Vom Wissen und Nichtwissen der Zukunft

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Vom Wissen und Nichtwissen der Zukunft
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 203-234
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[203]
IV.
Vom
Wissen und Nichtwissen
der Zukunft.
______
[205]
1.

Der Gedanke, daß man die Menschen von der Begierde, ihr Schicksal in jenem Leben zu wissen, eben so abhalten solle, als man ihnen abräth zu forschen, was ihr Schicksal in diesem Leben sei, hat in der Zusammenstellung beider Sätze etwas so Treffendes, daß es wohl der Mühe werth ist, zu untersuchen, wie weit diese Aehnlichkeit reiche. Und so wollen wir den Urheber desselben aushören.[1]

[206]
2.

„So viel, sagt er, fängt man ziemlich an zu erkennen, daß dem Menschen mit der Wissenschaft des Zukünftigen wenig gedient sey; und die Vernunft hat glücklich genug gegen die thörichte Begierde der Menschen, ihr Schicksal in diesem Leben vorauszuwissen, geeifert. Wenn wird es ihr gelingen, die Begierde, das Nähere von unserm Schicksal in jenem Leben zu wissen, eben so verdächtig zu machen?


Die Verwirrung, die jene Begierde angerichtet hat, und welchen, (wie ich am Oedipus zeigen kann) durch schickliche Erdichtungen des Unvermeidlichen die Alten vorbeugen mußten, sind groß; aber noch weit größer sind die, welche aus den andern entspringen. Ueber die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Thoren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht eben so ruhig abwarten, als einen künftigen Tag?

[207] Dieser Grund gegen die Astrologie ist ein Grund gegen alle geoffenbarte Religion. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Kunst gebe, das Zukünftige zu wissen, so sollten wir diese Kunst lieber nicht lernen. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Religion gebe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtete, so sollten wir dieser Religion lieber kein Gehör geben.“

3.

– Die Religionen wollen wir zuerst bei Seite setzen. Mir ist keine bekannt, die es sich zum Zweck nähme, uns die Wissenschaft des zukünftigen Zustandes, zumal seiner äußern Beschaffenheit nach, demonstrativ zu geben; als Religion will und giebt sie nur Hoffnung, Zuversicht, Glauben. Eher hat es eine gewisse Philosophie gegeben, die sich anmaaßte, aus der Natur unsrer Seele sogar Verrichtungen ihres künftigen Daseyns zu demonstriren. [208] – Doch wir wollen uns durchaus keine Seitenblicke erlauben.

4.

Also zuerst: warum ists nicht gut, sein künftiges Schicksal in diesem Leben vorauszuwissen? Wenn es der Rathschluß, die Fügung, das Werk der höchsten Weisheit und Güte selbst ist, warum nicht? Diese zu wissen, so bald und ganz als möglich, sollte man glauben, kann nie schaden.

5.

Und müßte vielmehr viel helfen. Mit diesem Schluß der Vorsehung hätten wir ja die Reisekarte unsres Lebens vor uns, und sähen, wohin eine unsichtbare Macht das Schiff steure? wohin es, jetzt und dann, und im Ganzen, die Winde führen? – Oder hätte die himmlische Weisheit nur mit unsrer Thorheit ein Spiel? Fände sie es nothwendig, uns als Kinder durchs [209] ganze Leben hindurch mit dem Leben selbst zu täuschen? und lockte uns alle, wie Lehrlinge der Loge, mit Geheimnissen, die gar nicht dasind? Der Lehrling legte vielleicht sogleich seine Schürze nieder, wenn er im ersten Grad wüßte, was er im letzten erfahren wird, nämlich, daß nichts zu erfahren sei. – Lasset uns vom grossen Sinn und Geiste der Welt nicht so verächtlich denken. Eine fortwährende, ewige Täuschung oder geflißentliche Verblendung ist sehr verächtlich und Sinnlos.

6.

Also müssen wir unser künftiges Schicksal nicht wissen sollen, weil wirs nicht wissen können; weil dasselbe in seinem ganzen Umfange zu übersehen, unsern Kräften durchaus unangemessen ist und solche weit übersteiget. Mich dünkt, darin liegt offenbar die Ursache.

