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Palingenesie

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Palingenesie
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 143-202
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[143]
III.
Palingenesie.
Vom Wiederkommen menschlicher
Seelen.
______
Mit einigen erläuternden Belegen.
[145]
1.

„Warum könnte jeder einzelne Mensch nicht mehr als Einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn?

2.

Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

[146]
3.

Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben, welche blos zeitliche Belohnungen und Strafen den Menschen bringen können?

4.

Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?

5.

Warum sollte ich nicht so oft wieder kommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

6.

Darum nicht? – Oder weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß [147] ich das vergesse! Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich das auf ewig vergessen?

7.

Oder weil so zu viel Zeit für mich verlohren gehen würde? – Verlohren? – Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“

8.

So Leßing.[1] Und ich setze sogleich, um den Ton nicht zu überstimmen, eine Stelle hinzu, die er in einer strengeren Gemüthsfassung schrieb:[2]

[148]

„Daß man die Menschen von der Begierde ihr Schicksal in jenem Leben zu wissen, eben so abhalten sollte, als man ihnen abräth, zu forschen, was ihr Schicksal in diesem Leben sei.


9.

So viel, meint er, fängt man ziemlich an zu erkennen, daß dem Menschen mit der Wissenschaft des Zukünftigen wenig gedient sei; und die Vernunft hat glücklich genug gegen die thörichte Begierde der Menschen, ihr Schicksal in diesem Leben zu wissen, geeifert. Wenn wird [149] es ihr gelingen, die Begierde, das Nähere von unserm Schicksal in jenem Leben zu wissen, eben so verdächtig zu machen?

10.

Die Verwirrungen, die jene Begierde angerichtet hat, und welchen (wie ich an Oedipus zeigen kann) durch schickliche Erdichtungen des Unvermeidlichen die Alten vorbeugen mußten, sind groß; aber noch weit größer sind die, welche aus der andern entspringen. Ueber die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Thoren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht eben so ruhig abwarten, als einen künftigen Tag?“ –

11.

Mit einem Philosophen, der über jede Hypothese von nähern Umständen unsres künftigen Zustandes so ruhig urtheilt, darf man auch über seine Hypothese vom öftern Wiederkommen der [150] Menschen in dieses Leben ruhig sprechen oder, wie man jetzt sagen will, vernunften.

12.

Alt ist die Hypothese gewiß, nicht etwa nur als Speculation, sondern viel früher noch als Wahn sinnlicher Menschen.

13.

Alle Völker nämlich bildeten sich ihren künftigen Zustand nach ihrem jetzigen; wie konnten sie auch anders? Eine Nomadenfamilie, die in diesem Leben enge zusammenhing, sich fest an die Namen, Geschlechtsregister und Traditionen ihrer Väter anschloß, auf das Ansehen derselben ihr eigen Glück und ihre Erwartungen bauete, mit ihnen endlich gemeinschaftlich in Eine Gruft ging, dachte sich den Zustand nach dem Tode als eine Versammlung der Väter. So ward ein Schattenreich unter dem Grabe oder ein Paradies jenseit des Grabes, wie der [151] Scheol und Garten Eden der Hebräer, mit veränderten Umständen auch der Hades und das Elysium der Griechen beweisen.

14.

Einsame Völkerstämme, wie Oßians Galen, die zwischen Nebelreichen Gebürgen im Andenken des kriegerischen Ruhms ihrer Väter und selbst in fortdauerndem Kriegsgetümmel lebten, setzten ihre Heldenväter in die Wolken, damit sie auch nach dem Tode noch die Tapferkeit ihrer Söhne ansehen, und ihren eignen unvergessenen Ruhm in Gesängen hören möchten.

15.

Kriegerische Völker, die aus fernen Ländern gekommen waren oder in ferne Länder streiften, hatten eine Walhalla ihres alten Vaterlandes, in welche sich unter ihrem ersten Anführer die im Streit fallenden Krieger fortdaurend versammlen und alle Ergötzungen finden, die sie hier im [152] Leben geliebt hatten. Ihre Uebungen und Kämpfe setzen sie dort beseliget fort.

16.

So alle andre Nationen, die in einer engen gesellschaftlichen Verbindung leben. Der Schatte dieser Verbindung, wie es auch der Name sagt, folgt Jeder so treu ins Schattenreich nach, daß man hinter dem Grabe die sicherste Charte von den Neigungen und Phantasieen, auch wohl vom Grade der Cultur und dem eigensten Charakter der Nation aufnehmen könnte. Jede legte ihr Ideal der Glückseligkeit, das sie auf Erden nicht oder nur Theilweise fand, in ein Elysium hin; jede, die zu moralischen Begriffen gelangt war, belohnte und strafte jenseit des Grabes nach Ereignissen und in der Lebensweise, die ihr diesseit des Grabes eigen gewesen war. Der Schatte nahm seine Empfindungen und Beschäftigungen mit, und trieb sie dort weiter.

[153]
17.

Wie aber die Völker, die sich so enge verbunden nicht fühlten? die wenigstens keinen Drang hatten, ihren Gesellschaftskreis, ihre Sippschaft, ihren Ruhm, ihre Verrichtungen in jene Welt hinüberzunehmen? Möge man es Fühllosigkeit oder erworbene Gleichgültigkeit nennen, und die Ursachen davon im Klima oder in der natürlichen Organisation oder endlich in frühen Begebenheiten und in der Lebensweise der Nation finden; gnug, die Seelenwanderung war das Nächste, worauf diese leichter organisirten Völker kommen konnten.

18.

Sie sahen lebendige Wesen um sich, die ihnen so bedeutend schienen, wohl auch so lieb waren, wie die Menschen; Lebendige, deren Jedes in seiner Organisation einen Charakter ausdrückte, wie der Mensch in der seinigen; die völlig denselben Lebensgang der Entstehung, [154] des Wachsthums durch Nahrung und Beschäftigungen, der Fortpflanzung und eines allmälichen Ablebens zu durchwandeln haben, als sie selbst; ja die sie vielleicht in ihrem freien Element der Luft, des Wassers, der Wälder für glücklicher hielten, als sie sich bei mühsamer Arbeit, in ihrer oft Kummervollen Höhle halten mochten. – Wie nahe lag ihnen also der Wahn: „im Tode wirst du jener leichte Vogel, jene schwimmende Ente, oder wenn du es zu werden stark genug bist, jener vortrefliche, gefürchtete Bär.“ Dies war nicht Speculation, sondern sinnlicher Wahn, den ihnen der Umgang mit Thieren, eine zwischen ihnen und sich bemerkte Aehnlichkeit, überhaupt aber das Mitgefühl mit denselben Kunstlos eingab.

