Die Gartenlaube (1867)/Heft 36
Der Professor sah der Regierungsräthin mit einem entschiedenen Ausdruck von lächelndem Hohn und tiefer Verachtung nach; dann betrachtete er einen Moment das plumpe Aeußere des Buches, während Felicitas’ Blick in namenloser Angst an den Fingern hing, die sich zwischen die Blätter legten und sie jeden Augenblick aufschlagen konnten. Ein Gemisch von sorgenvollem Sinnen und peinlicher Spannung lag in seinen Zügen – die letzten verhängnißvollen Worte der Regierungsräthin hatten ihn nicht eigentlich frappirt, er hatte offenbar diese Entwicklung des widerwärtigen Vorganges vermuthet; es handelte sich für ihn jedenfalls nur noch darum, welcher Art die geweissagte Schande sei. … Plötzlich sah er auf und in die flehenden braunen Augen des jungen Mädchens – welche Gewalt hatten doch diese Augen über den strengen Mann! Es war, als striche sofort eine sanfte Hand glättend über die finster gerunzelte Stirn, und um die Lippen zuckte es wie ein halbes Lächeln.
„Und nun werde ich auch über Sie Gericht halten!“ hob er an. „Sie haben mich schmählich hintergangen. Während Sie mir da droben mit einer Aufrichtigkeit gegenüberstehen, auf die ich hätte schwören wollen, tragen Sie ein Hellwig’sches Familiengeheimniß in der Tasche! … Was soll ich von Ihnen denken, Fee? … Sie können diese abscheuliche Falschheit nur wieder gut machen, wenn Sie ohne Rückhalt meine Fragen beantworten.“
„Ich will Alles sagen, was ich darf, aber dann bitte ich Sie, ach, ich bitte Sie inständigst, geben Sie mir das Buch zurück!“
„Ist das wirklich meine stolze, trotzige, unbeugsame Fee, die so süß bitten kann?“
Bei diesen Worten des Professors entfernte sich Heinrich unbemerkt und wohlweislich, aber er setzte sich wie zum Tod erschrocken auf die erste Treppenstufe nieder und griff an seinen grauen Kopf, ob er nach dem Gehörten wirklich noch an der alten Stelle sitze.
„Sie sind also heute lediglich in die Mansardenwohnung eingedrungen, um dies Buch zu holen?“ inquirirte der Professor.
„Ja.“
„Auf welchem Wege? – Ich fand alle Thüren fest verschlossen.“
„Ich bin über die Dächer gegangen,“ versetzte sie zögernd.
„Das heißt, durch die Bodenräume?“
Sie wurde dunkelroth. War sie auch befreit von dem Verdacht einer gemeinen Handlung, so trug dieselbe immerhin das tadelnswerthe Gepräge des Einbruchs.
„Nein,“ sagte sie gedrückt, „durch die Bodenräume führt kein Weg, ich bin aus einem der gegenüberliegenden Mansardenfenster gestiegen und über die Dächer gegangen.“
„Bei diesem furchtbaren Sturm?“ fuhr er erbleichend auf. „Felicitas, Sie sind entsetzlich in Ihren Consequenzen!“
„Es blieb mir keine Wahl!“ erwiderte sie bitter lächelnd.
„Und warum suchten Sie um jeden Preis in den Besitz des Buches zu gelangen?“
„Ich betrachtete es als ein heiliges Vermächtniß meiner Tante Cordula. Sie hatte mir gesagt, der kleine, graue Kasten – seinen Inhalt kannte ich nicht – müsse vor ihr sterben. Der Tod überraschte sie, und ich hatte die feste Ueberzeugung, daß der Kasten nicht vernichtet sei; zudem stand er in dem Geheimfach, welches das sämmtliche Silberzeug enthält, ich konnte dieses Versteck nicht angeben, ohne das Buch unbefugten Händen mit zu überliefern.“
„Armes, armes Kind, wie mögen Sie sich geängstigt haben! … Und nun ist all diese heroische Selbstverleugnung umsonst gewesen, das Buch ist doch in ‚unbefugten Händen‘!“
„O nein, Sie werden es mir zurückgeben!“ bat sie in Todesangst.
„Felicitas,“ sagte er ernst und gebieterisch, „Sie werden mir jetzt streng der Wahrheit gemäß zwei Fragen beantworten: Kennen Sie den Inhalt genau?“
„Zum Theil, seit heute.“
„Und compromittirt er Ihre alte Freundin?“
Sie schwieg unschlüssig. Vielleicht gab er ihr bei Bejahung dieser Frage das Buch behufs der Vernichtung zurück, aber dann beschimpfte sie Tante Cordula’s Andenken und bestätigte die abscheulichen Gerüchte von ihrer vermeintlichen Schuld.