7.

Was gehörte nämlich dazu, sein künftiges Schicksal also zu wissen, daß diese Wissenschaft [210] ihren Namen verdiente, mithin uns als solche nützlich seyn könnte? Ungeheuer viel. Ich müßte mein ganzes Daseyn als den Grund meines Schicksals bis auf seine tiefsten Urgründe, alle meine Vorfahren hinauf kennen, um mir das Räthsel zu erklären: warum und wie Ich mit solchen Kräften und Schwachheiten, Anlagen und Lücken, Trieben und Fehlern dabin? Ich müßte das ganze Universum von Umständen wissen, die auf jene gewirkt haben, die auf mich wirken und wie ein Briareus mit Millionen Armen, Fingern, Füßen und Fäden mein Schicksal bestimmen, lenken und leiten werden. Habe ich zu dieser Wissenschaft Kräfte? habe ich zu Erlangung derselben in meinem kurzen Leben Zeit? Ist dies überhaupt dazu eingerichtet? – Auf keine Weise. Nicht die Wissenschaft des Zukünftigen und die Spekulation über dasselbe ist die Lection meines Lebens, sondern der Gebrauch des Gegenwärtigen. Dazu habe ich Mittel und Kräfte. –

[211]
8.

Also weiß ich mein zukünftiges Schicksal nicht, weil ich es durchaus nicht wissen kann, weil mir, es in seinen Gründen und in seinem Umfange zu kennen, Organe, Mittel, Kräfte fehlen. Hätte ich die, warum sollte ich, bis in die tiefste Ewigkeit hinein, das Meisterwerk der ewigen Weisheit und Güte, ohne allen meinen Schaden, ja gewiß zu meinem höchsten Vortheil nicht wissen dörfen?

9.

Nur nenne man das keine Wissenschaft, wenn ich Resultate ohne Gründe, Folgen ohne Ursache, den Ausgang ohne Veranlassungen höre. Meistens mit einem solchen quid pro quo haben sich die Mährchen beschäftigt, die uns abschrecken sollten, von der Zukunft ja nichts erfahren zu wollen. Mährchen für Kinder! – Freilich, wenn mir ein Orakelspruch sagt, daß ich in der Steppe der Tatern sterben werde, ohne mich [212] zu unterrichten, wie ich die Tatarische Steppe vermeiden könne, so hat es mir nicht viel gesagt; es hat mich verwirret, statt mich zu belehren. Es war aber auch nicht Wissenschaft der Zukunft, die mir das Orakel hiemit gab, sondern ein abgebrochenes End-Resultat, ein Räthsel. Wer mir das Product einer langen mathematischen Berechnung ohne Gründe und Glieder derselben vorlegt, hat mir damit noch keine Wissenschaft des Satzes selbst gegeben.

10.

Nicht Das hat die Astrologie verächtlich und lächerlich gemacht, daß sie sich mit der Wissenschaft der Zukunft beschäftigte; sondern daß sie sich mit ihr Grundlos beschäftigte, daß sie Wissenschaft derselben in Combinationen suchte, wo sie nicht zu finden war. Ein Gleiches ists mit der Chiromantie, Metoposcopie, mit Auspicien und Auguralkünsten. Man suchte Vorbedeutungen, wo keine seyn konnten, und hinterging [213] die Gemüther durch eine falsche Wissenschaft, die man für eine wahre hielt oder ausgab.

11.

Müßte aber, weil diese falsche war, jede Voraussicht in die Zukunft unwahr, verwegen, schädlich und deßhalb verbannenswürdig seyn? Gewiß nicht. Die Zukunft ist eine Tochter der Gegenwart, wie diese der Vorzeit. Zwei Sätze liegen vor uns, um den dritten zu folgern. Wer jene beide recht verstehet, recht anschaut, und sodann aus ihnen richtig folgert, hat keinen übeln Gebrauch von seiner Vernunft gemacht, die eben ja die Fähigkeit ist, den Zusammenhang der Dinge einzusehen, und wie Eins im Andern steckt, Eins durchs andre wird, zu schließen oder zu errathen.[2]

[214]
12.

