. Die schwache deutsche Artillerie, die auf der Belforter Straße vorrückte, um am Westrand des Dorfes das Feuer zu eröffnen und die angreifende Landwehr-Infanterie zu unterstützen, wurde teilweise schon beim Auffahren zusammengeschossen, der Rest war von den aus vorzüglicher, gedeckter Lauerstellung hinter den Anhöhen östlich und südöstlich Niedermorschweiler feuernden, auch zahlenmäßig weit überlegenen französischen Batterien bald zum Schweigen gebracht. Dann richteten diese ihr Feuer auf den Westrand des Dorfes, wo sich die Landwehrmänner vom badischen Landwehr-Infanterieregiment Nr. 40 in die Häuser und Gärten eingenistet hatten. Gleich zu Anfang des Gefechts wurde hier im westlichsten Dorfteil, fast zu äußerst an der Belforter Straße, der Schweizer Hennin aus Pruntrut vor seinem Hause erschossen, weil daraus, wie die Deutschen behaupten, auf sie gefeuert worden sein soll. Von anderer Seite wird jede Verfehlung Hennins bestritten. Über den verhängnisvollen Vorfall ist von amtlicher deutscher Seite eine Untersuchung eingeleitet worden, wie mir mein Führer, ein altelsässischer Ortseinwohner, mitteilt. Hoffentlich wird es gelingen, den Tatbestand festzustellen. Gleich in der Nähe des Henninschen Hauses, das nur unbedeutend beschädigt ist, beginnen die Verwüstungen durch das französische Granatfeuer. Etwas rechts (nordwestlich) der Belforterstraße ist ein neues [29] Backsteinhaus völlig durchlöchert, im Innern liegen die Wände in Trümmern. Eiserne durchschlagene Bettstellen liegen im Hofraum. Etwa dreißig Meter davor ist ein sehr sorgfältig und stark ausgebauter Graben für stehende Schützen mit Unterstand und Laufbrücken angelegt. Das haben die Deutschen den Franzosen abgelernt, meint mein elsässischer Führer. In der Nähe ein Grabhügel; das mit verwelkten Kränzen und Helmüberzügen geschmückte Kreuz trägt die Inschrift:

Hier ruht Qberleutnant Scherrer mit 22 Mann vom Landwehr-Inf.-Reg. Nr. 40 Rastatt.

Eine Kranzschleife trägt die Inschrift: Gewidmet vom Landwehr-Infanterieregiment Nr. 40. Von einer zweiten weißen Schleife liegt das eine Band, vom Winde losgelöst, schon auf dem Grabhügel, die goldenen Buchstaben sind zur Hälfte abgefallen; das andere Band hängt noch unversehrt am Kranze und trägt die Worte: Ihrem verehrten Kompanieführer. Der Kranz war also offenbar von der Kompanie gestiftet.

Von den dreiundzwanzig hier begrabenen Landwehrleuten trugen alle, bis auf einen, Eheringe. So versichert mein Führer.

Kaum zweihundert Meter von dieser Grabstätte entfernt ist wieder ein größeres Massengrab mit wohl an die hundert Toten. Auch diese meist Deutsche. Die Franzosen, die Herren des Schlachtfeldes blieben und die Deutschen hauptsächlich durch ihr Artilleriefeuer zum Rückzug zwangen, [30] schafften ihre Toten meist rückwärts über die Grenze und begruben sie in französischer Erde. Nach tapferer Gegenwehr und schweren Verlusten wichen die Deutschen der Übermacht.

Von der Belforterstraße gehen wir westwärts durch die Außenquartiere Hohlegasse, Illberg-Kolonie und Haller-Kolonie, die ihren Namen von einem Fabrikbesitzer trägt. In diesen drei Quartieren sind die Zerstörungen am ärgsten. Eine große Zahl teilweise ganz neuer, noch unbewohnter oder noch nicht ganz fertig erstellter Bauten, darunter kleine Arbeiterhäuser und größere Mietkasernen, liegen vollständig in Trümmern oder sind von zwei, drei und mehr Granatschüssen unbewohnbar gemacht. Zwischenhinein ist da und dort wieder ein Häuschen unversehrt. Die Leute sitzen — es ist Sonntag — im Gärtchen; noch haben sie die Kellerlöcher mit Sandsäcken verdeckt, um im Notfall ein sicheres Versteck zu finden. Die neue Kanonade vom letzten Donnerstag in der Gegend von Heimsbrunn, Galfingen und Bernweiler hat die Wiederkehr neuer Kämpfe in der Gegend wieder in den Bereich der Möglichkeit gerückt. Am Illberg ist ein großes Bauernhaus verbrannt, dabei sind vierzehn Stück Vieh zugrunde gegangen oder mußten abgetan werden. Das innere, östlicher gelegene Dorf hat weniger gelitten. Zwei Häuser sind durch platzende Granaten entzündet worden und abgebrannt. An der katholischen Kirche wurde der Turm beschädigt, schon steht das Baugerüst, um den Schaden auszubessern. [31] Auch in Dornach haben zwei Bürgersleute bei der Kanonade ihren Tod gefunden. Hier, wie übrigens überall, wo sie eindrangen, haben die Franzosen die Briefkasten eingeschlagen und unbrauchbar gemacht und die Briefsachen mitgenommen. Auf dem Dorfplatz vor dem Bürgermeisteramt haben sie auch das Waghäuschen der Dorfwage niedergerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Das war das Gefecht und die Beschießung von Dornach am 19. August 1914.