Die Gartenlaube (1866)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[681] No. 44.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Doppelcur.
Von Levin Schücking.
(Schluß.)


„Ich Dich verleitet, Alwine?“ sagte Ernst, „wahrhaftig, das ist ein ungerechter Vorwurf … ich habe Dich zu dem abscheulichen Novellenschreiben nicht verleitet … Du selbst hattest den glücklichen Einfall, auf diese Art Deine Zeit, die Du als Frau wahrhaftig besser benutzen könntest, todtzuschlagen, und Du siehst nun, was dabei herauskommt!

„Aber Du, Du warst es doch,“ entgegnete Alwine, „der mir den Stoff unterschob, und Du mußtest doch wissen, was Du thatest, Du mußtest die Geschichte irgendwo gehört haben.“

„Ich … die Geschichte gehört haben? Aber ich begreife Dich nicht … ich hätte Dir den Stoff untergeschoben … welche Frauenbehauptung! Und das sagst Du an derselben Stelle sitzend, wo wir damals friedlich und harmlos zusammensaßen und Beide gemeinschaftlich das Ganze als ein ganz freies Gewebe der Einbildungskraft ausspannen?“

„Ernst, Du kannst mich nicht glauben machen wollen, daß uns der bloße Zufall dazu geführt habe, so …“

„Ja, aber mein Gott, wenn der Mensch, von dem Du sprichst, wirklich nicht verrückt war, so liegt das ja vor Augen!“

„Es ist ja ganz unmöglich,“ rief die Frau aus.

„Hat er Dir gesagt, daß er seine Geschichte Jemandem anvertraut habe, der sie mir hätte wiedererzählen können?“

„Nein, das nicht,“ entgegegnete Alwine.

„Und es sei Deine Novelle ganz und genau dieselbe Geschichte, welche er erlebt oder die er gemacht oder in die er verwickelt?“

„Ganz genau nicht; manche Nebenumstände, warf er mir vor, habe ich ersonnen oder anders dargestellt, um die Sache ein wenig zu verkleiden, aber die Hauptsache und der Kern treffen so mit seinen Erlebnissen zu, daß Jedermann es sich werde auslegen können, der seine Verhältnisse kenne, und es bliebe ihm nichts übrig, als vor dem Scandal, den die Sache machen werde, auf und davon zu gehen und sich unter ganz fremde Menschen zu flüchten.“

„Ich meinte, er wolle sich schießen mit mir?“

„Das will er auch – schon morgen – und sich flüchten!“

„Das ist wirklich fürchterlich,“ sagte Ernst, indem er die Hände zusammenschlug und sehr niedergedrückt aussah, „mich schießen zu sollen ist mir gar keine angenehme Aussicht … es ist und bleibt eine gefährliche Sache, namentlich wenn man wie ich seit vielen Jahren keine Waffe mehr in der Hand gehabt hat …“

„Du denkst doch nicht daran, gegen den rasenden Menschen Dein Leben auf’s Spiel zu setzen?“ fiel Alwine in höchster Bestürzung ein.

„Eine Herausforderung kann ich nicht ablehnen; ich bin durch alle Gesetze der Ehre gezwungen, ihm Satisfaction zu geben, wenn er sie verlangt.“

„Herr des Himmels, Du wolltest wirklich …?“ Alwine war einer Ohnmacht nahe.

„Ich habe es geahnt,“ fuhr Ernst fort, „daß Unheil aus der Sache entstehen würde, ich habe es geahnt; Du wirst Dich erinnern, daß ich’s Dir auch gesagt, daß ich Dich gewarnt habe. Ich sagte Dir, daß man nichts erfinden könne, was nicht schon ein Mal da gewesen, daß man also immer Gefahr laufe, verletzend, Unheil stiftend in die Verhältnisse wirklich lebender Personen einzugreifen, wenn man nur von erdichteten zu erzählen glaube; Du siehst, wie Recht ich hatte, wie sehr Recht! Wärst Du doch nie auf den unseligen Einfall gerathen!“

„Ja, ein unseliger Einfall, das war er gewiß! Zehn Jahre, meines Lebens gäbe ich, wenn ich ihn nicht gehabt hätte,“ antwortete Alwine und brach in einen Strom von Thränen aus. Der Schrecken, die Angst, die furchtbare Aufregung, worin sie besonders bei dem Gedanken, daß Ernst sich wirklich werde schießen müssen und daß er fallen könne, gerathen war, nahmen ihr alle Besinnung, alle ruhige Ueberlegung. Sie fühlte sich als die schuldigste, jeder Verzeihung unwürdigste Verbrecherin, und ohne über die Seltsamkeit der Thatsache nachzusinnen, wozu sie gar nicht im Stande war, fühlte sie sich erstarrt von dem Schrecken, den dieselbe über sie gebracht hatte.




Es war am andern Morgen. Unser Rechtsanwalt wanderte, in einem von seiner Wohnung sehr entfernten Stadttheile, durch eine neuangelegte Straße und zog an einem schmal aufgebauten neuen Hause die Klingel. Als sie geöffnet wurde, verlangte er den Herrn Färber zu sprechen. Herr Färber war zu Hause und Ernst wurde in sein Zimmer geführt, das ein wenig wie das Zimmer eines Junggesellen aussah; der Inhaber desselben, ein junger Mann von etwa acht- oder neunundzwanzig Jahren, war noch im Schlafrock und saß über eine architektonische Zeichnung gebeugt; Herr Färber war Architekt, wie es schien. Als Northof eintrat, sprang er auf und schritt ihm lebhaft entgegen.

„Nun, sind Sie mit mir zufrieden?“ sagte er lächelnd.

„Vollkommen … Sie haben Ihre Rolle vortrefflich gespielt; ich fürchte fast, Sie haben vor meiner armen kleinen Frau zu sehr den Wütherich gemacht, sie liegt heute unwohl zu Bett.“

„Das thut mir in der That leid, aber wirklich, ich habe nur gesagt, was Sie mir so ungefähr vorgeschrieben, und die Rücksicht, [682] die man gegen eine Dame nimmt, keinen Augenblick aus den Augen gesetzt … ich kann Sie versichern, daß ich innigstes Mitleid mit ihr hatte, weil ich sah, wie furchtbar sie erschrak, wie tief sie sich die Suche zu Herzen nahm … sie ist so hübsch, so liebenswürdig, Ihre Frau Gemahlin; Sie dürfen mir glauben, daß mir meine Rolle schwer wurde.“

„Ich glaube es Ihnen,“ versetzte Ernst lächelnd.

„Darum,“ fuhr Herr Färber fort, „habe ich auch weniger daran gedacht, ihr Vorwürfe zu machen, als ihr das Unglück, welches sie über mich gebracht, recht kläglich und beweglich vorzustellen …“

„Das war sehr recht von Ihnen, Herr Färber, und was das Unwohlsein angeht, so wird es auch wenig zu bedeuten haben, man kennt das bei Frauen. Jetzt ziehen Sie sich an, damit wir uns auf den Weg zu Ihrem edlen ehemaligen Pseudo-Schwiegervater machen können. Ich habe Alles bisher versucht, diesen bösen harten Menschen zu erweichen und ihm Schrecken vor allen möglichen Processen einzujagen, aber nichts hat gefruchtet; heute, hoffe ich, finden wir ihn mürber.“

„Das gebe Gott,“ seufzte Herr Färber, „wenn dieser letzte Versuch ihm das unglückliche Blatt aus den Händen zu winden mißglückt, so ist Alles zu Ende. Ich muß meiner armen Braut dann Alles eingestehen, und wie werde ich vor ihr und ihren Eltern dastehen! Was wird mir übrig bleiben, als wirklich zu thun, was ich Ihrer armen Frau vorstellte, als wirklich fort von hier und in die weite Welt zu gehen! Sie glauben nicht, wie verzweifelt beklommen ich dieser Unterredung mit Grüler entgegengehe!“

„Haben Sie guten Muth,“ fiel Ernst beschwichtigend ein; „rüsten Sie sich nur und kommen Sie.“

Nach wenigen Augenblicken verließen beide Männer das Haus, um einige Straßen weiter zu wandern und vor einem stattlichen alten Gebäude, dessen Thürpfosten ein blankes Messingschild mit der Inschrift „J. J. Grüler, Wechselsensal“ trug, die Klingel zu ziehen. Die Thür öffnete sich und ein im Flur befindlicher Laufbursche übernahm es, die beiden Herren in das elegante Sprechzimmer des Herrn Wechselsensals zu führen und sie anzumelden. Sie hatten eine Weile zu warten. Endlich öffnete sich eine Thür, durch die man in ein mit mehreren Schreibern besetztes Comptoir blickte, und ein breitschulteriger, kleiner Mann mit einem grauen Gesichte, welches durch die weiße Halsbinde nur noch grauer wurde, in einem abgetragenen braunen Rock mit Schreibärmeln trat stürmisch in’s Gemach und rief in einem Tone, welcher durchaus nichts verbindlich Bewillkommnendes hatte, Ernst entgegen:

„Was wünschen Sie, womit kann ich dienen, Herr Rechtsanwalt? Ich sehe, Sie haben heute sogar auch Herrn Färber mitgebracht; wüßte nicht, daß ich dem Herrn Färber noch in etwas dienlich sein könnte…“ Der graue Mann maß die beiden Herrn mit förmlichen Wuthblicken.

„Es muß Ihnen allerdings ein wenig auffallend sein, mein werther Herr Grüler,“ entgegnete der Anwalt sehr ruhig, „daß ich noch einmal bei Ihnen erscheine, nachdem Sie vor einiger Zeit, als ich das letzte Mal als Rechtsbeistand des Herrn Färber bei Ihnen war, mich so entschieden abgewiesen haben. Aber ich denke, es liegt ein Novum, wie wir Juristen sagen, in der Sache vor, was Sie bewegt mich anzuhören und meine Vorschläge zu überlegen; Sie werden das Journal erhalten haben, welches ich mir erlaubte, Ihnen gestern Nachmittag zu übersenden …“

„Das habe ich allerdings erhalten, und wenn Sie darauf hindeuten mit Ihrem Ausdruck: ein Novum,“ rief Herr Grüler, zitternd vor Wuth und immer grauer werdend aus, „so muß ich Ihnen freilich Recht gehen. Das ist allerdings neu und noch nicht dagewesen, daß sich auch die Frauen der Herren Advocaten in die Sachen ihrer Männer mischen und Schriften gegen die Parteien in ihrer Art machen, in elenden Geschichten, die sie drucken lassen, vor aller Welt schwarz auf Weiß drucken lassen, um die Leute, welche sie so bloßstellen, auf immer zu ruiniren, um auf der Gasse mit den Fingern auf sie zeigen zu lassen! Aber das macht man freilich mit vielen schönen, tugendhaften, ästhetischen Redensarten und mit lauter verstellten Namen; so daß man die Heimtücker nicht packen, nicht vor Gericht ziehen, nicht als Verleumder und Ehrabschneider zur Strafe bringen kann, ja wahrhaftig, es ist neu, es ist ganz infam neu…“

Während Herrn Grüler’s Stimme bei diesen sich überstürzenden Worten sich immer mehr steigerte und eine gerechte Sorge weckte, daß bei seinem nächsten Punctum die Wände in’s Zittern gerathen würden, hatte sich Ernst ruhig einen Stuhl herbeigezogen und sich gesetzt.

„Ich bitte, Herr Grüler,“ fiel er jetzt ein, „erhitzen Sie sich nicht, um mir zu sagen, daß die Waffe, welche wir wider Sie gebraucht haben, keine ganz edle ist. Ich bin vollständig mit Ihnen einverstanden, daß wir nicht das Recht hatten, Sie als einen bösen und rachsüchtigen Mann der Welt zu denunciren, und noch weniger, Ihre unglückliche schuldlose Tochter so compromittirend in die Sache zu ziehen …“

„Aber zum Teufel, Herr, wenn Sie das selber sagen …“

„Gemach, gemach, Herr Grüler … ich sage das selber. Aber ich frage Sie auch, haben Sie in dieser Sache Recht? Hatten Sie Recht, als Sie Herrn Färber durch Ihre eigensinnige und egoistische Härte zwangen, in London ein Auskunftsmittel wider seinen Nebenbuhler bei Ihrer Tochter oder vielmehr bei Ihnen zu ergreifen, das allerdings leichtsinnig und tadelnswerth war und uns in dieses ganze traurige Zerwürfniß gebracht hat? Und jetzt, wo Herr Färber und Sie geschiedene Leute sind, haben Sie da Recht, sich auf seinem Lebenspfad in einen tückischen Hinterhalt zu legen, ihm den Weg zu seinem Glücke abzuschneiden? Haben Sie Recht, ihm das unglückliche Document vorzuenthalten, welches er so thöricht war, in Ihren Händen zu lassen? Die Rache um der bloßen Rache willen ist etwas Abscheuliches, Herr Grüler, und …“

„Predigen Sie nur, predigen Sie nur, Herr Advocat,“ sagte ingrimmig die Zähne knirschend der Wechselsal, „Sie werden mir das Document nicht aus den Händen predigen!“

„Möglich,“ erwiderte Ernst ruhig; „wahrscheinlich ist, daß ich es in der Tasche habe, wenn ich aus diesem Zimmer gehe. Und gewiß ist, daß ich nicht gehen werde, bevor Sie mich nicht ruhig angehört haben. Haben Sie mich verstanden, als ich sagte, daß Sie die erste Schuld an Allem haben und daß Sie uns diese letzte Waffe wider Sie in die Hände gezwungen? Wenn das ist, so möchte ich fortfahren …“

„Ich glaube kaum, daß es nöthig ist,“ schrie Herr Grüler dazwischen, „ich kann nicht absehen, was diese ganze Unterhaltung noch soll, und jedes Wort, das …“

„Diese Unterhaltung,“ fuhr der Rechtsanwalt dazwischen, „soll einen Vergleich herbeiführen zwischen Ihnen und meinem Clienten und mir.“

„Einen Vergleich … jetzt noch … ei, sieh mir doch, jetzt noch einen Vergleich … Sie müssen rasen, Herr!“

„Das Rasen ist auf Ihrer Seite, lieber Herr Grüler; Sie rasen so stark, daß all Ihre Schreiber drüben jedes Ihrer Worte hören müssen!“

Diese Bemerkung schien den Wechselsensal ein wenig betroffen zu machen. Er warf sich jetzt ebenfalls auf einen Stuhl und während er die Hände zwischen den Knieen zusammenfaltete, sagte er ruhiger und leiser:

„Nun, so reden Sie einmal aus, damit wir zu Ende kommen!“

„Ich wünsche nichts mehr, als das. Also, ich sagte Ihnen, daß wir vollständig einsehen, wie heimtückisch und ungerechtfertigt das Mittel ist, welches wir wider Sie gebraucht haben. Es wird uns demnach desto lieber sein, wenn wir es zurücknehmen können.“

„Zurücknehmen können? … was soll das heißen?“

„Das soll heißen, daß wir es ungeschehen machen möchten, wenn Sie es ermöglichten.“

„Jetzt, nachdem die ganze Sache schwarz auf Weiß in dem Journal steht, von Jedermann gelesen und mit Heißhunger verschlungen wird …“

„Herr Grüler, wenn ein Anwalt in Geschäftssachen zu seiner Gegenpartei spricht, so weiß er ganz genau, was er sagt. Ich erkläre Ihnen auf mein Ehrenwort, daß wir die Sache zurücknehmen, wenn Sie es möglich machen.“

„Ich … ich soll es möglich machen … ja, ist denn …“

„Es ist nichts Anderes zu thun, Herr Grüler, als daß Sie mit dem Document herausrücken. Geben Sie uns das Document, und das Journal, die Geschichte darin, welche eine so drastische Schilderung Ihrer Persönlichkeit, Ihrer Grausamkeit gegen Ihre Tochter, Ihrer bösen Rachsucht erhält und welche nebenbei Ihre Tochter so bloßstellt, verschwindet mit Einem Zauberschlage aus der Welt. Wo nicht, so wandert sie in zehntausend Exemplaren in jeden Club, in jedes Kaffeehaus, in jeden Lesecirkel unseres lieben [683] Vaterlandes. Das ist die Alternative, die ich Ihnen stelle. Also sprechen Sie, soll Alles ungeschehen sein?“

Herr Grüler athmete tief auf, als er antwortete: „O mein Gott, ist denn das noch möglich?“

Er fuhr mit der Rechten über sein Gesicht und schlug dann die Hände wieder zusammen. Ernst sah, in welche scharfe Schraube er den eigensinnigen harten Mann genommen.

„Ich habe Ihnen mein Ehrenwort gegeben und Herr Färber giebt es Ihnen ebenso,“ sagte er mit einem Blick auf diesen, der stumm neben ihm stehen geblieben war. Der junge Mann fiel jetzt lebhaft bewegt ein:

„Ich gebe es Ihnen, mein Ehrenwort, und ich bitte Sie inständig, Herr Grüler, geben Sie nach; ich bitte nicht Ihret-, nicht meinetwillen, ich bitte Sie um Ihrer Tochter willen, die gewiß ein Nervenfieber davon trägt, wenn sie die Geschichte, welche ihr doch auf die Dauer nicht vorenthalten bleiben kann, zu lesen bekommt. Ein Mann mag eine solche schimpfliche Ausstellung vor der ganzen Welt noch ertragen, aber ein junges Mädchen kann es nicht ertragen, so in den Mund aller bösen Zungen gebracht zu werden!“

„Und wenn Sie das selber so gut wissen, Sie ruchloser, abscheulicher Mensch Sie …“ rief Herr Grüler mit einem Gesicht, das wieder so aschgrau wurde, wie in dem Augenblicke, worin er vorhin hereingestürzt war.