Und was ist die Wissenschaft des Schicksals, so fern dies in unserm Gesichtskreise liegt, als Einsicht in die Consequenz der Dinge, d. i. [215] was, der Sache selbst und älteren Erfahrungen nach, jede Begebenheit mit sich bringe und hinter sich führe. Die Vernunft kann sich an nichts Wichtigerm nützlicher üben als an diesem Verbinden [216] und Trennen der Begebenheiten mit ihren Wirkungen und Folgen. Eine Fertigkeit hierin macht den praktischen Verstand, ein tieferer durchdringender Blick macht jene höhere Klugheit ausgezeichneter Menschen, die, vom gemeinen Haufen oft verkannt und verspottet, desto ernster sich durch die That selbst in der unabwendbaren Folgezeit rächet. Thiere erwarten den folgenden, wie den heutigen Tag Sinnlos; der leidenschaftliche Pöbel hängt schwer am jetzigen Augenblick und stößt in seinem Wahn den morgenden Tag mit Gewalt zurück, blos weil er den eisernen Fuß desselben auf seinem Nacken noch nicht fühlet. Der Weise erwartet zwar ruhig den kommenden Tag, nicht aber ohne gewonnene Vorsicht, wie dieser Tag etwa seyn möchte.

13.

Hierin besteht die ganze Haushaltung unsres Lebens. Wie Tages- und Jahreszeiten [217] ketten sich unsre Lebenszeiten; ja sie erwachsen aus einander, bauen auf einander; jede findet ihren Grund in der andern. Daher so viele Lehren der Alten von dieser Voraussicht in die Zukunft, als eine Erzieherinn und Fortleiterinn durchs Menschenleben, jedoch mit der weisen Beschränkung, nie zu viel, nie zu früh, nie etwas wissen zu wollen, was für uns nicht gehöret.

14.

Und hiemit treffen wir auf das Pünktchen der Waage. Thöricht ists, sich um das zu bekümmern, was wir nicht wissen können; träge und verdrossen wäre es, sich um das nicht bekümmern zu wollen, was uns von der Zukunft zu wissen noth ist, was sich von ihr mit der Gegenwart aus der Vergangenheit uns gleichsam aufdringet, was wir uns selbst nur mühsam verhehlen. Unser innerer Sinn, sagten die Griechen, spricht mit den Göttern, und ist [218] Weissager der Zukunft. Recht und bescheiden auch von künftigen Dingen zu urtheilen, hielten sie für die schönste Gabe der Himmlischen, die sterblichen Menschen zu Theil werden könne, und stellten beide Abweichungen, den zu kühnen Vorblick sowohl, als den zu trägen Gang der Menschen auf ihren Wege, in das gehörige Licht.[3]

15.

Sehr belehrend hierüber ist das Theater der Griechen, eine Schule der Weisheit über die Wissenschaft und Dunkelheit des Schicksals. Mächtig ist die Schickung und unentweichlich; eine heilige Nothwendigkeit, der man gehorchen muß, die auch dem obersten Gott gebietet. Ganz unschuldig aber leidet unter ihr niemand. Wo [219] auf Jemanden eine Schuld ruhet, da wütet Er gegen das Schicksal und, indem er ihm entgehn will, reißt verblendet er es zu sich hernieder. Sowohl der zu weit sehen will, als der sich verhärtet, das was vor ihm liegt, nicht sehen zu wollen, ist sein und der Götter Feind. Sie warnen, ehe sie strafen. Jeder trägt in sich geschrieben seine Bestimmung. So sprach, dies zeigte das griechische Theater.

16.