19.

Bei allen Völkern, welche die Seelenwanderung glaubten, bemerkt man ausgezeichnet dies Mitgefühl mit Thieren, ja sogar eine Hochachtung [155] gegen einige derselben weit über den Menschen hinaus. Wie hoch steht die Kuh, der Elephant in der Denkart eines Hindus! dies oder jenes Jagdthier in der Vorstellungsweise eines Jagdvolkes! Von ihrem Reh nimmt Sakontala fast einen zärtlicheren Abschied als von ihren Gespielen.[3]

20.

Was diesen Lieblingswahn sehr vermehren mußte, war die Fabel- und Mährchenweisheit dieser Völker. In der Fabel sprechen am angenehmsten Thiere; ihre Charaktere, ihre verschiedene Haushaltungen und Lebensweisen legen sich in ihr Glaubwürdig zu Tage; man spricht mit ihnen, man lernt von ihnen. Die alte Fabelweisheit der Hindus ist bekannt; in dem Hitopades des Wischnu-Sarma[4] liegt ein [156] reiches Feld vor Augen. Auch den andern roheren Völkern fehlte es an Mährchen nicht, die von dieser Sympathie mit dem gesammten Thierreich ausgingen, und zur Seelenwandrung unmittelbar führten.

21.

Die Kunst der Zauberer (Schamanen) vollendete Alles. Wenn sie die entflogene Seele nicht zurückbringen konnten, (und auch hierüber gab es Mährchen) so wußten sie sie doch aufzusuchen und in jenem Thier, in diesem Vogel zu befragen. Der allgemeine Glaube dieser Naturvölker, daß der schnelle Gedanke wandern und erscheinen könne, daß in Träumen und angestrengten Ekstasen die Seele wirklich aus dem Körper gehe und Alles das verrichte, was der Begeisterte sich vorstellt, dieser Glaube machte die Seelenwanderung beinahe selbst zur geglaubten Erfahrung.

[157]
22.

Und doch war sie nur ein Wahn, obgleich sehr natürlich gegeben.

Der Satz also,[5] „daß, da die Seelenwanderung gewiß das älteste aller philosophischen Systeme sei, schon dies ein gutes Vorurtheil dafür wirken müße: denn die erste und älteste Meinung in spekulativen Dingen sei immer die wahrscheinlichste, weil der gesunde Menschenverstand sofort darauf verfiel,“ dieser Satz dürfte nach dem, was gezeigt ist, Einschränkung leiden. Eh die Lehre von der Seelenwanderung Spekulation oder System ward, war sie Volksglaube, eine Meinung sinnlicher Menschen, auf ihrer Stufe der Cultur ihnen eben so natürlich als andern leidenschaftlicheren Völkern ihre Versammlung der Väter, ihr Land der Seelen, ihr Hades, Elysium, Orkus.

[158]
23.

Als die Brahmenkaste der Hindus diese Lehre ausbildete, und mit tausend Göttermährchen verknüpfte, bildete sie an ihr nichts, als, wenn ich so sagen darf, die Organisation ihres Volkes, seinen Wahn und Glauben, seine Ansicht der Welt aus. Leidenschaftlos und doch äußerst zart im Gefühl, von gährendem Wein, von Thierspeisen und aller Völlerei gesondert, an Waschen und Reinigung gewohnt, in einem milden Klima fast unter freiem Himmel hausend, fühlen sich die Menschen vom Druck der Luft minder beschweret, und nicht im Kampf, sondern in einem sanften Zusammenfluß der Elemente. Die Lebensseele ist ihnen also ein subtiles Element, das alle Dinge durchdringet, und in dieser und jener leicht zusammengesetzten, leicht trennbaren Form, nur auf eine Zeit, nach ihrer jetzigen Lage, nach ihrem jetzigen Werkzeugen wirket. Diese sind ihr bildsame Gefäße, in welche sie ausgegossen ist; ohne Mühe kann sie [159] in ein anderes Gefäß gegossen werden, und dieses beseelen. Ein Strom leichter Verwandlungen ist ihre Welt; ihre erhaltende Gottheit selbst hat sich oft verwandelt. Es sei nur Täuschung, meynen sie, daß die Dinge so hart und schroff abgetrennt seyn, wie wir sie uns denken; ihre Philosophie sowohl als ihre Moral gehet darauf hinaus, diese schroffe Abtheilungen zu mildern, den Wahn des Verschiedenseyns zu verbannen, und einen Zustand sich eigen zu machen, da uns alles gleich ist, indem uns nichts afficiret. Eine Organisation dieser Art macht die Seelenwanderung zu einem angenehmen Traum. Das beseelende Oel des Lebens fließt hin und her; die Seele kömmt und gehet. Wie der Leib in seine Elemente aufgelöset wird, so gehet auch sie in ihr Element und mittelst des ewigen Stroms in andre Formen über.

24.

Man begreift leicht, was für Annehmlichkeiten dieser Traum in einem Klima mit sich führe, [160] das einem sanften Volk seine ruhige Passivität sehr begünstigt. Er ist ihm ein Opium, das gleichgültig macht; selbst die strengsten Büßer können bei ihren Ertödtungen der Sinne, bei ihrer Concentration aufs innerste Gemüth, als den leidenschaftlosen Mittelpunkt des Daseyns ein Vergnügen empfinden oder empfunden haben, das uns, die wir mitten im Krampf physischer und moralischer Weltblähungen leben, ganz unbekannt ist.

25.

Aber was soll dies Opium uns? Die Verfassung des Geisterreichs, die Gestaltungen des Menschengeschlechts erkläret diese Meinung auch analogisch nicht. Denn wenn die Elemente, die unsern Körper ausmachen, den Gesetzen ihres Systems gehorchen: so ist eben die Frage, was dann das ordnende Gesetz des Geisterreichs sei? Nach welchen Regeln wechseln [161] die Dinge ihre Form? Nach welchem Gesetz fließen die Seelen auf und nieder?

26.