Ernst unterbrach ihn, indem er seine Hand auf den Arm des Mannes legte.

„Still, Herr Grüler,“ sagte er, „keinen Streit, kein Nervenfieber, keinen Scandal … holen Sie das Document, und wir gehen friedlich auseinander!“

Herr Grüler sah mit furchtbarem Stirnrunzeln, mit den Wuthblicken eines Löwen, der sich in Fesseln fühlt, mit dem ganzen Ingrimm eines besiegten Berserkers Ernst an. Dann sprang er auf und sich zum Gehen wendend rief er aus:

„Aber ich muß doch eine Garantie haben …“

„Holen Sie das Document, lieber Herr,“ sagte Ernst mit milder Ueberredung, „nachher wechseln wir die Garantien aus.“

Herr Grüler ging zum Zimmer hinaus.

„Wir haben es,“ flüsterte Färber froh, als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte.

„Ich denke, wir haben es,“ versetzte Ernst. „Haben Sie die Güte, es mir auf eine Stunde zu überlassen. Ich möchte es meiner Frau zeigen, damit sie doch auch etwas von ihrer Arbeit hat; ich bedarf eines Beruhigungsmittels für sie, wie Sie einsehen werden …“

„O gewiß, gewiß!“

„Nachher können Sie es verbrennen.“

„Das werde ich mit Wonne, dieses diabolische Blatt!“ rief der junge Mann aus.

Herr Grüler kam zurück, ein wenig zögernden Schrittes. Er hielt das Blatt in der Hand.

„Also Ihr Ehrenwort?“ sagte er Ernst unter den zusammengekniffenen Brauen her fest in’s Gesicht sehend.

„Mein Ehrenwort,“ versetzte ruhig Ernst, indem er dem Alten das Blatt aus der Hand zog, einen Blick darauf warf und es in die Brusttasche steckte. „Ich danke Ihnen. Und nun hören Sie, wie wir, nachdem wir Ihre Waffe haben, die unsere zerbrechen. Der Redacteur des Journals, das ich Ihnen sandte, ist mein intimer Freund. Auf meinen Wunsch hat er von der bewußten Erzählung nur drei Abdrücke machen lassen – nur drei. Den einen habe ich Herrn Färber zur Kenntnißnahme zugesandt und Herr Färber hat ihn, denke ich, bereits verbrannt. Er hat durchaus kein Interesse dabei, die Veröffentlichung der Geschichte zu wünschen. Den zweiten Abdruck habe ich Ihnen gesandt und Sie werden ihn jetzt wahrscheinlich ebenfalls in’s Feuer stecken, damit er nicht zu den Augen Ihrer Tochter kommt. Den dritten Abzug habe ich und den werde ich aufbewahren. Es könnte nämlich nach dieser Eröffnung Ihnen die Lust kommen, sich nach London zu wenden und durch Geld und gute Freunde sich einen neuen Auszug aus dem betreffenden Kirchenbuch zu verschaffen. Herr Färber bedarf der Sicherheit vor dieser Gefahr; ich erkläre Ihnen deshalb, daß in einem solchen Falle die Geschichte abermals zu meinem Freunde, dem Redacteur, wandert und nun wirklich in der ganzen Auflage des Blattes gedruckt werden würde. Vor dieser Maßregel, wenn Sie sie nicht erzwingen, haben Sie aber Sicherheit in dem Interesse des Herrn Färber, die Sache nicht ohne höchste Noth aufzuwärmen und an die große Glocke zu hängen, wie man sich wohl ausdrückt. Sind Sie mit den beiderseitigen Garantien zufrieden, Herr Grüler?“

Herr Grüler sah ein wenig überrascht bald Ernst, bald Färber an, aber der zornige und düstere Ausdruck, die Spannung in seinen Zügen war offenbar daraus gewichen; er konnte nicht verhehlen, daß ihm ein Alp von der Brust gefallen.

„So, so, so,“ sagte er. „So ist die Sache! Nun ja, ich bin eigentlich wieder einmal überlistet. Ich war ein Esel, denn ich mußte wissen können, daß der junge Mensch hier“ … er deutete mit einem etwas verächtlichen Achselzucken auf Färber … „so etwas unmöglich öffentlich machen lassen dürfte. Aber meinethalb. Sie haben, was Sie wollen. Die Sache ist abgemacht. Verlieren wir jetzt nicht viel Worte mehr darüber. So viel ist gewiß, ich werde Sie zum Advocaten annehmen, Herr Northof, wenn ich einmal einen recht faulen und desperaten Proceß habe. Bis dahin Gott befohlen, meine Herren!“

Herr Grüler öffnete selbst die Thür und machte den beiden sich zurückziehenden Männern einen Abschiedsgruß mit einem leichten Kopfnicken, bei dem er plötzlich seine ganze Aufmerksamkeit einer auf dem Ofen stehenden, an allem Vorgefallenen höchst unschuldigen Gypsfigur zuwendete.




Nach einer Viertelstunde trat Ernst in das Zimmer seiner Frau. Sie sah sehr bleich aus, sie fuhr mit einem nervösen Erzittern aus ihrer liegenden Stellung in einem Lehnsessel in die Höhe und rief ihrem Gatten ein „Nun, wie ist es geworden?“ entgegen, worin die höchste Spannung vibrirte.

„Ganz, ganz gut,“ antwortete Ernst, sich neben ihr niederlassend.

„Das Duell…“

„Das Duell findet nicht statt… Herr Färber, der so blutdürstige Absichten wider mein armes harmloses Leben hatte, läßt Dir die größten Entschuldigungen, Ehrenerklärungen und Abbitten machen und hat mich eben mit den wärmsten Bezeigungen der Dankbarkeit bis an meine Hausthür begleitet.“

„Der Dankbarkeit? Aber wie ist das möglich … der Dankbarkeit, sagst Du?“

„In der That, so sagte ich … sieh, Kind, man muß eine gegebene Lage der Dinge nur richtig zu benutzen wissen und man zieht aus der mißlichsten Geschichte am Ende noch den klarsten Vortheil, wie aus dem schwarzen Schiefer das helle Steinöl. Es kommt nur auf die Presse an …“

„Aber Du kommst mir so wunderbar vor mit dem humoristischen Tone, in dem Du heute plötzlich Alles sagst!“

„Der humoristische Ton ist ganz natürlich, denn es ist wirklich Humor bei der Sache …“

„Humor?“ rief Alwine mit bitterem Vorwurf aus, „Humor, wenn Jemand zu Deiner Frau eindringt und sie mit Schmähungen überhäuft, wenn ich halb todt vor Schrecken bin von seinen Drohungen?“

„Höre mir nur zu, Alwine, und Du wirst sehen, daß ich von Humor reden darf. Der Mann, welcher gestern Dich so erschreckte, hatte auf dem Bureau nach mir gefragt. Einer meiner Schreiber hatte ihn erkannt, als einen Herrn Färber, einen Architekten aus unserer Stadt, und so konnte ich gehen, um ihn aufzusuchen. Ich fand ihn heute beruhigter, als er es gestern gewesen sein muß, nachdem er eben in einem Leseclub in einer neuesten Journalnummer seine eigene Geschichte gelesen. Denn seine eigene Geschichte war es allerdings, die Du oder die wir erfunden, durch ein wirklich ganz merkwürdiges Zusammentreffen; nur mit dem Unterschiede, daß er nicht Buchhalter, sondern Architekt, der dem bösen Schwiegerpapa ein kleines Landhaus gebaut und dabei die Bekanntschaft des jungen Mädchens, das wir Helene nannten, gemacht hatte; daß dieses nicht zu seiner Tante, sondern zu einer früheren Gouvernante nach London geflüchtet war, und daß der Nebenbuhler kein Landjunker, sondern ein Fabrikant, aber ganz eben so widerwärtig wie der Landjunker ist; lauter unerhebliche Unterschiede, welche die Veröffentlichung der Geschichte für die dadurch Betroffenen um nichts weniger zermalmend machten. Bei dieser Lage der Sache und da ich anerkennen mußte, daß sie zermalmend sei, kam mir ein Gedanke; ich schlug Färber vor, das Zermalmende daran als Presse auf den harten, rachsüchtigen [684] Schwiegervater wirken zu lassen, ihm die Geschichte vorzulegen und namentlich ihn auf den Schluß aufmerksam zu machen, wo die Abscheulichkeit der Rachsucht geschildert ist, mit der dieser grimmige falsche Schwiegerpapa das Glück Deines Helden zu zerstören sticht. Es war vorauszusehen, daß der alte Mann von dieser Darstellung zerknirscht werden würde; es war gar nicht möglich, daß er jetzt bei seinem Vorhaben bleiben würde, weil, wenn er dies that, er sich nur in eine desto schrecklichere und scandalvollere Gleichheit der wahren Geschichte mit Deiner Novelle hineinarbeitete – und das konnte er nicht wollen! Herr Färber sah das ein und willigte demgemäß in meinen Vorschlag, seinen früheren Pseudo-Schwiegervater aufzusuchen. Wir gingen zu seinem Hause, wir wurden vorgelassen, wir hatten einen kleinen Sturm von Zorn und Verwünschungen und Drohungen zu bestehen; endlich verschafften sich meine Worte Gehör und zuletzt trat ein, was ich vorausgesehen: der alte Mann legte sich zum Ziele, bekannte sich gefesselt und – rückte mit der Trauungsbescheinigung heraus. Ich habe sie Dir zum Zeugniß mitgebracht, Herz, da ist sie!“

Ernst zog die Urkunde aus der Tasche und legte sie seiner Frau in die Hand.

Diese warf einen Blick darauf, dann heftete sie ihre Augen groß und fragend auf ihren Gatten. „Und ist das Alles wahr, was Du mir da sagst?“ entgegnete sie endlich leisen Tons.

„So wahr wie die Dankbezeigungen des Herrn Färber, der in Entzücken schwimmt, daß ein fürchterlicher Alp von ihm genommen ist. Er segnete Dich für Deine Geschichte. Und Du selbst wirst Dich freuen, so, ohne es zu wollen, das Glück zweier Menschen gemacht zu haben … ich bin sehr froh, durch meinen guten Einfall etwas bewirkt zu haben, was Dir eine kleine Entschädigung, eine Art Schmerzensgeld für den Schrecken sein wird, welchen Du gestern erleben mußtest – nicht wahr, auch Du bist sehr froh, daß die fatale Geschichte noch eine so glückliche Wendung genommen hat?“

„O, ich bin sehr froh darüber!“ sagte Alwine tonlos.

„Aber was das Schriftstellern, das Novellenschreiben angeht, so denke ich, ist Dir nach dieser bitteren Erfahrung beim ersten Versuch völlig die Lust daran vergangen, nicht wahr? Du siehst, das Geschäft hat entsetzliche Schattenseiten – und gelobst mir, nie durch einen weiteren Versuch die Gefahr solcher Schrecklichkeiten wieder heraufbeschwören zu wollen!“

„Wenn Dir daran so viel liegt,“ versetzte Alwine bitter, „so solltest Du mir nicht soviel schönen Stoff einen nach dem andern liefern!“

„Einen nach dem andern … ich verstehe Dich nicht!“

„Du hast mir eben wieder einen Stoff geliefert, und zwar zu einer ‚neuen Griseldis‘.“

„Griseldis? das heißt?“

„Was das heißt, brauche ich Dir wohl nicht zu sagen.“

„Ich weiß nicht, was Griseldis soll?“

„Griseldis hatte einen Gatten, der Parcival hieß. Parcival spielte eine Komödie mit ihr und Griseldis litt darunter unsäglich, weil sie zu einfältig war, zu glauben, daß ihr Gatte sie betrügen und sie blos zum Spiele so grausam leiden lassen könne!“

Ernst lächelte ein wenig betroffen und sagte dann kleinlaut: „Hat das Beziehung auf uns?“

„Ich meine, es hätte Beziehung! Du hast mir eine sehr grausame Komödie vorgespielt! Und hältst Du mich wirklich für so einfältig, daß ich es sogar jetzt noch nicht durchschauen sollte? Du hast mich bewogen, eine Geschichte niederzuschreiben, welche Du kanntest, in der doppelten Absicht, daß mir daraus Verdruß erwachsen und dieser mich von einer Beschäftigung abhalten solle, die nun einmal alle philisterhaften Männer hassen; und dann zu gleicher Zeit, irgend einem Clienten helfen zu wollen, dem Du sonst nicht zu helfen wußtest!“

„Bei dem, was Du mir da sagst, müßte ich eigentlich als ertappter Sünder vor Dir stehen, liebes Kind,“ fiel Ernst etwas verlegen ein, „aber das stolze Bewußtsein, welch’ schlaue kleine Frau ich habe, trägt mich darüber hinweg!“

Er wollte sie bei diesen Worten zärtlich umschlingen und an sich ziehen, aber sie wehrte ihn ab.

„Es ist unverantwortlich, es ist abscheulich von Dir … ich werde Dir das nie vergessen, Ernst!“

„Aber, Alwine …“

„Mich so betrügen und belügen zu können!“

„Ich that es nicht gern – aber ich sah ein, daß ich etwas thun mußte, um Dich von einem verhängnißvollen Wege abzuhalten.“

„Von diesem Wege hättest Du mich durch Gründe abhalten sollen – aber freilich, ehrliche Gründe gegen meine harmlose Neigung hattest Du nicht und deshalb nahmst Du zu dieser Tücke Deine Zuflucht!“

„Alwine … welches Wort!“

„Du verdienst es! Geh’, ich bin Dir ernstlich böse!“

„So will ich mich auf’s Bitten legen. Mein Mittel, Dich von dieser ‚harmlosen Neigung‘ zu heilen, mag ein wenig scharf und stark gewesen sein … ich will es bekennen … vergieb es mir … jetzt, nachdem es doch gut gewirkt hat!“

Sie antwortete nicht. Als er weiter flehte und bat, schien sie gerührt. „Ich glaube wirklich, daß Ihr gar nicht wißt, wie eine Frau empfindet,“ sagte sie endlich in versöhnterem Tone, „sonst könntet Ihr oft nicht so gegen uns handeln, wie Ihr thut!“

„Nimm das an, Herz, und vergieb mir,“ sagte er froh aufathmend, daß der Sturm vorüberzog. „Und sieh’, ich will Dir auch noch einen mildernden Umstand für mich anführen. Ich habe Deine Erzählung gar nicht drucken lassen!“

„Gar nicht drucken lassen! Was heißt das?“

„Ich habe meinen Freund, den Redacteur, gebeten, nur drei Abzüge von der Geschichte machen zu lassen und mir das Manuscript sodann zurückzusenden. Du siehst, es ist also noch nichts verloren – Deine literarische Jungfräulichkeit ist noch unverletzt, der furchtbare Rubicon, über den keine Rückkehr ist, noch nicht überschritten – Dein Name noch nicht gedruckt. Um meinen Zweck zu erreichen, war es genug, wenn ich drei Abzüge machen ließ, einen für Dich, einen für Herrn Färber und einen für den Herrn Wechselsensal Grüler … mehr sind nicht gemacht worden, und Du kannst frei aufathmen und das niederdrückende Gefühl von Dir schleudern, ein – Blaustrumpf zu sein!“

Alwine war stehen geblieben und hatte ihren Gatten, während er sprach, mit einem Blick äußerster Enttäuschung angesehen. „Was,“ rief sie mit erneutem Zorn aus, „ist das wirklich wahr?“

„Du kannst Dich darauf verlassen!“ antwortete er überrascht, daß diese Mittheilung durchaus nicht den erwarteten, sondern einen ganz entgegengesetzten Eindruck zu machen schien.

„Das ist wirklich stark,“ fuhr Alwine mit einem zornigen Kräuseln ihrer Lippen fort … „nun soll ich den ganzen Schrecken, die ganze entsetzliche Angst umsonst gehabt haben? Meine Arbeit ist nicht einmal gedruckt – es ist Alles nur ein Spiel und eine Täuschung?“

Ernst sah sie höchst erschrocken an. Er sah, daß Alles verloren war. Seine kleine Frau hatte die Autorfreuden geschmeckt, sie hatte trotz der Scene vom gestrigen Abende nicht vergessen, was sie empfunden hatte, als sie sich gedruckt gesehen und ihren Namen an der Spitze eines schönen, glänzend ausgestatteten, berühmten, von der Welt gelesenen Blattes – dies Gefühl, dieser kleine Rausch war oben geblieben trotz und bei Allem – und jetzt, wo man ihr es vernichtete mit der Kunde: es war eine Täuschung, die Dir solche Emotionen machte! fühlte sie es in seiner ganzen Stärke.

Sie setzte sich nieder, blickte zum Fenster hinaus und sagte gar nichts mehr. Ihr Gatte mochte es anstellen, wie er wollte, er erhielt keine Antwort von ihr. Es blieb ihm nichts übrig, als sich ihr gegenüber ebenfalls hinzusetzen und zu erwarten, welche Wendung diese stumme Scene nehmen werde.

