Zum Inhalt springen

Bautzen : Ein Wegweiser zur Schönheit der alten Stadt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Dr. Wolfgang Roch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Bautzen
Untertitel: Ein Wegweiser zur Schönheit der alten Stadt
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Wellersche Buchhandlung (Oskar Roesger) Inhaber Walter Stark
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Bautzen
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: PDF auf Commons
Kurzbeschreibung: Eine historische Beschreibung der Stadt Bautzen.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[Ξ]
Bautzen
die Hauptstadt
des königlich sächs. Markgraftums
Oberlausitz

[Ξ]

Wellersche Buchhandlung (Oskar Roesger), Inh. Walter Stark, Bautzen, Schulstr. 9 (am Theater). - Kunst, Musikalien, Antiquariat, Leihbibliothek

[Ξ]

1. Die Alte Wasserkunst mit der Michaeliskirche und der Ortenburg im Hintergrund.

[Ξ]
Bautzen


Ein Wegweiser
zur Schönheit der alten Stadt


von Dr. Wolfgang Roch



Mit sechsundzwanzig Abbildungen,
einem Grundriß und zwei Plänen



Bautzen 1914
Wellersche Buchhandlung (Oskar Roesger)
Inh. Walter Stark
[[2]]
Alle Rechte, besonders das der Uebersetzung, vorbehalten.
[[3]]
1.
Vom Schicksal und von der Schönheit der alten Stadt.

Die Stelle, wo Bautzen steht, ist schon seit Urzeiten besiedelt gewesen. Das beweisen die Funde aus der jüngeren Steinzeit, die in der Stadt und ihrer nächsten Umgebung gemacht worden sind und in der vorgeschichtlichen Sammlung des Stadtmuseums aufbewahrt werden. Auch in der Bronze- und früheren Eisenzeit fehlte es nicht an Bewohnern, die wohl germanischen Stammes waren. Während der Völkerwanderung traten Slaven an ihre Stelle. Die Sage berichtet von einer Burg, die sich die Wenden auf dem Protschenberg (am linken Ufer der Spree) errichtet haben sollen; indessen haben Funde im Boden der Ortenburg ergeben, daß sich hier ein Burgwall befunden hat. Hier war also die Hauptfeste der sorben-wendischen Milzener, und der alte Name Budissin, der wohl Wächterstätte oder Grenzort bedeutet, scheint die politische Wichtigkeit des Ortes zu kennzeichnen. So ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, daß wirklich, wie erzählt wird, König Heinrich I. vor Bautzen gezogen ist (928), den Platz genommen und zur Grenzfestung erhoben hat. Sein Sohn Otto I. hat dann die von jenem begonnene Ringmauer vollendet und auf dem steilen rechten Spreeufer die Burg erbaut. Der Name weist auch hier auf die besondere Bedeutung hin: Ortenburg heißt Grenzburg (von das ort = Grenzort). Mit dem Burggrafen [[4]] kamen deutsche Ritter, deren Wohnungen das Burglehen bildeten. Bischof Thietmar von Merseburg ist es, der Bautzen im Jahre 1002 zum ersten Male als Stadt erwähnt. Eine Kapelle soll schon 999 auf der Stelle der jetzigen Petrikirche, also in der eigentlichen Stadt, errichtet worden sein. Den Charakter als Marktort und Kulturzentrum für das umliegende Land, das übrigens schon sehr früh den Namen der Stadt erhielt, wird Bautzen aber wohl kaum vor dem 13. Jahrhundert erhalten haben, als der Strom der deutschen Kolonisten kam und nach den Städten insbesondere flämische Handwerker brachte.

Landesherr war zuerst der deutsche König, vertreten durch den Markgrafen von Meißen. Vom Jahre 1002 an aber besaß der mächtige Polenfürst Boleslaw Chrobry die Lausitz; König Heinrich II. kämpfte jahrelang mit ihm um Stadt und Land (1018 Friede von Bautzen), doch erst Konrad II. nahm beides den Polen wieder ab (1032) und verband den Gau abermals mit der Mark Meißen. 1076 gab Heinrich IV. die Lausitz dem König von Böhmen, Wratislaus II., zu Lehen. Als erster Statthalter des Böhmenkönigs bewohnte Graf Wiprecht von Groitzsch die Ortenburg (bis 1110). Den Böhmen folgten 1231 die Markgrafen von Brandenburg in der Herrschaft. Als aber Markgraf Waldemar kinderlos gestorben war, entschied sich im Jahre 1319 das Land Budissin und mit ihm die Stadt wieder für die Zugehörigkeit zu Böhmen. Dabei blieb es, bis die Böhmen ihren König Georg Podiebrad abgesetzt und an seine Stelle den Ungarnkönig Matthias Corvinus gewählt

[[5]]

2. Reichenturm und Reichentor.

[[6]]

3. Nikolairuine, Nikolaiturm, Petrikirche und Schloß vom linken Spreeufer aus gesehen.

[[7]] hatten. 1469 huldigte ihm die Lausitz, und sie blieb ihm auch treu, als schon im nächsten Jahre Böhmen wieder an den Podiebrad fiel. So gehörte Bautzen zu Ungarn bis zum Tode des Königs Matthias (1490). Dann freilich wandte sich das Land wieder Böhmen zu und blieb nunmehr böhmisch bis in den dreißigjährigen Krieg. 1620 wurde die Lausitz dem Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen verpfändet und im Frieden von Prag (1635) zu erblichem, unwiderruflichem Lehen abgetreten. — Unverändert in allem Wechsel blieb bis zur Einführung der Reformation nur die kirchliche Zugehörigkeit zum Bistum Meißen.

4. Mühltor und Alte Wasserkunst.

Nicht allein dieser merkwürdig lebhafte Wechsel in der Landesherrschaft, sondern auch mannigfache andere Momente wie die eigne Bedeutung der Stadt, ihre Lage an der wichtigen Straße aus dem Reiche nach [[8]] dem Osten u. a. mehr haben Bautzen in sehr fühlbarer Weise an der schicksalsreichen Geschichte Deutschlands teilnehmen lassen und der Stadt selbst eine so vielgestaltige Geschichte geformt, wie sie nicht viele Städte im deutschen Osten zu erzählen haben.

5. Neutor und Neue Wasserkunst.

Daß Kämpfe vor Bautzens Mauern getobt haben, geht schon aus dem hervor, was über die Wandlungen in der Landesherrschaft gesagt wurde. Kaiser Heinrich II. hat die Stadt zweimal belagert, Konrad II. einmal; 1429 und 1431 lagen die Hussiten vor ihr — beidemal ohne Erfolg. Nach dem Tode des Matthias Corvinus zwangen die Städte und die Ritterschaft den Landvogt zur Übergabe der Ortenburg. Furchtbar waren die Leiden unserer Stadt im dreißigjährigen Krieg: 1620 wurde sie vom Kurfürsten von Sachsen belagert und eingenommen (alte bildliche Darstellung im Stadtmuseum, Raum 55); 1631 hauste hier ein Teil der bei Breitenfeld besiegten kaiserlichen Armee, die die Pest mitbrachte; [[9]] brachte; 1633 beschoß das Wallensteinsche Heer die Stadt und diese mußte dann siebenundzwanzig Wochen lang zwei Regimenter zuchtloser Soldaten in der inneren Stadt, Reiter und Kroaten in den Vorstädten beherbergen bis wiederum (2. Mai 1634) ein starkes sächsisches Heer erschien und die Kaiserlichen zum Abzug zwang, wobei die Stadt fast völlig vom Feuer zerstört wurde. Und endlich — 1639 — setzten sich Schweden in Bautzen fest; sächsische Truppen kamen, besetzten die Vorstädte und belagerten die Schweden erst in der inneren Stadt und als sie diese genommen hatten, noch wochenlang im Schloß. Schließlich aber gerieten die Sachsen in Gefangenschaft und die Stadt mußte froh sein, gegen Zahlung einer großen Summe um die Plünderung zu kommen. Daß es bei diesen Kämpfen nicht ohne Brände abging, versteht sich von selbst; beim Abzuge aber zerstörten die Schweden noch mehrere Tore, Türme und das Schloß. — Nach einer Reihe von Durchzügen sächsisch-polnischer und dänischer Truppen brachte der Nordische Krieg 1706 und 1707 abermals Schweden nach Bautzen, doch war diese Last durch die strenge Mannszucht im Heere Karls XII., der selbst Bautzen berührt hat, einigermaßen gemildert. Während der Schlesischen Kriege und im Siebenjährigen Kriege gab es eine Menge Truppendurchzüge und Einquartierungen und 1758 verlor Friedrich der Große, der zweimal in Bautzen gewohnt hat, vor den Toren der Stadt die Schlacht bei Hochkirch. Im Bayrischen Erbfolgekrieg kamen wieder preußische Truppen (1778) und ebenso, als Preußen und Österreich gegen Frankreich zogen (1792—96). In den napoleonischen Kriegen hatte Bautzen [[10]] dann von 1807 an unter großen Truppendurchzügen zu leiden, insbesondere 1807, 1808, 1812 und 1813. Die besondere Rolle, die Bautzen mit seiner nächsten Umgebung im Befreiungskampfe gespielt hat, ist zu bekannt, als daß sie hier erwähnt zu werden brauchte.[1] Napoleon selbst hat sich des öfteren in Bautzen aufgehalten. Das Jahr 1866 endlich brachte wieder starke Truppendurchmärsche und viele Verwundete, die gepflegt werden mußten.

Die Geschicke Bautzens in Friedenszeiten sind kaum weniger bewegt gewesen als im Toben des Krieges. Hier können natürlich nur ganz wenige, besonders wichtige Ereignisse aufgeführt werden. 1210 soll das Domstift gegründet worden sein und ebenfalls in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts haben sich die Franziskaner hier niedergelassen. 1346 schloß Bautzen mit Görlitz, Löbau, Kamenz, Lauban und Zittau den Sechstädtebund zur gemeinsamen Bekämpfung des Straßenraubes und anderer Verbrechen. Dieser Bund stellte zuzeiten eine starke militärische Macht dar, mit der die Landesherren zu rechnen wußten. Die Blüte des in Zünften zusammengeschlossenen Handwerks führte auch in Bautzen wie in so vielen anderen Städten zu Unruhen (1405—1408), als die Handwerker nach Teilnahme am Stadtregiment strebten. Hier griff schließlich König Wenzel selber ein, indem er eine Anzahl Ratsmitglieder hinrichten ließ und der Stadt auf mehrere Jahre die freie Ratskür, den Zünften ihre Rechte entzog. — Der Ungarnkönig Matthias verlieh 1469 das Recht Münzen zu [[11]] prägen und mit rotem Wachse zu siegeln. Zu Beginn der 1520er Jahre zog die Reformation in Bautzen ein. — Eine schwere Prüfung wurde den Sechsstädten und damit auch Bautzen 1547 auferlegt, weil die Städte ihr Heer vor der Schlacht bei Mühlberg aufgelöst hatten.