Soll dies ein moralisches Gesetz seyn, so ist der Glaube der Seelenwanderung eher beunruhigend, als erklärend. Warum büßet dieser Unglückliche, ohne daß er weiß, warum er büße? Der Leidenschaftlosen Seele der Welt ist an seiner Büßung, an Rache und Gnugthuung nicht gelegen.

27.

Und wie hart büßet er! moralisch betrachtet. Er, der nicht mehr Mensch ist, soll für das büßen, was er als Mensch that, in einem Zustande, der ihm alle Fähigkeit abschneidet, moralisch, d. i. bessernd und versöhnend zu handeln.

28.

Und wie leicht büßet er doch! ohne Moralität betrachtet. Der ehemalige Tiger im Menschengeschlecht [162] ist jetzt ein wirklicher Tiger, ohne Pflicht und Gewissen, die ihn einst zuweilen doch quälten. Jetzt schießt er los und zerfleischt mit Durst, Hunger und Appetit, aus innerem, nun erst ganz gestillten Triebe. Das wünschte, das wollte ja der menschliche Tiger! Statt gestraft zu seyn, ist er belohnet; er ist was er seyn wollte und einst in der Menschengestalt sehr unvollkommen war.

29.

Hinweg also mit der Seelenwanderung, als einer Büßungshypothese![6] Nur für Kinder, für sinnliche Menschen, und auch für diese ist sie verderblich, da sie, bei einigem Guten, das Uebelste bewirkt, was an Menschen bewirkt werden kann, nämlich sie unter Thiercerimonien [163] und Aberglauben, unter dem Joch eitler Furcht, in einem fortwährenden Kreisgange weniger Ideen gefangen zu halten und auf Jahrhunderte zu lähmen. Das munterste Roß, das sein Leben hindurch mit verdeckten Augen den Mühlengang durchkreisen muß, verliert zuletzt wo nicht ganz seine Besinnung, so gewiß seine edlere Art.

30.

Pythagoras, der bei Errichtung seiner philosophischen Gesellschaft die Seelenwanderung, (wir wissen nicht, mit welchen Modificationen) als einen alten Aegyptischen Glauben mit aufnahm, hatte dabei seine Ursache. Die Griechischen Fabeln vom Hades und Elysium ketteten die Menschen an die abgestorbnen Sagen ihrer Urväter aus den so genannten Heldenzeiten vest an; seinem Plan waren diese entgegen. Wenn er einen Bund der Edlen und Guten zur Menschenaufklärung und Menschenglückseligkeit [164] stiften wollte, so mußte man aus diesem engen Ideenkreise alter Familien-Sagen heraus. Der Mensch mußte sich als Mensch betrachten; unter sich das Thier, über sich die Gottheit. Durch diese Hypothese ward er von der Furcht des Hades entbunden; er hörte auf, ein Knecht alter Vorurtheile zu seyn, und sollte gegen seine Nebenmenschen das werden, was Menschen gegen Thiere sind, ein Gott; sonst ginge er nach seinem Tode wieder zu den Thieren. Wie mehreres Andre gab Pythagoras diese Lehre als Glauben weiter: ein philosophisches System ist, meines Wissens, diese Lehre in Griechenland nie worden.

31.

Wie könnte sie es auch werden, da ihr alle Basis fehlet? Niemand weiß, wer er einst war? und ob er schon war? Er solls nach diesem Glauben auch nicht wissen dörfen. Niemand weiß, wohin er gehe? und was aus ihm werde? Die [165] Hypothese bekennet also selbst, daß sie Wissenschaft zu seyn nicht begehre.

32.

„Man duldet aber, wo keine Wissenschaft statt findet, so manche Hypothese.“ – Man duldet sie, weil sie erläutert, weil sie zu etwas Gewißerem führet. Was erläuterte, wozu führte diese?

33.

Erläuterte sie etwa das Unglück der Elenden, der Gebrechlichen, der Unterdrückten? Nichts weniger. Vielmehr erbittert sie gegen das Schicksal, das also rächet und strafet. Sünden der Eltern an Kindern, Vergehungen eines vorigen Lebens, die uns die Anwendung und den Genuß des gegewärtigen rauben! Dazu unbewußt rauben, ohne daß ein vernünftiger bessernder Zweck erreicht werde! – Ueberhaupt ist der Begrif einer rächenden Gottheit, die da rächt ohne [166] zu bessern, ein Unbegrif, ein häßlicher und verächtlicher Gedanke.

34.

Und sehen wir nicht, daß eben Personen, welche die Vorsehung vernachläßigt, ja gar verwahrloset zu haben scheint, oft am glücklichsten gedeihen? Andre, die sie reich ausstattete, mißrathen?

35.

Eine Hypothese also, die uns das Leben zum blinden Kinderspiel oder zur Fallbrücke macht, die uns veranlaßt, wider die Vorsehung entweder als unbillig Verworfene schmerzhaft zu murren, oder sie wie verzogne Lieblinge bübisch zu äffen und zu mißbrauchen; eine Hypothese, die uns zum Neide, zum Stolz, zu Trübsinn, Trägheit und Mißtrauen verführt, und uns den klaren Anblick der Dinge, wie sie sind und werden, hinwegnimmt – eine solche Dichtung ist kein glücklicher Traum.

[167]
36.

Warum wollet ihr, daß der Tiger, die Hyäne, der Abscheulichkeiten wegen, die sie (sogenannte Menschen) an Menschen begehen, erst in einem künftigen Leben leiden und ihre Verruchtheit, der keine Hölle weit und tief gnug ist, durch eine Rache büßen sollen, die keinem vom ihren Beleidigten und Unterdrückten das mindeste hilft? Euch thut er das Unrecht; bindet Ihr den Tiger und macht ihn zum Menschen. So rächet Ihr euch aufs edelste, und bewirkt selbst eine glückliche Metempsychose. Wie? ihr wolltet euch ruhig die Leber fressen lassen, damit euren Geier in seinem künftigen Zustande das Schicksal röste und brate? Schämt euch einer niedrigen Trägheit, die sich mit kindischem Wahn tröstet. Palingenesirt euch selbst an euren leidenden und Leidbringenden Theilen; so darf euch das Schicksal nicht palingenesiren.

[168]
37.