„Es ist Ihrer unwürdig, daß Sie auf Ausflüchte sinnen, mag Ihre Absicht auch noch so gut und rein sein!“ unterbrach er das momentane Schweigen streng. „Sagen Sie einfach Ja oder Nein!“
„Nein.“
„Ich wußte es,“ murmelte er. „Und nun seien Sie verständig,“ mahnte er, „und fügen Sie sich in das Unabänderliche, ich werde das Buch lesen!“
Sie wurde blaß wie der Tod, aber auf’s Bitten verlegte sie sich nicht mehr. „Thun Sie das, wenn es sich mit Ihrer Ehre verträgt!“ stieß sie hervor; „Sie legen Hand an ein Geheimniß, das Sie nicht wissen sollen… In dem Augenblick, wo Sie das Buch aufschlagen, nehmen Sie den furchtbarsten, fortgesetzten Opfern eines ganzen Frauenlebens allen Werth!“
[562] „Sie kämpfen tapfer, Felicitas,“ entgegnete er ruhig, „und wären die letzten Worte nicht, die jene Frau –“ er deutete; nach der Richtung, wo die Regierungsräthin verschwunden war, „in ihrer Raserei mir hingeworfen hat, so gäbe ich Ihnen das schlimme Geheimniß unbesehen zurück. So aber will und muß ich die Schande kennen, die auf meinem Namen liegt, und ist die arme Einsame in der Mansarde stark genug gewesen, sie vor fremden Augen zu hüten, so werde ich wohl auch die Kraft finden, sie zu ertragen… Ich bin doppelt gezwungen, der Sache auf den Grund zugehen. Die Linie Hellwig am Rhein ist offenbar im Mitbesitz des Geheimnisses und möglicherweise an irgend einer Büberei betheiligt – wenn Sie auch schweigen und die Augen niederschlagen, ich sehe doch deutlich an Ihrem Gesicht, daß ich richtig vermuthe – meine Cousine wußte ohne Zweifel um die Familienschande und war nur entsetzt, sie plötzlich niedergeschrieben zu finden… ich werde mit diesen Hehlern abrechnen! … Trösten Sie sich, Fee!“ fuhr er weich und zärtlich fort, und strich sanft mit der Hand über den Scheitel des jungen Mädchens, das in stummer Verzweiflung vor ihm stand. „Ich kann nicht anders handeln, und wenn mir als Preis die Versicherung geboten würde, daß Sie sofort die Meine werden wollten – ich müßte ‚Nein‘ sagen!“
„Ich kann mich nie wieder beruhigen,“ rief sie in ausbrechender Klage, „denn ich habe Sie unglücklich gemacht durch meine Unvorsichtigkeit!“
„Sie werden ruhig werden,“ sagte er ernst und nachdrücklich, „wenn Sie einsehen lernen, daß Ihre Liebe mir Alles überwinden hilft, was das Leben Schweres auf meinen Weg wirft.“
Er drückte ihre kleine, eiskalte Hand und ging in sein Zimmer. Felicitas aber preßte die heiße Stirn an das Fensterkreuz und starrte hinab in den Vorderhof, wo ein furchtbarer Gewitterregen mit solchem Ungestüm niederprasselte, als gelte es, das Blut des gemordeten Adrian Hirschsprung von den Steinplatten wegzuwaschen, und mit ihm den Schandflecken, der auf dem Namen Hellwig lastete.
Eine Stunde später trat der Professor in das Wohnzimmer seiner Mutter. Seine Hautfarbe war um einen Hauch bleicher als gewöhnlich; aber Gesichtsausdruck und Haltung ließen mehr als je die männliche Entschiedenheit und moralische Kraft hervortreten, die seine äußere Erscheinung zu einer bedeutenden machten.
Frau Hellwig saß hinter ihrem Asklepiasstock und strickte. Masche um Masche wurden unter diesen fleischigen, weißen Händen zu Sprossen einer Leiter, die schnurstracks zum Himmel emporstieg – denn es war ein Missionsstrumpf, an welchem die große Frau strickte.
Der Professor legte ein aufgeschlagenes kleines Buch auf das Tischchen, hinter welchem sie saß.
„Ich habe in einer sehr ernsten Angelegenheit mit Dir zu reden, Mutter,“ sagte er, „zuvor aber muß ich Dich bitten, einen Blick in diese Blätter zu werfen.“
Sie legte erstaunt den Strickstrumpf hin, setzte die Brille auf und nahm das Buch. „Ei, das sind ja der alten Cordula ihre Kritzeleien!“ meinte sie unwirsch, aber sie fing an zu lesen.
Der Professor legte die linke Hand auf den Rücken, ließ die rechte unablässig über den Bart gleiten und ging schweigend im Zimmer auf und ab.
„Ich sehe nicht ein, inwiefern mich die kindische Liebesgeschichte mit dem Schusterjungen interessiren soll!“ rief die große Frau unwillig, nachdem sie zwei Seiten überlesen hatte. „Wie kommst Du denn auf die Idee, mir die alte Scharteke zu bringen, die nur die ganze Stube verpestet mit ihrem Modergeruch?“
„Ich bitte Dich, lies weiter, Mutter!“ rief der Professor ungeduldig. „Du wirst sehr bald den Modergeruch vergessen über anderen schlimmen Seiten, die das Buch hat.“
Sie nahm es mit sichtbarem Widerwillen auf und überschlug einige Blätter. Aber allmählich kam Spannung in dies Steingesicht; die knisternden Blätter flogen immer rascher durch ihre Finger. Ein feines Roth trat in die weißen Wangen, es lief über die Stirn und wurde plötzlich zu Purpur. … Merkwürdiger Weise jedoch war es weder ein eigentlicher Schrecken, noch gar Entsetzen, was die Frau erfaßte – mit einem maßlosen Erstaunen, in das sich sehr bald ein unsäglicher Hohn mischte, ließ sie das Buch in den Schooß sinken.
„Das sind ja merkwürdige Dinge! Ei sieh da, wer hätte das gedacht! Die ehrenhafte, hochangesehene Familie Hellwig!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend – in ihrer Stimme stritten Haß, Triumph und gesättigte Bosheit. – „Also die Geldsäcke, auf denen die stolze Frau Commerzienräthin, meine Frau Schwiegermutter, stand, waren zum Theil gestohlen! … Ei, ei, da rauschte man in Sammet und Seide daher – da gab man Feste, wo der Champagner in Strömen floß und wo man sich von den Schmarotzern eine schöne und geistreiche Frau nennen ließ! … Und ich, ich mußte diese jubilirenden Gäste bedienen – Niemand beachtete neben der leichtfertigen, üppigen Frau die arme, junges Verwandte, die in ihrer Tugend und Gottesfurcht hoch stand über den sündhaften, elenden Schwelgern. … Da hab’ ich oft die Zähne zusammengebissen und im Herzen zu meinem Gott gebetet, er möge dieses verruchte Treiben strafen nach seiner Gerechtigkeit! … Er hatte bereits gerichtet. … O, wie wunderbar sind seine Wege! – Es war gestohlenes Geld, das sie verpraßten – ihre Seelen sind zwiefach verloren!“
Der Professor war bewegungslos mitten im Zimmer stehen geblieben. Er hatte diese Art Auffassung so wenig vorausgesehen, daß er einen Augenblick fassungslos schwieg.