6. Neue Wasserkunst.

König Ferdinand von Böhmen zog alle Geschütze und Lehngüter ein, hob die Zünfte auf und forderte eine hohe Summe als Buße. Auch die freie Ratswahl wurde aufgehoben und der Rat abgesetzt. Dieser „Pönfall“ wandelte den Wohlstand der Stadt für lange Zeit in drückende Armut. — Unter Kurfürst Johann Georg II. war Bautzen 1666 bis 1667 Sitz einer Münze. Feuer verzehrte große Teile der Stadt, abgesehen von dem erwähnten Brand von 1634, in den Jahren 1598, 1686, 1709, 1720 u. a. J.


Daß eine so ereignisreiche Geschichte ihre Züge tief in das Bild der Stadt eingegraben hat, ist wohl selbstverständlich. Bei den vielen Verwüstungen durch Feuer und Schwert ist es wahrlich ein Wunder, wie viel Schönes diese Nöte überstanden hat. Und

[[12]]

7. Schülertor.

wenn auch das geringe Verständnis glücklich überwundener Zeiten noch vieles vernichtet und manches unschöne Straßenbild geschaffen hat — immer noch ist Bautzen eine schöne Stadt! Das braucht man dem nicht zu sagen, der einmal auf der Eisenbahn von Dresden kommend, kurz vorm Einlaufen in den Bahnhof aus dem Zug geschaut hat, noch dem, der mit offenen Augen durch die Straßen des alten Budissin gewandert ist. Wenn man, wie berichtet wird, im Mittelalter Bautzen seiner regen Gewerbetätigkeit wegen häufig „Klein-Nürnberg“ genannt hat, so kann man diesen Namen und einen andern — das sächsische Rothenburg — jetzt häufig hören: die Wertschätzung der altertümlichen Schönheit spricht sich darin aus. Man sollte aber solche Vergleiche lieber unterlassen. Leicht erregen sie den Gedanken, daß man Bautzen nicht zu besuchen brauche, wenn man Nürnberg oder Rothenburg kenne; sie leugnen — und darum sind sie zu verwerfen — die örtliche Eigenart. [[13]] Und Bautzen hat es wahrhaftig nicht nötig, sich anderwärts einen Namen zu leihen! Ich will durchaus nicht sagen, Bautzen sei schöner als die beiden Städte, die ihm so oft zu Paten gerufen werden; aber es hat seine eigne, nur ihm eigne Schönheit! Auch hier hinkt jeder Vergleich.

Früher (den Reisehandbüchern nach zu urteilen auch jetzt noch) suchte man die Schönheit einer alten Stadt nur in einzelnen hervorragenden Gebäuden; sie betrachtete man als die Hauptsehenswürdigkeiten. Heute ist das anders geworden; man hat erkannt, daß sich Stadtschönheit nicht nur in Einzelnem offenbart. Bautzen selbst liefert den Beweis dafür: keins seiner Gebäude stellt einen Markstein in der allgemeinen kunstgeschichtlichen Entwicklung dar. Wohl ist am Petridom schönes Maßwerk zu sehen, wohl ist der Rathausturm elegant emporgeführt, wohl zeugt das Portal des Domstifts von kraftvollem Schönheitssinn — aber, soviel Können in all dem und noch manch anderem Schönen stecken mag, so spricht sich doch nirgends eine überragend große Künstlerpersönlichkeit aus. Nur ein Bauwerk bedeutet einen wirklich genialen Wurf: Wenzel Röhrscheidts Alte Wasserkunst (Abb. 1). Da aber für diese schmucklose, nur im Umriß und in den Verhältnissen beruhende Schönheit lange das rechte Verständnis gefehlt hat, und die anderen Bauwerke an und für sich nichts oder nur wenig von allgemeiner Bedeutung bieten, hat man lange geglaubt, in Bautzen sei nichts zu finden. Das wird anders werden, seit man erkannt hat, daß nicht die Einzelwerke für sich betrachtet die Schönheit einer Stadt ausmachen. Die Schönheit [[14]] liegt wo anders: in der Anlage der Stadt ist sie zum ersten begründet, im Beieinander der einzelnen Werke, in ihrem Verhältnis zur Umgebung, in den Raumgebilden der Straßen und Plätze, im Aufbau des Ganzen ist Stadtschönheit vornehmlich zu finden — aus alledem und aus den Einzelwerken schaut sie uns entgegen.

So kann man sich nicht, wie früher, damit begnügen, sehenswürdige Gebäude aufzuzählen und zu ihnen hinzuführen. Vielmehr ist es zuerst notwendig, den Blick auf das Ganze zu lenken, mit anderen Worten: zunächst den Stadtplan zu betrachten. Man wird die Anlage einer alten Stadt natürlich besser aus einem älteren Plane verstehen lernen, als aus einem neuen. Es ist deshalb ein Plan beigegeben, der etwa 1825 entstanden sein mag — jedenfalls zu einer Zeit, als Alt-Bautzen mit Türmen und Toren noch fast völlig erhalten war (Plan I). Die im alten Plane fehlenden Straßennamen kann man sich leicht aus dem weiter beigegebenen neuen Plan (Plan II) ergänzen.

Zunächst interessiert uns nur die innere Stadt, die auf Plan I mit schwarz ausgedruckten Blöcken wiedergegeben ist. Da zeigt der erste Blick, daß Bautzen auf zwei, oder auch, wenn man will, auf drei Seiten von Natur befestigt ist. Die Spree hat sich in scharfer Wendung nach Osten ein tiefes Bett in die Felsen gewaschen. Die steilen Hänge des rechten Flußufers geben die westliche und zum Teil die nördliche Grenzlinie der alten Stadt. Die nördliche Grenzlinie findet ihre Fortsetzung in den Abhängen nach einem verschwundenen kurzen Wasserlauf, welcher der Spree

[[15]]

8. Nikolaipforte.

[[16]]

9. Innere Lauenstraße.

[[17]]

10. Schloßstraße.

von Osten her, etwa im Zug der Gerberstraße, zugeflossen ist. Nach Osten zu fällt das Gelände, auf dem die Stadt errichtet ist, allmählich.

Der älteste Teil der geschichtlichen Stadt ist die Burg, die auf dem äußersten Felsvorsprung im Knie des Flusses errichtet wurde (Plan I, Ziffer 1). Die Burg war natürlich auch nach Osten, nach der jetzigen Stadt zu, befestigt. In dieser Linie vermutet Gurlitt die von Thietmar von Merseburg erwähnten Bastionen (also am jetzigen Schloßgraben). Die Mannen des Burggrafen bauten sich vor der Burg an; damit entstand das Burglehn (Plan I, zwischen 1 und 12, wo der Name jetzt noch erhalten ist, und östlich der Burg etwa bis an die Verbindungslinie zwischen Nikolaitor–Nordwestecke des Klosters, Ziffer 10), das bis ins 19. Jahrhundert der Stadtgerichtsbarkeit entzogen war.

Man muß nun wohl annehmen, daß zunächst vor der Burg [[18]] und dem Burglehen allerhand Volk – Wenden und einzelne Deutsche – in planlos und locker aufgestellten Holzhäusern gewohnt hat. Auf dem höchsten Punkte dieses Vorgeländes, an der Stelle der jetzigen Petrikirche, ist dann (gegen Ende des 10. Jahrhunderts?) eine Kirche errichtet worden.

11. Große Brüdergasse.

Gurlitt nimmt an, daß das Gebiet der Kirche durch Mauern in sich geschlossen gewesen ist. Er bestimmt die Grenzen, entsprechend dem später der bischöflichen Gerichtsbarkeit unterstellten Stadtteil, wie folgt: Südfront der Fleischergasse, Kleine Brüdergasse, Nordteil der Siebergasse, zwischen den Häusern Hauptmarkt Nr. 2 und 4, Südfront des Rathauses, Wachgasse, Westseite der Straße An den Fleischbänken. Diese bischöfliche Stadt wäre dann auf der damals breiteren Straße An der Petrikirche zu durchschreiten gewesen und hätte also ein Tor nach der jetzigen Schloßstraße und eins nach der Wendischen Straße gehabt.

[[19]] An die Kirchenstadt schloß sich die wohl erst z. Z. der entschiedenen Kolonisation in unserm Gau, d. i. im Anfange des 13. Jahrhunderts, angelegte deutsche Stadt an. Sie umfaßte im Osten und Süden die kirchliche Stadt und ging östlich wohl bis zum Reichentor. Als Nordgrenze ist nach Gurlitt der Gickelsberg, als Südgrenze die Kesselstraße (früher „Kesselgasse“) anzusehen. Von der Lauenstraße gehörte der nördliche Teil bis zur Einmündung der Kesselstraße hinzu, dann lief die Grenze weiter bis an die viereckige Mönchsbastei (jetzt Pfarrhaus St. Michaelis; Plan I, Ziffer 12), von wo sie wohl im Zug der Hohenstraße (Gurlitt: „zwischen Siebergasse und Hohengasse“) nach Norden ging. Bei oder bald nach Anlage dieser Stadt dürfte dann die Umfassung der bischöflichen Stadt gefallen sein, so daß der fast rechteckige Markt der neuen Anlage (jetzt Hauptmarkt) unmittelbar an den Kirchplatz (jetzt Fleischmarkt) anschloß. Dieser neue Stadtteil zeigt die für die Gründungen der deutschen Kolonisten charakteristische Regelmäßigkeit. Daß die Grundform von den übrigen Städten gleichen Ursprungs abweicht, erklärt sich sehr einfach aus der notwendigen Rücksichtnahme auf bereits Vorhandenes. Die Hauptverkehrsader war, das lehrt ein Blick auf den Plan, die Reichenstraße. Das erste Rathaus, dessen Errichtung die Chronisten in das Jahr 1213 verlegen (eine Annahme, die also sehr gut zu der von der Entstehung der deutschen Stadt paßt), wird wohl an derselben Stelle gestanden haben, wie das jetzige.