„Allerdings geht die Vorsehung einen unmerklichen Gang, und dieser Unmerklichkeit wegen wollen wir an ihrem Fortschritt nicht verzweifeln; nicht verzweifeln an ihr, selbst wenn ihre Schritte uns scheinen sollten zurückzugehen. Die kürzeste Linie ist nicht immer die gerade. Aber wenn sie, die Vorsehung, auf ihrem ewigen Wege so viel mitzunehmen, so viel Seitenschritte zu thun hat, wenn das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt wird, deren Jedes sein Einzelnes dahin liefert;“[7] so lasset uns nicht vergessen, daß diese kleineren, schnelleren Räder kein Andrer, als Wir sind. Auf uns hat die Vorsehung gerechnet. Das größeste Gute wie das größeste Uebel geschah den Menschen durch [169] Menschen. Sie machten es, daß sie Vorsehung so viel Seiten- und Rückschritte thun mußte; sie förderten oder hemmten den Gang des großen Rades. In diesem Leben ist also den Menschen Palingenesie, Metempsychose unentbehrlich; oder sie ist überhaupt mißlich.

38.

Denn was fördert den Fortgang des Ganzen im Menschengeschlecht? und was hielt ihn zurück? Einzelne große und gute Menschen förderten ihn, die eine neue Geburt der Gedanken und Bestrebungen ans Licht brachten. Sie erschienen wie Genien und zwangen andre weiter. – Was hemmete hierauf den Fortgang, und machte daß jede neue Bildung immer nur Ruckweise geschah? Die Trägheit andrer Menschen. Man hinderte, wie man konnte, und lähmte den Gang der Vorsehung; oder man hing sich jenen aufweckenden, neubeseelenden Genien als Ballast an, krüppelte ihnen nach und brachte [170] ihr Bestes so tief hinunter, daß mit Umsturz des Alten ein neu Gebäude wiederum von Grundaus errichtet werden mußte. Lasset uns die Fehler der Menschen nicht zum Gange der Vorsehung machen und auf gewaltsame, auf wiederkommend-zerstörende Perioden nicht als auf wesentliche Bedingungen unsres Fortstrebens rechnen. Kometen schießen zur Sonne in langen Hyperbeln und wieder hinweg; Welten, die ihren ruhigen Gang haben, gehen nicht Ruckweise sondern in der bestimmtesten Bahn um die ewige Sonne der aufhellenden, erwärmenden Wahrheit.

39.

Jetzt also oder vielleicht niemals! –

Coelum, non animum mutant, qui trans mare currunt;
Strenua nos exercet inertia; navibus atque

[171]

Quadrigis petimus bene vivere: quod peris hic est!
Est Vlubris, animus si te non deficit aequus.

[8]
40.

Aber so sind wir Menschen. Wir dichten uns Hoffnungen der Wiederkehr; wir theilen unser Geschlecht nach Stufen der Cultur, nach Zeiten, Regionen; und versäumen oft dabei zu bemerken, [172] daß der Beruf des Menschen, seine Lebenslection, je und allenthalben dieselbe, und zwar eine leicht zu fassende Lection sei, wenn nur die Menschen selbst sich solche nicht leidenschaftlich verwirrten, gewaltsam erschwerten, thöricht verlängten. Alle Zeitalter haben diese Lebenslection gewußt, alle Nationen konnten sie wissen; wir selbst könnten sie von Jugend auf gewußt, und würden sodann unser Leben, seinem schönsten Theil nach, nicht verlohren haben.

41.

Gewiß und wahrlich. Um, was zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts im Einzelnen und Ganzen gehört, zu kennen, dörfen wir nicht mehrmal auf unsrer Erde gewesen seyn; und haben wirs einmal zu lernen versäumt, dörften wirs wahrscheinlich mehrmal versäumen. Die Glückseligkeit des Ganzen besteht nur in der Glückseligkeit aller Glieder, der Fortgang der Aufklärung im Ganzen wird [173] nur durch Zunahme aufgeklärter Einzelnen Befördert. Was die Vorsehung dabei für einen Gang nehme, überlassen wir Ihr; wir sind Einmal da, und sollen ihr helfen. Bedarf sie unser öfter, so wird es ihr an Gelegenheit dazu nicht fehlen; nur wir können auf diese nicht rechnen.

42.

So sind wir Menschen! Selbst Grundsätze und Handlungsweisen theilen wir nach Zeitaltern ab, wie nach Classen die Schüler; und zum Ueberblick der Geschichte sind Abtheilungen der Art, wie Farben auf der Landkarte zum Ueberblick der Länder, allerdings bequem. Im Innern aber läßt sich das Menschengeschlecht nicht also abtheilen. Jederzeit hat eine Classe Menschen aus Furcht und Hoffnung, der Strafe und Belohnung wegen, gehandelt; in den meisten Fällen des Lebens, wo nur die Klugheit gebietet, handeln wir noch also; und wehe dem [174] Schwachen, der sich jeden Augenblick mit dem obersten Grundsatz der Moral verwirren und martern will, wenn es blos auf Wirkung und Folge ankommt, mithin Klugheit allein entscheidet.

43.

Zu allen Zeiten aber hat es auch gute Menschen gegeben, die viel Gutes um des Guten selbst willen thaten. Es giebt solche auf allen Stufen der Cultur, unter allen Nationen; unter denen, die wir Wilde nennen, vielleicht mehr als unter Völkern die blos zu feineren Vergnügungen der Sinne, der Einbildungskraft, der äußern Ehre und des Vernünftlens aufgeklärt sind. Jeder von jenen Guten und Edeln hatte seinen Lohn in sich; sein Gutes ging auf andre über.

44.

Wünschen wir also in ein Zeitalter wiederzukommen, wo man blos weise und nicht auch klug seyn darf: so hoffen wir wahrscheinlich auf [175] eine utopische Zeit: denn immer wird dem Menschen ein Gewicht nöthig bleiben, das ihn an der Erde hält, damit er nicht in die Lüfte fliege. So lange wir Sinne, Phantasie, Gefühl für Ehre und Schande, Triebe der Sympathie u. f. behalten, wird auch ihr Anbau nöthig seyn. Auch unter dem Auge der Vernunft und dem Gesetz der Güte werden uns die Winde des Lebens, Furcht und Hoffnung, nimmer verlassen, wenn sie gleich nicht als Stürme unser Schiff treiben. In allen Zeitaltern war das Menschengeschlecht ein Baum, der Blätter, Blüthen und Früchte zugleich trug; zu jeder Zeit gab es, dem Charakter nach, große und gute Menschen.