„Wie Du die Großmutter dafür verantwortlich machen kannst, daß sie unbewußt diese veruntreuten Gelder benutzt hat, begreife ich nicht, Mutter,“ sagte er nach einer kurzen Pause entrüstet. „Dann sind auch unsere Seelen verloren, denn wir sind bis auf den heutigen Tag im Genuß der Zinsen verblieben. … Uebrigens wirst Du bei dieser Ansicht um so mehr mit mir einverstanden sein, daß wir uns das sündhafte, unehrliche Geld so bald wie möglich vom Halse schaffen und es bei Heller und Pfennig zurückgeben.“
Vorhin, bei ihrem grenzenlosen Erstaunen war Frau Hellwig sitzen geblieben und hatte einfach ihre Hände zusammengeschlagen; jetzt stützte sie dieselben auf die Armlehnen des Stuhles und fuhr mittels eines Ruckes empor.
„Zurückgeben?“ wiederholte sie, als zweifle sie, recht gehört zu haben. „Wem denn?“
„Nun, selbstverständlich den möglicherweise existirenden Hirschsprung’schen Erben.“
„Wie, an die ersten, besten Strolche und Tagediebe, die vielleicht daher kommen und sich melden, sollten wir eine so enorme Summe hinauszahlen? … Vierzigtausend Thaler blieben ja wohl der Familie Hellwig, nachdem –“
„Ja, nachdem Paul Hellwig, der Ehrenmann, der ächte und gerechte Streiter Gottes, der unleugbare Erbe des Himmelreiches, zwanzigtausend Thaler an sich gerissen hatte!“ unterbrach sie der Professor, bebend vor Entrüstung. „Mutter, Du lässest die Seele meiner Großmutter zur Hölle fahren, weil sie unwissentlich geraubtes Geld verwendet hat – was verdient der, welcher mit teuflischer Ueberlegung und Berechnung ein Vermögen stiehlt?“
„Ja, er ist einen Moment der Versuchung erlegen,“ versetzte sie, ohne auch nur im Mindesten ihre Fassung zu verlieren. „Er war damals ein unbesonnener, junger Mensch, der den rechten Weg noch nicht gefunden hatte – der Teufel wählt ja gerade die besten und edelsten Seelen, um sie dem Reich Gottes abwendig zu machen – aber er hat sich empor gerafft aus dem Pfuhl der Sünde, und es steht geschrieben: ‚Es wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.‘ Er kämpft unermüdlich für den heiligen Glauben – das Geld ist entsühnt, geheiligt in seinen Händen; denn er benutzt es zu Gott wohlgefälligen Zwecken!“
„Wir Protestanten haben auch unseren Jesuitenorden, wie ich sehe!“ lachte der Professor in unsäglicher Bitterkeit auf.
„Genau so verhält es sich mit dem, was an unser Haus gekommen ist,“ fuhr die große Frau unerschütterlich fort. „Sieh’ Dich um, ob nicht auf Allem, was wir thun und wirken, Gottes Hand sichtbar ruht! … Klebte die Sünde noch an dem Gelde, es könnte nicht so herrliche Früchte bringen. … Wir, Du, mein Sohn, und ich, haben in Segen verwandelt, was einst Verbrechen gewesen ist, durch unsern Eifer im Dienst des Herrn, durch unsern gottseligen Wandel.“
„Ich bitte Dich, Mutter, mich lasse unerwähnt!“ unterbrach er auf’s Tiefste empört diese haarsträubende Beweisführung. Er griff mit der Hand nach der Stirn und preßte sie, als ob sie unsäglich schmerze.
[563] Ein giftiger Blick flog hinüber nach dem protestirenden Sohn, aber nichts destoweniger fuhr die große Frau mit erhöhter Stimme fort: „Wir sind nicht ermächtigt, Mittel, mit denen wir einer heiligen Sache dienen, mir nichts, dir nichts fortzuwerfen, damit sie vielleicht in weltlichen Genüssen vergeudet werden. … Das ist der Hauptgrund, aus welchem ich mich mit allen Kräften gegen ein Aufrühren dieser verschollenen Geschichte sträuben werde – der zweite ist, daß Du einen Deiner Vorfahren beschimpfst.“
„Beschimpft hat er sich selber und uns Alle mit!“ sagte der Professor rauh und finster. „Aber wir können wenigstens unsere Ehre retten, indem wir es verschmähen, die Hehler zu machen.“
Frau Hellwig verließ die Estrade und trat in ihrer ganzen Ueberlegenheit und stattlichen Würde vor ihren Sohn.