Mit den Kolonisten oder kurz nach ihnen kamen die Franziskaner. Sie ließen sich auf dem zwischen der Burg und den beiden [[20]] jüngeren Anlagen befindlichen Gelände nieder. Ihr Kloster reichte von der Hohengasse im Osten bis zur Mönchsgasse im Westen und vom Westflügel der Großen Brüdergasse im Norden bis zur Heringstraße (früher „Heringsgasse“, noch früher Judengasse) im Süden. Dieses Gebiet (der ganze Block bei Ziffer 10 auf Plan I) wurde wohl ebenfalls in die Ummauerung einbezogen, die nun – etwa in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts – das Kloster mit der bischöflichen Stadt und der Stadt der deutschen Kolonisten zu einer Stadt verband. Das Burglehn und ein Teil der Heringstraße lagen also vor den Mauern.

Erst im 14. Jahrhundert scheint man die Verbindung der Stadtmauern mit der Burg hergestellt, das Burglehn und den untersten Teil der Heringstraße mit in die Stadt einbezogen, die Südgrenze bis über die Schulstraße hinausgeschoben und somit die Linie festgelegt zu haben, die das ganze Gebiet der Innenstadt umgrenzt.

Höchst merkwürdiger Weise ließ diese alte Befestigung die Felshänge im Norden und Südwesten ungenutzt, wo die Nikolaikirche (Plan I, 2) und die Michaeliskirche sowie die Alte Wasserkunst (Plan I, bei 11) stehen. Hier wurden erst Mitte des 15. Jahrhunderts sehr wichtige Außenwerke erbaut.

In derselben Zeit, die den Mauerring schloß, also im 14. Jahrhundert, scheinen die von Wenden bewohnten Vorstädte entstanden zu sein. Nach Gurlitts sehr wahrscheinlicher Annahme sind dabei zwei Dörfer, Broditz (die jetzige Töpferstraße) und Goschwitz (jetzt Goschwitzstraße, Plan I, 21), einverleibt worden.

[[21]]

12. Der Lauenturm mit Blick in die Innere Lauenstraße.

[[22]]

13. Innere Lauenstraße, Rathaus und Petrikirche.

[[23]] Die Richtung dieser beiden Straßen, die keinen direkten Zugang zum Markte bieten, spricht auch dafür, daß es sich hier nicht um neuangelegte Straßen, sondern um Wege (Dorfstraßen) handelt, die schon vor Vollendung der inneren Stadtanlage bestanden haben. Den Zugang aus den Vorstädten zum Markt bildeten die Steinstraße in der Linie der Reichenstraße und die Äußere Lauenstraße als Verlängerung der Inneren Lauenstraße. Diese Vorstädte, die das Gebiet innerhalb der heutigen Ringpromenaden einnahmen, wurden im Anfang des 16. Jahrhunderts durch die äußere Stadtbefestigung eingeschlossen.

Wie eben jetzt wurden wir schon vorher veranlaßt, auf die Straßenführung zu achten. Wir sahen da, daß die deutsche Stadt ziemlich regelmäßig angelegt ist. Zwei Hauptverkehrswege führen gerade hin zum Markt wo ihre Achsen nahezu im rechten Winkel aufeinanderstoßen. Ein andrer Weg, die jetzige Kornstraße, kommt in schrägem Zuge und leichter Krümmung von Nordost her an den Markt. Die in den ostdeutschen Kolonistenstädten sonst übliche Regelmäßigkeit hätte hier eigentlich eine gerade (also von Norden her) auf den Markt zulaufende Straße verlangt; dieser Führung stand aber die alte bischöfliche Stadt im Wege und es blieb nichts anderes übrig, als die notwendige Straße an der Ostgrenze der älteren Stadt hinzuleiten. Diese Grenze aber war in ihrer Biegung dem Gelände gefolgt, das also im Grunde für die Führung der Kornstraße verantwortlich ist. Und so ist es auch mit den übrigen Straßen und Gassen: ihre Krümmung erklärt sich wohl fast durchweg aus der [[24]] Rücksichtnahme auf das Gelände, dem sie sich anschmiegten. – Deutlich ist zwischen den breiten Hauptverkehrsstraßen und den schmalen, weniger wichtigen Wohngassen unterschieden. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß neben den zum Markt führenden Straßen auch die Zugänge zur Burg von Bedeutung waren: das ist einmal der Weg Wendische Straße – An der Petrikirche[2] – Schloßstraße und dann Heringstraße – Burglehn.

Endlich sei noch bemerkt, daß die alte, heute noch erkennbare Stadtanlage, abgesehen von der Burg, von der einen Kirche, vom Rathaus und vom Kloster mit keinem weiteren öffentlichen Gebäude in der Stadt rechnet. – Damit wollen wir die Betrachtung des Stadtplanes beenden und uns dem zuwenden, was uns vom alten Bautzen geblieben ist.

Zur Stadt gehörte früher notwendig die Befestigung; eine unbefestigte Stadt war ein Unding, undenkbar. Krieg oder wenigstens Fehde war zu Zeiten fast etwas Alltägliches; drohten nicht feindliche Heere, so mußte man doch vor Einfällen benachbarter Ritter auf der Hut sein. Die Stadtbefestigung war demnach etwas, das in der städtischen Bautätigkeit von Anfang an eine große Rolle spielte. Auch in Bautzen ist das nicht anders gewesen, und es sind noch recht stattliche Reste, die davon zeugen.

Die in Bruchstein ausgeführte innere Stadtmauer, die nach Gurlitt durchschnittlich 6¾ Meter hoch und 1½ Meter stark war, ist an der Westseite und an der Nordseite noch erhalten (Abb. 1, 3 u. 4).

[[25]]

14. Frauenkirche.

Am meisten aber fallen ins Auge die Bastionen, Tore und Türme, deren in keiner anderen sächsischen Stadt so viele noch erhalten sind. Die Stadt wußte ihr reisiges Gewand auch zu schmücken; das zeigen die Türme. Sie hatten ja in erster Linie schwache Stellen in der Befestigung zu schützen, aber sie sollten nicht nur dem Feinde sagen, daß die Stadt wohl gewappnet wäre, sondern auch – besonders in späteren Zeiten – den friedlich sich Nahenden festlich begrüßen. So stehen sie wohl trutzig da, aber nicht drohend: die Starrheit des bloßen Wehrbaues ist durch gefälligeren Umriß der Verdachung gemildert. Mit schmückenden Zutaten wurde dabei freilich kein Aufwand getrieben. Nur der Reichenturm (Abb. 2) hat zu einer Zeit, da der militärische Wert der Türme schon sehr gesunken war, einen schmuckreichen Aufbau erhalten. Man sieht es ihm nun allerdings von weitem kaum mehr an, daß er einst ein Wehrturm war; das verraten erst dem näher Hinsehenden die Schießscharten im unteren Teil.

Unter den Türmen in Bautzens Mauerkranz gibt es drei, die von Anfang an erst in zweiter Linie Wehrbauten waren, [[26]] vielmehr einem Zwecke dienten, durch den sie in Krieg und Frieden für die Bewohner gleich wichtig waren: die Wassertürme. Da ist zunächst einer an der Südwestecke der Burg, – leicht dadurch kenntlich, daß er vom Fuße des Felsens, auf dem die Burg im übrigen steht, heraufgeführt ist; er ist in ganz einfachen Formen gehalten. Vor allem aber gehört hierher die schon erwähnte Alte Wasserkunst (Abb. 1 u. 4), – prachtvoll über der Spree thronend. Durch die eigenartige Umrißlinie und den exzentrisch aufgestellten Helm, der vor sich Raum für ein Geschütz oder wenigstens für mehrere Schützen frei läßt, prägt sich dieser Turm wie wohl kaum ein anderer dem Gedächtnis ein. Mit der rauschenden Spree und der Michaeliskirche und den anderen Bauwerken dahinter bildet die Alte Wasserkunst eine Gruppe von seltener Schönheit. Man muß sie von allen Seiten betrachten; von der neuen Brücke aus gesehen zeigt sie sich sehr schön, doch wirkt sie von dieser Höhe, mit der der Erbauer nicht rechnen konnte, nicht so, wie sie nach dessen Willen von außen wirken sollte. Um seine künstlerischen Absichten ganz zu verstehen, muß man ins Spreetal hinuntersteigen und von beiden Spreeufern zu ihr hinschauen. – Der späteren Entstehungszeit entsprechend macht die Neue Wasserkunst (Abb. 5 und 6) bei weitem nicht den wehrhaften Eindruck wie die Alte, aber auch hier ist mit einfachsten Mitteln ein Zweckbau zum Schmuckstück gemacht worden.