Und so ist es. Wir tragen die Nemesis in uns. Jeder weiß, was er aus seinem vorigen Leben für Schuld und Vernachläßigung auf sich geladen, was er zu büßen, zu vergüten, einzuholen, zu tilgen, oft nur mit seinem Untergange zu tilgen habe. Die Last der Zukunft liegt unabwendbar auf ihm. – – Ein Grieche z. B. würde es für eine vom Schicksal selbst gesandte Verblendung gehalten haben, wenn ein Zeitalter die Fehler, die Laster, die Gräuel nicht sieht [220] und sehen will, die auf einer Verfassung, auf einem Geschlecht, auf einem Zustande von Sitten und Charakteren, als eine der Zukunft zu verrechnende Schuldenlast drückend liegen. Der Schuldherr kommt, er kommt gewiß, ein unerbittlicher Foderer und strenger Vergelter. – – Auch, glaube ich, müße eine Zeit erscheinen, da diese Gesetze des politisch-moralischen Rechts und Unrechts dem Menschenverstande so licht und klar vorliegen, als die Gesetze des physischen Drucks und Gegendrucks oder der natürlichen Schwere. Es muß eine Zeit kommen, da es eine Wissenschaft der Zukunft wie der Vergangenheit giebt, da Kraft dieser Wissenschaft die edelsten Menschen so gut für die Nachwelt als für sich rechnen: denn Eins wird durch das andre gestraft und belohnet. Aus der Astrologie und Chiromantie wird sich diese Wissenschaft der Zukunft nicht herschreiben; sie hat schon ihren Namen, Physiokratie im reinsten höchsten Verstande, Ethomantie der Menschheit, [221] die große Nemesis der Zeiten, die in den Busen blickt und das Rad wendet.[4] – –

17.

Die Anwendung dieser Sätze auf unser Schicksal nach dem Tode ist leicht und treffend. Auch hier giebt es einen Theil der Zukunft, um welchen Niemand sich bekümmern darf und soll, weil er durchaus seine Fassungskraft übersteigt und außer seinem Gesichtskreise lieget; ich meine die physische Welt, die unsern Zustand nach dem Tode ausmacht oder bereitet. Es giebt aber auch eine andere Wissenschaft der Zukunft, der Niemand entfliehen darf und soll; es ist die Gerechtigkeit, die ernste und dankbare Wiedervergeltung, die uns am Ende der Laufbahn [222] erwartet, und die, (wir wollen oder nicht,) uns fortbegleitet.

18.

Wer im mindesten auf die Veranstaltungen gemerkt hat, mit denen die Natur in diesem Leben ein werdendes Geschöpf ins Leben fördert, und es darin empfangt, würde sich für den ärgsten Thoren halten, wenn er auf die Veranstaltungen der Natur zum Empfang in ein anderes Leben nur rathen wollte. Hätte ein Mensch die Naturgesetze der Erzeugung, Geburt und Fortpflanzung der Wesen von der Pflanze an bis zum Menschen hinauf nicht vor sich und sollte sie a priori errathen; welches Gesetz würde er errathen? Würde ihm der von der Natur genommene Gang nicht vielmehr unglaublich scheinen? Und doch ist in der physischen Natur dies der merkbarste aller Triebe, auf den alles angelegt ist, dem alles dienet; denn eben Er ists, der das Kreisrad [223] der Schöpfung im Gange erhält und die Welt vor dem Tode bewahret. Ins Reich der inneren Kräfte, ins eigentliche Dispensatorium des Lebens zu dringen ist keinem Sterblichen gelungen; es wird ihm auch nie gelingen, da die Schranken unsrer Organe uns deutlich vorstehn. – Wie thöricht-verlohren wäre also jeder Gedanke, der die Geburt der Seelen in eine andre Welt auch nur Traumweise beschreiben wollte! Die scharfsinnigsten Köpfe, die sich hiemit abgaben, auf wie kindische Einbildungen sind sie gerathen! Der uns ungefragt hiehergebracht und für das Werden in diese Welt einen so unerwarteten Plan ersonnen hat, wird uns auch in eine andre Welt hinüber zu fördern wissen, wenn er unser bedarf. Was wissen wir? Das uns empfangende Medium kann bereit seyn, sobald sich unser Auge schließt, und die Kräfte der Natur sind sich allenthalben allgenugsam. – Wir dörfen für sie nicht messen und zählen.

[224]
19.