Ach, sie fiel sehr unglücklich für ihn aus, die Wendung, welche diese Scene nahm; sehr unglücklich für all’ seine Wünsche, sehr bedrohlich für die richtige Beobachtung seiner Tafelstunde, sehr unheilvoll für die regelrechte Behandlung seiner Braten.

Zunächst war es das Dienstmädchen, welches die Wendung hervorbrachte, denn dieses trat herein, und zwar, um einen Brief abzugeben, den eben der Postbote gebracht hatte und der von einer fremden Hand an Frau Alwine Northof adressirt war. Frau Alwine Northof öffnete ihn mechanisch und warf einen gleichgültigen Blick hinein; aber bald belebte sich der Blick und bald erhöhte sich die Farbe der Wangen, und als sie weiter las, trat ein Ausdruck lebhafter Freude in ihre Züge und endlich reichte sie den Brief ihrem gespannt zuschauenden Gatten mit einem ganz eigenthümlichen Blick auf ihn.

[685]

Stadtverordnete und Stadträthe.     Wrangel.     Prinz Carl.     Kronprinz.     Prinz Friedrich Carl.     Moltke.     Voigt-Rheetz.     Blumenthal.
König Wilhelm I.     Bismarck.     Roon.

Der Empfang der heimkehrenden Krieger in der Residenz.
Nach der Natur aufgenommen von A. Schaal.

[686] Ernst überflog folgende Zeilen:

     „Hochgeehrte Frau!

Ich habe dem ausdrücklichen Wunsche Ihres Herrn Gemahls zufolge Ihr Manuscript so eben zur Zurücksendung an diesen der Expedition unseres Blattes übergeben, nachdem ich die verlangten drei Abdrücke davon habe fertigen lassen, im Vertrauen, daß die kleine Intrigue, welche er wohl damit beabsichtigt, eine durchaus harmlose ist. Aber ich kann dem Verlangen nicht widerstehen, zu gleicher Zeit Ihnen das Bedauern der Redaction der ‚Winterblüthen‘ auszudrücken, daß wir Ihre vortreffliche und in so hohem Grade spannende und anziehende Erzählung nicht für unser Blatt verwenden durften – die Protestation Ihres Herrn Gemahls dagegen war zu absolut! Zum Troste sag’ ich mir, daß diese Einsendung mir wenigstens das Vergnügen der Entdeckung eines so glänzenden Talentes für die Darstellung und die feinere Charakteristik verschafft hat, eines Talentes, dem eine schöne und rühmliche Zukunft blüht und das gewiß nicht säumen wird, uns mit weiteren Bethätigungen zu erfreuen. Wir werden uns jederzeit glücklich schätzen, diese zu erhalten, und mit Vergnügen jedes Erzeugniß Ihrer geistreichen Feder, Ihrer freien und fesselnden Darstellungsgabe unserem Blatte einverleiben. Mit unseren Honorarbedingungen werden Sie sicherlich zufrieden sein. In der Hoffnung, recht bald durch eine Einsendung von Ihnen erfreut und Ihnen verpflichtet zu werden, verharre ich, hochverehrteste Frau,

          Ihr ganz ergebenster Diener

Dr. Ludwig Schmidt, Redacteur der ‚Winterblüthen‘.“

Es war ein Blick des unsäglichsten Triumphes, womit Alwine ihren Gatten ansah, als er gelesen hatte und mit einem verblüfften Gesichte zu ihr aufschaute. Dies Gesicht war so komisch in seinem Ausdrucke, daß Alwine in lautes Lachen ausbrach.

„Es ist wenigstens gut, daß Du dazu lachst, zu diesen übertriebenen Huldigungen,“ rief er jetzt aus.

„Ich lache aus Vergnügen darüber,“ sagte Alwine. „Ich habe nie mehr Vergnügen über Huldigungen empfunden, als gerade über diese, damit Du’s nur weißt, Du böser, grundfalscher, heimtückischer Mann …“

„Und die Aufforderung dieses abscheulichen Redacteurs, dieses Rattenfängers von Hameln, den Gott in seinem Zorne geschaffen hat, dieses Verführers und Aufwieglers rebellischer Frauen wider ihre Männer …“

„Diese Aufforderung werde ich ganz gewiß befolgen, daraus mache Dich gefaßt, aber die Stoffe werde ich mir von nun an selber erfinden oder auswählen; Du hast mich ja gelehrt, wie man’s ungefähr macht!“

„Ach,“ entgegnete Ernst mit einem tiefen Seufzer, „so kann ich mir denn ja wohl selbst zurufen:

Wirfst Du den Stein – bedenke wohl,
Wie weit ihn Deine Hand wird treiben!

Ich komme mir vor wie Einer, der sich im eigenen Netze fing, und jedenfalls herzlich dumm, daß ich so verflucht gescheidt sein wollte! Dieser vermaledeite Redacteur!“

Aber Ernst mochte den Redacteur verwünschen so vieler wollte, das Unglück war nun einmal angestiftet. Alwine hat jetzt in den ‚Winterblüthen‘ schon drei Erzählungen abdrucken lassen, welche mit gleichem Beifall aufgenommen worden sind und die alle drei einen guten, kurz geschürzten, geistreichen Stil, eine feine Beobachtung und ein ganz entschiedenes Talent für die Composition beurkunden … Ernst aber, Ernst hat wunderbarer Weise begonnen, seine früheren Ansichten über Frauenschriftstellerei zu ändern. Er ist, im Stillen gesagt, sogar ein wenig eitel auf den aufkeimenden Ruhm seiner Frau. Trotz aller, im Anfang nicht ganz vorurtheilslosen Beobachtung hat er nicht just bemerken können, daß in seinem Haushalt irgend eine Unordnung eingerissen, und seine eingewurzelte Ueberzeugung, daß eine schriftstellernde Frau eine schlechte Hausfrau und Gattin sein müsse, ist bedeutend geschwächt worden. Wenn er, seiner schlimmen Neigung treu, jetzt ein wenig später aus seinem Weinclub heimkommt, erhält er nie ein böses Gesicht und hört nie eine Klage, daß er Alwine so allein gelassen, wie es früher regelmäßig der Fall war … sie wartet jetzt mit sanftester, gleichmüthigster Geduld auf seine Heimkehr – sie hat eben gearbeitet in diesen Stunden und, erheitert von der Arbeit, empfängt sie ihn so freundlich lächelnd, als ob sie gar nicht ahnte, daß es statt neun schon zehn Uhr oder darüber sei … sie ahnt es in der That auch nicht!

Und vor einigen Tagen endlich, als Alwine ihrem gestrengen Eheherrn sogar eine sehr große und schwere Modenrechnung quittirt und mit ihrer eigenen Honorareinnahme bezahlt vorlegte, rief Ernst mit ungewöhnlicher Wärme aus: „Wirklich, Du bist eine Perle von einer kleinen Frau … eine Frau, die ihre Moderechnungen selber bezahlt! Hör’ Kind, ich glaube wirklich, daß bei dem, was die Männer gegen Frauen sagen, die ein poetisches Talent besitzen und dies Talent ausbilden, doch sehr viel Philisterei ist!“




Das Hexen-Maal.
Ein naturwissenschaftlicher Beitrag zur Culturgeschichte.
Vom Professor Dr. H. E. Richter in Dresden.


Zu den schwärzesten Schattenseiten der menschlichen Culturgeschichte gehören unzweifelhaft die Hexenprocesse des Mittelalters. Wenn man diese Gräuelscenen, die wahrhaft teuflischen Folterungen und die fast noch satanischeren, mit dem Mantel der Religion bedeckten Hinrichtungen liest: so fragt man sich heutzutage allerdings, wie so etwas nur je unter vernunftbegabten Wesen möglich gewesen sei?

Auf diese Frage läßt sich, von verschiedenen Standpunkten aus, Mancherlei antworten. Erstens ist das Menschengeschlecht im Ganzen genommen gar nicht so vernunftbegabt, wie Mancher bei uns sich einbildet. Namentlich finden sich alle beide Gräuel, die Folter, so wie der Hexenproceß noch heutzutage bei vielen Millionen von Menschen vor. Durch ganz Afrika sind beide allgemein im Gange und die Marterungen der wegen Zauberei Angeklagten sind dort so furchtbar, daß dieselben in der Regel lieber sofort Alles was verlangt wird eingestehen und sich hinrichten lassen. Unter den asiatischen Völkern ist Zaubereiglaube und Folterwesen seit uralten Zeiten weitverbreitet und ausgebildet. Die Chinesen, ein Volk von dreihundert Millionen, excelliren in Erfindung höllischer Martern. Nicht anders hat man es in Nord- und Südamerika gefunden. Kurz, die Zahl der wirklich humanen und vernünftigen Leute ist, im Vergleich zu denen, welche noch dem Raubthier und dem Affen nahe stehen, auf unserm Erdball noch eine sehr unbedeutende!

Zweitens ist gar nicht abzuleugnen, daß Hexenproceß und Folter oft zu ganz anderen Zwecken benutzt worden sind, als die vorgeschützten waren. Wir finden dies schon in der römischen Kaisergeschichte, wo mit dem Sinken der alten Institutionen erst der Hochverrathsproceß, und als sogar dieser nicht mehr für die tyrannische Willkür ausreichte, der Proceß wegen Zauberei (Magie) sehr allgemein gegen die Opfer der Politik oder der Palastintriguen an die Stelle des geordneten Rechtsverfahrens trat, was übrigens nur eine Wiederauffrischung der schon in den zwölf Tafeln befindlichen Gesetze gegen Zaubereien, Beschwörungen und Vampyre war. Vergessen wir nicht, daß ganz derselbe Grund dem Wiederauffrischen des Hexenprocesses im Mittelalter zu Grund gelegen hat, daß die berüchtigte Bulle von Innocenz und der berüchtigte Hexenhammer keinen andern Zweck hatten, als die Verfolgung und Vertilgung der Ketzer dem ungenügenden gewöhnlichen Gerichtsverfahren zu entziehen und aus den Händen des weltlichen Richters in die der geistlichen Inquisition zu bringen und Solche zugleich jeder schützenden Form zu berauben. Es ist durch eine Menge Fälle urkundlich bewiesen, daß Hexenproceß und Folter außer zur Ketzervertilgung auch ganz einfach zu Befriedigung persönlicher Rache und vor Allem zu Gelderpressung oder Güterconfiscation benutzt worden sind. Für die kleinen Fürstbischöfe in Deutschland war das Hexenwesen die beste Goldquelle. In Barnberg wurden in kurzer Frist sechshundert, in Würzburg neunhundert [687] Menschen verbrannt und ihre Güter eingezogen. Man fing das Gerichtsverfahren gleich mit der Folter an. Der Unfug wurde so arg, daß sogar der bigotte Ferdinand der Zweite, der Kaiser des dreißigjährigen Krieges, sich zum Einschreiten genöthigt sah und einen Commissar nach Bamberg schickte, um das Reichsrecht zur Geltung zu bringen und die ungesetzliche Anwendung der Tortur zu hemmen. – Ein berüchtigter Hexenverfolger im Hessischen rühmt sich in den noch ganz erhaltenen Proceßacten, daß er mittels der vielen Hinrichtungen nicht nur der Ortsherrschaft eine erkleckliche Summe eingebracht, sondern auch der Ortsgemeinde Mittel zum Kirchen- und Brückenbau verschafft habe. Ungerechnet was dabei in seine eigene Tasche fiel, worüber die specificirten Rechnungen beiliegen!

Räumen wir nun auch ein, daß die Menschheit damals noch auf niederer Culturstufe stand, so bleibt es immer noch räthselhaft, wie solch’ bodenlos unhaltbarer Unsinn, wie das von den gefolterten Hexen Ausgesagte und von den Richtern Protokollirte ist, jemals auf die Dauer Glauben finden konnte, namentlich bei wissenschaftlich gebildeten, mit der alten Literatur vertrauten und dadurch jedenfalls einigermaßen zum Selbstdenken angeleiteten Männern geistlichen oder juristischen Standes. Man kann nicht umhin, immer wieder auf den Gedanken zu kommen: es muß doch irgend etwas Wirkliches hinter diesem Hexenwesen gesteckt haben, wodurch der Glaube an dasselbe und das gerichtliche Einschreiten gegen dasselbe immer wieder von Zeit zu Zeit eine materielle Begründung, eine positive Stütze erhielt. Und dies ist in der That auch der Fall.

Michelet[WS 1] hat sich die Mühe gegeben, in seinem berühmten Buch „la sorcière“ (die Hexe) geschichtlich Schritt für Schritt nachzuweisen, wie das Heidenthum sich aus den Ueberbleibseln des unterdrückten Heidenthums und zugleich als eine geheime Opposition der von Adel und Geistlichkeit immer tiefer zur Leibeigenschaft herabgedrückten unteren Volksclasse herausgebildet und mit einigen aus uralter Zeit traditionell fortgepflanzten naturwissenschaftlichen Kenntnissen oder Kunstgriffen verbunden habe. Wir wollen ihm gar nicht so weit folgen, sondern nur zeigen, daß in den Hexenproceß einzelne unbestreitbare, sinnlich wahrnehmbare Thatsachen hineinverflochten sind, welche den damaligen Gelehrten unerklärlich waren und zum Theil erst durch die neuesten Fortschritte der Naturwissenschaften aufgeklärt worden sind, zum Theil sogar noch der Aufklärung harren. Dahin gehören z. B. folgende:

Die blau werdende Milch. Nach den neuesten Forschungen ist dieser blaue Ueberzug auf stehender Milch nichts anders als eine der Formen des vielgestaltigen blauen Schimmelpilzes, desselben Schimmels, welcher den Hausfrauen ihre Citronen und ihr eingemachtes Obst verdirbt, aber auch sonst eine Menge Unheil anstiftet, die Fliegen und die Singvögel tödtet, beim Menschen ein paar Hautausschläge und den häßlichen Beleg der Zähne bildet u. s. w.

Die Blutflecken auf Hostien und Brod etc., welche so oft im Mittelalter zu grausamen Judenverfolgungen Anlaß gegeben haben, sind seit Ehrenberg[WS 2] als eine eigene Art von Infusionsthierchen[WS 3] bekannt.

Das Teufelchen, das manche Hexenmeister bei sich führten, war entweder das aus der Physik wohlbekannte cartesianische Teufelchen[WS 4], welches jetzt nur auf Jahrmärkten und Volksfesten eine Rolle spielt, oder auch vielleicht ein in ein Taschen-Mikroskop eingespannter todter Floh.

Die Luftfahrten, die Brockenreisen auf dem Besen, welche so viele Hexen gemacht zu haben freiwillig eingestanden, beruhten auf einer narkotischen Traumerregung, welche noch jetzt von den Opium- und Hanf-Essern oder -Rauchern im Orient und Afrika vorgenommen wird. Gewöhnlich träumt der Opium- oder Hanfesser denjenigen Ideengang weiter, in welchen er sich unmittelbar vorher versetzt hat. Daher ist nicht zu verwundern, wenn die Weiber, welche eine Luftfahrt nach dem Blocksberg beabsichtigend sich durch Hexensalbe oder Räucherungen narkotisiren ließen, dann im künstlichen Schlaf auch zu schweben und beim Hexensabbath einzutreffen träumten, da dies eben Dinge waren, mit welchen die Volksphantasie sich sehr allgemein beschäftigte.

Daß der Teufel manchen Zauberern den Hals umgedreht habe, ist doch nur eine andere Ausdrucksweise dafür, daß dieselben unter Krämpfen, welche den Kopf zur Seite drehen und unter Erstickungszeichen (Blauwerden des Gesichts, Schaum vor dem Munde u. dergl.) gestorben sind. Dergleichen Todesfälle kamen sehr oft, laut Protokoll, während der Folterung vor und waren hier die leicht begreiflichen Folgen der durch die wahnsinnigen Schmerzen hervorgerufenen Krämpfe und des hinzutretenden Lungenödems (Schaum in den Lungen). Oft liest man aber auch, daß Personen in ihrem Bette und Stübchen mit umgedrehtem Hals erstickt, „also vom Teufel geholt“, gefunden worden sind. Ich zweifle nicht, daß diese Fälle meistens auf Vergiftung durch Kohlendunst (Kohlenoxydgas) zurückzuführen sind. Diese Todesart war bis Ende des vorigen Jahrhunderts ziemlich unbekannt und ist doch jedenfalls im Mittelalter noch viel häufiger gewesen, als jetzt. Denn damals wohnten die Leute in kleinen niedrigen Zimmern der befestigten Städte enger als jetzt und hatten sehr unvollkommene Heizungsmittel: schlechte Oefen, mit Klappen oder feuchten Lappen verschließbare Ofenrohre oder ganz offene Kohlenbecken. Diese sind noch heute die Hauptquellen der Kohlenoxydgas-Vergiftungen, und vorzugsweise sind alte Mütterchen (Hexen), welche an Feuerung sparen wollen, das Opfer dieser Luftverunreinigung noch heut’ zu Tage. Was Wunder, wenn man eine so unerklärliche Todesart in abergläubischen Zeiten dem Teufel zuschrieb?

Dieselben alten Weiberchen sind nun auch oft mit rothen triefenden Augen geplagt, und zwar zum Theil aus denselben Ursachen, nämlich von Kohlendunst, Lampenruß, finstern und dunstigen Wohnzimmern. Diese Augenentzündung giebt dem Gesicht allemal einen häßlichen, böswilligen Ausdruck. Daraus machte das Mittelalter ein Anzeichen für Hexerei.