Von großer Bedeutung sind die Türme im Zusammenwirken mit ihrer Umgebung für das Straßenbild. Hier kommen von den Festungstürmen verständlicher Weise hauptsächlich die Tortürme [[27]] in Betracht, die dem Blick einen Zielpunkt, dem Straßenbild einen Abschluß geben. Der Mensch kann sich nur in begrenztem Raume wirklich heimisch fühlen: „ .. gerade dieses natürliche Raumgefühl ist für den Genuß der Städteschönheit von grundlegender Bedeutung“ (Gustav Wolf). Einen Abschluß braucht also das Straßenbild, um schön zu sein, – und dieser Abschluß darf nicht spärlich, nicht bedeutungslos sein. Wie prachtvoll da die Tortürme wirken, zumal wenn das Tor selbst noch erhalten ist, das zeigen Blicke in die Reichenstraße vom Markte her, in die Schülerstraße (Abb. 7), in die Schloßstraße (Abb. 10), nach dem Nikolaitor (Abb. 8) u. a. mehr. An manchen Stellen geben auch die blauen Berge, die in die Straßen hereinschauen, einen schönen Abschluß, an anderen Punkten wieder fängt ein stattliches Bürgerhaus die Blicke auf (Kesselstraße, Kornstraße, Schloßstraße vom Schloß her, Reichenstraße nach dem Markt zu gesehen), oder gar der Chor der Petrikirche (Wendische Straße). Ganz besonders stark ist der Eindruck der Geschlossenheit in den kleinen Gäßchen, wo sich Stützbogen von Haus zu Haus spannen, wie z. B. auf Abb. 11. – In merkwürdigem Gegensatz zu dem Eindruck, den Bautzen macht von außen z. B. von der Eisenbahn her gesehen, steht der Eindruck der Straßenfronten. Hier ist von mittelalterlicher Bauweise gar nichts mehr zu sehen. In den Schauseiten der Bürgerhäuser herrscht die heitre Pracht des Barock und des Rokoko. Ganz anders müssen die Straßen freilich bis in das 17. Jahrhundert ausgesehen haben: alte Bilder im Museum lassen erkennen, daß die Häuser fast durchweg mit den Giebeln nach [[28]] der Straße gestanden haben. – Wie einheitlich und festlich das Gepräge der Bautzener Hauptstraßen bei aller Verschiedenheit der einzelnen Häuser ist, das zeigt die westliche Seite der Inneren Lauenstraße (Abb. 9), deren Hauptfassaden nach dem Brande von 1720 entstanden sind[3]. Die Innere Lauenstraße, das ist auch die Straße, welche in der Richtung nach dem Stadtinnern das schönste Straßenbild Bautzens bietet, – ein Bild, wie es in deutschen Städten nicht viele gibt (Abb. 12 u. 13[4]). Wahrlich, wer sonst keinen Sinn für Städteschönheit hat, dem muß er hier aufgehen, wenn er am unteren Ende der Straße steht! Was wirkt da nicht alles zusammen: Vorn der mächtige dunkle Lauenturm, dann das Ansteigen der Straße nach hinten, wo das behaglich vornehme Rathaus mit seinem graziösen Turme steht; es versperrt den Blick nicht ganz, so daß er an ihm vorbeigleitet noch weiter zur Petrikirche, deren mächtiges Dach über das Rathaus hinwegsieht; und der Gipfel des Ganzen ist der Kirchturm mit dem wundervollen Umriß seiner spitzen Haube. Von höchstem Reiz ist das Bild bei Sonnenschein durch den Wechsel von Licht und Schatten; was ihm aber im Vergleich mit all den anderen Bautzener Straßenbildern seinen besonderen Charakter verleiht, das ist der Ausblick auf einen Platz und weiter noch der Durchblick nach einem zweiten Platz, denn es hat für das menschliche Auge etwas sehr wohltuendes, [[29]] tuendes, aus einem Raum in einen anders gestalteten Einblick zu erhalten.

Damit sind wir bei einer weiteren Raumform angelangt, in der sich Städteschönheit kundgibt: beim Markt. Mehr noch als die Straße, die ja sozusagen nur dazu da ist, um durchschritten

15. Die Ruine der Mönchskirche.

zu werden, muß der Markt ein Raumgebilde sein. Hier soll sich das Marktvolk ruhig niederlassen und seinen Handel treiben können. Der Markt ist aber weiter noch wie Gustav Wolf sehr richtig bemerkt, der „Festsaal“ der Stadt. Der Hauptmarkt in Bautzen hat Raumwirkung trotz verhältnismäßig schmalen Seiten und trotz zwei sehr weiten Öffnungen. Festlichen Charakter

[[30]]

16. Wendischer Turm.

verleiht ihm das schon erwähnte Rathaus und eine Reihe schön geschmückter Schauseiten von Bürgerhäusern. Das neue Gewandhaus allerdings – das kann nicht verschwiegen werden – bringt leider einen falschen Ton in die Harmonie des Alten. – Weniger gestört und deshalb schöner, auch geschlossener, ist die Wirkung des hinter dem Rathaus gelegenen Fleischmarktes (Abb. 17 und 18), der südlich vom Rathaus mit seinem feierlichen Treppenhaus und nördlich von dem massigen Gebäude der Petrikirche, an den beiden andern Seiten aber von Häuserreihen (von einem der Häuser an der Ostseite ist die Haustür auf Abb. 19) begrenzt ist. Hier steht auch der einzige Marktbrunnen Bautzens — ein neueres Werk an Stelle eines alten. (Vom Brunnen auf dem Hauptmarkt ist nur noch die Figur des sogen. Ritters Dutschmann, in Wahrheit wohl eine Rolandsfigur, erhalten; sie ist am Rathausturme angebracht.) Die Geschlossenheit des Marktbildes wird man am Kornmarkt vermissen. Schon die Lage zeigt, daß es sich hier um kein ursprüngliches Marktgebilde, sondern um einen Platz handelt, der durch

[[31]]

17. Der Fleischmarkt mit dem Rathaus.

[[32]]

18. Der Fleischmarkt mit der Petrikirche.

[[33]] Beseitigung der Befestigungsanlagen gewonnen worden ist. Erst der Museumsneubau hat etwas Halt in diesen Platz gebracht, so daß nun wenigstens der eine Teil zwischen der Tuchmacherstraße und dem auf den Fundamenten einer alten Bastei errichteten Stadttheater ein mehr marktmäßiges Gepräge erhalten hat, wie es der jetzigen Bestimmung und der Benennung dieses Platzes angemessen ist.

Ein Platz, der wie von selbst durch das Zusammenlaufen mehrerer Gassen in einem Punkte entstanden ist, ist der Burgplatz, den das stattliche Gersdorffsche Haus beherrscht.

Platzformen von besonderem Reiz sind fast stets bei alten Kirchen zu finden – auf dem Boden ehemaliger Friedhöfe, die die Kirchen umgaben, oder sich wenigstens an sie anlehnten. So schloß sich einst auch an die Südseite der Petrikirche ein Gottesacker an, der ursprünglich wohl den ganzen Platz des Fleischmarktes eingenommen hat, später beschränkt worden und seit 1799 völlig mit dem Fleischmarkt verschmolzen ist. Es handelt sich also einerseits beim Fleischmarkt nicht um einen von Anfang an als Markt angelegten Platz, anderseits kommt der Petrikirchhof heute nicht mehr als Platz in Frage. Ein malerischer Winkel hat sich an der Turmseite des Domes erhalten, wo das alte Klosterhaus (mit dem Wappen einer Äbtissin von Marienstern, Cordula Sommer, 1722) aus der Häuserreihe hervor- und an die Kirche herantritt; für den vom Fleischmarkt her Kommenden erhält dieses Bild durch das Domstift einen schönen Abschluß.

Ein Kirchhof bestand auch bei der wendisch-katholischen [[34]] Kirche zu Unsrer lieben Frauen (Abb. 14) an der Steinstraße – mindestens bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Was geblieben ist, das ist ein kleiner Platz an der Süd-Seite der Kirche von gemütlich-altväterischer Stimmung. Dieses wenig beachtete Fleckchen ist so recht ein Beweis dafür, daß auch ganz anspruchslose Gebäude eine sehr erfreuliche Gruppe bilden können. Übrigens stehen hier ein paar recht eigenwillig-lustige Fassaden beieinander, denen man heute natürlich keinen Bau wie das gelbe Ziegelhaus an der Ostseite zugesellen würde.

Ganz anderes Aussehen haben die Kirchhöfe der Nikolaikirche und der Michaeliskirche. Beide liegen auf Außenwerken der Stadtbefestigung; das Gelände verbot bei der Nikolaikirche die Anlage von Wohnbauten, während sich bei der Michaeliskirche ein freundlicher Platz „Wendischer Kirchhof“ von fast ländlichem Charakter entwickelt hat. Der Friedhof an der Nikolaikirche (Abb. 20) ist bis in das Innere der Kirchenruine vorgedrungen. Kann man eindringlicher an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert werden, als durch Friedhof und Ruine? – Man müßte sie in einer Mondnacht, womöglich im Schnee, sehen, um die weihevoll-traurige Schönheit dieser Begräbnisstätte ganz zu erfassen. Die Formen unschöner Grabmäler, die dem Bild am Tage so viel nehmen, verlieren dann ihre aufdringliche Bestimmtheit und das Feld der ewigen Ruhe beherrschen die ragenden Reste der alten Kirche.

Hier ist noch eines Platzes zu gedenken, der nicht seiner ursprünglichen Bestimmung, sondern nur seiner Lage wegen hierhergehört. [[35]] Es ist der Platz an der Mönchskirche – eigentlich nur eine Erweiterung der Großen Brüdergasse. Auch hier wieder ein Bild von einer bei gewissem Licht sehr merkwürdigen Stimmung, deren Eigenart aus einem starken Gegensatz erwächst: behäbig-nüchternen Bürgerhäusern steht die Backsteinruine der Mönchskirche (Abb. 15 und 21) gegenüber, ein ernst und düster wirkendes Denkmal vergangener Zeiten. (Auch für die Schönheit dieses Ortes hat eine frühere Zeit kein Verständnis besessen; das beweist der Wasserturm, den man allerdings zu einer Zeit – 1877 – erbaut hat, als sich in der Kirchenruine Haus an Haus lehnte, sodaß damals wohl die unschöne Wirkung des Turmes nicht so deutlich erkannt werden konnte.) Gegenüber der Ruine befindet sich auch (Große Brüdergasse Nr. 14) das einzige Renaissancetor der Stadt.

Daß dieser Platz niemals Kirchhof war, wurde schon angedeutet. Die übrigen hier erwähnten Kirchhöfe lassen mit einer Ausnahme ihren ursprünglichen Zweck gar nicht mehr erkennen, nur der Nikolaifriedhof wird noch benutzt. Hauptbegräbnisstätte ist aber der große Taucherfriedhof, der eine große Anzahl schöner oder doch wenigstens origineller Grabdenkmäler und eine Reihe interessanter Gruftgebäude enthält. Ein friedvolles Bild gewährt, vom Friedhof aus gesehen, die kleine Taucherkirche, wo sie zwischen dunklen Lebensbäumen über die alten Denkmäler hinwegschaut.

Damit sind wir schon vor die Tore der Stadt gekommen und es ist an der Zeit, auf die Anlagen hinzuweisen, die auf Wall und Graben des äußeren Befestigungsgürtels entstanden [[36]] sind. Von der Schießbleiche bis zum Äußeren Lauentor umfaßt ihr grüner Kranz die Stadt; von Wall und Graben ist freilich nur noch zwischen dem Ausgang der Ziegelstraße und dem Äußeren Reichentor etwas zu sehen.