Aber, wie wir hinübergehen? die Nemesis in unserm Herzen, die mit uns geht, sie stellet die Frage. Denn wenn Bewußtseyn nicht mit uns ginge, so lohnte es der Frage gar nicht; wir hätten sodann das Schicksal des zersplitterten Steins, der verweheten Asche. Wenn also vom zukünftigen Leben geredet werden soll, müssen wirs als Fortleitung und Resultat, als die umgekehrte Blattseite dieses Lebens betrachten; und so kann es wohl nicht gleichgültig seyn, was wir hier in unser Buch schrieben? welchen Lebensschwangern Keim der Zukunft wir mit uns nehmen? In einem Augenblick zu einer entgegengesetzten Natur verändert zu werden, kann niemand erwarten.

20.

Also nehmen wir, wenn sich der Faden fortspinnet, uns wie wir sind hinüber, und der [225] Einschlag der Zukunft geschieht in und nach dem Gewebe, das wir mit uns brachten.

21.

Mithin Schuldlos und heiter von dannen zu gehn, keinen Ankläger und Rächer im Busen mit sich zu tragen, müßte jedes Vernünftigen Wunsch und Bestreben seyn, gesetzt sogar, daß er sich mit seinem Bestreben täuschte. Er ist nicht getäuscht; er hat den höchsten Wunsch erreicht, der in seiner Laufbahn zu erreichen war; er steht mit heiterm Blick und Zurückblick als Sieger ruhig am Ziele.

22.

Glaube eines zukünftigen Lebens ist also der Menschheit nothwendig, ja ich möchte sagen, natürlich. Nothwendig, damit sie nicht unter sich sinke, und in Verzweiflung oder Gräueln, die selbst die ärgste Verzweiflung sind, ärger als ein Thier werde. Wir haben in unsrer Zeit den schauderhaften Anblick erlebt, da [226] Menschen im Taumel wütender Leidenschaften zu dem brutalen Evangelium die Zuflucht nahmen, daß, aus dem Nichts gekommen, sie jetzt, mit Blut und Schande bedeckt, ins Nichts zurückeilten. Nach allen Ungerechtigkeiten und Quaalen, die sie ihren Mitbürgern zugefügt hatten, ließen sie ihnen nichts als einen schändlichen Leichnam. – Bei diesen Auftritten hat, dünkt mich, selbst der Ungläubige einsehen gelernt, wie nothwendig dem Menschengeschlecht Glaube an eine fortgehende Zukunft sei, selbst sogar den Fall gesetzt, daß diese nicht vorhanden wäre.

23.

Und daß sie nicht vorhanden sey, ist dem Menschen nicht nur unerweislich, sondern fast undenkbar. Es ist ihm natürlich, sich fortzudenken in seinen Wirkungen und Kräften. Die Vorstellung, daß alles an ihm, wie sein Körper, von Würmern zernagt oder ins Wüste versplittert werde, ist ein Ungedanke, der uns die [227] ganze Schöpfung zu einem unzusammenhangenden Traum macht, indem er ihr die schönste Haltung, die auf Gesetzen der Geisterwelt, in fortdenkenden, gütig wirkenden Wesen beruht, raubet. Dies lebendige Fortwirken ist dem Menschen ein so natürlicher Glaube, daß auch die rohesten Völker an ihm, als an einem Naturglauben, hingen, und ihn sich, jedes auf seine Weise, zu seiner Selbstbefriedigung ausbildeten und ausschmückten. Ein freches System der Vernichtung im Tode ist nur für Wüstlinge, Räuber und Mörder, die aufs eigentlichste in den Tag hinein leben, eine erwünschte Predigt.

24.

Ich weiß wohl, daß das Bekümmern um die Ewigkeit hie und da viel Schaden gebracht hat; warum aber ward es schädlich? Weil es außer der Regel geschah, die uns Vernunft und die Sache selbst vorzeichnen. Die Gerechtigkeit, [228] die große Consequenz der Dinge auch im letzten Augenblick ist diese Regel; wer sie wegdrängt oder ihr Richtmaas menschlicher Handlungen krümmet, kann und wird die beste Sache am frechsten mißbrauchen.