45.

Und auf Charakter, dünkt mich, komme es bei unsrer Exsistenz am meisten an, nicht auf vermehrte Kenntnisse und Wissenschaften. Diese sind feiner geschliffene Werkzeuge, mit denen viel Gutes, aber auch viel Unnützes und Schädliches [176] geschehen kann; es kommt auf die Hand an, die sie führet. Ob ich z. B. eine moralische Wahrheit symbolisch oder in einer allgemeinen Formel erkenne, ist zum Lebensgebrauch gleich viel; gnug wenn ich sie lebendig erkenne und befolge.

46.

Wir bilden uns ein, daß unsre Vorfahren, wenn sie wieder kämen, unsre Zeiten bewundern würden. Verwundern würden sie sich allerdings; unsre Zeiten vielleicht auch bewundern. Den Fortgang des menschlichen Geistes nämlich in einzelnen und allgemeinen Wissenschaften, das Wachsthum der Erfahrung durch zusammenhangende Zeitalter, durch auf einander angewandte Künste, den erweiterten Wirkungskreis der menschlichen Vernunft, die ungleichgrössere Anzahl aufgeklärter Köpfe nach dem, was wir Aufklärung nennen; dies alles würden sie mit Verwunderung anstaunen, und vielleicht lange nicht begreifen.

[177]
47.

Ob sie aber, was den Charakter der Menschheit, ihre innere Kraft, Würde und Glückseligkeit betrifft, auch einen so ungeheuren Zuwachs finden würden, ließe sich bezweifeln. Wenigstens würden sich in der angenommenen höheren Gleichung unsrer Zeiten diese Vortreflichen wahrscheinlich nicht häufiger finden, als sie, nach dem, was von andern Zeiten erfordert werden kann, je und immer gewesen.

48.

Offenbar sind wir, auch mit unsern Erfindungen und Operationen, Werkzeuge in einer höheren Hand, die augenscheinlich unser gesammtes Geschlecht umfasset, und (wie wir ihr zutrauen können) sein Bestes zum Zweck hat; ob aber dabei jedes ihrer Werkzeuge dieses Beßere und Beste zum Zweck habe? ist eine andre Frage, die von der Erfahrung laut verneint wird. Mit unserer aus dem Fortgange der Cultur erwachsnen [178] größeren Macht haben wir, sofern es auf uns ankam, unendlich viel Böses gegen das Menschengeschlecht verübet, das Wir noch allenthalben auf der Erde entweder zu büßen oder zu vergüten haben. Es muß also eine große Palingenesie der Gesinnungen unsres Geschlechts vorgehen, daß unser Reich der Macht und Klugheit auch ein Reich der Vernunft, Billigkeit und Güte werde. Die Alten vom edelsten Charakter würden sich dieses einseitigen Fortganges schwerlich erfreuen, und vielleicht mit bewundernder Verachtung sagen: „weh euch, ihr starken Schwächlinge, ihr seyd mächtige, aber abscheuliche Dämonen!“

49.

Unläugbar ists indeß, das Menschengeschlecht, durch Raum und Zeit und Noth und an einander geknüpfte Erfahrungen verbunden, drängt und treibt sich weiter. Das innere Zeughaus der Naturkräfte kennen wir nicht; wissen also auch [179] nicht, woher die Vorsehung die Geister nimmt, die sie zu Fortleitung und Entwicklung dieses allgemeinen Knotens menschlicher Dinge bestimmt hat. Nimmt sie solche aus ältern Zeiten, so sende sie uns keine Cäsars, Attila’s, Tigelline, sondern große und gute Menschen.

50.

Und auch Er komme uns bald zurück, der die Erziehung des Menschengeschlechts als einen schönen Traum vortrug, Er, den wir sehr vermissen, und an dessen Statt wir dem Hades hundert luftige Schatten gern zusenden möchten.

51.

Zwar auf viel neue Kenntnisse, deren sich seitdem unser Vaterland zu rühmen hätte, können wir ihn nicht einladen, und die, deren es sich rühmt, dörften ihm nicht sonderlich neu scheinen. Aber lehren sollte Er uns –

[180]
52.

Nicht wie es in jener Welt stehe; diese Kenntniß muß und mag jeder sich selbst erwerben; sondern – Aber mich dünkt, ich höre seine Stimme: „zu Euch komme ich nicht wieder. Stellt Eure Bibliotheken, wie ihr wollt; schreibt Komödien, Dramaturgieen, Briefe – ich komme nicht wieder.“

53.

Und würde er nicht zu mir sprechen, was nach Franklin jener Amerikaner zum Mißionar sagte: „Unhöflicher! ich erzählte dir ein Mährchen, und du nennst es Unwahrheit?“ – Nicht Unwahrheit, Lieber, sondern nur Mährchen, wie du es selbst gegeben. Auch mir wäre es lieb, wenn sich dein Traum aufs beste realisierte, und ich viele Solons und Pythagoras, Platons und Antonine, Sarpi und Fenelons um mich erblickte; die menschlichen Bären, Lüchse und Füchse dagegen, ihrer charakteristischen Gestalt wiedergegeben, jeden in seinem natürlichen [181] Elysium wüßte. – Ueber ein Mährchen läßt sich überhaupt viel sagen, obwohl für und wider nichts erweisen. Es kann gut und schlecht angewandt werden; mags jeder glauben, wer will. Glauben und Aberglauben tadelt man nicht in guter Gesellschaft. – Doch er rede selbst!

54.

„Der Verfasser hat sich in dieser Schrift[9] auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr als den vorgeschriebenen Weg, seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzückt, auch jedes andere Auge entzücken müßte. – Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er stehet und staunet!

55.

Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz [182] verhüllt, noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! –


„Ich meine diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei Allem im Spiel; nur bei unsern Irrthümern nicht?“

56.

„Sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe [183] zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist.

Der Schwärmer thut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reisen. Denn was hat Er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kommt er wieder? Glaubt er wieder zu kommen? – Sonderbar, daß diese Schwärmerei allein unter den Schwärmern nicht mehr Mode werden will.“[10]

57.