All die schönen Bilder aufzuzählen, die sich in Bautzen dem wirklich offnen Auge darbieten, ist ebenso unmöglich, wie eine Besprechung aller Elemente der Stadtschönheit. Wer zu sehen versteht, der wird noch vieles entdecken oder wissen, was hier nicht erwähnt werden konnte. Wir müssen uns zum Schlusse den Bildern zuwenden, in denen Bautzens Schönheit am vollständigsten und eindringlichsten sich ausspricht, zu den Gesamtansichten.

Die Beschaffenheit des Geländes im Verein mit der Stadtanlage gibt die Grundbedingungen für die Gestaltung des Stadtbildes: auf steilem Felsvorsprung die Burg, auf dem höchsten Punkt der Stadt die große Kirche und um sie herum die Dächerreihen der Straßen und Gassen, aus denen sich die übrigen Turmspitzen hervorheben; an den steilen, terrassenförmigen Hängen im Norden und Westen Baulichkeiten in verschiedener Höhe, grüne Rasenhalden, Bäume und blühende Gärten zwischen dem alten Gemäuer und unten die Spree – das ist im wesentlichen das Bild der Stadt, wie es sich von der Schießbleiche oder vom linken Spreeufer aus gesehen darbietet (Abb. 3). Der Blick von der Schießbleiche her insbesondere ist im Frühling von zauberischer Schönheit, wenn die Nikolairuine und die alten Befestigungsbauten umsponnen sind von duftig zartem Blütenschleier. – Wuchtiger wirkt das Bild vom Protschenberg aus, wo die Ortenburg es völlig beherrscht –

[[37]]

19. Fleischmarkt Nr. 6.

[[38]]

20. Nikolairuine, Chor.

[[39]] einzig schön, wenn die Abendsonne sich in den Fenstern spiegelt und die schmuckreichen Giebel rötlich aufleuchten läßt, indes im Tal die Schatten sich um die Felsen legen und aus den Schornsteinen der Häuser „Unterm Schloß“ der blaue Rauch emporsteigt. – Die ansehnliche und wehrhafte Stadt spricht sich vor allem in den schon erwähnten Bildern von der Eisenbahnbrücke und von der Kronprinzenbrücke aus. Die ganze türmereiche Stadt mit ihrer wundervoll bewegten Silhouette zeigt sich am reinsten demjenigen, der vom Alten Exerzierplatz (südwestlich), von der Kleinwelkaer Straße oder von der Haltestelle Seidau her das Stadtbild betrachtet – besonders schön, wenn man so steht, daß der Zug der waldigen Berge hinter der Stadt sichtbar ist.

Groß ist die Bedeutung der Berge wie des Flusses für die Schönheit des Stadtbildes, groß aber auch die der Einheitlichkeit des Baustoffes: heimischer Granit im nackten Bruchsteinmauerwerk der Befestigungsbauten, geputzte Wände an den Wohngebäuden und auf den Dächern zumeist Ziegel. Diese Einheitlichkeit und die wohlabgewogenen Verhältnisse der alten Einzelbauten zu ihrer Umgebung, das Hervortreten wichtiger Gebäude und das Zurücktreten bescheidener Bauwerke, die bei aller Bewegtheit klare Umrißlinie des Ganzen sowie die durchgehenden Linien des lebendigen Grüns und des Flusses – all das läßt in den Gesamtansichten das Hohe Lied von der Schönheit der alten Stadt erklingen. Welch glücklicher Umstand, daß das schönheitsdurstige Auge des Menschen es vermag, häßliche und störende Bauten nüchtern praktisch gesinnter Zeiten bisweilen zu übersehen. Überall [[40]] freilich glückt es nicht. Manch schönen Blick werden die Bedürfnisse kommender Tage noch versperren, ohne daß es verhindert werden kann, aber glücklicherweise sind die Zeiten überwunden, da man ohne Zwang in einer uns heute selbst unverständlichen Verständnislosigkeit neben schöne alte Bauwerke die aufdringlichsten und geschmacklosesten Neubauten setzte. Auch wir haben genug davon, sind aber immer noch besser daran als manche andere Stadt, und vor allem: wir haben erkannt, welch hohes Gut die Schönheit unsrer Stadt ist. Mögen ihr immerdar wachsame Hüter erstehen, wie wir sie heute auf dem Posten wissen, dann wird das alte Bautzen bleiben, was es ist: eine schöne Stadt!

[[41]]

21. Vor der Mönchskirche.

[[42]]

22. Inneres der Petrikirche. Hinten in der Mitte der katholische Hauptaltar, rechts der protestantische Altar.

[[43]]

23. Grundriß der Petrikirche (nach Rauda).

[[44]]
3.
Ein Rundgang durch die Stadt.
(Auf dem Plan II durch eine rote Linie gekennzeichnet.)

Am schönsten ist es sicher, wenn man beim Durchwandern einer alten Stadt nicht auf die Zeit zu achten braucht, sondern sich im Schlendergange ganz den eigenen Neigungen überlassen kann, die einen jetzt in diese Gasse, dann durch jene Straße ziehen und bald hier, bald da ein Gebäude oder einen Ausblick als das zunächst erstrebenswerte Ziel erscheinen lassen. Aber wer ist heute noch so glücklich, daß ihm das Schwinden des Tages so gar nichts zu sein braucht? Den meisten Besuchern Bautzens, selbst wenn sie nur die Schönheit der alten Stadt zu genießen kommen, ist doch wohl eine Anweisung erwünscht, wie man am praktischsten (wir müssen ja bisweilen auch im Genießen des Schönen praktisch sein!) die Stadt durchwandern kann.

Der im Folgenden vorgeschlagene Rundgang gibt natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten, aber er führt an der Hand des Planes in verhältnismäßig kurzer Zeit zu allen wichtigen Punkten und läßt die Hauptstraßen in der Richtung durchschreiten, die ihre besondere Schönheit enthüllt. Die in Klammern beigegebenen Seitenzahlen zeigen an, wo nähere Mitteilungen zu finden sind.



Vom Bahnhofsplatz wenden wir uns halblinks nach der Bismarckstraße. Sie führt über die Ringpromenade (Kriegerdenkmal) hinweg nach dem Postplatz, von dem aus man durch die neue, in leichtem Bogen angelegte Kaiserstraße mit ihren schönen modernen Geschäftshäusern nach dem Kornmarkt gelangt.

[[45]]

24. Chorgestühl im katholischen Teil der Petrikirche.

[[46]]

25. Tor des Domstiftes.

[[47]] Hier steht das neue Stadtmuseum (naturwissenschaftliche Heimatsammlung, vorgeschichtliche Sammlung; Altertumsmuseum und moderne Gemäldegalerie; Sonntag 10 bis 3 Uhr, Mittwoch 12—3 Uhr und Sonnabend 10—12 Uhr bei freiem Eintritt, sonst gegen Entgelt zugänglich) und links als Platzabschluß sieht man das auf einer alten Bastion errichtete Stadttheater. Es ist mit einer der von Ernst Rietschel für das 1869 abgebrannte Dresdner Hoftheater geschaffenen Giebelgruppen „Die Tragödie“ geschmückt. (Entwurf zu dieser und einer anderen Giebelgruppe im Stadtmuseum Raum 57). Wir gehen wieder zurück nach dem Museum zu und überschreiten den anderen Teil des Kornmarktes in der Richtung auf den „schiefen“ Turm von Bautzen, den Reichenturm (Abb. 2) mit dem Tor und dem Denkmal des Kaisers Rudolf II. Vor dem Tore, durch das man einen reizvollen Einblick in die Reichenstraße hat, wenden wir uns rechts nach dem zinnengekrönten Wendischen Turm (Abb. 16), der einst auch ein Tor schützte. (Einblick in die Wendische Straße!) An ihn hat Gottfried Semper unter Weiterführung des Zinnenmotives die sog. Alte (Kronprinz-) Kaserne angebaut. Diese umgehen wir und folgen der bergabführenden Straße Vor dem Schülertor zum Schülertor (Abb. 7). Ohne es zu durchschreiten steigen wir den ihm gegenüber emporführenden Taschenberg hinan, um uns oben nach links zu wenden. Damit betreten wir den Schießberg (am Schützenhaus links vorbei), von dessen der Stadt zugekehrten Rand man einen wundervollen Blick (S. 36) hat: von der „Alten Kaserne“ bis zur trutzigen [[48]] Ortenburg schmiegt sich da in langen Reihen Dach an Dach, alles überragt vom Dom St. Petri. Von hier aus sieht man auch, wie eigenartig die Nikolairuine dadurch wirkt, daß die Kirche in der Befestigungslinie stand. Vom Schießberg steigt man über Stufen herunter, um an der anderen Seite über die Nikolaistufen nach der Stadt hinaufzuklimmen. Vor der Nikolaipforte (Abb. 8) angelangt, werfen wir einen Blick nach links in den Zwinger und wenden uns dann rechts nach dem Nikolaifriedhof (katholischer Friedhof). Die Gräber liegen hier zum Teil im Innern der Nikolairuine (Abb. 20). Nun zurück nach der Nikolaipforte und durch sie und die anschließende enge Gasse hindurch nach der Schloßstraße. Hier wenden wir uns nach rechts und gehen an den evangelischen Pfarrhäusern zu St. Peter sowie an den beiden alten Landhäusern (das eine, Nr. 12, mit schön eingelegter Haustür, ungefähr 1650) vorbei nach dem Schlosse Ortenburg (Abb. 3 u. 26). Da begrüßt uns der schöne, mit dem Matthias Corvinus-Denkmal geschmückte Schloßturm (Abb. 10 u. 27). Er birgt die Schloßkapelle. Unser Weg führt uns durch das Tor, am Hofrichterhaus (mit schmuckreichem Essenkopf) vorüber, hinter dem das sogen. „Ausfallpförtchen“ in die Mauer gebrochen ist (lohnender Ausblick, der zur Linken den von der Seidauer Friedhofskapelle bekrönten Protschenberg zeigt). Das giebelgeschmückte Hauptgebäude des Schlosses enthält den früheren Audienzsaal, jetzt Sitzungssaal der Königl. Kreishauptmannschaft, mit seiner reichen Stuckdecke. Wir verlassen den Schloßhof durch das „Neue Tor“. Beim Betreten

[[49]]

26. Schloß Ortenburg.

[[50]]