25.

Wenn man Einerseits in bildlichen Träumereien jenseit des Grabes sich verlohr und darüber den Gebrauch dieses Lebens vergaß, durch welchen man sich doch allein den Gebrauch einer Folgezukunft verschaffen konnte: so zerbrach man offenbar der großen Consequenz Richtmaas. Man setzte den Kegel auf den Kopf und wollte ernten, statt daß man säen sollte, um einst zu ernten. Nicht Wissenschaft war dies, sondern hohle Träumerei und ein thörichtes Vorausnehmen der Zukunft. –

26.

Wenn anderseits der Glaube eines zukünftigen Lebens sogar schändlich gemißbraucht ward, indem man die unerbittliche Gerechtigkeit zu bestechen [229] suchte, dem Verbrecher am Rande seines Lebens Schenkungen abdrang oder andre elende Versöhnungsmittel anpries, den Unglücklichen hingegen unter der unverschuldeten Last dieses Lebens erliegen ließ, mit dem Trost: „dort leidest du nicht mehr! dulde nur noch etwas unter der Hyäne Zähnen! es ist bald vorüber! Aber die Hyäne geht dir auch dort vor. Sie hat geschenket!“ – so erschrickt jeder Rechtschaffene vor solcher schändlichen Anwendung. – Was überhaupt bliebe heilig, wenn Vernunft und Moral einmal verletzt sind, und man ihre Regel selbst im letzten entscheidenden Augenblick zu verkehren sich nicht erblödet?

27.

Gegen die Religion selbst laßt uns dieser schändlichen Misbräuche wegen keinen Groll hegen; [230] sie verdammet solche als Misbräuche, und stellet die Gerechtigkeit selbst ans Grab hin als Glauben.

28.

Glaube muß die Hoffnung der Fortdauer nach dem Tode allein bleiben; demonstrirte Wissenschaft kann sie nie werden. Glaube ist ihr Maas, mit welchem sie auch am frohesten, am unschädlichsten wirket. Hat es nicht Thoren gegeben, die, weil sie über den hoffenden Glauben hinausschritten und eine philosophisch-demonstrirte Gewißheit dieser Lehre zu haben vorgaben, die Bürde dieses Lebens selbst abwarfen, und sich damit dem Genuß dessen, was sie sich hier erst standhaft erwerben sollten, selbst entnahmen? Glaube ists, was für das Volk gehöret; und im ruhigen sowohl als wirsamen Genuß [231] des Lebens, ja im letzten Augenblick sollen wir alle Volk seyn, und uns nicht mit Grübeleien plagen. Haben wir zu überlegen nicht Zeit genug gehabt? Wollten wir, junge Catonen, das Büchlein in der Hand, erst in der letzten Stunde anfangen zu überlegen? Lebe jeder, wie er soll; im Tode überlasse er sich zutrauend der Vorsehung, die ihn hieher gebracht und so manche Anstalt auf ihn vorbereitet hatte; sie wird diese auch dort getroffen haben und ihn sicheren Schrittes leiten. Dem mit Schwären überdeckten Verbrecher aber reiche man kein falsche Pflaster; wo möglich, gehe er vor den Augen der ganzen Welt als ein Verbrecher hinüber. Sein innerstes Bewußtseyn in diesem Augenblick zum Kuppler zu machen, ist Hochverrath gegen die Menschheit.

[232]
29.