„Gut – setzen wir den Fall, ich gäbe Dir nach in dem widerwärtigen Handel,“ sagte sie kalt. „Wir nähmen also diese vierzigtausend Thaler – deren Verlust uns, nebenbei gesagt, zu einer nur mäßig bemittelten Familie machen müßte, aber sehen wir einmal auch davon gänzlich ab – also wir nähmen dies Geld und gäben es bei Heller und Pfennig zurück – wie nun, wenn die lachenden Erben auch noch die aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen forderten – was dann?“
„Ich glaube nicht, daß sie dazu berechtigt sind – wenn es aber der Fall wäre, dann müßtest Du Dich eben an das Wort ‚Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern‘.“ –
„Ich bin keine geborne Hellwig, – vergiß das nicht, mein Sohn!“ unterbrach sie ihn schneidend. „Einen völlig unbefleckten, hochangesehenen Namen habe ich mit in dies Haus gebracht – mein Vater war fürstlicher Rath – auf mich fällt die Schande mithin nicht; ebensowenig bin ich gesonnen, irgend ein pecuniäres Opfer zu bringen, um den Flecken abzuwaschen – meinst Du, ich sollte in meinen alten Tagen darben um dieser fremden Sünde willen?“
„Darben, wo Du einen Sohn hast, der im Stande ist, für Dich zu sorgen? … Mutter, glaubst Du nicht, daß ich Dir mit dem, was ich gelernt habe, ein schönes, völlig sorgenfreies Alter verschaffen kann?“
„Ich danke Dir, mein Sohn!“ sagte sie eisig. „Aber ich ziehe es doch vor, von meinen Renten zu leben und mein eigener Herr zu bleiben. Ich hasse die Abhängigkeit – seit dem Tode Deines Vaters habe ich keinen Willen gekannt, als den des Herrn, meines Gottes, und meinen eigenen – und so soll es bleiben. … Uebrigens streiten wir nicht um des Kaisers Bart! Ich erkläre Dir hiemit, daß ich diese ganze Geschichte für eine Erdichtung der hirnverbrannten Person unter dem Dache halte. – Nichts in der Welt wird mich zwingen, sie als wahr, als wirklich geschehen anzuerkennen!“
In diesem Augenblick wurde die Thür geräuschlos geöffnet, und die Regierungsräthin trat herein. Die schöne Frau hatte geweint, aber diesmal nicht als Mater dolorosa – man sah die Spuren deutlich an den gerötheten Augenlidern, und auf dem zarten Sammet der Wangen glühten dunkle Flecken. Es war unverkennbar, die Leidenschaft hatte eben noch diese Seele derb geschüttelt, wenn auch von Seiten der Dame Alles geschah, die unwiderleglichen Zeugen zu einem Gesamtbild unverschuldeten Leidens umzustempeln. – Sie hatte, um ihr sehr derangirtes Haar zu verstecken, eine weiße, duftige Tüllecharpe um den Kopf geschlungen; das ideale Haupt mit den einzelnen, dicken, blonden Locken, die sich regellos unter dem Tüllduft hervorstahlen, erhielt dadurch etwas Verklärtes. Jedenfalls hatte man versucht, den so lange festgehaltenen Nimbus des zart Mädchenhaften und der naiven Kindlichkeit einstweilen durch die unschuldig weißen Tüllwogen zu ersetzen.
Sie sah das verhängnißvolle Buch auf dem Tische liegen und zuckte zusammen. Langsam, wie eine Büßende, schritt sie auf den Professor zu und bot ihm mit schamvoll abgewandtem Gesicht die Hand – er verweigerte ihr die seinige.
„Verzeihe mir, Johannes,“ bat sie. „Ach, ich bin so ungestüm gewesen, daß ich’s vor mir selbst nicht verantworten kann! … Ich, die ich sonst so still und ruhig in meinem Gemüth bin, wie konnte ich nur so heftig werden! Aber die unselige Geschichte, sie trägt ganz allein die Schuld! … Bedenke, Johannes, mein lieber Papa ist durch das abscheuliche Buch dort compromitirt, und Dir wollte ich doch auch um jeden Preis eine niederschlagende Entdeckung ersparen. … Ich kann mir nicht helfen, aber ich muß immer denken, Caroline habe diesen entsetzlichen Zeugen aufgestöbert, nur um uns vor ihrem Weggang noch einen recht schlimmen Streich zu spielen. …“
„Hüte Deine verleumderische Zunge!“ rief er drohend und so heftig auffahrend, daß sie erschrocken schwieg. „Uebrigens will ich Dir verzeihen,“ setzte er nach einer Pause, sich mühsam beherrschend, hinzu, „aber nur unter einer Bedingung.“
Sie sah ihn fragend an.
„Daß Du mir ohne jedweden Rückhalt mittheilst, auf welche Weise Du in den Besitz des Geheimnisses gekommen bist.“
Einen Augenblick schwieg sie, dann hob sie niedergeschlagen an: „In Papa’s letzter Krankheit, die, wie Du weißt, einen tödtlichen Verlauf zu nehmen schien, forderte er mich auf, ihm verschiedene Papiere aus seinem Secretär zu bringen – ich mußte sie vor seinen Augen vernichten; es waren Hirschsprung’sche Documente, wahrscheinlich hatte er sie als Curiositäten aufbewahrt. … Machte ihn nun die scheinbare Nähe des Todes mittheilsamer, oder hatte er überhaupt das Bedürfniß, einmal über diesen Vorgang zu sprechen – genug – er weihte mich ein –“
„Und schenkte Dir ein gewisses Armband, nicht wahr?“ warf der Professor ingrimmig ein.
Sie nickte schweigend und sah flehend und hülfsbedürftig zu ihm auf.
„Hältst Du den Vorfall nach dieser Erklärung noch für die Erdichtung einer Wahnsinnigen?“ wandte sich der Professor kalt lächelnd nach seiner Mutter um.
„Ich weiß nur, daß diese Person,“ sie deutete zornbebend auf die junge Frau, „an Faselei und Unverstand Alles übertrifft, was mir bis jetzt vorgekommen ist! … Da ist aber der Eitelkeitsteufel, der läßt Einem keine Ruhe, da muß man solch’ ein seltenes Armband umlegen, das bewundern die Leute und sehen auch so nebenbei den schönen, weißen Arm!“
Die Regierungsräthin fiel aus ihrer Rolle als schmerzlich Büßende und schleuderte einen wilden Blick auf die Tante, die plötzlich eine ihrer schwächsten Seiten schonungslos an das Licht zog.