Werde sie also unter Schwärmern Mode; nur unter guten Schwärmern. Baue die Vorsehung [184] durch wiederkommende oder durch neu ankommende Seelen ihr großes Gebäude, wenn beiderlei Arbeiter nur rüstig und gut arbeiten. Im Geist und Charakter erkennen sich doch alle Gute aus allen Zeiten: Güte und Wahrheit ist nur Eine; diese bleibt und kommt immer wieder.

[185]
Erläuternde Belege
der Denkart, die zum Glauben einer Metempsychose geneigt macht.
______
1. Mitgefühl mit der ganzen belebten Schöpfung.

Als Sakontala[11] den heiligen Wald verlassen soll, in welchem sie ihre Kindheit, und erste Jugend durchlebt hatte, ist dieses die Abschiedsscene:

[186]
Kanna
(Pflegvater der Sakontala, ein Bramin.)

Hört, ihr Bäume dieses heiligen Hains! ihr Bäume, in denen die Waldgöttinnen wohnen, hört und verkündets, daß Sakontala zum Pallast ihres Ehgemahls geht; sie, die auch dürstend nicht trank, bis ihr gewäßert waret; sie, die aus Liebe zu euch, nicht Eines eurer frischen Blättchen brach, sogern sie ihr Haar damit geschmückt hätte, deren größte Freude die Jahrszeit war, wenn ihr mit Blumen prangt.

Chor der unsichtbaren Waldnymphen.

Heil begleite sie auf ihrem Wege! Mögen beglückende Lüfte, ihr zum Genuß, den wohlriechenden Staub köstlicher Blüthen umherstreun! Teiche klaren Wassers, grün von Lotosblättern, sie erquicken, wo sie wandelt, und belaubte Zweige sie vor dem sengenden Sonnenstrahl decken!

[187]
Eine Gespielinn.

War das die Stimme des Kokila,[12] der unsrer Sakontala eine glückliche Reise wünscht? Oder sangen die Nymphen, die Befreundeten der frommen Bewohner dieses Hains dem harmonischen Vogel nach, und machten seinen Gruß zum ihrigen?

Die Pflegmutter.

Tochter, die Waldgöttinnen, die ihre verwandten Einsiedler lieben, haben dir Glück gewünscht; ihnen gebührt dein ehrfurchtsvoller Dank. (Sakontala geht umher, und neigt sich gegen die Bäume.)

Sakontala
(bei Seite, zu Einer ihrer Gespielen.)

Entzückt mich gleich der Gedanke, meinen Gatten bald wieder zu sehn, so wollen mich doch alle Kräfte verlassen, meine Priyamwada, da [188] ich jetzt von diesem Hain, dem Zufluchtsort meiner Jugend, scheiden soll.

Priyamwada.

Du klagst nicht allein. – Sieh, der Hain selbst trauert, nun die Stunde des Abschieds herannaht. Die Gazelle frißt nicht länger vom gesammelten Kußagrase; die Pfauhenne tanzt nicht mehr auf der Wiese; die Pflanzen im Walde lassen ihre bleichen Blätter zur Erde sinken; ihre Kraft und ihre Schöne sind dahin.

Sakontala.

Ehrwürdiger Vater, erlaube mir diese Madhawistaude anzusprechen, deren rothe Blumen den Hain in Glut setzen.

Kanna.

Mein Kind, ich kenne deine Liebe für dieses Gewächs.

[189]
Sakontala
(umfaßt die Pflanze.)

O strahlendste der schlängelnden Pflanzen, empfange meine Umarmung. Erwiedre sie mit deinen biegsamen Zweigen. Von diesem Tage an, groß wie die Entfernung ist, die mich von dir trennt, bin ich dein immerdar. – Geliebter Vater, sieh diese Pflanze wie mein andres Ich an.

Kanna.

Meine Theuerste, deine Liebenswürdigkeit hat dir einen Gatten erworben, der dir gleich ist. Jetzt da meine Sorge um dich ein Ende hat, will ich deine Lieblingspflanze mit dem Bräutigam Amra[13] vermählen, der in ihrer Nähe Wohlgerüche verbreitet. – Ziehe weiter mein Kind.

[190]
Sakontala.

Mein Vater, du siehst die Antilope, die dort wegen der Bürde, mit der sie trächtig ist, sich langsam fortbewegt. Wenn sie dieser Bürde los seyn wird, sende mir eine gütige Botschaft mit der Nachricht ihres Wohlseyns. Vergiß es nicht.

Kanna.

Liebe, ich vergeß es nicht.

Sakontala.

Was ists, das den Saum meines Kleides ergreift, und mich zurückhält?

Kanna.

Es ist das junge Reh, dein angenommener Pflegling, auf dessen Lippen, wenn die scharfen Spitzen des Kußagrases sie verwundet hatten, du so oft mit eigner Hand das heilende Sesamöl legtest, den du so oft mit einer Handvoll Syamakörner füttertest. Er will die Fußtapfen seiner Beschützerinn nicht verlassen.

[191]
Sakontala.

Was weinest du, zärtliches Geschöpf, für mich, die unsern gemeinschaftlichen Wohnort verlassen muß? Wie ich dein pflegte, da du deine Mutter bald nach deiner Geburt verlohrst, so wird mein Pflegevater, wenn wir scheiden, dich hüten mit sorgsamer Wartung. Kehre zurück armes Geschöpf, zurück – wir müssen scheiden.


Und nicht den Indiern, ihnen nicht auf der Bühne allein ist dieses Mitgefühl mit Thieren und Pflanzen eigen; selbst rohe Völker, die in und mit der Natur leben, können ihm nicht entsagen. Der Mogole lebt und spricht mit seinem Pferde; mehrere tatarische Völker bitten die Thiere um Verzeihung, die sie auf der Jagd oder sonst tödten. Georgi[14] führt ein Finnisches Jagdlied [192] an den Bären an, das Lob und Ehrfurcht ausdrückt; und die Kamtschadalen, (Itälmenen, gewiß kein feingesittetes Volk) haben eben diese Achtung oder Furcht vor Thieren, als wären sie, ihnen gleich, verständige Wesen. Alle, glauben sie, gehen gleich ihnen in die Unterwelt über, und suchen sich ihrer daher auch für diese Unterwelt zu versichern.[15] Von der Ente Aanguisch, einem singenden Seevogel, der sich in großen Schaaren auf ihren Gewäßern versammlet und die Accorde c, e, g und c, f, a in Chören anstimmt, haben sie die Musik erlernt; nach seinem Ton machen sie Aanguischlieder. So z. B. klagt der Liebende über seine gestorbene Braut, die er jetzt in einen solchen Singvogel verwandelt glaubt:

     Auf den blanken See bist du gefallen,
Bist nunmehr zur Aanguisch-Ente worden;

[193]

O daß ich gesehn dich hätte fallen!
Auf den Wellen hätt’ ich dich ergriffen,
Schnell ergriffen, und dich nicht verfehlet.
Denn wo fänd’ ich Deinesgleichen Eine?
Hätt’ ich Habichtsflügel; in die Wolken
Folgt’ ich dir, und holte dich hernieder! –

     Mit ihr ist mein Leben mir verlohren;
Voll von Traurigkeit, mit Schmerz beschweret,
Zieh’ ich in den Wald. Ich will den Bäumen
Ihre Rinde nehmen, mir zur Speise;
Dann, erwachend mit dem frühsten Morgen
Eil’ ich an den See. Ich will die Ente
Aanguisch jagen; rings umher die Augen
Will ich forschend drehn, ob meine Liebe
Sich mir zeig’, ob ich sie wiederfinde? –

Einbildungen dieser Art sind nicht Philosophie, sondern ein sinnlicher Wahn sinnlicher Menschen. Die Thiere, wie alles Lebendige, stehen von ihnen nicht so weit ab, wie wir uns über sie erhoben dünken.

[194] 2. Wenn sich aus solchen Eindrücken ein gewisses Symbol vom Ganzen der Schöpfung bildet, schließet es die Metempsychose beinahe schon in sich. Jedes Lebendige nämlich ist seinem Charakter nach ein bedeutender Buchstabe der Schöpfung; die Buchstaben werden versetzt, und es entspringen neue Wörter, neue Gestalten.


Mir sind zwei Indische Gemählde durch ein Geschenk zugekommen, die um so merkwürdiger scheinen, da mir weder aus dem Borgianischen Museum, noch aus Büchern etwas Aehnliches bekannt ist. Das Eine stellt einen bedächtig schreitenden Elephanten, das Andre ein Roß im schnellesten Lauf vor; beide ganze Gestalten aber sind aus Thieren zusammengesetzt, alle mit lebendigen Farben, äußerst genau und charakteristisch, in den verschiedensten Stellungen und zwar jedes dahin geordnet, wo es als Theil des Ganzen eine lebendige Eigenschaft desselben ausdrückt. [195] Der vorsichtig-aufgehobne Fuß des Elephanten ist ein zusammengekrümmter Affe in der vorsichtigsten Stellung; der vortretende so, wie die nachtretenden Füße werden von Thieren geformt, die Weiche, Stärke, Klugheit bezeichnen. So beim Elephant und dem Roß, bis auf den Rüßel, den Schweif, den Zaum, durch alle Bestandtheile des Geschöpfs, daß zur Bezeichnung Eines Gliedes oft die verschiedensten Thiergestalten mitwirkend sich zusammenfügen. Was nun auch die Bedeutung dieser Figuren im Ganzen seyn möge, (seys ruhige Weisheit im Gegensatz der schnellesten Macht, oder zwei Ideen, die die Mythologie des Volks näher angiebt) welche sonderbare Denkart, auf diese Weise symbolisch zu componiren, und jeden kleinsten Theil des Symbols mit überdachter Genauigkeit charakteristisch auszuführen! – Einem Volk, daß so zu imaginiren geneigt ist, dem sind zwischen Geschöpf und Geschöpf, so eigen jedes in seiner Art seyn mag, keine Mauern und [196] Bollwerke gebaut; leicht schlüpft die Seele Eines Lebendigen in das andre über. Wechselnd verrichten sie ihre Functionen; wechselnd ruhen sie, oder tragen die Last der Schöpfung.

3. Diese symbolische Gestalt der Schöpfung, gleichsam eine immerwährend fortgespielte Fabel, hat für sinnliche Menschen viel Anschauung, und in dieser einen reichen allegorischen Sinn. Jeder Gestalt nämlich bleibt, so lange sie spielt, ihr unzerstörbarer Charakter; die Rollen aber wechseln, so bald die Schaale zerbrochen wird, leicht. Bei der größten Wirklichkeit also ist unsre Welt Maja, eine Welt der Täuschung. Die Lebensseele, die in die Organisation eines Thiers floß, kann in der großen Ordnung der Dinge auch einen Menschen organisiren; und wenn es die Ordnung der Dinge fodert, umgekehrt. Sie verändert blos ihren Aufenthalt, spielt allenthalben ihre Rolle, hat ihre Funktionen; nur in der feinern Organisation [197] des Menschen übt sie feinere Kräfte, Vernunft, Ueberlegung, Gedächtniß, und aus ihrer Zusammenwirkung die edelste Kraft Gewissen.[16] – Alles ist, (wie einst Brahma erschien,) ein ewig bebrütetes Ei. Gedanken und Bewegung theileten jenes; Gedanken und Bewegung wirken fort nach einem vestgestellten Richtmaaß. Bewußtseyn und fünf Sinne sind dieses Richtmaas, der Gränzkreis aller Wandlungen, aller Gestalten.[17]


Einem sinnlichen Auge nämlich kann die große Analogie der Dinge, eine unübersehbar-reiche Natur, die sich immer doch in wenige und dieselbe Sinne, Organe und einen ähnlichen Gliederbau, (blos nach Elementen [198] verändert,) einschließt, nicht verborgen bleiben. Es war also die bequemste Philosophie, zu denken, daß der Lebensgeist, der sich in der Weltmaschiene, zwar charakterisch-reich, aber auch eben so beschränkt an Sinnen und Organen gegossen hat, wieder in sich zurückkehre, und neue Sinnen und Organe bildet. „Gott, welcher die Erde in voller Blüthe, reich an befruchtenden Saamen sah, rief den Verstand hervor, den er mit mannichfaltigen Organen und Gestalten begabte, um daraus eine Verschiedenheit der Thiere auf Erden zu bilden. Die Thiere begabte er mit fünf Sinnen; dem Menschen gab er die Ueberlegung, und erhob ihn über die Thiere des Feldes. Männlich und weiblich wurden die Geschöpfe geschaffen, damit sie ihr Geschlecht fortpflanzen möchten. Der Verstand aber, ein Theil der großen Seele des Ganzen, ward allen Geschöpfen eingeflößt, um sie auf eine ihnen bestimmte Art zu beleben. Nach dem Tode belebt er andre Körper, oder kehret wie ein Tropfe [199] in das unbegränzte Meer zurück, dem er entfloß.“[18]