27. Schloßtor mit dem Denkmal des Königs Matthias Corvinus

[[51]] des Burgplatzes sehen wir uns dem stattlichen Hause der von Gersdorff-Weichaschen Stiftung gegenüber Stiftungsbibliothek: Mittwoch von 2–4 Uhr geöffnet; Kupferstichsammlung und Altertümer im Stadtmuseum). Ein kurzes Gäßchen führt an diesem Gebäude vorbei zur Ruine der Mönchskirche (Abb. 15 u. 21), in die man 1877 einen Wasserturm gesetzt hat. Durch die mit Schwibbogen überspannte Große Brüdergasse (Abb. 11) wandern wir weiter zum Fleischmarkt, in den wir zunächst nach links einbiegen, um zwischen dem Turmportal der Petrikirche und dem durch das Wappen einer Mariensterner Äbtissin gekennzeichneten „Klosterhaus“ (Eckhaus) hindurch zum Domstift (Abb. 26) zu gelangen. (Links schließt an das Domstift das schöne Haus „An der Petrikirche Nr. 5“ an.) Nach einem Besuch des Domes St. Petri (Abb. 13, 18, 22–24; Eingang in den katholischen Teil durch das Nordportal immer geöffnet) kehren wir wieder zurück zum Fleischmarkt (Denkmal Joh. Georgs I. von F. K. Schwenk, errichtet 1865, Fassade von Nr. 8, Haustür von Nr. 6, Abb. 19) mit dem von dieser Seite aus zugänglichen Rathaus (Abb. 13 u. 17), und weiter zum Hauptmarkt. An der dem Rathaus gegenüberliegenden Ecke der Inneren Lauenstraße erhebt sich das 1882/83 von Ernst Giese erbaute Gewandhaus mit dem Ratskeller, in dem noch ein schön gewölbter Raum aus dem 15. Jahrhundert erhalten ist (im Bürgersaal zwei Wandgemälde aus der Geschichte Bautzens von G. Schwenk). Wir lassen es vorläufig bei einem Blick in die Lauenstraße (Abb. 9) bewenden und treten zwischen zwei prachtvollen alten Wohnhäusern in die [[52]] alte Heringsgasse, jetzt Heringsstraße ein. Wir folgen ihr an interessanten Bürgerhäusern vorbei (Haustür von Nr. 11! Rechts Einblicke in die Sieber- und Hohengasse) bis sich die Häuserreihe links nach den zur Michaeliskirche (Abb. 1) hinabführenden Stufen öffnet. Von hier sind es nur wenige Schritte zur Alten Wasserkunst (Abb. 1 u. 4), die wir in ihrer vollen Schönheit noch von der anderen Seite sehen werden, und zum Mühltor. Nun geht es vom „Wendischen Kirchhof" nach links wieder bergan über die Mühltorgasse an der Stadtmauer hin zum Lauenturm, und an ihm vorbei nach rechts zu der 1909 eingeweihten Kronprinzenbrücke. Von ihr hat man prachtvolle Blicke – nach der einen Seite auf das Schloß, auf den Zug der Stadtmauer mit ihren Bastionen und vor allem auf die Alte Wasserkunst mit der Michaeliskirche, Petrikirche, Rathausturm und Lauenturm, nach der anderen Seite auf die Neue Wasserkunst (Abb. 5 u. 6). Von der Brücke gehen wir wieder zurück und wenden uns bei dem 1904 vollendeten „Wendischen Haus“ (mit dem Wend. Museum im 3. Stock, rechts, geöffnet: jeden ersten und dritten Sonntag im Monat vormittags von ½11 bis 12 Uhr, Eintritt 30 Pfg.) nach links: wir stehen vor dem Lauenturm (Abb. 9 u. 12), an dem das 1913 enthüllte, kraftvolle und eigenartige König Albert-Denkmal von Walter Hauschild angebracht ist, und genießen von hier ein Straßenbild, wie es schöner kaum zu finden ist (Abb. 12 und 13). Indem wir dem Zuge dieses Bildes in die Innere Lauenstraße (Fassaden, insbesondere Nr. 8, 6, 4, 2!) hinein folgen, wandelt es sich allmählich, bis sich [[53]] am Gewandhaus der Hauptmarkt ganz vor uns auftut. Hier biegen wir rechts in die Reichenstraße (Fassaden, insbesondere Nr. 4, 5, 12, 14!), die im Reichentor mit dem uns schon bekannten Turm ihren Abschluß findet. Ein Blick durchs Tor auf die wendisch-katholische Kirche zu Unsrer lieben Frauen (Abb. 14) beschließt den Rundgang.


Wer noch Zeit hat, der gehe die Wendische Straße vor bis zur Petrikirche (Blick rechts nach dem Schülertor), besuche die Gassen und Gäßchen zwischen Markt und Schloß, wandere über die Reste des alten Walles zwischen Ziegeltor und Äußerem Reichentor, womit sich leicht ein Besuch des Taucherfriedhofs mit dem Taucherkirchlein und den schönen alten Grabdenkmälern verbinden läßt. – Zu einem bescheidenen Holzbau von malerischer Wirkung, dem „Hexenhäusel“, gelangt man durch die „Fischerpforte“ am Lauenturm. Schöne Blicke auf die Stadt bietet eine Wanderung nach dem Protschenberg, an dessen Abhang zu Ostern das berühmte Eierschieben stattfindet, und nach dem alten Exerzierplatz (jetzt Flug- und Sportplatz) im Südwesten der Stadt. Der beigegebene Plan wird für diese Wege die nötigen Fingerzeige geben.


[[54]]

Plan I (nach Rauda).

[[55]]
Das Bautzen der Neuzeit.

Wohl ist es etwas Schönes um das hohe Alter einer Stadt und die Erinnerungen an eine große Vergangenheit. Aber wie edle Abkunft allein den Menschen noch nicht tüchtig macht, so muß auch ein altehrwürdiger Ort tätigen Anteil am Leben der Gegenwart nehmen, um seine Bedeutung zu behaupten. Und das ist bei Bautzen der Fall. Es ist keine stille, verträumte Märchenstadt, wie jene romantischen kleinen Reichsstädte in Schwaben und Franken, die ehemals, als Oberdeutschland noch für den Handel, wie das deutsche Kulturleben überhaupt an erster Stelle stand, große wirtschaftliche und politische Bedeutung hatten, jetzt aber verlassen, abseits vom großen Verkehr ein mattes Leben führen. Unsre Stadt Bautzen hat, auch als sie nicht mehr einer der wichtigsten Stapelplätze an der Hohen Landstraße von Schlesien nach Thüringen war, auch als sie durch furchtbare Kriegsdrangsale aufs äußerste erschöpft wurde, doch immer einen Teil ihrer alten Bedeutung bewahrt. Sie blieb immer der Sitz der obersten Regierungsbehörden der Oberlausitz, wie der des provinzialen Oberhaupts der Katholiken; in ihr verehrten die Lausitzer Wenden nach wie vor ihre alte Hauptstadt, an der sie mit Treue hingen und hängen, und wo sie zusammenkommen, um ihr Volkstum gemeinsam zu pflegen. Sie blieb endlich der große Marktplatz für einen ausgedehnten Landbezirk, dessen Bewohner sich dort [[56]] mit Hausrat, Kleidung, Schmuck usw. versorgten, so daß das Handwerk immer Arbeit hatte und sich wohl befand. Freilich, die alte, weit über die Provinz reichende Bedeutung, die ihr Handel und Gewerbe einst gehabt hatte, war gesunken durch die furchtbaren Schläge, die ihr Wohlstand beim Pönfall von 1548, im dreißigjährigen Krieg und von neuem im siebenjährigen und in den Napoleonischen Kriegen erlitt, wie auch unter der Wirkung veränderter politischer Verhältnisse. Weiterer wirtschaftlicher Niedergang drohte, als das 19. Jahrhundert des Handwerks gefährliche Feindin, die Fabrik, herrschend werden ließ. Gerade die in Bautzen einheimischen Gewerbe, Tuchweberei, Papier- und Pulverbereitung, Metallverarbeitung, konnten bei handwerksmäßigem Kleinbetrieb nicht mehr bestehen. So schmerzlich nun der Bruch mit ehrsamer Überlieferung, mit manchem schönen Brauch auch sein mußte, soviel Entschlossenheit und Wagemut dazu gehörte, statt zu klagen, den Fortschritt der Zeit mitzumachen, man hat in Bautzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugegriffen. Unter der Leitung einsichtiger Behörden und unter tatkräftiger Beteiligung eines alten kraftvollen Bürgerstands hat man sich die neuen Mittel und Formen von Handel und Industrie zu eigen gemacht, auch sonst das städtische Leben in neue Wege geleitet.

Das beweist das neue Bautzen – so amtlich seit 1868, vorher Budissin – das, sich an den pietätvoll erhaltenen altertümlichen Kern der Stadt anschließend und nach allen Seiten reckend und dehnend, mit neuen Bauten, vornehmen Sitzen von Behörden, freundlichen und schmuckreichen, von Gärten umgebenen Wohnhäusern, [[57]] umfangreichen Heimstätten der Industrie, ausgedehnten Kasernen den Blicken namentlich des von Osten und Süden der Stadt Nahenden entgegentritt. Das beweist das Anschwellen der Einwohnerzahl von etwa 13000 im Jahre 1870 auf etwa 37000 im Jahre 1914.