„Ich will nicht weiter erörtern, Adele, wie es Dir bei Deinem Gemüth, dessen Reinheit und Schuldlosigkeit Du bei jeder Gelegenheit betonst, möglich gewesen ist, gestohlenen Schmuck zu tragen,“ sagte der Professor scheinbar ruhig, aber in seiner Stimme grollte es dumpf, wie vor dem Ausbruch eines heranziehenden Gewitters. „Es bleibt Dir selbst überlassen, zu entscheiden, wer strafbarer ist, ob die arme Mutter, die Brod für ihre hungernden Kinder stiehlt, oder die reiche, elegante Frau, die im Wohlleben schwimmt und den Diebstahl liebevoll protegirt… Daß Du aber die Stirn haben konntest, diesen veruntreuten Schmuck mit großer Ostentation um die reine Hand des Mädchens zu legen, welches Dir Dein Kind gerettet hatte, – Du sagtest dabei ausdrücklich, das Armband sei Dir sehr werth, aber für Aennchen könntest Du das Liebste freudig opfern –; daß Du es ferner gewagt hast, im Hinblick auf die Abkunft jenes Mädchens Dich auf den hohen Standpunkt einer makellosen Abstammung zu stellen, alle Tugenden des reinen Blutes für Dich beanspruchend und sie in die Sphäre der Verdorbenheit hinabstoßend, während Du um die That Deines Vaters wußtest: das ist eine empörende Infamie, die nicht streng genug gerichtet werden kann!“
Die Regierungsräthin wankte, schloß die Augen und griff mit unsicher tappender Hand nach der Tischecke, um sich festzuhalten.
„Nun, ganz Unrecht hast Du nicht, Johannes,“ sagte die große Frau, indem sie die Wankende behufs der Erweckung derb am Arme schüttelte, ohnmächtige Frauen waren ihr ein Gräuel, „ganz Unrecht hast Du nicht, aber Dein letzter Ausspruch klingt denn doch zu stark! Eine grenzenlose Dummheit war’s freilich, allein deshalb darfst Du doch nicht vergessen, was Du Adelens Stellung schuldig bist… Der Vergleich mit der armen Frau war – nimm mir’s nicht übel – ein wenig albern… Es ist ein bedeutender Unterschied, ob man ‚herrenloses Gut‘ findet, oder mit allem Vorsatz Anderen Brod stiehlt… Aber das ist auch wieder so eine von den abscheulichen, neumodischen Ideen, daß man Vergleiche macht zwischen dem gemeinen Volk und den Höhergestellten; es befremdet mich höchlich, solche Dinge aus Deinem Munde zuhören. Ebenso ist es geradezu unverantwortlich, ein Mädchen, wie die Caroline, einer Frau von Stande in der Weise gegenüber zu stellen, solch’ eine Dirne –“
[564] „Mutter, ich habe Dir bereits heute Nachmittag im Garten erklärt, daß ich die unverzeihlichen Angriffe auf die Ehre dieses Mädchens nicht mehr dulden werde!“ rief der Professor, und die gewaltige Zornader erschien auf seiner Stirn.
„Oho, mehr Beherrschung und Achtung, mein Herr Sohn, wenn ich bitten darf! Du stehst vor Deiner Mutter!“ gebot sie, während sie abwehrend die Hand gegen ihn ausstreckte, ein vernichtender Blick zuckte aus ihren kalten, grauen Augen. „Du spielst Dich ja vortrefflich auf den Ritter dieser hergelaufenen Prinzessin; da wird mir freilich nichts Anderes übrig bleiben, als ihr auch meinen Respect zu Füßen zu legen!“
„In den Fall wirst Du allerdings kommen, Mutter,“ antwortete er mit großer Ruhe auf diesen beißenden Hohn, und seine Augen hefteten sich fest und durchdringend auf ihr Gesicht. „Du wirst ihr die Achtung und den Respect nicht versagen dürfen, denn – sie wird mein Weib werden!“
Und es geschah wirklich, das Unerhörte – das alte Kaufmannshaus blieb stehen nach dieser Erklärung; die Erde öffnete sich nicht, um die kleine Stadt sammt dem mißrathensten aller Hellwige zu verschlingen, wie die große Frau in der ersten entsetzensvollen Bestürzung vermuthete… Er selbst stand dort, kaltblütig und unerschütterlich, das Bild eines Mannes, der mit sich abgeschlossen hat, und an dem Weiberthränen, Krämpfe und Zorneswüthen machtlos abprallen, wie die Wellen am felsenharten Ufer.
Frau Hellwig war förmlich sprachlos zurückgetaumelt – die Regierungsräthin aber erwachte aus ihrer halben Ohnmacht und stieß ein hysterisches Gelächter aus. Der verklärende Schleier fiel vom Haupt herab auf den Nacken, und die zerstörten Locken, in welchen noch die halbverwelkte Purpurrose von heute Nachmittag hing, ringelten sich wie Nattern um die geröthete Stirn.
„Da hast Du Deine vielgepriesene Weisheit, Tante!“ rief sie gellend. „Jetzt triumphire ich! … Wer hat Dich himmelhoch gebeten, dies Mädchen um jeden Preis zu verheirathen, ehe Johannes käme? … Mir sagte es eine untrügliche Ahnung beim ersten Anblick dieser Person, daß sie unser Aller Unglück werden würde… Nimm Du nun auch die Schande auf Dich, gegen welche Du Dich geflissentlich verblendet hast! – Ich aber werde sofort nach Bonn abreisen, um den Professorenfrauen zu verkünden, welcher Art die neue, kleine Collega ist, die nächstens in ihren exclusiven Kreis eintreten wird.“
Sie stürzte zur Thür hinaus.
Währenddem war die Erstarrung der großen Frau gewichen. Sie umgürtete sich mit ihrer ganzen eingebildeten Hoheit und äußeren Würde.
„Ich habe Dich vorhin offenbar falsch verstanden, Johannes,“ sagte sie scheinbar sehr gelassen.
„Wenn Du das glaubst, so werde ich meine Erklärung wiederholen,“ versetzte er kalt und unbeugsam. „Ich werde mich mit Felicitas d’Orlowska verheirathen.“
„Du wagst es, mir gegenüber diese wahnsinnige Idee festzuhalten?“
„Statt aller Antwort frage ich Dich: Würdest Du mir auch jetzt noch Deinen Segen zu einer Verheirathung mit Adele geben?“
„Ohne Weiteres. Sie ist eine standesgemäße Partie – ich kenne keinen größeren Wunsch.“
Der Professor wurde dunkelroth im Gesicht; man sah, wie er die Zähne zusammenbiß, um eine Fluth heftiger Worte zurückzuhalten.