4. Es war also auch nur Philosophie des sinnlichen Auges, zu glauben, daß wie die Theile des Körpers in ihre Elemente zurückgehen, auch die belebende Seele in den großen Hauch, die Seele der Welt, zurückkehre. Bei den Thieren hinderte nichts, dies zu glauben; sie hatten, wie in der Fabel, jedes in seiner Organisation, ihre Rollen gespielet und ausgespielet. Aber beim Menschen? Der Mensch, mit Ueberlegung und Gewissen begabt, Er auf eine so hohe Stufe gestellt, und doch auf dieser hohen Stufe oft so niedrig geartet, ein Plagegeist, ein böser Dämon der Schöpfung – hier fing das Räthsel an, das uns jene sinnliche Philosophie nicht hat auflösen mögen.

Brimha sprach: die Seelen der Menschen sind von den Seelen andrer Thiere verschieden: [200] denn sie sind mit Vernunft und einem Bewußtseyn des Rechts und Unrechts begabet. Hängt ein Mensch dieser Vernunft und diesem Bewußtseyn des Rechts und Unrechts an, so wird seine vom Körper getrennte Seele im göttlichen Wesen verschlungen, nie mehr das Fleisch beleben. Aber die Seele derer, die Böses thun, werden im Tode von den Elementen nicht befreiet; vielmehr, mit einem feinern Körper von Feuer, Luft Aether bekleidet, werden sie in der Hölle gestraft werden, und wenn daselbst die Zeit ihres Grams vorüber ist, so beleben sie andre Körper, bis sie zu ihrem Stande der Reinigung gelangen, und gereinigt endlich auch in Gott verschlungen werden.“[19] – Offenbar sollte in dieser Anwendung der Glaube der Metempsychose die Menschen schrecken, daß sie ihren erhabenen mächtigen Stand nicht mißbrauchten; [201] eine schöne Absicht, aber in dieser Einkleidung nur an sinnlichen, folgsamen, zartfühlenden Menschen erreichbar. Der Freche wird es darauf ankommen lassen, und der Frechste die Veränderung der Veränderung wegen wünschen.


5. Nicht also eigentlich der Glaube der Seelenwanderung hat jene erhabne Moral gebohren, die in den Lehren der Braminen alle Hochachtung verdienet;[20] sondern vielmehr der wahre und große Grundsatz, Eins in Allem, Alles zu Einem. Alle sind wir von Einem Welt- und Lebensgeist auf kurze Zeit beseelt, alle sollen wir diese kurze Zeit, jeder nach seinen Kräften, mit [202] Ueberlegung und Gewissen aufs würdigste gebrauchen. Nur Vernunft soll uns leiten; nicht Wahn und Abscheu. Wie es Krankheiten gegeben hat, da Menschen sich bei Leibesleben in Thiere verwandelt zu seyn wähnten, so könnte es in unsrer Zeit ausgelassener Begierden und sinnlicher Schwäche leicht einen fröhlichen Wahnsinn geben, der die Wolfswuth, (Lykanthropie) oder andre Verwandlungen bei Leibesleben trotzig spielte. Wahn regiere die Menschen nicht, sondern Wahrheit.


  1. Leßings Erziehung des Menschengeschlechts. Berl. 1780. §. 94.
  2. Leßings Leben und Nachlaß Th. 2. S. 243. In Einem seiner Briefe sagt er, daß er die kleine [170] Schrift über die Erziehung des Menschengeschlechts nicht apodiktisch, sondern gymnastisch geschrieben habe; worauf auch das Motto derselben aus Augustin deutet: Haec omnia inde esse in quibusdam vera, vnde in quibusdam falsa sunt. Zu Untersuchung dieses Wahren und Falschen, oder des Gewissen und Ungewissen Anlaß zu geben, war also des Verfassers eigentliche Absicht.
  3. S. hierüber und über mehrere Data dieser Abhandlung die ihr beigefügten Belege.
  4. Herausgegeben von Wilkins. Bath 1787.
  5. Leßings Leben und Nachlaß Th. 2. S. 77.
  6. Es bedarf keines Beweises, daß Leßing sie in diesem Brahmen- und Pfaffensinn nicht anpreisen wollte. Gewiß hätte er sie feiner ausgesponnen und rationalisiret.
  7. Leßings Erziehung des Menschengeschlechts §. 91. 92.
  8. Nach Wielands Uebersetzung:

    Wofern Vernunft und Klugheit, nicht ein Ort
    Die Sorgen von uns nimmt: so ändern jene,
    Die über Meer der Langeweil’ entlaufen,
    Die Luft, nicht ihren Sinn! –
    Wie sauer lassen wir uns werden Nichts
    Zu thun! Man jagt mit Vieren und zu Schiffe
    Dem Glücklichleben nach; was du erjagen willst.
    Ist hier, ist selbst zu Ulubrä, wenn nur
    Dein eigen Herz dich nicht im Stiche läßt.

     Horaz Briefe B. 1. Br. 11.

  9. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Vorrede.
  10. Erzieh. des Menschengeschlechts. S. 85 90.
  11. Sakontala, oder der entscheidende Ring, ein Indisches Schauspiel von Kalidas, übersetzt von Georg Forster. Mainz und Leipzig 1791.
  12. Der Nachtigall.
  13. Ein blühender Baum.
  14. Beschreibung der Nationen des Rußischen Reichs – Finnen.
  15. Stellers Beschreib. von Kamtschatka. Frankf. und Leipzig 1774.
  16. S. die Philosophie des Soutams in Dow’s Abhandlungen zur Geschichte von Hindostan. Leipzig 1773.
  17. S. die Gesetze des Menu, Sohn des Brahma. K. 1.
  18. Dow Abhandl. S. 27. 28.
  19. Dow S. 28. 29.
  20. Der Bhagat-Gita oder Gespräche zwischen Krischna und Arjun sind davon voll (by Charles Wilkins Lond. 1785. groß 4.) und verdient mit verständigen Anmerkungen eine Uebersetzung.