Ein ausgeprägtes Industrieviertel kennt Bautzen bisher nicht. Bevorzugt ist für die Fabriken natürlich die Nähe des fließenden Wassers, der Spree. Oberhalb der Stadt, am Wege nach der „Weiten Bleiche“, liegt die große Waggon- und Maschinenfabrik, vormals W. C. F. Busch, jetzt eine Aktiengesellschaft mit gegen 1500 Beamten und Arbeitern. Unterhalb des Schloßberges befindet sich die Bautzener Tuchfabrik und die Karosserie- und Wagenfabrik Aug. Nowack, weiter das nach einem Brande vor einigen Jahren neugebaute schöne und ausgedehnte Gebäude der Papierfabrik mit einer der höchsten Essen Deutschlands (90 Meter). Am unteren Ende der Stadt folgt das außerordentlich umfangreiche Reinhardtsche Kupferwerk, als „Kupferhammer“ schon ehedem berühmt, und endlich, wegen seiner Gefährlichkeit vor der Stadt, die Pulverfabrik mit ihren aus hohem Grün heimlich und unheimlich zugleich lugenden Häusern. Nach Osten zu, an der Löbauer Straße, hat sich ebenfalls eines der größten industriellen Unternehmen niedergelassen, die Lithographische Anstalt und Buntpapierfabrik der Gebrüder Weigang. Hier war es, wo erst im Jahre 1914 bei einem jähe Dämpfe entwickelnden Brande 6 brave, wagemutige Feuerwehrleute einen ehrenvollen Tod fanden. Die übrigen Fabriken liegen zerstreut meist in den Vorstädten. Wir können nicht alle aufzählen, [[58]] sondern nennen nur die mehrfach vorhandenen: Blumenfabriken, Eisengießereien, solche für Eisen- und Wellblechkonstruktion, für schmiedeeiserne Fenster, Fahrrad- und Automobilfabriken, Kartonnagen-, Leder-, Maschinen-, Stahlwaren-, Möbel-, Strumpf- und Wollwaren-, Wagen-, Zement- und Zigarrenfabriken. Die berühmte Orgelbauanstalt von Eule sei besonders hervorgehoben. Dazu kommen Brauereien, Gärtnereien, Mühlen und in der Umgegend, von Bautzen aus betriebene Ziegeleien, Sandgruben und Steinbrüche. Für die Beleuchtung sorgen die städtische Gasanstalt und das städtische Elektrizitätswerk (unterhalb des Schießbergs), ein bedeutendes Unternehmen, das die Gegend weithin nach Ost und West, nach Norden bis an die preußische Grenze mit Elektrizität versorgt. Die Stromabgabe ist für 1914 auf 3 Millionen Kilowattstunden veranschlagt. Das städtische Wasserwerk liefert auch bei anhaltender Trockenheit reichliche Mengen besten Wassers. Für die Bedürfnisse der weiten ländlichen Umgebung sorgen besonders Düngemittel-, Getreide-, Mehl-, Saat- und Futtermittelhandlungen. Der Sonnabend ist der große Markttag, an dem viele Tausende von Landleuten zum Ein- und Verkauf ihrer Erzeugnisse und Bedürfnisse zusammenströmen, die zahlreichen Gasthöfe und Ausspannungen ihre besten Geschäfte machen, die Straßen und Plätze der inneren Stadt mit Wagen, Maschinen, Vieh, Grünzeug usw. angefüllt sind. An solchem Tage schlägt überall noch die an Zischlauten reiche wendische Sprache vorherrschend an unser Ohr, auch die Wendinnen sind dann noch in ihrer sonst in der Stadt nicht allzuhäufigen Volkstracht in Menge [[59]] zu bewundern. Die Wenden haben sich auch ein besonderes Hauptquartier innerhalb Bautzens geschaffen, das stattliche „Wendische Haus“ (Serbski dom, J 7) am Lauengraben, in dem sich ein „Wendisches Café“, eine „Wendische Buchhandlung“ (von Schmaler), Versammlungsräume für Vereine und das sehenswerte „Wendische Museum“ befinden.

Selbstverständlich fehlt es auch in Bautzen nicht an Vertretung der „achten Großmacht“. Die deutschen Großbanken haben sämtlich Tochteranstalten hier, doch kann sich wohl keine an örtlicher Bedeutung mit der „Landständischen Bank“ messen, deren prächtiges, wappengeschmücktes Heim sich an der Bismarckstraße erhebt, worin sich zu Walpurgis auch die Landstände des Königl. Sächs. Markgraftums Oberlausitz versammeln und der Landesälteste, Graf zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld, seine Amtswohnung hat.

Jenseits der schönen granitnen Kronprinzenbrücke (H 7), die 23 Meter hoch seit 1909 die Spree überspannt und von der man einen herrlichen, von keinem Besucher Bautzens zu versäumenden Blick auf die alte Stadt hat, ist ein ganz neuer Stadtteil Bautzen-West im schnellen Entstehen.

Daß Bautzen auch ein Mittelpunkt des geistigen Lebens der Provinz ist, beweisen uns zunächst die vielen Schulen, deren es sich erfreut: das Gymnasium, die Oberrealschule, das Landständische (evangelische) Seminar (diese drei mit ihren Gebäuden inmitten schöner Gärten an dem „Schilleranlagen“ (K L 9) genannten Teil der städtischen Parkanlagen), das Katholische Seminar [[60]] (ein stolzer Bau in der Nordvorstadt, N 3), die Höhere Mädchenschule (K 9), die Handelsschule, die bald einen stattlichen Neubau am König Friedrich August-Platz beziehen wird, die Landwirtschaftliche mit Gartenbauschule (O 8, 9), die Industrie- und Gewerbeschule (K 6). Die Volksschulen erfreuen sich ebenfalls einer Unterkunft in stattlichen Häusern; sehenswert wegen ihrer modernen Anlage und ihres künstlerischen Schmucks (Figuren aus den deutschen Volksmärchen) ist namentlich die neue „Pestalozzischule“ an der Bahnhofstraße (K 9), auch die neue katholische Schule in der Ostvorstadt (O 8). Für Schüler wohlhabender Eltern, die nicht in Bautzen wohnen, in erster Linie für Angehörige der zu den Landständen gehörigen Rittergutsbesitzer, ist eine besondere, nach neuzeitlichem Familiensystem geleitete Pension im „Ritterschaftlichen Internate“ in Bautzen-West (G 9) vorhanden. Zwei Bibliotheken, die Stadtbücherei im Gewandhaus (J 6) und die von Gersdorfsche am Burgplatz (H 6) und das reiche Stadt- und Provinzialmuseum (K 7), auf dessen schönen Bau am Kornmarkt die großstädtische Kaiserstraße in feingeschwungenem Bogen vom Bahnhofe aus zuführt, sorgen – bei freiem Eintritt in den üblichen Besuchsstunden – weiter für geistige Anregung und Belehrung. Das Museum enthält eine Altertumssammlung, die zu den bedeutendsten provinzialen Deutschlands gehören dürfte, insbesondere eine hervorragend ausgestattete vorgeschichtliche Sammlung, und eine in der Hauptsache von dem der Kunst ebenso wie seiner Heimatstadt zugetanen Kommerzienrat Otto Weigang geschenkte Gemäldegalerie, die viele höchst wertvolle Originalwerke neuerer Meister [[61]] enthält. Auch sind Räume für die Wanderausstellungen des „Kunstvereins“ und ein Vortragssaal vorhanden. – Im Winter spielt eine gute Schauspielertruppe im Städtischen Theater, mit dem freilich mehrere Kinematographen in Wettbewerb treten. An Konzerten ist kein Mangel, da mehrere Militärkapellen in der Stadt sind und auch sonst ein reges musikalisches Leben herrscht. Zahlreiche wissenschaftliche Vereine bieten durch häufige Vorträge im Winter weitere Gelegenheit zu geistiger Förderung.

Seit einigen Jahren ist Bautzen auch zu einem sehr bedeutenden Standort für das deutsche Heer geworden. Zu dem hier schon lange weilenden Infanterieregiment Nr. 103, dessen Hauptkaserne an der Löbauer Straße (P Q 7) noch die schlichten Formen zeigt, wie sie vor dreißig Jahren herrschten, sind die schmucken, wohlgegliederten und aufs beste eingerichteten Bauten in der Ostvorstadt gekommen, in die das 20. Husaren-Regiment (O P 12) und das Feldartillerieregiment Nr. 28 „Kaiser Nikolaus II. von Rußland“ (Q 10) eingezogen sind. Ebenso befinden sich die Stäbe der 3. Division Nr. 32, der 5. Infanterie-Brigade Nr. 63 und der 3. Feldartillerie-Brigade Nr. 32 hier.

Von den bürgerlichen Staatsbehörden, die in Bautzen ihren Sitz haben, seien nur hervorgehoben die Kreishauptmannschaft (in der Ortenburg, H 5), das Landbauamt, Land- und Amtsgericht – das schöne neue Gerichtsgebäude bildet die eine Seite des wohlgepflegten Friedrich-August-Platzes (N 8) –, Kreissteueramt, Oberversicherungsamt, Straßen- und Wasserbau-, Hauptzoll- und Eisenbahnbauamt, Amtshauptmannschaft.

[[62]] Während die Kreishauptmannschaft, zu der ein Oberkirchenrat gehört, die evangelische Konsistorialbehörde der Oberlausitz bildet, ist die oberste katholische das Domstift. Sein Präses, der Bischof und Dekan, führt zugleich den Titel Administrator ecclesiasticus und ist als Apostolischer Vikar auch das Haupt der Katholiken des ganzen Königreichs Sachsen.

Endlich darf die Königl. Landesstrafanstalt nicht vergessen werden, die trotz ihrer ernsten Bestimmung doch infolge ihrer zahlreichen Beamten und Insassen von wirtschaftlicher Bedeutung für die Stadt ist und auch äußerlich mit ihren ein ganzes Stadtviertel bildenden Ziegelgebäuden die Stadt im Norden eigenartig abschließt (M 1, 2, 3).

Breite Parkanlagen, mit hohen, schattenden Bäumen, bunten Beeten, munter plätschernden Springbrunnen, Ruhebänken und Spielplätzen für Kinder, auch Gedenksteine für große Männer und bedeutungsvolle Tage enthaltend, umziehen an drei Seiten die ältere Stadt da, wo ehemals die äußere Befestigungslinie verlief, von der an einer Stelle noch ein romantischer Rest: Wall, Graben und Mauer, pietätvoll erhalten ist (am Ziegelwall, N 5, 6). Zumeist liegen an diesen Anlagen oder nicht weit davon, mit dem Blick in wohltuendes Grün, auch die der Wohltätigkeit gewidmeten Stätten, Krankenhäuser, Heime für einsame Alte, Sieche und Arme, ebenso das Stadtbad (M 7), neben dem eine von einer gemeinnützigen Gesellschaft unterhaltene Schwimmhalle (M 7) zum stärkenden Bade lockt. Alle diese Anstalten haben, dank dem Reichtum der Stadt an milden Stiftungen, neue, den Forderungen [[63]] der humanen Gegenwart gemäß eingerichtete lichte und luftige Gebäude; man behilft sich nirgends, wie wohl sonst auch in wohlhabenderen Mittelstädten, mit der Benutzung alter, romantischer, aber doch unhygienischer und unzweckmäßiger Häuser.