„Mit dieser Erklärung hast Du den letzten Rest von Berechtigung verloren, in einer meiner wichtigsten Lebensfragen mitzusprechen,“ preßte er, sich mühsam bezwingend, hervor. „Daß dies moralisch durch und durch verdorbene Geschöpf, diese erbärmliche Heuchlerin mein ganzes Leben vergiften müsse, kommt also nicht in Betracht… sitzest ruhig hier in Deinem stattlichen Hause, und es genügt Dir vollkommen, von Deinem fernen Sohn sagen zu können: ‚Er hat sich standesgemäß verheirathet‘… Diesem unbegrenzten Egoismus gegenüber erkläre ich Dir, daß ich um jeden Preis glücklich werden will, und das kann ich nur mit jenem armen, verachteten Waisenkind, das wir einst so grausam gemißhandelt haben!“
„Frau Hellwig stieß ein rauhes Hohngelächter aus.
„Noch halte ich an mich, nicht das Schlimmste auszusprechen!“ rief sie mit zuckenden Lippen. „Vergiß nicht: ‚des Vaters Segen bauet den Kindern Häusern, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder!‘“
„Willst Du behaupten, Dein Segen vermöge Adele’s moralische Gebrechen wegzuwaschen? … Ebensowenig kann ein Fluch wirken, wenn er auf ein schuldloses Haupt fällt. … Du wirst ihn nicht aussprechen, Mutter! Gott nimmt ihn nicht an – er fällt auf Dich zurück und macht Dein Alter einsam und liebeleer!“
„Was frage ich danach? … Ich kenne nur zwei Dinge, an die ich mich halte, die meine Richtschnur sind: Ehre und Schande! … Du hast meinen Willen zu ehren, und kraft dieser Pflicht wirst Du Deinen unsinnigen Ausspruch widerrufen!“
„Nie! darein ergieb Dich, Mutter!“ rief der Professor zurück und verließ das Zimmer, während sie mit ausgestreckten Armen wie eine Bildsäule stehen blieb. Ob diese verzerrten, blutlosen Lippen den Fluch gesprochen? Kein Laut drang heraus in die Hausflur, und wenn es geschehen, er wäre spurlos verhallt – der Gott der Liebe giebt nicht ein so furchtbares Werkzeug in die Hände der Bösen und Rachsüchtigen!
Durch das große Viereck des Vorderhofes huschten bereits die Schatten der hereindämmernden Nacht. Sturm und Gewitter hatten ausgetobt, aber noch flatterten dunkle, zerrissene Wolkengebilde über den Himmel wie zürnende Verlassene, die sich gegenseitig mit Riesenarmen zu erreichen suchten, um als vereinte Macht herabzustürzen…
Droben im ersten Stock wurden Thüren geschlagen, Kasten geschoben, und schwerfällige und behende Füße liefen auf und nieder – es wurde eingepackt auf Nimmerwiederkehr. „Da hätten wir also das Ende vom ‚Blümelein Vergißmeinnicht‘!“ brummte Heinrich seelenvergnügt vor sich hin, indem er einen großen Koffer über den Vorsaal trug.
Wie ruhig und gelassen gegen das Hasten und Poltern im Vorderhause erschien das blasse Mädchengesicht im großen Bogenfenster des Hofes! Eine Küchenlampe brannte auf dem Tische, und daneben stand das Köfferchen mit Felicitas’ Kindergarderobe. Frau Hellwig hatte, den Missionsstrumpf in der Hand, von ihrer Estrade aus vor einer Stunde den Befehl gegeben, dem Mädchen ihren „Plunder“ auszuliefern, „damit es keine Ursache habe, die Nacht noch im Hause zu bleiben.“… Felicitas hielt eben das kleine Petschaft mit dem Hirschsprung’schen Wappen gegen das Licht, als das bleiche Gesicht des Professors im Bogenfenster erschien.
„Kommen Sie, Felicitas! Nicht eine Secunde länger sollen Sie in diesem Hause des Verbrechens und der bodenlosesten Selbstsucht bleiben,“ sagte er tief erregt. „Lassen Sie einstweilen diese Sachen hier, Heinrich wird Ihnen morgen Alles bringen.“
Sie warf ihren Shawl über und traf gleich darauf mit dem Professor in der Hausflur zusammen. Er nahm ihre Hand fest in seine Rechte und führte sie durch die Straßen. Am Hause der Hofräthin Frank läutete er.
„Ich bringe Ihnen einen Schützling,“ sagte er zu der alten Dame, die das Paar im erleuchteten, trauten Wohnzimmer freundlich, aber erstaunt empfing. Er ergriff ihre Hand und legte die des jungen Mädchens hinein. „Ich vertraue Ihnen viel an, Mama,“ fuhr er bedeutsam fort, „hüten und beschützen Sie mir Felicitas wie eine Tochter – bis ich sie von Ihnen zurückfordern werde.“
Mancher der das alte Berlin noch gekannt hat, wird sich entsinnen, wie still plötzlich die große Friedrichsstraße wurde, wenn man, nach dem Halleschen Thore zu, eine bestimmte Linie passirt hatte. Die Kochstraße zog eine Grenze zwischen Stadt und Vorstadt; diesseits lag der Lärm, jenseits die Stille. Und dieser Wechsel that unendlich wohl. Die plötzlich beruhigten Nerven ließen erkennen, daß man aus der Zone des Rollwagens in die der schlafenden Droschke getreten war; die Läden hörten auf, die
Jalousien fingen an; auf dem Bürgersteig lagen die Marmelspieler und auf dem Fahrdamm lag die Sonne.