Das nächtliche Blutaussaugen, welches man den Vampyren und Hexen noch heut zu Tage in manchen Ländern, z. B. Südosteuropas, schuld giebt, dürfte sich auf die Fälle beziehen, wo Personen plötzlich an Berstung einer innern Ader oder Herzwand, an innerer Verblutung starben. Ich habe diesen Fall mehrmals in der Praxis erlebt und gestehe, daß es einen befremdenden Eindruck macht, wenn eine Person, die sich Abends vorher anscheinend gesund zu Bett legte, früh nicht nur todt, sondern auch wachsbleich, völlig blutleer gefunden wird, ohne daß sich eine äußere Verletzung finden läßt. Ich kann mir recht gut deuten, wie da ein abergläubisches Volk auf die Annahme einer Zauberei verfallen kann.

Das Hexenbad oder die Wasserprobe, auch Schwemmung genannt. Die der Hexerei angeklagte Person wurde nackend, mit kreuzweise gebundenen Händen und Füßen in’s Wasser geworfen. Wenn sie untersank, war es gut; schwamm sie aber oben, so galt dies als sicheres Zeichen ihrer Schuld. Die pathologische Anatomie lehrt nun, daß bei Greisen und noch mehr bei Greisinnen die Knochenmasse so schwindet, daß die innere Knochenhöhle ganz weit und zugleich marklos, lufthaltig wird, während die Knochenwände ganz dünn werden, so daß das ganze Gerippe sehr leicht wiegt. Ob dies, und etwa noch die größere Lufthaltigkeit der Lungen (das Greisen-Emphysem) und der Därme (die Flatulenz) ausreichend sind, um jenes Schwimmen auf dem Wasser zu erklären, das muß ich späteren Untersuchungen überlassen.

Das wichtigste und für unfehlbar gehaltene Beweismittel im Hexenproceß war aber das sogenannte Hexen- oder Teufels-Maal, von dem wir nun reden wollen: eine keineswegs aus der Luft gegriffene Thatsache, welche vielmehr von der neueren Medicin in helles Licht gezogen worden ist und nun wieder ihrerseits ein helles Licht auf den körperlichen und Gemüthszustand jener unglücklichen gemarterten Hexen wirft. Das Suchen des Teufelsmaals bestand darin, daß man den Körper des Angeklagten allenthalben mit Nadeln stach, bis man einen Fleck fand, wo Inquisit die Stiche nicht fühlte. Dieser gegen Nadelstiche unempfindliche, manchmal auch durch irgend eine Färbung ausgezeichnete Fleck galt für die Stelle, wo Satan sein Zeichen angebracht habe, und seine Auffindung als das kräftigste Beweismittel für eine Gemeinschaft mit dem Teufel. Michelet hat uns in dem angeführten Werk ein Paar sehr belehrende Fälle dieser Art aus den Acten mitgetheilt.

Der eine Fall spielt in einem französischen Nonnenkloster, wo sich eine Novize den Haß der Mehrzahl ihrer Mitgenossinnen und der Aebtissin zugezogen hatte. Man entkleidete sie und die ganze Gesellschaft kühlte an ihr die Rachsucht, indem man sie an allen Körpertheilen mit Nadeln stach. Zum Glück, kann man sagen, fand sich kein unempfindliches Fleckchen; denn alsdann wäre die Unglückliche dem Inquisitionsgericht ausgeliefert und rettungslos [688] verbrannt worden. So aber kam die Sache den weltlichen Gerichten zu Ohren; das Parlament und der König schritten ein; das Kloster und die Haupttheilnehmer wurden bestraft.

Der zweite Fall ist einer der interessantesten Processe aus jener Zeit, ausführlich und nach den Acten von Michelet mitgetheilt. Ein hochgeachteter Prediger und Beichtvater der Provence, Gauffridi mit Namen, wird Vorsteher eines dortigen Nonnenklosters. Fast unumschränkter Herr im Haus, dabei ein angenehmer sinnlicher Mann, unter einem aufregenden Klima – kein Wunder, daß er bald mit einer Anzahl seiner Anvertrauten in Liebesverhältnisse kommt. Daraus entspinnt sich ein mehrere Jahre lang dauernder Proceß, bei welchem Gauffridi, unterstützt von seinen Amtsbrüdern, vom Bischof und Capitel, von seinen Landsleuten und sogar vom Parlament, sich trotz gehäufter Schuldbeweise immer wieder glücklich durchschlägt. Endlich verfällt man auf das Mittel, ihm den Proceß als Hexenmeister, „als Fürst der Zauberei“ zu machen. Man setzt es durch, daß er verhaftet und der Hexenprobe unterzogen wird. „Man verband ihm die Augen,“ erzählt Michelet, „und suchte mit Nadeln an seinem ganzen Körper die unempfindliche Stelle, wo das Zeichen des Teufels sitzen mußte. Als man ihm die Binde wieder abnahm, erfuhr er mit Erstaunen und mit Entsetzen, daß man die Nadel dreimal eingestochen hatte, ohne daß er es fühlte. Gauffridi hielt sich selbst für verloren und vertheidigte sich nicht mehr. Er wurde der nunmehr erst gesetzlich gestatteten, ordentlichen und außerordentlichen Folter unterworfen, gestand seine Zauberei ein und ward in Aix, vier Tage nach der Hexenprobe, lebendig verbrannt.“

Was sagt nun die Wissenschaft zu diesen Geschichten?

Die hier in Rede stehende Erscheinung, die Unempfindlichkeit der Haut entweder gegen Schmerz allein oder auch gegen andere Empfindungseindrücke, das heißt gegen Druck, Tasten, Streicheln, Wärme, ist der ärztlichen Wissenschaft wohl bekannt. Man kann sie örtlich hervorbringen durch Anblasen von Aether oder Chloroform, wozu man jetzt besondere kleine Apparate hat, oder durch Auflegen von Gefriermischungen (Eis mit Kochsalz in einem Mousselinbeutelchen), durch Unterbinden des Gliedes. Nach Dioscorides[WS 5] hatten die alten ägyptischen Priester einen Stein, Memphites genannt, nach dessen Auflegen man Schneiden und Brennen nicht fühlte.

Als krankhafte Erscheinung kommt die Hautunempfindlichkeit auf größeren oder umschriebenen Stellen gar nicht selten vor und hat dann bald örtliche Ursachen, bald allgemeinere. Zu Letzteren gehört die durch Nervenkrankheiten bedingte Hautunempfindlichkeit. Auf diese Form machten neuerdings zuerst Gendrin, Landouzy, Briquet, Brachet, Forget, Skokalsky etc. aufmerksam, fast sämmtlich Schriftsteller über Hysterie, welche dieses Uebel bei ihren Patientinnen so häufig beobachtet hatten, daß dasselbe den Namen der hysterischen Anästhesie erhielt. Zu Auffindung der schmerzlosen Flecken bediente man sich der von dem Leipziger Physiologen Ernst Heinrich Weber eingeführten Cirkelprobe; man stach mit zwei Cirkelspitzen in die Haut: offenbar eine Wiederaufnahme der alten Hexenprobe. Am gründlichsten ist Hautnervenkrankheit studirt worden von dem Prager Professor Anton Jaksch, in dessen klinischen Sälen man seit Jahren immer eine Anzahl derartiger Patientinnen findet. Jaksch bedient sich anstatt der abschreckenden Nadel- oder Cirkelspitzen des elektrischen Inductionsapparates in der seit 1854 durch Duchenne de Boulogne[WS 6] eingeführten Methode der örtlichen Faradisation. (Siehe Gartenlaube 1856, 36 und 1857, 15.) Dieser Apparat erlaubt es, eine Menge kleiner elektrischer Fünkchen in die Haut einschlagen zu lassen, welche anfangs nicht einmal schmerzhaft sind, jedoch nach und nach bis zum heftigsten Schmerz verstärkt werden können. Man hat es also ganz in der Gewalt, bei Prüfung des Grades der Hautunempfindlichkeit die Stärke der Schläge mit diesem Grad völlig in Einklang zu bringen. Und man hat, dies sei gleich dazu bemerkt, damit auch ein Heilmittel dieses Uebels und zugleich auch oft des damit verbundenen Allgemeinleidens der Nerven zur Verfügung.

Es zeigen die Beobachtungen von Jaksch (später von Smoler vervollständigt), daß diese Hautunempfindlichkeit, meist auf einzelnen, umschriebenen Flecken, gleichsam Inseln, von größerem oder geringerem Umfange und unregelmäßiger, keineswegs auf einzelne Nervenästchen beschränkter Begrenzung, vorzugsweise bei Nerven- und Gemüthskranken vorkommen. Jaksch zählt auf einhundertzwanzig Kranke seines Spitals durchschnittlich sechs bis acht Fälle. Es sind meist Hysterische oder Krampfkranke (Fallsucht, Veitstanz, Starrsucht), magnetisch Verzückte, Somnambüle, vor Allem aber Geisteskranke, besonders mit Sinnestäuschungen, Geistererscheinungen oder Dämonenwahn Behaftete, manchmal auch Gelähmte, mit Nervengicht Behaftete, Zuckerkranke und ähnlich herabgekommene Personen. Als Hauptursachen ermittelte Jaksch fast immer Gemüthsaffecte, namentlich heftige, erschütternde, wie Schreck, Entsetzen, Furcht, Angst. Verkehrte oder ganz verwahrloste Erziehung, Romanlesen, falsche religiöse Richtung waren oft vorausgegangen. Die meisten Patienten (4/5) waren Frauen; viele Israeliten, übrigens viel rein slavische Landbevölkerung. Smoler fand die Unempfindlichkeit der Haut gegen den elektrischen Schlag bei fünfzig melancholischen Kranken dreizehn Mal (darunter sechs Fälle von religiöser Melancholie, zwei mit Manie verbundene), bei fünfzig Tobsüchtigen fünf Mal, bei zwanzig Verrückten drei Mal, bei zwanzig Blödsinnigen acht Mal, bei der blödsinnigen Hirnlähmung in sechzehn Fällen zwölf Mal, bei mit Epilepsie verbundenen Geisteskrankheiten unter sieben Fällen fünf Mal, bei von Trunksucht ausgehenden Seelenstörungen allemal. Außerdem auch, wie Jaksch, bei Hypochondristen, Hysterischen und sonstigen Nervenkranken. Smoler sagt schon geradezu: wenn bei Verbrechern der Seelengesundheitszustand zweifelhaft sei, solle man durch Faradisation nachforschen, ob die Hautanästhesie da sei; denn dann spreche die Präsumtion dafür, daß auch Geisteskrankheit vorhanden. Das heißt also: Smoler führt die Benutzung des Hexen-Maals wieder in die öffentliche Gerichtspflege ein, aber im Geiste der Neuzeit, im Geiste der Humanität!

In der That darf man nur die obigen Erfahrungen gediegener Aerzte mit dem, was wir über das Mittelalter und seine Hexenprocesse wissen, zusammenhalten, um sich zu überzeugen, daß letztere alle die Elemente zu Erzeugung der localen Hautanästhesie theils vorräthig enthielten, theils entwickeln mußten. Dahin gehört: eine rohe, in Dummheit und Fanatismus erhaltene, dem finstersten Aberglauben huldigende Bevölkerung, Noth, Jammer, Kummer und Sorge aller Art, und wieder durch den Proceß und die schauerliche Haft bedingte Furcht, Angst, Entsetzen und Schrecknisse aller Art. Man kann sich nicht wundern, wenn Hunderte von Personen, namentlich herabgekommene, nervenkranke, verdüsterte, halb oder ganz geisteskranke Weiber, unter solchen Umständen das Symptom der Hautunempfindlichkeit zeigten, in einem Jahrhundert, wo Geisteskrankheiten epidemisch herrschten, wo die Geißler (Flagellanten), die Tanzsüchtigen, sogar die Kinder halbverrückt in massenhaften Schaaren in der Welt herumzogen!

Die Wissenschaft lehrt also: „was man im Mittelalter Teufel nannte, das sind (in der Mehrzahl der Fälle) Nerven, kranke Nerven!“ Und in der That, das wird jeder prakticirende Arzt zugeben, die kranken Nerven sind wie Teufel; sie treiben allerlei Teufelsspuk. Wer von kranken Nerven beherrscht wird, der ist förmlich des Teufels und wird es immer mehr. Mit Ueberempfindlichkeit, Erkältbarkeit, Schmerzen, Zuckungen und dergleichen fängt es an, und mit einer Legion von Plagen oder mit halber oder ganzer Verrücktheit hört es auf. Das ist die Lebensgeschichte so vieler zartbesaiteter Nervenmenschen, wie sie der Arzt jährlich beobachten kann. Und daraus geht ein Mahnspruch hervor: laßt Euch nicht von Euren Nerven beherrschen! Arbeitet zeitig an Euch und Euren Kindern, daran, daß die Nerven unter der Herrschaft des Verstandes, des höheren Hirnlebens bleiben!

Die andre Mahnung aber richtet sich an Alle, welche für die Fortentwickelung des menschlichen Geistes, für Erziehung und Bildung zu wachen berufen sind. Man darf dem Wunderglauben nicht die geringste Pforte öffnen, ohne Gefahr zu laufen, daß er eindringt und das ganze Haus verpestet. Da sind nun aber heutzutage viele, sogenannte Vornehme, die etwas Besseres als gewöhnliche Menschen vorstellen wollen und die sich ärgern, daß heutzutage der gemeine Mann, der Bürger und Bauer anfängt, an der allgemeinen Geistesbildung und Aufklärung Theil zu nehmen. Da wollen die vornehmen Herrschaften etwas Anderes haben und werfen sich dem Wunderglauben, dem Mysticismus, dem Wahrsagerthum und Geisterschauen, dem Teufelsglauben und der Frommthuerei in die Arme. Hinter ihnen aber stehen Leute, welche hoffen, mit solcher Hülfe den Fortschritt aufzuhalten, vielleicht den Rückschritt in’s Mittelalter und seine Pfaffenherrschaft zu beginnen. Das Ist ein gefährliches Beginnen, ein zweischneidiges Schwert. Gerade die [689] Reichen würden es am Meisten büßen müssen, wenn der Hexenproceß wieder aufkäme: so lehrt es die Geschichte von Rom und Byzanz, so die Geschichte des Mittelalters und der spanischen Inquisition.

Gegen den Wunderglauben aber und gegen seine traurigen Folgen giebt es nur eine Macht: dies ist die Naturforschung. Sie kennt nur ein Wunder, das Wunder aller Wunder, die große, in Raum und Zeit unendliche Welt, die wirkliche Welt mit ihren unzähligen Schöpfungen und ihren mannigfaltigen, nie völlig auszulernenden und doch so einfachen Weltgesetzen. In sie einzudringen und des Wunderbaren, was sie bietet, so viel als möglich in sich aufzunehmen: dies ist der Trieb, welcher den echten Naturforscher beseelt, dies ist seine Religion. Bei Dingen aber, die er vorläufig noch nicht erklären kann, sagt er einfach: „Das weiß ich nicht!“ Er nimmt in solchem Falle nicht gleich etwas außer den Naturgesetzen Geschehendes, ein Wunder im Sinne des Mittelalters an. Er läßt die Sache unentschieden, zweifelt aber nie, daß sie auf natürliche Weise vor sich gehe. Dadurch unterscheidet sich die heutige Naturwissenschaft von der sogenannten Aufklärerei vor fünfzig Jahren, welche mit ihren damaligen schwachen Kenntnissen schon Alles erklären wollte. Aber es ist sehr unrecht, diese Leute deshalb heutzutage zu schmähen (wie gewisse flache Literaturhistoriker lieben). Altvater Goethe, der den Ton dazu angegeben hat, diese um Deutschland, besonders um die norddeutsche Geistesfreiheit so sehr verdienten Aufklärer zu verspotten und herabzuziehen, er hat damit wahrlich weder seinem kritischen Verstand noch seinem Vaterlandsgefühl Ehre gemacht!

Heutzutage bedarf es nur eines einfachen Mittels, um die Menschheit dauernd auf eine höhere Stufe geistiger und körperlicher Vervollkommnung zu erheben. Dieses Mittel ist, daß Jeder innerhalb seines Bereichs, so viel als ihm möglich ist, von den sich täglich mehrenden, täglich inniger ineinandergreifenden Entdeckungen der neueren Naturwissenschaft in sich aufnehme und dafür sorge, dieselben weiter zu verbreiten und den Sinn dafür in seinen Mitmenschen zu wecken und zu nähren. Damit kommt wahre Aufklärung von selbst, und die Gespenster des Mittelalters, die Ueberbleibsel heidnischer Barbarei, von welchen wir heutzutage noch allenthalben im staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Leben umgeben sind, werden vor der fortschreitenden Naturkenntniß erblassen, wie nächtlicher Spuk vor dem Licht der ausgehenden Sonne verschwindet.




Vom lustigen Fritz.

„Wo nur der verdunnerte Bengel stecken mag?“ fragte der würdige Altgeselle des ehrsamen Töpfergewerks, Herr Beckmann in Breslau.

Fritz Beckmann.

„Gewiß wieder in der ‚kalten Asche‘, im Theater,“ entgegnete seine Frau.

„Na, ich will ihn betheatern und ihm die kalte Asche auf seinem Buckel zu kosten geben, wenn er erst nach Hause kommt.“

In diesem verhängnißvollen Augenblick erschien der Gegenstand dieser elterlichen Auseinandersetzungen, ein untersetzter, frischer Bursche von fünfzehn bis sechszehn Jahren, mit einem schalkhaften, rosigen Gesicht und vor Lust lachenden Augen, daß man ihm im Ernste nicht böse sein konnte.