Wen wundert es da noch, wenn eine solche jeden wahren Fortschritt ausbeutende Stadt trotz vielseitiger guter Eisenbahnverbindungen eine staatliche Kraftwagenlinie nach Kamenz und Königsbrück durch beträchtliche Zuschüsse ermöglicht und auch das Neueste vom Neuen, einen Flugzeugplatz eröffnet hat, der natürlich ein wenig draußen (an der Neustädter Straße neben dem Sportplatz, E 11) liegt? Diesem Streben, diesem Fleiß fehlt gewiß nicht der Preis in der Zukunft, der Segen auf Bautzens frommen Wahlspruch: Da, Domine, incrementum: Herr, gib Gedeihen!


[[64]]

Bautzens Umgebung.

So reich die Stadt Bautzen selbst an Schönheiten ist, so reizvoll wirkt ihre weitere und nähere Umgebung. Der rüstige Wanderer wie der gelassene Spaziergänger finden die mannigfachsten Gelegenheiten, sich im Naturgenusse von ihrer Arbeit zu erholen. Kaum eine andere Gegend Sachsens bietet nahe beieinander Landschaftsbilder so verschiedenen Charakters wie die Lausitz: im Süden das Gebirge, um Bautzen die breite, hügelige Landschaft und im Norden die zahlreichen schimmernden Teiche inmitten der düstern Heidekiefern. Und keine dieser Gegenden berührt uns eintönig, jede birgt reizvollen Wechsel in sich und trägt zu den verschiedenen Jahreszeiten, im Sonnenglanz des Sommers, an ernsten, trüben Herbsttagen, im lichten Frühling, im Winterschnee, die verschiedensten Stimmungen. Nur in großen Zügen sei hier ein Überblick gegeben. Mögen sich unsere Gäste je nach ihrem Geschmacke etwas zu einem Ausfluge aussuchen. Haben sie gekostet, so werden wohl manche in Ferienzeiten zurückkehren, um sich liebevoll in die Einzelheiten zu versenken.

Nur gestreift sei, daß das erhabene Riesengebirge, das Iser- und Jeschkengebirge, sowie der Spreewald mit der Bahn von Bautzen aus in wenigen Stunden zu erreichen, daß das Zittauer Gebirge mit Oybin, Hochwald, Lausche in Tagespartien zu genießen sind und man mit der Bahn über Löbau und Rumburg in zwei bis [[65]] drei Stunden in das Herz der Böhmischen Gebirgswelt vorstoßen kann. Ebenso vermag der Reiselustige von unserer Stadt aus über Wilthen, Schandau rasch in das Elbsandsteingebirge zu gelangen und kann doch abends sein Haupt wieder in Bautzen niederlegen.

Um einen Einblick in die uns südlich schirmende, mit wellenartigen Zügen vorgelagerte Gebirgslandschaft zu gewinnen, genügen kleinere Partien. Hier seien besonders folgende Halbtagsausflüge empfohlen. Die Bahn führt uns durch liebliche Hügelgruppen zunächst neben dem Spreetale hin, dann westlich abzweigend nach Niederneukirch, von wo durch schattigen Buchenwald der Valtenberg (586 Meter, Bergwirtschaft, Turm) in 1 Stunde zu ersteigen ist. Wer wanderfroh ist, kann bei der Rückkehr in einer reichlichen Stunde, den Telephonstangen folgend, zum Bahnhof Oberneukirch gehen und von dort nach Bautzen fahren. Oder man nimmt den Zug nur für eine halbe Stunde bis Wilthen und erreicht das Städtchen Schirgiswalde (Gastwirtschaften Erbgericht, Türmchen) in prächtiger Wanderung über die Weifaer Höhe. Bei Benutzung der Bahn bis Schirgiswalde läßt sich in 2½-stündigem Marsche über die „Kälbersteine“ und die Gastwirtschaft zum Erntekranz der 500 Meter hohe Bieleboh ersteigen. Herrliche Aussicht vom Turme; gute Bewirtung. Halbstündiger Abstieg zur Bahn ins langgestreckte Cunewalder Tal. Diese Berghöhe ist auch von den Haltestellen Halbendorf (über Wurbis) oder Mittelcunewalde, auch von Rodewitz aus in angenehmer Weise zu gewinnen. Von der letztgenannten Station, aber auch von den Bautzen näher liegenden Bahnhöfen Großpostwitz oder Singwitz [[66]] pilgern die Bautzener gern in Scharen durch schönen Fichtenwald in etwa einer Stunde zum Mönchswalder Berg (460 Meter), auf dem der Gebirgsverein zu Bautzen 1884 einen 20 Meter hohen granitnen Aussichtsturm und eine geräumige, leistungsfähige Wirtschaft erbaut hat. Gewinnender Blick auf die vieltürmige Budissa und weit nach Norden in die Tiefebene. — Vom eben genannten Großpostwitz aus kann auch der König des Berglandes um Bautzen, der sagenumraunte Czorneboh (555 Meter) über den von ruinenartigen Granitklippen gekrönten Hromadnik hinweg in 2 Stunden erwandert werden. Rüstige Fußgänger erreichen ihn von Bautzen über die Dörfer Soculahora und Mehltheuer in 2½ Stunden, bequemer in 1½ Stunden von der nahen Bahnstation Kubschütz. Seine Hänge und die seiner Trabanten deckt duftender Fichten- und erfrischender Mischwald. Die Besteigung des an die Bergwirtschaft angelehnten Turmes ist geeignet, die ganze Mannigfaltigkeit der Lausitz vor Augen zu führen. Gen Osten und Westen ruhen die Augen in der Nähe auf den dunklen Fichtenwipfeln des von Löbau nach Bischofswerda ziehenden Gebirges; unter uns liegt im Süden das schöne Cunewalder und Wilthener Tal. Jenseits gleitet der Blick über die gleichlaufenden Rücken des Bielebohs und Valtengebirges hinweg auf die Berge der Sächsisch-Böhmischen Schweiz, und im Südosten begrenzen den Horizont die schönen Linien des Zittauer, des Jeschken-, Iser- und Riesengebirges. Nach Norden aber breitet sich unter uns die weite mit Dörfern und Hügeln übersäte Ebene um Bautzen, bis sich der Blick über blitzenden Teichflächen und

[[67]]
28. Gastwirtschaft, Turm und Bismarckdenkmal auf dem Czorneboh.
[[68]]

29. Kirche von Hochkirch mit Blutgasse.

[[69]] blauschwarzen Kiefernwäldern im zarten Nebel der Ferne verliert. Dann ladet uns der langjährige Bergwirt Kalauch zur Rast in seiner beliebten Wirtschaft ein, und mancher zieht erst spät mit erborgter Laterne der Haltestelle Kubschütz zu.

In wirkungsvollem Gegensatz zu dem Gebirge dehnt sich nördlich von Bautzen in der Gegend von Königswartha (1 Stunde Bahnfahrt) die rote Heide mit ihren Birken, dunkeln Kiefernwäldern und schimmernden Sanddünen aus. Hier fühlt sich der Wandernde einsam in der herben, schlichten Natur, über der der vereinzelte Schrei des flatternden Kibitzes gellt. Am südlichen Rande dieses der Mark und den Ostseeufern verwandten Streifens liegen zahlreiche Teiche, wie die von Niedergurig, Kauppa, Commerau und Baselitz. An ihren Gestaden blühen unzählige gelbe Schwertlilien; Wildenten und andere Teichvögel beleben sie. Die zu Lauben verwachsenen Wege mit einzelnen mächtigen Eichen spenden Schatten. Einfache Wendendörfer umsäumen die Ufer der von braunen Schilfinseln unterbrochenen glänzenden Flächen. Am bequemsten sind von Bautzen aus die Niedergurig-Doberschützer Teiche (1 Stunde auf der Muskauer Straße) zu erreichen.

Zwischen Gebirge und Heide aber legt sich um unsere Stadt eine prächtige Hügellandschaft. Überall treffen wir auf kleine, von der hastenden Industrie noch unberührte Dörfer, waldige Kuppen, die rätselhaften „Schanzen“ aus grauer Vorzeit, von Erlen und Eichen umsäumte Bäche, und das schauensfrohe Auge macht an der abschließenden blauen Bergkette halt. Nirgends [[70]] Eintönigkeit. Von Löbau aus ist moch besuchenswert das enge, waldige Skalatal bei Gröditz und Kittlitz. Doch selbst in größter Nähe bietet das Hügelland die schönsten Wanderungen, so nach dem durch das Ereignis des Jahres 1758 denkwürdigen, weithin sichtbaren Hochkirch (Bahnstation Pommritz), dessen kampfgezeichnete Kirche nebst Kirchhof und Blutgasse noch heute beweisen, wie die durch die Österreicher überfallenen Preußen des großen Friedrich ihre Waffenehre wahrten. Oder wir ziehen nach den Kreckwitzer Höhen, wo am 21. Mai 1813 Napoleon seinen Pyrrhussieg gegen Blücher erfocht, oder nach dem Friedhof und Park der stillen Herrnhuter Kolonie Kleinwelka. Endlich seien empfohlen die Spaziergänge spreeabwärts nah Öhna und spreeaufwärts in das felsgesäumte Tal der „Weiten Bleiche“ (1 Stunde Wegs). Wer aber ganz nahe den Toren der Stadt einen Auslauf und einen erfrischenden Trunk sucht, der findet gastliche, schattenspendende Gärten im „Bergschlößchen“ von Strehla, dem „Naturpark“ bei Auritz, dem „Carolagarten“ an der Löbauer Straße, den Gasthäusern von Auritz, Nadelwitz und Stiebitz. Überall läßt sich wohl sein, überall wird das Gefühl lebendig werden, daß Bautzens Umgebung die Besucher zu belohnen weiß. Möchten recht viele Gäste vom alten Budissin und dem grünen Strand der Spree ungern scheiden und beim Auseinandergehn froh sagen: Auf Wiedersehn!



  1. Vgl. Dr. Paul Arras, Zeitgenössische Berichte über die Schlacht bei Bautzen am 20. und 21. Mai 1813, Bautzen (1913).
  2. Dieses Stück war einst, da die Kirche kleiner war, breiter als jetzt.
  3. Gurlitt nimmt für Haus Nr. 6 die Zeit 1709–1720 als Entstehungszeit an.
  4. Die besten Photographien können den Eindruck, den das Auge hat, nicht wiedergeben.