Lauter stille Häuser, aber eines war ein allerstillstes: gelb, zweistöckig und mit einer Mansarde auf dem Dach. Auf dem Flur, auch in heißesten Tagen, lag eine schattige Kühle, weiß gescheuerte Stufen führten in den ersten Stock und durch die offenstehende Thür, die in den altmodischen, nach hinten hinaus führenden Thorweg eingeschnitten war, sah man, über den Hof weg, in einen wenig gepflegten, aber desto behaglicheren Garten hinein. Dies stille, gelbe Mansardenhaus, einst das Wohnhaus Hitzig’s, das Nachbarhaus Chamisso’s (der hier halbe Tage lang verkehrte), in den Tagen, in denen unsere Erzählung beginnt, war es das Haus Franz Kugler’s. Wir nannten es scherzhaft den „ewigen Heerd“, weil hier in jedem guten Sinne, auch wirthschaftlich, das Feuer nie ausging. In glücklicher Vereinigung herrschten hier Feinheit der Sitte und Freiheit des Worts; eine schöne Frau, blühende Kinder gaben dem Hause Licht und Leben, und noch in diesem Augenblick leben, aller Orten in Deutschland, ihrer Viele, die Gastfreundschaft, Anregung, Rath, auch Trost in diesem Hause erfahren haben. Der Erzähler nicht am wenigsten.
Wie lebendig stehen noch die Tage des Sommers 1850 vor meiner Seele! Ein Tag besonders. Wir saßen unter dem Nußbaum im Garten, das Kaffeezeug, dazu Lampe und Kessel, standen auf dem Tisch, vor uns lag der Buchsbaumgang, in dem einst Chamisso, auf und ab schreitend, den „ausgewanderten Dichter“ des damals eben bekannt werdenden Freiligrath declamirt hatte. Sein altes Reiseherz war dabei wieder jung geworden. Das lag nun viele Jahre zurück, die große achtundvierziger Wandlung war über die Gemüther gekommen; wenn Freiligrath citirt wurde, so waren es andre Strophen. Wir saßen unser Drei um den Tisch herum: Kugler selbst, ein junger Schotte und ich. Die Lichter, die durch das Laub fielen, spielten über die Damastdecke hin, das Flämmchen unter dem Wasserkessel brannte unsichtbar in dem hellen Sonnenschein, nur der aufsteigende Dampf zeigte, daß überhaupt eine Flamme war. Die Unterhaltung ging bequem, es war fast wie Nachmittagsruhe. Der Wirth liebte das, alles Heraufgeschraubte war verpönt, wer nichts zu sagen hatte, schwieg.
Wir plauderten gemüthlich hin und her, als plötzlich unsere Unterhaltung vom Hofe her durch das leichte Geträller eines altfranzösischen Liedes unterbrochen wurde. Kugler fiel gleich ein. In demselben Augenblick trat eine jugendliche, hochaufgeschossene Gestalt in den Garten, und schon von fern seinen Spitzhut leise lüftend, schritt er auf uns zu. Inmitten des Ganges blieb er einen Augenblick stehen, wandte sich zurück und grüßte, über den Hof hin, nach einem der Mansardenfenster hinauf. Er wußte wohl weshalb. Im nächsten Augenblick wurden wir vorgestellt – Paul Heyse.
Er setzte sich neben den jungen Schotten, den er schon von Bonn her kannte, und nicht leicht hab’ ich ein anmuthigeres Bild gesehen als diese beiden Typen blonder und brünetter Schönheit. Beide waren von seltener Grazie, aber während die des Einen, mehr äußerlich, aus Kraft und Schulung entsprang, war die des Andern, der sich beinah gehen ließ, ohne jegliche Anstrengung von innen heraus geboren.
Das Gespräch, wie es die Erinnerungen des Ortes mit sich [566] führten, kam auf Hitzig und Chamisso, auf die gute, alte Zeit der Musenalmanache, bald auch auf Schwab und Mörike, auf Freiligrath und Lenau. Parallelen wurden gezogen, endlich die „Schilflieder“ citirt. „Auf dem Teich, dem regungslosen etc.“ ich konnte aushelfen mit meinem Gedächtniß.
Der junge Schotte horchte auf.
„Das ist schön,“ sagte er, als ich die letzte Strophe gesprochen, „dieser Klang fehlt doch unserer englischen Lyrik, selbst, was mehr sagen will, unserer schottischen.“
„Lassen Sie ihn fehlen,“ warf Heyse dazwischen, „Sie haben Besseres dafür. Lenau, wenn er den Blitz anruft, ihn zu tödten, ihm der ‚Ariadne-Faden‘ zu sein und ihn hinauszuführen aus diesem ‚Labyrinth der Qual‘, ist doch eigentlich ein Lästerer, dessen Blasphemie durch Sentimentalität nicht besser wird. Ihre Nordlandsschultern müßten mich täuschen, wenn Sie so viel Ungesundheit ertragen könnten.“
Kugler, der an diese Keckheit der Debatte am meisten gewöhnt war, lächelte und warf hin: „Um so besser wird Freiligrath vor Ihnen bestehen, Sie werden ihn wenigstens nicht unter die Sentimentalen werfen.“
„Ich weiß doch nicht,“ erwiderte Heyse, und während er diese Worte absichtlich dehnte, war es erkennbar, daß er bereits nach Aehnlichkeiten zwischen Lenau und Freiligrath suchte. Solche Analogien zu finden, just da, wo keine waren, reizte ihn; hier war das eigentliche Feld für Witz, Einfälle, Paradoxien.