„Wo bist Du gewesen?“ fragte der Vater, indem er nach dem Stock im Winkel einen bedeutsamen Blick warf.

„In guter Gesellschaft,“ versetzte der lustige Fritz, „am dänischen Hofe, unter lauter Königen, Fürsten und noblen Herren.“

„Lauter Lumpengesindel!“ brummte der Alte. „Diesmal will ich Dir noch verzeihen, aber wenn Du noch einmal nach der kalten Asche gehst, so sollst Du die Bekanntschaft mit dieser ungebrannten Asche von gutem Birkenholz machen.“

Damit deutete der Vater auf den bewußten Stock in der Ecke, vor dem der lustige Fritz einen großen Abscheu hatte. Aber trotz dieser Drohung schlich er schon am nächsten Abend wieder nach dem Theater in der Taschenstraße, wohin ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht zog. Glücklich, für einen geleisteten Dienst eine Freikarte für das Paradies zu erlangen, saß er auf der höchsten Galerie und starrte mit athemloser Aufmerksamkeit auf die Bühne. Bald war der anstellige Junge mit sämmtlichen Schauspielern bekannt und half ihnen bei der Garderobe. Nebenbei benutzte ihn der Regisseur, wenn Noth am Manne war, als „Statistiker“, wie Fritz sich selbst zu bezeichnen pflegte. Freilich mußte er häufig ein solch’ unerwartetes Glück theuer bezahlen, da der Alte noch ein unüberwindliches Vorurtheil gegen das „Kummediantenpack“ hatte und ihm wiederholt erklärte, er würde die Schande nicht überleben, den Namen seines Sohnes auf dem Theaterzettel gedruckt zu sehen.

Die Liebe zur Kunst war jedoch stärker als seine kindliche Pietät, und am 30. August 1820 erschien wirklich der Name Beckmann und zwar in der Rolle des stummen Dänenkönigs „Harald“ in Kotzebue’s „Schutzgeist“ auf dem Theaterzettel, ohne daß den Alten der Schlag rührte. Ja, er söhnte sich sogar mit dem neuen Beruf seines Sohnes nach und nach aus, als dieser ihm die erste Gage von vier Thalern monatlich in’s Haus brachte, obgleich er selbst das Theater nie betrat. Der lustige Fritz blieb im Anfang seiner Laufbahn ziemlich unbemerkt und wurde mit seinem Freunde Peschke hauptsächlich zu Bedientenrollen und zum Heraustragen von Stühlen benutzt, weshalb er scherzend von sich und seinem Leidensgenossen [690] später sagte: „Wir Beide sind die ersten tragischen Künstler in Breslau gewesen.“

Ein scherzhafter Vorfall zog zuerst die Aufmerksamkeit des Publicums auf den jungen Kunstnovizen und entschied über Beckmann’s komischen Beruf. Bei der Vorstellung des „Macbeth“ war durch das Versehen des Theatermeisters die große Schlange aus der „Hexenküche“ auf der Bühne liegen geblieben. Die Verlegenheit war groß, da Lady Macbeth unmöglich die folgende Scene in Gesellschaft dieses Ungeheuers spielen konnte, ohne lautes Lachen zu erregen. Niemand wußte Rath, da erschien unerwartet der lustige Beckmann, der als Knappe hinter den Coulissen stand, und bekämpfte als improvisirter Ritter St. Georg den furchtbaren Drachen, indem er tapfer mit seinem Schwerte darauf losschlug und das getödtete Ungeheuer im Triumphe und unter dem schallenden Gelächter des Publicums mit sich forttrug. Der erste jubelnde Hervorruf belohnte seine kühne That; bescheiden erschien der Sieger mit dem Opfer seiner Thätigkeit, das er als die Ursache seines Glückes dankbar zärtlich an sein Herz drückte. Zwar wurde diese kühne Improvisation ihm von der Direction und manchen Collegen verdacht, aber der berühmte Anschütz, damals noch Mitglied des Breslauer Theaters, nahm ihn in Schutz und machte auf sein bei dieser Gelegenheit gezeigtes Talent zum Komiker wiederholt und dringend aufmerksam.

Trotzdem fand Beckmann in seiner Vaterstadt Breslau weder die gewünschte Beschäftigung, noch genügende Anerkennung. Er suchte beide in Berlin, wo er auf Empfehlung des bekannten Komikers Schmelka ein bescheidenes Engagement erhalten hatte. Aber auch hier sollte noch einige Zeit vergehen, ehe er zur Geltung kam. Trotzdem verlor er nicht den Muth und die Liebe zu seiner Kunst. Mit dem größten Fleiße benutzte er seine unfreiwillige Muße zum Studium der besten Vorbilder, unter denen besonders Schmelka und der unvergeßliche Spitzeder seine Muster wurden. Seine harmlose Gemüthlichkeit und unversiechliche Laune erwarben ihm bald zahlreiche Freunde, von denen namentlich der damalige Theatersecretair der Königsstädtischen Bühne, der Dichter Holtei, zuerst das Talent seines Landsmannes erkannte und der „siebenköpfigen“ Direction empfahl. Holtei selbst hatte gerade damals eine kleine Posse „der Kalkbrenner“ geschrieben, worin er mit vielem Glück das moderne Virtuosenthum verspottete. Die Hauptrolle spielte ein „schlesischer Kalkbrenner“, der fälschlich in einer kleinen Stadt für den berühmten Clavierspieler „Kalkbrenner“ gehalten wird. Da Beckmann als geborner Schlesier die schlesische Mundart des gemeinen Volkes vortrefflich sprach, so vertraute ihm der Dichter diese Rolle an und Fritz rechtfertigte dies Vertrauen in der glänzendsten Weise, so daß er von diesem Abend an der Liebling des Berliner Publicums und zugleich auch des Hofes wurde. Mit jedem Tage steigerte sich der Beifall und erreichte seinen höchsten Grad, als Beckmann in seinem „Eckensteher Nante“ eine echt Berliner Volksfigur schuf und mit unwiderstehlicher Komik ausstattete. Von nun an feierte der bescheidene Künstler eine Reihe von Triumphen, die er sich in Breslau nicht träumen ließ; er war unstreitig der populärste Schauspieler der Residenz und unter dem Namen „der lustige Fritz“ allgemein bekannt.

Zugleich wurde er durch sein angeborenes Improvisationstalent und durch seine geselligen Gaben der Mittelpunkt eines auserwählten Kreises von Schriftstellern, Dichtern, Journalisten und Künstlern, welche sich nach der Theatervorstellung gewöhnlich in einer Weinstube zu versammeln pflegten und unter dem seltsamen Namen „Duslebimbam“ eine Gesellschaft bildeten, die bald eine große Berühmtheit erlangte. Die Seele des Ganzen war Freund Beckmann, der mit dem witzigen Glaßbrenner in tollen Geschichten und lustigen Streichen sich überbot. Es war ein Raketenfeuer von Witz, Humor und guter Laune, das in ununterbrochener Weise Feuer sprühte. Die meisten dieser Scherze flogen sogleich von Mund zu Mund bis in die höchsten Regionen, wo sie besonders bei dem geistreichen Kronprinzen Anklang und Wiederhall fanden. Aus dieser Gesellschaft entwickelte sich zum größten Theil der specifische Berliner Witz, und in ihr sind die wahren Väter des späteren Kladderadatsch und der neueren Posse zu suchen. Unzählige dieser Schwänke und Einfälle kommen auf Rechnung des lustigen Fritz,[WS 7] der in der That unerschöpflich war. So sagte er, als ihm eines Tages bei Tische ein Sitz zwischen den beiden schönen Schwestern Auguste und Charlotte von Hagn angewiesen wurde: „Das ist prächtig! Zwischen A. Hagn und C. Hagn kann ich nur mit B. Hagn (Behagen) sitzen.“ Ein andermal wurde er wegen Beleidigung eines bekannten Berliner Bankiers, Namens Fränkel, gerichtlich verurtheilt, denselben vor Zeugen um Verzeihung zu bitten. Zur bestimmten Stunde erschien Beckmann in der Wohnung des Beleidigten, der zu diesem Zweck eine große Gesellschaft eingeladen hatte, die der ihm zu gebenden Satisfaction beiwohnen sollte. Der arme Sünder steckte den Kopf durch die Thür und sagte mit anscheinender Harmlosigkeit: „Ich habe mich wohl geirrt, hier wohnt Herr Maier?“ – „Nicht doch,“ entgegnete Herr Fränkel, „der wohnt daneben.“ – „Ah! da bitte ich um Verzeihung!“ rief Beckmann sich schnell wieder entfernend, indem er auf diese Weise wörtlich den Ausspruch des Gerichts befolgte.

Auch ein Hofschauspieler, der sich auf sein Talent übermäßig viel einbildete und auf Beckmann herabsah, obgleich er selbst nur ein sehr mittelmäßiger Künstler war, sollte Beckmann’s Witz kennen lernen. „Denkt Euch nur,“ erzählte einmal Beckmann in Gegenwart seines Collegen, den wir Grünberger nennen wollen, obgleich sein Name anders lautete – „denkt Euch nur, mir träumte, daß ich gestorben sei. Bescheiden klopfte ich an das Himmelsthor und begehrte Einlaß. ‚Wer ist Er denn?‘ fragte mich Petrus mit himmlischer Grobheit. ‚Der Schauspieler Beckmann,‘ antwortete ich mit gewohnter Bescheidenheit. ‚Weiß Er denn nicht, daß kein Schauspieler in den Himmel kommt?‘ sagte Petrus und schlug mir die halbgeöffnete Pforte vor der Nase zu. Während ich mich auf’s Bitten legte, kommt unser Freund Grünberger ganz gemüthlich angewackelt. Ohne Umstände läßt ihn Petrus in den Himmel, nachdem jener nur leise bei ihm angeklopft. Empört über eine derartige Ungerechtigkeit stelle ich den Heiligen zu Rede, indem ich ihn darauf aufmerksam mache, daß Grünberger während seines Lebens ebenfalls der Bühne angehört habe. ‚Das weiß ich besser!‘ sagte Petrus und schlug dabei ein lautes Gelächter auf. ‚Der Grünberger ist sein Lebtag kein Schauspieler gewesen!‘“

Am meisten aber hatte der bekannte Director des alten Königsstädtischen Theaters, Commissionsrath Cerf, von Beckmann’s Witz zu leiden. Dieser originelle Bühnenleiter in der berühmten Hauptstadt der Intelligenz war, so unglaublich dies auch klingen mag, des Lesens und Schreibens unkundig. Beckmann selbst, der bei ihm außerdem noch das Amt eines Theatersecretairs bekleidete, erzählte von seinem Principal die schnurrigsten Geschichten. In einer Gesellschaft, worin sich der Herr Director und sein Secretair befanden, wurde eine schriftliche Abstimmung vorgenommen. Unter den eingelaufenen Stimmzetteln befand sich einer, der nicht beschrieben war und deshalb für ungültig erklärt werden sollte. „Das geht nicht,“ sagte Beckmann, „denn ich kann bezeugen, daß ihn Herr Commissionsrath Cerf geschrieben hat.“

Friedrich Wilhelm der Dritte war bekanntlich ein großer Theaterfreund und besonderer Gönner Beckmann’s, der vielfache Beweise der königlichen Gnade erhielt und häufig neben den Hofschauspielern in den Privatvorstellungen in Potsdam und Charlottenburg mitwirkte. In dem kleinen Lustspiele U. A. W. G. extemporirte Beckmann so glänzend, indem er immer neue Erklärungen für die genannten vier Buchstaben fand, daß der König ihm nach der Aufführung eine Ananas und eine Börse mit Gold gefüllt zukommen ließ, mit der eigenhändigen Zuschrift: „Und Ananasse werden gegessen“ und – „Und Abends wird geschmaust.“ Auch unter Friedrich Wilhelm dem Vierten fehlte es Beckmann nicht an vielfachen Auszeichnungen, und so oft Kaiser Nicolaus nach Berlin kam, mußte der berühmte Komiker und Repräsentant des Berliner Witzes, für den merkwürdiger Weise der ernste absolute Herrscher eine große Vorliebe zeigte, vor ihm erscheinen. Selbst als Beckmann bei einem Besuche des Kaisers in Berlin an heftigem Rheumatismus litt, trat er unter Stöhnen und Aechzen vor seinem hohen Gönner auf, um die Vorstellung nicht zu stören, indem er witzig dem Regisseur bemerkte: „Der Beherrscher aller Reußen wird wohl auch mein Reißen beherrschen.“

Trotz aller dieser Auszeichnungen hatte der lustige Fritz seine trüben Stunden. An seinem Herzen nagte der Ehrgeiz; er wollte Hofschauspieler werden und einen Orden wie einst Iffland tragen. Die Erfüllung beider Wünsche wurde ihm jedoch versagt, obgleich er die Rettungsmedaille dafür erhielt, daß er einen Menschen aus dem Wasser herauszog. Leider aber wurde ihm ursprünglich [691] die gewiß bescheidene Bitte abgeschlagen, dieselbe am Bande zu tragen, was dem lustigen Fritz einen großen Kummer verursachte, da er einmal diese kleine Schwäche besaß.

Dafür feierte er in seiner Vaterstadt, wo er nach langjähriger Abwesenheit ein erfolgreiches Gastspiel eröffnete, die glänzendsten Triumphe. Natürlich mußte „der Alte“ Zeuge seines Ruhmes sein und erhielt von dem Sohne zu diesem Zweck den besten Sitz in der Orchesterloge. Der Beifall und das Herausrufen wollte kein Ende nehmen, als aber Beckmann nach der Vorstellung den Vater in seiner Wohnung aufsuchte, hörte er von ihm zu seinem Erstaunen, daß derselbe gleich nach dem ersten Act das Theater verlassen habe. Auf sein Befragen nach dem Grund erklärte der Alte, welcher nie zuvor ein Theater besucht hatte: „Die Leute haben immerzu ‚Beckmann ‘raus!‘ geschrieen, da bin ich lieber fortgegangen, weil sie mich sonst gewiß ‘rausgeschmissen hätten.“ Nach seiner Rückkehr führte Beckmann in Berlin mit seinen Collegen Gern, Rüthling und Schneider, dem jetzigen Geheimen Hofrath und königlichen Vorleser, einen lustigen Schwank mit dem Kutscher eines Thorwagens auf. Das fröhliche Quartett und vierblätterige Kleeblatt der Berliner Komik wollte nach Treptow fahren und bestieg zu diesem Zwecke einen sogenannten „Kremser“, der jedoch nicht eher abzufahren erklärte, bevor er nicht die volle Zahl von zwölf Passagieren hätte. Schnell wurde ein Plan ausgesonnen, um den obstinaten Rosselenker mit Hülfe der bereits eingetretenen Dämmerung zu täuschen. Leise verließ Einer nach dem Andern unbemerkt den bereits eingenommenen Sitz und kehrte immer in neuer Gestalt wieder, seinen früheren Platz einnehmend, Beckmann als Berliner Rentier, Schneider als jüdischer Banquier, Rüthling als Handwerker und Gern als geschäftiger Barbier, dann wieder Schneider und Beckmann als zwei Benebelte, hin- und herschwankend. Bald glaubte der Kutscher seinen Wagen ganz besetzt zu haben, als Gern noch einmal in neuer Gestalt erschien und mitgenommen zu werden verlangte. Nur mit Mühe und auf vieles Bitten seiner Freunde wurde ihm gestattet, als dreizehnter Passagier die Fahrt mitzumachen. Wer beschreibt aber das Erschrecken des Kutschers, als er bei der Ankunft in Treptow nur die vier Freunde erblickte, so daß er an Hexerei glauben mußte. Indeß beruhigte er sich, als er das Geld für „dreizehn lumpische Personen“ unter schallendem Gelächter ausgezahlt erhielt. Aber auch der Ernst des Lebens berührte den lustigen Fritz, als eine gefährliche Krankheit ihn auf das Lager warf. Die geschickte Operation von Gräfe rettete ihm das Leben und erhielt ihn noch lange Jahre. Die Theilnahme der Berliner war allgemein, die Freude über Beckmann’s Genesung so groß, daß diese durch ein solennes Fest gefeiert wurde, wobei Holtei dem Freunde eines seiner schönsten Gedichte in schlesischer Mundart sang.