Ohne Religion kann die Menschheit nicht seyn. Schon das Unendliche, das uns vor- und ruckwärts umgiebt, das wir mit Gedanken so wenig als mit unsern Händen umfassen können, und in welchem wir doch allenthalben Gesetze und eine Organisation wahrnehmen, die uns in das süßeste Erstaunen setzt, – schon dies Unendliche, Weise, Gütige gebeut uns Religion, d. i. Verehrung, Scheu, Dank und Zutrauen zu dem großen Unnennbaren, der diese Organisation bildete, diese Gesetze fest stellte. Die Regel des Rechts in unsrer Brust schließet uns noch vester an ihn; denn sie ist seine, sie ist des moralischen Weltalls Regel. Der Gedanke endlich, daß wir ganz, wie wir sind, ihm angehören, ewig angehören, und [233] daß was er uns jetzt seyn ließ, wahrscheinlich nur ein Unterpfand dessen sei, was wir fortgehend unter seiner Führung seyn können und seyn werden, dieser zutrauende Glaube macht uns von seiner Huld gleichsam unabtrennlich. Lieber also glauben, als wissen! Da wir sehen, daß und warum wir eine Unendlichkeit, die vor uns liegt, nicht übersehen können; so wollen wir rechtschaffen-strebend, mit Liebe zutrauend fortgehen und glauben.

30.

Der christlichen Religion endlich, wie ihr Stifter sie lehrte, sollte hiebei gar kein Vorwurf gemacht werden; sie beschäftigt sich am wenigsten mit Träumereien und Bekümmernissen über den Zustand nach dem Tode. Vielmehr stellt sie uns hier auf Erden einen großen Bau vor Augen, [234] an welchem alle Zeitalter hindurch gearbeitet werden soll, bis Der wiederkommt, der den Lohn austheilet. Wer an diesem moralischen Bau der Menschheit thätigen Antheil nimmt, hat etwas anders zu thun, als über die Ewigkeit träumen.


  1. Leßings Leben und Nachlaß. Th. 2. S. 243.
  2. Die Deutsche Sprache mit allen ihren Schwestern hat ein sehr schickliches Wort, unsern Sinn für die Zukunft zu bezeichnen; Ahnen Anda [236] hieß im Gothischen ein Geist, ein wehender Hauch: (S. Ihre, Wachter, Scherz Glossarien) und es möge nun seyn, daß der Geist der Zukunft auf uns, oder unser Geist auf die Zukunft hinauswirke, in beiden Fällen ist der Ausdruck angemessen und treffend. Wahrscheinlich sagte man zuerst als ein Impersonal mir ahnete! gleichsam eine halbleidende Wirkung zu bezeichnen, wie man sagt: mich verdrießt es, mich schaudert u. f. Aus diesem Ausdruck: meinem Geist, meinem Herzen ahnet Gutes oder Böses entstand die spätere active Formel: mein Geist ahnet die Zukunft. Beide Ausdrücke zeigen etwas Großes, Schweres, Dunkles an, das vor uns liegt, und wir mit einem hellen Blick nicht zu durchdringen, zu umfassen vermögen. Um so mächtiger aber wirkt auf uns diese verworrene, viel-umfassende Erkenntniß. – Dem Ahnen steht ein [237] Wort von ganz anderm Sinn zur Seite Ahnden, d. i. zürnend verweisen, rächen und strafen. Es ist nicht zu läugnen, daß das letzte das erste beinahe verdrängt hat, und daß manche es fast für Ziererei halten, statt Ahndung, Ahnung zu gebrauchen; indessen ist dieses (Ahnung, Ahnen) in den meisten Dialekten Uraltersher und in der gemeinen Sprache das wahre. Warum sollte man nicht also, bei so verschiednem Sinn, auch Worte bestimmt unterscheiden? wie man es gegen ein verwirrendes quid pro quo in mehreren Fällen gethan hat. Auch das für und vor war bei den Alten nicht unterschieden; man hat sich aber, weil es die Logik der Sprache fordert, über ihren Unterschied einverstanden; warum sollte man es nicht auch bei den Wörtern Ahnen (die Zukunft dunkel vorausempfinden) und Ahnden (rächend strafen) thun dörfen?
  3. Θεος εστι τοις χρηστοις αει
    Ο νους αρ` ως εοικε· τοις σοφωτατοις.
    – Τους θεους εχων τις αν
    Φιλους αριστην μαντικην εχοι δομοις.
    U. a.

  4. Physiokratie heißt Kenntniß der Gesetze der Natur und ihrer Haushaltung: Ethomantie heißt Voraussehen der Zukunft aus Sitten und Handlungen: Nemesis, die Göttinn, die allen Uebermuth bemerkt und ihn ahndet.