Trotzdem wurde dem lustigen Fritz der Berliner Aufenthalt durch seine Zerwürfnisse mit dem Director Cerf verleidet, dem er seinen Absagebrief mit den charakteristischen Worten schrieb: „Sie sind Ritter des rothen Adlerordens dritter Classe, Besitzer eines Theaters zweiter Classe, aber ein Rindvieh erster Classe.“ Sein Entschluß, Berlin zu verlassen und nach Wien zu gehen, wo er ebenfalls trotz seiner specifisch norddeutschen Komik neben einem Nestroy und Wenzel Scholz den größten Beifall fand, wurde jedoch durch ein zwar loyales, aber etwas tactloses Impromptu auf das Attentat des Königsmörders Tschech herbeigeführt. Beckmann fürchtete die daraus ihm erwachsenden Unannehmlichkeiten und zog es vor, ihnen aus dem Wege zu gehen. Er trat in Wien unter dem nicht minder originellen Director Pokorny auf und wurde auch in der Kaiserstadt der erklärte Liebling des Publicums und des Hofes. Trotz seiner großen Erfolge sehnte sich der fleißige Künstler nach einem andern Wirkungskreise, da Pokorny die Oper zu sehr bevorzugte und, als Beckmann auf ein geregeltes Repertoire drang, ihm die bezeichnende Antwort in seinem böhmischen Dialekte gab: „Na, wann ist Marra (die damalige erste Sängerin) gesund, ist Oper, wann Marra krank, ist Beckmann – da haben’s Repertoire!“

Endlich wurde Beckmann’s sehnlichster Wunsch erfüllt, indem er hauptsächlich auf Wunsch seines hohen Gönners, des Erzherzogs Franz Carl, Vater des jetzt regierenden Kaisers, an dem Burgtheater engagirt wurde, wo er mit so großem Beifall debutirte, daß ihn der damalige Oberstkämmerer und Intendant der Hofbühne, Graf Moritz Dietrichstein, nach der Vorstellung im Beisein seiner neuen Collegen öffentlich umarmte und küßte. Seitdem gehörte er dieser deutschen Musterbühne bis zu seinem Tode an und füllte seine Stellung nicht nur als Komiker, sondern auch als Charakterdarsteller vollkommen aus. Im Jahre 1859 kam er wieder zu einem Gastspiel, und zwar auf dem Wallnertheater, nach Berlin, wo er, wie nicht anders zu erwarten, sich neue Lorbeeren errang. Beim Abschied hinterließ er dem Director Wallner sein wohlgetroffenes Portrait mit der ihn charakterisirenden Unterschrift:

„O liebster, ach bester Director mein,
Ein schönes Geld nahm ich bei Dir ein.
Auch konnt’ ich viel Ruhmes mich bei Dir erfreu’n,
Drum sei mein Dank dafür nicht bloßer Schein;
Laß mich zur Erinnerung Dir eine Frage weih’n:
‚Wann werden wir wieder beisammen sein?‘“

Nach diesem Portrait, das Herr Wallner freundlich mittheilte, ist das Bildniß hergestellt, das die Redaction unserer Skizze beigegeben hat.

Leider wurden die letzten Jahre von Beckmann’s Leben durch schwere körperliche Leiden verbittert, die er mit anerkennenswerther Geduld ertrug, ohne seinen Humor zu verlieren. Noch bei seiner letzten Anwesenheit in Karlsbad, wo er Linderung seiner oft furchtbaren Schmerzen suchte, war ich täglich Zeuge seines unerschöpflichen Humors und sprudelnden Witzes, so daß die Morgenstunden mit Beckmann am Brunnen zu meinen angenehmsten und heitersten Erinnerungen zählen. Durch die letzten kriegerischen Ereignisse wurde er verhindert, Karlsbad wieder aufzusuchen, weil ihm „Sprudel mit preußischem Zündnadelfeuer“ nicht ganz zuträglich für seine Gesundheit erschien. Er zog es vor, in Gmunden seine Ferien an der Seite seines alten Freundes La Roche zu verleben. Hier erkrankte er indeß so heftig, daß er unter unsäglichen Leiden sich nach Wien bringen ließ, wo er sich, leider vergebens, einer schmerzhaften Operation unterzog. Ein sanfter Tod erlöste am 6. September Nachmittags vier Uhr Beckmann von seinen Qualen und schloß für immer die Lippen des lustigen Fritz.

Beckmann war der geborene Komiker, der verkörperte Humor auf der Bühne, der Witz und die Heiterkeit in eigener Person. Seine bloße Erscheinung reichte schon hin, ein schallendes Gelächter zu erregen, und noch ehe er den Mund öffnete, wurde er oft mit Jubel empfangen, ohne daß man eigentlich sich der Ursache bewußt war, ein Beweis seiner echten und ursprünglichen „vis comica“. Dabei war er nichts weniger als ein Farceur oder Possenreißer, sondern stets bemüht, der Wahrheit und Natur so treu als möglich zu bleiben. Aber er besaß im reichsten Maße die Gabe und Empfänglichkeit für alle Lächerlichkeiten des Lebens, die er mit bewunderungswürdiger Kunst wiederzugeben wußte. Rollen wie der „Liborius“ in der „Reise auf gemeinschaftliche Kosten“, „der pensionirte Fleischsteuercassenschreiber Mengler“, „der Vater der Debutantin“ übten eine wahrhaft hinreißende komische Gewalt über die Zuschauer und zwangen den eingefleischtesten Hypochonder zum Lachen. Diese Wirkung wurde noch durch seine angeborne Harmlosigkeit gesteigert, mit der er die größten Tollheiten des höheren Blödsinns vorbrachte. Wer konnte noch ernsthaft bleiben, wenn er in der „Reise nach Spanien“ voll Todesangst vor den Räubern in der Finsterniß herumtappend plötzlich ausruft: „Da liegt etwas Hartes am Boden – eine Waffe? – nein, es ist ein Taschentuch,“ oder wenn er als Theater-Director in „Richard’s Wanderleben“ auf die Forderung des Künstlers, für eine Gastrolle zwei Drittheile der Einnahme zu erhalten, mit dem größten Ernste und den heiligsten Eiden versichert, daß er jetzt „in den heißen Sommermonaten selbst nur ein Drittel einnehme“! Nicht minder komisch erzählte er in des „Uhrmachers Hut“, daß er nach vieler Mühe künstliche Hühneraugen erfunden habe, die genau eben so sehr schmerzten, wie die natürlichen, während er als Liborius, wenn ihm seine Reisegefährtin das für ihn bestimmte Abendbrod wegißt, plötzlich heftig zu husten anfängt, „weil ihm sein Essen in die unrechte Kehle gekommen sei“. Zahllose dieser Impromptus sind bereits sprüchwörtlich geworden, ebenso wie einige der oben erzählten charakteristischen Anekdoten wohl schon bekannt sein mögen, und sichern Beckmann’s Andenken im Munde des Volkes.

Mit Recht rief daher Director Laube dem Dahingeschiedenen an seinem Grabe nach: „Fritz Beckmann, unser fröhlicher Fritz, verläßt uns auf immer! Zum ersten Male weinen wir schmerzliche Thränen über Dich und nichts bleibt uns, als Dein lieblich-fröhliches Gedächtniß in unserer Seele. Beckmann, fahre wohl für diese Welt!“
Max Ring.



[692]
Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
Nr. 1. Der Letzte seines Stammes.


Nach längerer Abwesenheit nach Cassel zurückgekehrt, dieser Perle unter den mitteldeutschen Städten, fand ich gar große Veränderungen vor. Auf dem kurfürstlichen Palais am Friedrichsplatze blähte sich stolz der preußische Adler; das weite, schöne Gebäude selber schien ausgestorben, alle Fenster waren dicht geschlossen und die sonst davor stehenden zahlreichen Posten eingezogen. An ihrer Stelle spazierte auf der Rampe ein einziger preußischer Musketier, der jetzt unter dem zurückgebliebenen Dutzend rother Schilderhäuser die Auswahl hatte. Erst im vorigen Jahre hatte der Kurfürst seinem Residenzschlosse einen neuen Anstrich gegeben, die eisernen Gitter an der Rampe und den Balconen schön vergolden lassen, und jetzt war ihm der Eintritt für immer versagt, und die prachtvollen Räume harrten des neuen Herrschers oder seines Statthalters. Eben wurde der Marstall des entthronten Kurfürsten nach Hanau abgeführt, um dort seinem Eigenthümer übergeben zu werden; ein großartiger Zug von vierzig Wagen und einhundert achtunddreißig Pferden, darunter das Leibgespann der dreizehn herrlichen Isabellen, mit welchen der Exmonarch auf dem Fürstencongreß zu Frankfurt ein so großes Aufsehen machte und selbst den Neid seiner gekrönten Vettern erregte. Ueberall erblickte ich preußische Fahnen, preußische Wappen und preußische Soldaten; dazwischen aber die Uniformen der nunmehr aufgelösten kurhessischen Armee, in denen meist stattliche und schmucke Leute staken. Und wenn die gemeinen Soldaten der vor Kurzem noch feindlichen Heere sich von einander etwas entfernt hielten, wandelten dagegen ihre Officiere oft Arm in Arm; es schien sich zwischen diesen bereits ein aufrichtig cameradschaftliches Verhältniß geknüpft zu haben. So bot die Stadt zwar ein fremdartiges Bild, aber das Leben und Treiben auf den Straßen war weit bunter und reger, als ich es früher gesehen, auch die Gasthöfe waren von Fremden und Reisenden überfüllt. Dennoch hörte ich die Geschäftsleute über noch immer stockenden Handel und Wandel klagen und die Befürchtung aussprechen, daß ihnen der inzwischen eingetretene Umschwung der Dinge schwere Einbußen zuziehen werde. Man versicherte mich, daß der Haushalt des Kurfürsten allein der Stadt jährlich viermalhunderttausend Thaler, die ganze Hofhaltung über zwei Millionen eingetragen habe, und wünschte nun als Ersatz einen preußischen Prinzen herbei, der hier seine Residenz aufschlagen möge.

Weniger die Einverleibung des Kurfürstenthums in die preußische Monarchie, als das persönliche Schicksal ihres früheren Herrschers schien den Leuten zu Herzen zu gehen. Man wollte die Schwächen und Auswüchse seines Charakters, die Miß- und Uebergriffe seiner Regierung entweder gar nicht mehr kennen oder suchte sie doch nach besten Kräften zu mildern und zu entschuldigen.

„Unser Kurfürst war ein braver, gutmüthiger Herr,“ sagte mir der Wirth einer Weinschenke, „und gewiß nicht übler als manche andere deutsche Fürsten, die jetzt noch fest auf ihren Thronen sitzen. Nur die unglücklichen Verhältnisse in seiner Familie und böse Rathgeber haben sein Gemüth verdüstert, seinen Sinn hart und störrig gemacht und ihn schließlich in’s Verderben gestürzt.“

Ein anderer dicker und rother Herr ging noch weiter. „Sehen Sie,“ sprach er, „wir hatten unter dem Kurfürsten fast gar keine Steuern, aber jetzt werden wir die Finger wohl nicht aus dem Geldbeutel kriegen. Und was haben wir im Uebrigen von dem neuen Regiment zu erwarten?! Wir Kurhessen sind ja den Preußen in allen Dingen um fünfzig Jahre voraus, namentlich an politischer Bildung, denn wir haben seit 1831 eine Verfassung und ein parlamentarisches Leben.“

„Ja,“ meinte ein Dritter, „bisher hätten wir uns eigentlich nicht zu beklagen; der preußische Gouverneur und der Administrator sind zwei milde, würdige Männer, die sich rasch Vertrauen erworben haben. Aber wie lange wird man uns die Beiden lassen? Das ist nur eine Lockspeise, und man wird bald andere Saiten aufziehen.“

Diese und ähnliche Aeußerungen befremdeten mich nicht wenig, und ich sprach darüber mit einem Universitätsfreunde, den ich hier aufsuchte und dem ich jene Unterhaltung mittheilte. „Ist das wirklich die Stimmung im Großen und Ganzen?“ fragte ich ihn.

„So ziemlich,“ entgegnete er. „Alles Neue und Fremde ist den Leuten zunächst zuwider, weil es sie in ihren Gewohnheiten, in dem Schlendrian ihres Daseins stört und sie zwingt, ihrem Denken und Thun eine andere Richtung zu geben. Dazu kommt die leidige Sentimentalität des Deutschen, der selbst den Tyrannen, der ihn Jahre lang gedrängt und gequält, noch bedauert, wenn diesen die rächende Nemesis endlich ereilt, ja ihn zurücksehnt. Andererseits hatte die preußische Regierung bisher in Deutschland wenig Sympathieen, und die Zeit ist noch zu kurz, als daß sie sich bei uns schon hätte einbürgern können; wenn sie jedoch mit Klugheit und Schonung unserer Eigenthümlichkeit verfährt, wie es allerdings den Anschein hat, werden wir uns allmählich, aber sicher mit ihr versöhnen und befreunden; zumal zwischen dem Stammescharakter des Kurhessen und dem des Altpreußen wirklich viel Verwandtschaft besteht: Beide sind in ihrem Wesen schroff und schwer zugänglich, dafür aber auch kernig und bieder. Was der eine Herr über die politische Bildung und das Verfassungsleben Hessens sagt, ist ganz richtig und Preußen kann in der That noch Vieles von uns lernen. Dagegen haben wir den Preußen schon Manches zu danken,“ fuhr mein Freund fort, indem wir einen Spaziergang durch und um die Stadt machten. „Es sind an und für sich Kleinigkeiten, die sie endlich weggeräumt oder umgekehrt uns vergönnt haben, aber für das Publicum von dem allergrößten Werthe und für das Wohl und das Wehe Einzelner oft geradezu entscheidend. Wie Sie wissen, war das Museum mit seinen Schätzen bis vor Kurzem Einheimischen wie Fremden hermetisch verschlossen; ebenso die Gemäldegalerie in der Bellevue, welche so viele kostbare Rembrandts und Rubens enthält, die unsre Künstler vergebens zu studiren und zu copiren nachsuchten. Der Eintritt hing von der Laune des Herrn Castellans ab und er gewährte ihn nur gegen Erlegung eines Thalers. Jetzt finden Sie im Museum täglich ein Gedränge von Besuchern, und unsre Maler segnen den preußischen Gouverneur, der den Herrn Castellan gezwungen, fortan Jedermann und gratis einzulassen. Die Geschichte von dem holländischen Thore kennen Sie. Sie wissen, daß die Casselaner seit Jahren umsonst für seinen Abbruch petitionirten und daß es einer der ersten Acte des preußischen Gouvernements war, das dem Verkehr so hinderliche Thor niederzureißen.

An dem Brückchen, das wir hier vor uns sehen,“ fuhr mein Begleiter fort, „zerschellte einst die Existenz eines wackern, strebenden Mannes. Er hieß Hartdegen und hielt eine Badeanstalt, die, so lange das Brückchen vorhielt, von den Casselanern fleißig benutzt wurde und ihren Besitzer ausreichend nährte. Allmählich wurde der Steg morsch und gefahrdrohend, weshalb ihn der Kurfürst einfach wegreißen ließ; denn im Gegensatz zu seinem Vater, der eine wahre Bauwuth besaß, waren ihm, wie Sie an dem schäbigen Aussehen der meisten Staats- und Domainengebäude bemerken können, selbst alle Reparaturen ein Gräuel. Vergeblich petitionirte Hartdegen um die Wiedererrichtung des Brückchens, vergebens erbot er sich solche aus eigener Tasche bewerkstelligen zu lassen: der Kurfürst versagte hartnäckig die Genehmigung, welche bekanntlich von ihm in Betreff jedes Prellsteines und jedes Zaunpfahls eingeholt werden mußte. So kam die Badeanstalt in Abnahme, denn das Publicum scheute den weiten Umweg über die große Fuldabrücke, und Hartdegen versank in Armuth und Elend. Jetzt ist auch das Brückchen wieder hergestellt.

Von ähnlichen Behelligungen, mit welchen der ‚brave, gutmüthige Herr‘ seine getreuen Unterthanen heimsuchte, kann ich Ihnen noch eine Menge erzählen. Wollte ein Ladenbesitzer ein neues Schaufenster einrichten, oder auch nur ein altes verändern, so hatte er zunächst einen detaillirten Plan nebst Zeichnung an die sogenannte Verschönerungscommission einzureichen, die erst wieder darüber an den Kurfürsten berichtete. Dieser corrigirte dann die Entwürfe, oder er forderte die Einreichung anderer Zeichnungen, oder er ließ mit der Entscheidung Monate und Jahre warten, und die Baulustigen reisten, um diese zu erlangen, ihrem Landesvater nicht selten in’s Bad oder in’s Ausland nach. Einen Hotelbesitzer machte jedoch die Verzweiflung kühn. Nach langem, vergeblichem

[693]

„Sie haben sich wieder!“
Der Empfang der heimkehrenden Krieger in der Provinz.
Originalzeichnung von E. A. Döpler.[WS 8]

Harren begann er den Umbau seines Hauses ohne den erbetenen Consens und hatte ihn fast vollendet, als der Kurfürst heimkehrte und bei einer Spazierfahrt durch die Straßen das Attentat bemerkte. Diesmal aber, denn er war in seinen Gefühlen und Entschließungen eben unberechenbar, wandelte ihn eine gnädige Laune an; noch am selben Tage schickte er dem Verbrecher den Consens nachträglich zu und gleichzeitig wurden noch sechzehn ähnliche Gesuche genehmigt, die seit lange im Cabinet lagen. Nicht so gut erging es einem Besitzer in der Wilhelmshöher Allee, der in seinem Garten einen Pavillon zu bauen beabsichtigte, aber wiederholt abschläglich beschieden wurde, bis er trotzdem den Bau begann. Der Kurfürst gerieth in den fürchterlichsten Zorn und befahl seinen Gensd’armen, das Corpus delicti niederzureißen; was auch geschehen sein würde, wäre nicht inzwischen der Kurfürst nach Stettin abgeführt worden. Auf die viel erwähnte Reitbahnaffaire, die auch hierher gehört, brauche ich nicht zurückzukommen.

Wenn’s Ihnen gefällig ist, kehren wir nach der Stadt zurück. Dieses Pförtchen führt uns gerade nach der Bellevue. Daß wir’s passiren dürfen, verdanken wir gleichfalls der neuen Ordnung; bis dahin war es durch dreißig Jahre verschlossen. Der Kurfürst, damals noch Kurprinz und Mitregent seines Vaters, mit dem er in Zwietracht und Fehde lebte, ließ es verschließen, um seine im Schlosse von Bellevue wohnende Mutter zu ärgern. Die Kurfürstin, bekanntlich eine Schwester König Friedrich Wilhelm’s des Dritten von Preußen, hatte den Zorn ihres Sohnes erregt, indem sie sich weigerte, neben seiner ihm unebenbürtigen Gemahlin im Theater zu erscheinen. Als sie um des Friedens willen sich wieder dazu verstand, fand sie einmal ihre Loge verschlossen, [694] ein anderes Mal diese nur durch eine matte Oellampe erleuchtet; Beides auf Befehl des Regenten, der seine Mutter so öffentlich verhöhnen ließ. Dagegen verursachten die Bürger eine Demonstration, indem sie der Kurfürstin, die immer die allgemeine Achtung und Theilnahme genoß, einen Fackelzug brachten. Der Kurprinz nahm das für eine Beleidigung seiner Person und ließ gegen die friedlichen Fackelträger und das versammelte Volk durch seine Garde du corps einschreiten, die Mutter aber strafte er, indem er das Pförtchen hier, welches sie bei ihren Spaziergängen nach der Aue zu benutzen pflegte, zusperren ließ.“

Abends besuchte ich das Theater, wo die „Anna Liese“ von Hermann Hersch zum ersten Male gegeben wurde. Zur Zeit des Kurfürsten konnte weder dieses Stück noch der Brachvogel’sche „Narciß“ zur Aufführung gelangen; beide Dramen behandeln einen Gegenstand, zwischen welchem und der Gemahlin des Kurfürsten, mit der er in morganatischer Ehe lebte, mancherlei Parallelen in die Augen springen. Die kurfürstliche Loge, wo sonst die Flügeladjutanten und Hofchargen saßen, blieb leer, ebenso die Prosceniumsloge rechter Hand, wo man allabendlich den Kurfürsten und seine Gemahlin sehen konnte.

Der Fürst war, als er in Bonn studirte, wo er die Bekanntschaft der Frau Hauptmann Lehmann machte, ein hübscher elastischer Jüngling und in späteren Jahren eine gedrungene, kräftige Gestalt, bis ihn in letzter Zeit das Podagra etwas krumm zog. Er hatte die Gewohnheit angenommen, beim Sprechen, die Hände an den Lenden, den Oberkörper hin und her zu wenden, während der untere Theil bewegungslos blieb. Im Geiste sah ich ihn wieder in seiner Loge sitzen, mit dem kurzgeschorenen, graumelirten Haar, dem ernsten, finstern Gesicht, das sich nur selten zu einem Lächeln erhellte, wie er bald dem Schauspiele folgte, bald das Opernglas vor den Augen in’s Parterre hinabblickte. Im Geiste hörte ich ihn wieder inmitten der Vorstellung und ohne die geringste Rücksicht auf das in seiner Aufmerksamkeit gestörte Publicum sich überlaut mit seiner Gemahlin unterhalten, in dem schnarrenden Tone, der lakonischen Redeweise und den Infinitivsätzen, die er seinem Oheim Friedrich Wilhelm dem Dritten nachgeahmt haben mochte. Zuweilen, wenn er guter Laune war, hörte man ein „Guter Witz!“ oder „Kerl spielt famos!“ Zuweilen entlud sich aber auch ein eheliches Gewitter in der Loge, das die Frau Fürstin, indem sie die Gardine schloß, den Augen des Publicums zu entziehen eilte. In den letzten Jahren pflegte der alte Herr, der von den meisten Stücken jedes wohl schon ein paar Dutzend Mal gesehen haben mochte, während der Vorstellung sein Schläfchen zu machen.

Die Frau Gräfin von Schaumburg, Fürstin von Hanau, früher verehelichte Hauptmann Lehmann, soll die Tochter eines Weinschenken zu Bonn und eine berühmte Schönheit gewesen sein. Da sah sie der damalige Kronprinz, und seine Mutter, die Kurfürstin, welche mit ihm abwechselnd zu Bonn wohnte, soll ihn selber auf die reizende junge Frau und ihren graciösen Tanz aufmerksam gemacht haben; vielleicht aber kannte sie der Prinz schon genauer. Noch bis in die letzten Jahre hinein und wiewohl man behaupten will, sie sei älter als ihr im Jahre 1802 geborener Gemahl, konnte die Fürstin für eine Schönheit gelten; namentlich wurden die kleine, volle Gestalt und ihre mandelförmigen Augen bewundert. Von ihrem ersten Manne hatte sie zwei Söhne, die später der Kurfürst zu Herren von Scholley erhob; diesem gebar sie noch neun Kinder, sechs Söhne und drei Töchter, die nach ihr Grafen und Gräfinnen von Schaumburg, Prinzen und Prinzessinnen zu Hanau heißen.

Sie Alle wurden von ihrem Vatter allabendlich in’s Theater befohlen, wo sie insgesammt neben ihren Eltern in der „Kinderloge“ saßen, auch dann noch, als sie längst erwachsen und theilweise verheirathet waren. Eine der Prinzessinnen bat ihren Vater vergebens, für sich und ihren Gemahl eine besondere Loge miethen zu dürfen, und als sie dringender wurde, soll sie der Kurfürst bei offener Tafel hart angelassen haben. Während der Vorstellung beobachtete er heimlich die Prinzen, ob sie etwa mit den Schauspielerinnen Blicke wechselten. So oft er solchen Austausch oder gar ein entstehendes Liebesverhältniß witterte, entließ er die betreffenden Damen auf der Stelle, ohne sich daran zu kehren, ob er ihnen eine Abstandssumme oder bei längerem Contract die Gage für mehrere Jahre nachzahlen mußte. Dennoch konnte er’s bekanntlich nicht hindern, daß Prinz Fr. sich mit einer Demoiselle Birnbaum heimlich vermählte, und als der Kurfürst darob in rasende Wuth gerieth, soll ihn der Sohn mit Recht gefragt haben, ob er (der Vater) es denn besser gemacht? Auch die andern Prinzen wußten sich zu entschädigen, indem sie die verjagten Theater-Prinzessinnen in das hannöver’sche Grenzdorf Sp. setzten und Abend für Abend zu ihnen hinüberritten.

Man behauptet, daß außer den Ministern namentlich seine Privatinteressen ihn in die Arme Oesterreichs getrieben haben. Er besitzt einen großen Gütercomplex in Böhmen, den er, falls er sich für Preußen erklärte, gefährdet glaubte. Seinem in der österreichischen Armee dienenden Stiefsohn von Scholley hatte man dort ein Regiment versprochen. Namentlich – und dies war der Hauptköder und bestimmte seinen Anschluß an Oesterreich – waren ihm von der Hofburg Verheißungen gemacht worden, mit Beseitigung des anerkannten Thronfolgers einem seiner illegitimen Söhne die Nachfolge auszuwirken. In der elften Stunde schien der Fürstin, die bisher eifrig für Oesterreich agitirt hatte, die Sache mit einem Male bedenklich und sie versuchte, jetzt ihren Gemahl zur Umkehr zu bewegen, allein mit gewohnter Hartnäckigkeit hielt der Kurfürst an seinem Entschlusse fest und antwortete der dringender werdenden Gattin schließlich mit einem energischen Ausbruch seines bekannten Jähzorns.

Was die geistige Begabung des Kurfürsten betrifft, so ist dafür wohl ein Urtheil maßgebend, das ein Bonner Professor über den damaligen Studiosus gefällt und das nicht sehr empfehlend gelautet haben soll. Für Kunst und Wissenschaft hatte Friedrich Wilhelm der Erste gar keinen Sinn und hat auch für beide nichts gethan. Merkwürdigerweise und gleichsam in Vorahnung seines Geschickes kaufte und las er am eifrigsten alle preußischen Geschichtswerke, ebenso die in seinem Lande verbotenen Zeitschriften und Brochuren, namentlich den Kladderadatsch und alle Pamphlete, welche seine Regierung und seine Minister geißelten. Im Gegensatz zu seinem Vater und Großvater war der Kurfürst keusch und hielt in seiner Umgebung streng auf Sitte und Anstand. Er spielte nicht, trank nicht, rauchte nicht, sondern war mäßig und nüchtern, in seinen Bedürfnissen einfach und sparsam, ordnungsliebend bis zur Pedanterie, robust und abgehärtet. Die Dienerschaft murrte über die etwas knappe Hofhaltung und er paßte ihr genau auf die Finger, ließ es aber nie am Nothwendigen fehlen und entfaltete Gästen gegenüber Fülle und Pracht. Neben Theater und Parade bestand seine Hauptpassion in der Jagd, wo er in der Ausdauer, Gewandtheit und im Ertragen von Strapazen Allen voranging. Selbst bei empfindlicher Kälte erschien er ohne Mantel und zwang dadurch auch seine Gefährten und Officiere, dieses oft sehr erwünschte Kleidungsstück zu Hause zu lassen. Vom Theater liebte er hauptsächlich Opern und Possen, im Heere hübsche, kräftige Gestalten, weshalb man auch in der kurhessischen Armee so viele junge und schöne Officiere antrifft. Er kümmerte sich um Alles und mischte sich in Alles. Ohne seinen Befehl durfte in den Schlössern kein Stuhl gerückt, kein Bild umgehangen werden. Fand er seine Zwiebacke zu stark oder zu wenig geröstet, so schickte er einen Armeegensd’armen zum Bäckermeister in die Stadt und ließ das rügen. Einen Tapezirergehülfen befahl er sofort zu entlassen, weil der junge Mensch blasses Gesicht und rothe Haare hatte, was er nicht leiden mochte. Auf einem Spaziergange bemerkte er über dem Laden eines jüdischen Kaufmanns die Aufschrift: „Wallach, kurfürstlicher Hoflieferant“. „Jude hinten!“ befahl er, und schon am andern Tage las man: „Kurfürstlicher Hoflieferant Wallach“.

Der Kurfürst verarbeitete in Worten, mit Hand und Fuß seine ganze Umgebung: Frau, Kinder, Hofleute, Minister und Diener, unter vier Augen und öffentlich. Den Hofmarschall v. H. klemmte er buchstäblich zwischen Thür und Angel, so daß der Mann halb todt aus dem Palais nach seinem Hause getragen wurde. Selbst bei guter Laune waren Schimpfwörter, die wir hier nicht wiederholen mögen, seine Lieblingsausdrücke. So ertappte er den Major v. H. auf einem Pfade in den Anlagen um Wilhelmshöhe, die er für seine Person sich reservirt hatte, und rief gutmüthig: „H., dicker Schw… Gern verbotene Wege gehn!“ Die meisten seiner Diener und Höflinge ertrugen diese schmachvolle Behandlung mit unbegreiflicher Unterwürfigkeit; sie ließen sich schlagen, stoßen, treten und kamen wieder heran, sobald er ihnen rief. Nur wenige wagten ihm Widerstand zu leisten und ihre Manneswürde zu wahren; vor solchen hatte er Respect, aber er haßte und verabschiedete sie [695] bald. Zu diesen Wenigen gehören die Räthe Wigand, Mittler, von Stiernberg und der Kriegsminister von Ende, welcher, als der Kurfürst sich für Oesterreich entschied, dem General von Meyerfeld weichen mußte. Stirnberg trat einst in das Cabinet des Kurfürsten, und ihm ein Papier vorlegend, fragte er ihn in Gegenwart des Leibarztes ganz kategorisch: „Wollen königliche Hoheit nun unterschreiben oder nicht?“ Der sonst so ungebehrdige Monarch schien ganz verdutzt, ergriff gehorsam die Feder und unterzeichnete. Erst nachdem Stiernberg hinausgegangen, erholte er sich und brummte: „Grober Kerl, dieser Stiernberg!“ Aber auch Stiernberg erhielt mit den übrigen Ministern seine Entlassung, als der Kurfürst plötzlich die Concessionirung der Dienstmänner, welche er wegen ihrer blauen Blousen und rothen Mützen „Freischärler“ nannte, zu einer Cabinetsfrage machte. Später wieder zurückgerufen, war Stiernberg vielleicht der Einzige, der je solchem Ruf nicht Folge leistete.

Zuweilen stieß der Kurfürst auch in niedrigern Regionen auf ähnlichen und nicht immer auf passiven Wiederstand, was die vielbesprochene Geschichte mit dem Tapezirer Briggel lehrt. Dieser arbeitete im Palais, als der Kurfürst hinzukam, die Arbeit tadelte und schließlich den Stock erhob. Allein der unerschrockene Meister schwang drohend seinen Hammer und schwur Jedem, der ihn zu berühren wage, das Gehirn einzuschlagen. Darauf wollte es der Kurfürst nicht ankommen lassen; er nahm klüglich den Rückzug, und der Muth des ehrlichen Mannes imponirte ihm dermaßen, daß er ihn nach wie vor beschäftigte. Nur fanden seine Arbeiten fortan keine Gnade vor den Augen des Monarchen, der sie in der Regel mit diesen Worten abfertigte: „Ah, Briggel gemacht! Schlecht ist!!“

Von seiner Würde und erlauchten Abkunft war der Kurfürst innig durchdrungen und ungemein stolz darauf. Auch in den allerletzten Aeußerlichkeiten wollte er sich von Jedermann im Lande unterscheiden, und Niemand durfte ihm das Geringste nachmachen. Er allein fuhr sechsspännig mit einem Vorreiter, die Fürstin nur vierspännig, die Prinzen und Prinzessinnen in der Regel zweispännig. Wollte Jemand eine sechsspännige Extrapost haben, so mußten die Pferde wie Gänse in einer Reihe hintereinander vorgespannt werden. Als der Kurfürst einst bemerkte, daß die Droschkenkutscher um ihre Hüte ähnliche Tressen trugen wie seine Lakaien, mußte der Polizeidirector solche sofort entfernen lassen. Des Kurfürsten Hartnäckigkeit ist sprüchwörtlich geworden. Was er einmal angeordnet, nahm er auch dann nicht zurück, wenn er die Widersinnigkeit seines Befehls erkannt hatte; er glaubte sonst seinem fürstlichen Worte etwas zu vergeben. Noch in der Gefangenschaft auf dem Schlosse zu Stettin ließ ihm der König von Preußen die Rückkehr auf den Thron anbieten, falls er sich von dem Bündniß mit Oesterreich lossage. Aber sein Adjutant von Verschuer rief: „Bedenken königliche Hoheit: Ein Mann, ein Wort! Wie viel mehr das Wort eines Fürsten!“ Und der Kurfürst wies starr auch diesmal die ihm gebotene Hand zurück.

Der Kurfürst liebte seine Kinder und sparte für sie. Der Kummer seines Lebens war, daß sie ihm nicht ebenbürtig waren. Trotzdem hatte er sich um ihre Erziehung und Ausbildung wenig bekümmert; erst nachdem sie erwachsen und theilweise bereits verheirathet, begann er sie in strenge Zucht und Aufsicht zu nehmen. Die Söhne, schon Officiere, mußten, wenn sie ausfahren, ausreiten oder auf die Jagd gehen wollten, jedesmal die väterliche Erlaubniß einholen. Am Theetische saßen sie mit dem Helm zwischen den Knieen, steif und schweigend; sie durften nicht eher sprechen oder lachen, als bis es der Vater that. Mit dem Taschengelde wurden sie knapp gehalten, aber sie hatten kostspielige Bedürfnisse und machten deshalb Schulden. Einer der Prinzen saß anderthalb Jahr im Schuldthurme zu Frankfurt, in der sogenannten „Mehlwage“, bis sich der Kurfürst endlich erweichen und ihn auslösen ließ. Der damit beauftragte Hofrath Str. sollte den Prinzen mit der Eisenbahn nach Hanau, von hier in einem geschlossenen Wagen nach der Stammfeste Rumpenheim bringen. Der Hofrath ließ seinen Gefangenen in den Wagen steigen, begleitete ihn aber nicht, sondern kehrte mit dem nächsten Zuge nach Frankfurt zurück, wo er das Theater besuchte. Wie er aufblickt, entdeckt er in einer Loge des ersten Ranges den Prinzen, der denselben Zug benutzt hatte. Voll Entsetzen eilt er zu ihm hinauf und beschwört ihn, ihm an den Ort seiner Verbannung zu folgen, doch der Prinz lacht ihn aus und bleibt guter Dinge in Frankfurt. Der Kurfürst aber nimmt die Meldung seines Abgesandten mit einer Fluth von Püffen entgegen.

Die Fürstin sparte gleichfalls so viel Geld als möglich zusammen und ließ sich ein Grundstück und eine Besitzung nach der andern verschreiben, aber sie gab nur ihren Kindern erster Ehe. – „Deine Kinder, Deine Sache!“ pflegte sie, den Kurfürsten copirend, zu, diesem zu sagen und ihm die Wechsel der Prinzen hinzuschieben. Einer der letzteren wußte sie aber doch zu überlisten, indem er auf seine Mutter hohe Wechsel unter der Firma zog: „Frau Lehmann, jetzige Gemahlin des Kurfürsten von Hessen“; welche die Fürstin, als sie ihr präsentirt wurden, sofort einlöste.

Diese Frau gilt für den bösen Dämon des Kurfürsten und auf ihr ruht der Haß des ganzen Landes. Wahrscheinlich thut man ihr unrecht, wenn man ihr alles Unheil zuschreibt, das unter der Regierung ihres Gemahls geschehen ist. Allerdings übte sie großen Einfluß auf ihn, aber neben ihr noch viele Andere, und zuletzt war der Kurfürst unberechenbar, denn er folgte oft allem Rath entgegen seinen Einfällen und Launen. Thatsächlich ist es jedoch, daß er, von ihr getrennt, sich stets weit milder und generöser zeigte.

Der letzte Act dieser Tragikomödie der Regierung des Kurfürsten spielt auf Wilhelmshöhe, das bekanntermaßen nur eine Stunde von Cassel gelegen und eins der schönsten und prächtigsten Lustschlösser in Europa ist. Dort hatte der bethörte Fürst die letzten Tage seiner Regierung verlebt, dorthin hatte er sich zurückgezogen, nachdem er sein Heer nach Mainz, seine Gemahlin nach Frankfurt geschickt; dort erwartete er mit zäher, einer bessern Sache würdiger Standhaftigkeit den Anmarsch der Preußen, die ihn nicht lange warten ließen und nun durch vier Tage hart bedrängten, eng einschlossen.

Es zog mich, diesen historisch gewordenen Ort wiederzusehen, und die Eisenbahn führte mich schnell hinaus. Aber wie im Märchen glaubte ich auf ein verwunschenes Schloß zu stoßen: tiefe Stille im Innern und ringsumher. Mit Mühe entdeckte ich den Castellan, der mich durch die endlosen Zimmerreihen führte, wobei er viele meiner Fragen überhörte, andere mir einsilbig und widerwillig beantwortete. Der Ahnensaal des Schlosses bildet eine Rotunde mit kuppelförmigem Dache und enthält in einer fortlaufenden Reihe von Wandgemälden die Bildnisse der hessischen Herrscher, von Ludwig dem Ersten, dem Kind von Brabant, bis auf Wilhelm den Zweiten, den Vater des letzten Kurfürsten. Für diesen ist merkwürdigerweise gerade noch ein Feld übrig.

Der Castellan wußte von seinem gewesenen Herrn nur Liebes und Gutes zu berichten. Er rühmte seine Einfachheit, Ordnungsliebe, Thätigkeit, Herablassung gegen den gemeinen Mann und Wohlthätigkeit gegen die Armen. Er bedauerte schmerzlich den Fortgang des Fürsten, der ihm, wenn er während des Sommers hier residirte, täglich eine Flasche Wein und Speisen von seiner Tafel reichen zu lassen pflegte. Ich suchte ihn durch ein Trinkgeld und die Prophezeiung zu trösten, daß ihm dergleichen nunmehr in Menge von allen Fremden zufließen würde, die gleich mir kämen, um das Schloß zu durchwandern, was bisher nicht gestattet war. Er glaubte mir, denn er lächelte, und so ging ich nach dem nahen Gasthofe, wo mich der Kellner zu der Bank am Rande des Parks führte, auf welcher der Kurfürst an heitern Abenden gesessen und nach den grünen Bergen gesehen. Auch des Kellners Sympathien waren bei dem Exmonarchen; er betheuerte, daß er als Kurhesse leben und sterben und sich für seine Person nicht annectiren lassen wolle, ob auch der König von Preußen seine ganze Armee gegen ihn schicke. Ferner zeigte er mir den Pavillon, wo die Preußen sich einquartiert und aus des Kurfürsten Keller redlich gezecht, seine Cigarren geraucht und auf seinen Betten geschlafen hätten. Endlich beschrieb er mir die dichte Postenkette, welche sie im engen Kreise um das Schloß gezogen, und die nächtlichen Wachtfeuer, um die sie gelagert.

„Der Hauptmann Lettow, welcher die Preußen commandirte, war gar streng,“ sagte der Kellner. „Er ließ jedes Mannsbild, das aus oder ein wollte, genau durchsuchen, aber bei den Weibern genirte er sich doch. Wenn die kurfürstlichen Wagen um Lebensmittel in die Stadt fuhren, begleitete sie stets ein Soldat; und ein Officier die Schweizergardisten, wenn diese aus der kurfürstlichen Küche ihr Essen holten. Königliche Hoheit selbst durften nicht einmal bis an die Thür treten.“

„Unsinn,“ entgegnete mein Gastfreund, der mich auch hierher [696] begleitet und den Kellner jetzt verabschiedete, „Unsinn! Der Kurfürst wollte natürlich nicht hinausgehen, sonst würde ihn Niemand daran gehindert haben. Jene strenge Durchsuchung aller Passanten war aber nothwendig, weil man wohl nicht mit Unrecht fürchtete, daß der österreichische Gesandte dem Kurfürsten noch immer Depeschen zugehen lasse. Daher zerbröckelte man auch die Zwiebacke des alten Herrn, was diesem besonders nahe ging. ‚Altes Brod essen!‘ soll er gebrummt haben, und als der Hofgärtner ihm sein Bedenken wegen der Wachtfeuer meldete, die leicht den Park in Brand setzen könnten, erwiderte er in klagendem Tone: ‚Schlimme Zeit, schlimme Zeit jetzt! Machen mir noch Feuer unterm Fenster an.‘“

Sonnabend am 23. Juni Abends acht Uhr erfolgte die Wegführung des Kurfürsten. An der Eisenbahnstation Grebenstein hatte sich eine Menge Casselaner und Bewohner der Umgegend eingefunden, die ihrem bisherigen Landesherrn in stummer Wehmuth das Abschiedsgeleite gaben. Bei ihrem Anblick mag sich des Kurfürsten eine Zerknirschung bemächtigt haben; er sprach zu seinem Adjutanten: „Braves Volk doch, treue Hessen!“

„In der That, ein seltenes Volk!“ bemerkte ich; „ein Volk, das dem Sturz seines sehr eigenwilligen Herrschers treues Mitleid zollt und von ihm nur mit Schonung und Pietät spricht. Ein treues und durch und durch wackeres Volk, das uns Preußen an Intelligenz gleichsteht, an Opfermuth und Ausdauer uns vielleicht überragt!“




Blätter und Blüthen.


Der Heimkehr der Krieger haben wir in dieser Nummer der Gartenlaube zwei Illustrationen gewidmet, die jeder Kunst- und Vaterlandsfreund als einen Schmuck von dauerndem Werthe anerkennen wird. Die eine bringt den Triumph einer weltgeschichtlichen That zur Anschauung, die andere verherrlicht einen unvergeßlichen Augenblick aus dem vom großen Sturm des Jahres hochbewegten Leben des Volks.

Der Einzug der Truppen in die Residenz ist ein Geschichtsbild, welches das Interesse in hohem Grade in Anspruch nimmt. Es ist gleich vorzüglich durch die Composition, die trefflich und klar die Hauptpersonen des welthistorischen Ereignisses in ihren verschiedenen Beziehungen zur Siegesfeier gruppirt, wie durch die außerordentliche Treue der Portraits. Einer Schilderung des Einzugs und des hier aufgefaßten Moments bedürfen unsere Leser, denen die Tagespresse sie längst geboten, ebensowenig, als sie eine solche von uns erwarten, da sie ja wissen, wie spät wir, bei der mehrwöchentlichen Herstellungszeit jeder Nummer unseres Blattes, damit in die Oeffentlichkeit kommen würden.

Unsere zweite Illustration, der Einzug der Landwehr in die Heimath, spricht vom höchsten Hausgiebel bis zum untersten Straßenstein so wahrheits-, gemüths- und lebensvoll für sich, daß nur der immer neue Reiz des Anblicks dieser volkdurchwogten Jubelstadt uns dazu verlockt, einige Worte darüber zu äußern. Zunächst möchtet Ihr, freundliche Leser, wohl gern wissen, wo Ihr die alterthümliche Stadt dieser Volksfeier zu suchen habt? Sollte der kühne Holzbau der Häuser, die Tracht der Frauen des Volks und der Bergknappe nicht genügend andeuten, daß sie in Nordthüringen und der Harz in ihrer Nähe sein muß? So suchet, Ihr werdet sie finden. Für unsern Einzugsjubel selbst aber bedürfen wir nur einer Ueberschrift, und die ist: „Sie haben sich wieder!“ Seht nur, wie die junge Gattin sich an den wiedergefundenen Gatten anschmiegt, wie die Braut am Hals des Geliebten hängt, mit welchem Jubelstolz der Knabe des Vaters Tornister und Mantel trägt, und wie Alles, Alles grüßt, Blick und Wort, Hand und Mund, das wehende Tuch und der fliegende Blumenstrauß! – Wie, vom blutigen Schlachtfeld heim – und nur Freude? – Ist Niemand zu beklagen, wo Tausende Willkommen rufen? Ja, der Künstler hat auch der Trauer ihr Recht gewahrt, – aber der Schmerz verbirgt sich vor der lauttobenden Lust, und um so tiefer greift in die Seele der Anblick des im Winkel weinenden Weibes mit der schlummernden Waise an der gramvollen Brust! Mögen die Walter des Siegs nicht vergessen, was sie so großem Schmerz in tausend Volksherzen schuldig geworden sind!




Verspätete Rache. Jean Paul sagt irgendwo in seinen Werken „Wenn die Frauenzimmer Officiere werden könnten und den Soldaten ‚Halt!‘ commandiren sollten, so würden sie dies in folgender Weise thun: ‚Ihr Soldaten alle, jetzt paßt auf, ich befehle Euch, daß Ihr, sobald ich gesprochen habe, still steht, jeder auf dem Fleck, wo er eben steht; versteht Ihr mich? Halt! sage ich Euch Allen.‘“ Diese Stelle kam einer amerikanischen Dame zu Ohren und sie erboste sich dermaßen darüber, daß sie im Wahne, Jean Paul sei noch am Leben, sich flugs hinsetzte und einen kleinen Artikel für eine der gelesensten amerikanischen Zeitungen schrieb, in welchem sie sich folgendermaßen ausläßt:

„Mr. Jean, ich kann Ihnen nur sagen, es war ein unglücklicher Tag, als Sie diesen Satz niederschrieben. Mögen Sie dafür einsam, ohne ein liebendes Weib an der Hand zu halten, durch’s Leben stolpern; mögen Ihre Knöpfe stets locker, Ihre Bänder verknüpft und Ihre Strümpfe zerrissen sein! Möge Ihr Stiefelknecht niemals zu finden und Ihre Füße stets voller Hühneraugen, Ihr Rasirwasser immer kalt und Ihr Messer stumpf sein! Möge Ihr Haar allezeit wirr emporstehen und Ihre Halskragen sich lappig niederlegen; möge Ihr Kinnbart gleich den Stacheln eines Stachelschweins, Ihr Backenbart dünn gesäet und Ihr Schnurrbart auf die verkehrte Seite gedreht sein! Möge Ihr Kaffee salzig, Ihre Suppe angebrannt und Ihr Thee wässerig sein; mögen Sie vom Paradiese träumen und in der Hölle erwachen! Und mögen Sie mit einer nimmer ruhenden Sehnsucht nach Liebe im Herzen als ein elender, schmutziger, zerlumpter, ruheloser, lächerlicher, trübseliger und armseliger alter Junggeselle durch das Dasein kriechen. Amen!“

Wie würde sich Jean Paul amüsirt haben, wenn er diese Verwünschungen vernommen hätte, welche die erzürnte Dame auf sein Haupt herabbeschwört und gegen die des „Sängers Fluch“ noch gar nichts ist! Schade, daß wir den Namen und die Adresse der Rächerin nicht kennen, um ihr mitzutheilen, was für ein schönes, friedliches Dasein Jean Paul an der Seite einer geistvollen, liebenden Gattin führte und wie er noch im späteren Lebensalter von der Damenwelt in Deutschland vergöttert wurde!




Kleiner Briefkasten.

A. Kunzé in Paris, Rue des Ecoles Nr. 80. Unsere Sammlung für die Verwundeten und Invaliden wird unter Preußen, Sachsen und Oesterreicher vertheilt.

B. G. in Wallendorf, W. H. in Weimar, E. W. in Wurzen. Der Brief an eine Gläubige hat, wie auch die Unterschrift E. K. andeutet den Herausgeber der Gartenlaube zum Verfasser.




Für die Verwundeten und Hinterlassenen der Gefallenen

gingen wieder ein: Der Männergesangverein in Bückeburg 4 Thlr. – H–l in Leipzig 10 Thlr. – J. M. in Winsen a. d. L. 5 Thlr. – Von der Gesellschaft „Gemeinde“ in Saalfeld durch A. Hercher 8 Thlr. 8 Ngr. 5 Pf. – Von W. Groos und W. Behrens in Pforzheim für „Preußens Kämpfer für die deutsche Einheit“ 4 Thlr. u. bez. 5 Thlr. – E. H. in Wiesbaden 5 Thlr. – Kiesewetter in Saratow 25 Rubel – Von Peter Diemer in Cleveland 5 Dollars Papier = 3 Thlr. 23 Ngr. – Von einem Mädchen aus Leipzig, dem Gott den Geliebten gesund und wohlbehalten zurückgeführt hat, 1 Thlr. – Der deutsche Verein in Woolwich (England) 17 Thlr. – Von einigen jungen Mädchen in Dämitz 6 Thlr. – Von den Schulkindern zu Mosen, einges. von Lehrer Schurz 1 Thlr. 15 Sgr. – Gesellschaft Sanssouci in Leipzig 5 Thlr. – E. H. und J. K. in Sachsendorf 2 Thlr. – P. N. in C. 1 Thlr. – Wittwe Th. J. „für sächsische Krieger“ 1 Thlr. – Im Rathskeller in Stollberg ges. 20 Ngr. – Aus drei Kinder-Sparbüchsen in Mühltroff 3 Thlr. und von A. D. daselbst 7 Thlr. – Geschwister W. in Leisnig 3 Thlr. – Ertragantheil eines vom Musik- und Sängerverein in Meerane veranstalteten Concerts 10 Thlr. – Ertragantheil eines vom Kirchengesangverein veranstalteten Concerts in Neudietendorf 15 Thlr. – F. J. in Lievland (v. Kymmel’s Buchhdlg. in Riga) 2 Rubel = 1 Thlr. 20 Ngr. – Von Victoria und Alma aus Wernshausen 4 Thlr. – Von sächsischen, preußischen und bairischen Buchhandlungsgehülfen in Hannover 4 Thlr. – Von vier jungen Mädchen in B. 5 Thlr. – O. in Triptis 1 Thlr. – Mit Postzeichen Teterow 7 Thlr. – Von den Stammgästen auf der Fasanerie bei Schwarzburg 12 Thlr. – Aus Kopenhagen von: „Zwei Herzen, die am fernen Ostseestrand – Warm schlagen für ihr deutsches Vaterland“ 20 Thlr. dänisch = 14 Thlr. 10 Ngr. – Von A. Sauber in Halmstad in Schweden 10 Reichsthaler = 7 Thlr. 5 Ngr. – Von Dr. Kittlitz in Neapel 1 Thlr. 10 Ngr. – Postzeichen Salzungen 4 Thlr. – Von „Burg Zion“ 5 Thlr. – Gesellschaft Thalia in Neustadt a. O. 40 Thlr. – Von einem Brautpaar in Butzbach in Hessen 10 fl. rhein. – Von Deutschen und Schweizern in Chur (zweite Sendung) 158 Frcs. 25 Cent. – A. J. und M. Resroth in Höllenhammer 10 fl. rhein. und R. Hartmann daselbst 1 fl. 45 kr. – R. F. G., erspartes Salair eines Commis 15 Thlr. – Von einer Abonnentin aus Wien 1 Thlr. – J K. aus Weida 10 Thlr. – Betrag einer Familienspielcasse in Antwerpen 16 Thlr. – Ein Ungenannter aus Bamberg 200 Thlr. Ihren Wünschen sind wir mit vieler Freude nachgekommen. Ihre reiche Sendung ist unter schwerverwundete Oesterreicher, Preußen und Sachsen vertheilt worden, die dem unbekannten Wohlthäter die herzlichsten Dankesworte senden.

     Ferner an Schmuckgegenständen:

C. und F. B. aus Würzburg: drei goldene Armbänder, eine goldene Brosche und ein Paar goldene Ohrringe. – Von einem Mädchen aus Wurzen ein Thaler und ein goldener Ring. – Ein goldener Ring: „Der Himmel erhalte uns Frieden“. – Aus Dresden: eine goldene Kette mit Brosche, angeblicher Werth 20 Thlr. – „Den Erlös dieser Gabe widme ich einem armen Oesterreicher oder dessen Hinterbliebenen“. – Ein Briefbeschwerer, aus vier Granatsplittern (bei Dermbach gefunden) zusammengesetzt. (Schwer zu verwerthen.)
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jules Michelet (1798–1874)
  2. Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876)
  3. Infusorien oder Aufgusstierchen: Sich im Aufguss von pflanzlichem Material entwickelnde Tierchen (z. B. Flagellaten, Wimpertierchen, Amöben)
  4. vergleiche: cartesianischer Teufel
  5. Pedanios Dioscurides (1. Jahrhundert)
  6. Guillaume-Benjamin Duchenne (1806–1875)
  7. Vorlage: Feitz
  8. Nach Signatur C. E. (Carl Emil) Döpler, siehe Die_Gartenlaube/Illustratoren#D.