„Ich weiß nicht,“ wiederholte er, „ob sie nicht eigentlich doch Geschwisterkinder sind. Der Eine reitet durch die Wüste, der Andere durch den Urwald; mit den Chippeways-Indianern haben Beide zu thun. Aber dies bei Seit’. Sie haben auch einen verwandten Herzschlag. Sie sind Beide europamüde, Beide malcontent, ohne recht zu wissen warum. Sie haben nur eine verschiedene Art sich auszudrücken, der Eine verfährt lyrisch-unmittelbar, der Andere versteckt sich hinter allerhand Masken, oder sag’ ich lieber, er ist ein Maskenball in sich. Türke, Jude, Armenier, was Sie wollen. Aber nun warten Sie den Moment der Demaskirung ab. In privater Loge tritt er an Sie heran, jetzt ohne Turban. Da steht er, ganz er selbst, kein Scheikh mehr, Westphale durch und durch. ‚Allein, allein, und so will ich genesen.‘ ‚Das Mal der Dichtung ist ein Kainstempel.‘ Verlangen Sie mehr? Ich zweifle, daß Lenau darüber hinausgegangen wäre.“
So ging das Gespräch. Was ich später so oft zu beobachten Gelegenheit hatte, er wurde sofort zum Mittelpunkt der Unterhaltung. Selbst Personen, die nur ungern auf ihr Rederecht Verzicht leisteten, ergaben sich ihm bald; auch der Eitelste empfand es als ein Vergnügen, ihn sprechen zu hören; man kam stillschweigend überein, ihn gewähren zu lassen. Er sagte oft starke Sachen, auch auf Gebieten, wie Kirche und Politik, die über die Kunst, vielleicht auch über seine Kraft hinauslagen, aber kein Fall ist mir gegenwärtig, daß er durch die Kühnheit seiner Redeweise jemals ernstlich Anstoß gegeben hätte. Er durfte Alles sagen, Richtiges und Falsches. Sein rein auf die Sache gerichteter Eifer, dazu die Eleganz der Form söhnten mit jedem Inhalt aus.
Diese erste Begegnung im Kugler’schen Garten führte bald zu einer intimeren Bekanntschaft. Eine Zeitlang sahen wir uns täglich. Heyse lebte damals bei seinen Eltern in einem alten vornehmen Hause in der Behrenstraße, das mit seinen Hinter- und Nebengebäuden ein Quarré bildete und einen beinah klosterstillen Hof umschloß. Lange Corridore von rechts und links führten bis in den Hinterflügel, wo unser Poet zwei kleine Zimmer bewohnte, echte Poetenstübchen. Alter Hausrath (der Klappsecretär – einer von den musikalischen – von sehr geneigter Fläche); nichts elegant, aber jedes Stück ein Erinnerungsstück. Dabei Alles in musterhaftester Ordnung.
Heyse arbeitete damals an seiner „Urica“, einer Novelle in Versen, mit der ich mich weder damals noch später recht befreunden konnte und die, während wir es uns auf dem Sopha so bequem machten, als sein Tiefbau und seine hohen Lehnen es zuließen, zu mancher heißen Scene zwischen uns führte. Wer noch brütend über der Arbeit sitzt, fährt leicht auf und schlägt mit den Flügeln.
Aber diese Wochen lebhafter Controverse waren von keiner Dauer. „Urica“ war fertig, wohl oder übel, und Heyse ging zu einer neuen Arbeit über: „Die Brüder“, eine Erzählung (in Versen) nach dem Chinesischen des Schi-King. Hier schwieg nun alle Kritik, nicht blos die meinige. Jeder war hingerissen, und mit Recht. Was ich die Gegensätze seiner Natur nannte, hier hatten sie, von Seite zu Seite, gemeinschaftlich geschaffen und Jeder, der las, fühlte sich ebenso von der Sprache der Unschuld gerührt, wie von der Sprache der Schuld und des Verhängnisses, das sie heraufbeschwört, erschüttert. Diese Dichtung war ein Vollendetes. Heyse hatte hier seinen Ruhm und seine Reife anticipirt. Denn im Großen und Ganzen stand er zu dieser Zeit noch auf dem Urica-Standpunkt, d. h. auf dem Standpunkt einer gewissen geistreichen Streberschaft. Das Berlinische machte ihm noch zu schaffen.
Heyse arbeitete viel. Die andauernde Beschäftigung des Geistes war ihm Bedürfniß; seine Erholung fand er im Wechsel der Arbeit. Ermüdet vom Einen, hatte er noch[WS 1] Kraft für das Andere. Eine vom einen Salz gesättigte Lösung löst noch das andere. Versagte das Produciren, so las er; er war ein guter Haushalter mit seiner Zeit. Drum hatte er immer Zeit.
Der Spätsommer 1852 unterbrach seine Arbeiten: er ging nach Italien. Wenige Wochen vorher hatte er sich mit Margarethe Kugler verlobt. Es war ein glückliches Paar; halbe Kinder noch. Sie zu sehen, war ein Anblick, wie wenn sich zwei Schwalben auf einem Aste wiegen. Grazie und Schelmerei ließen Alles wie ein anmuthig-heiteres Spiel erscheinen. Und doch liebten sie sich leidenschaftlich. Aber der feine Sinn für das, was sich ziemt, gefiel sich darin, den Ernst der Empfindung vor dem Auge der Welt zu verbergen.
Die letzten Tage, die der italienischen Reise vorausgingen, sind mir noch gegenwärtig. Es war im August oder September. Die Stadtwohnung war aufgegeben und Alles, was dem Kugler’schen Hause angehörte, erfreute sich eines entzückenden Landaufenthaltes, zwei Meilen von Berlin. In der Nähe der Müggelberge, deren Kuppe in den Parkgarten hineinblickte, lag, nach drei Seiten hin von Tannen umstellt, ein alter Schloßbau, dessen einzig freie Front auf Blumenbeete und Kornfeldstreifen und dahinter auf die breite Wasserfläche der wendischen Spree hinaussah. In diesem alten Schloßbau, angesichts einer Scenerie voll eigenthümlich märkischer Schönheit, verbrachte man glückliche Tage. Auch die Trennung kam hier heran. In dem Gartensaal, dessen Fenster bis zur Erde gingen, hingen, auf pompejanischem Braun und in allen Arten von Umrahmungen, die Bilder italienischer Meister, während auf Kaminsims und Marmortischen, auf Consolen und Etagèren allerlei Mementos an den Süden standen: alabasterne Vasen und bronzene Lacerten, Wachsfrüchte und Pinienäpfel. Diese Erinnerungsstücke an Italien (Reliquien in den Augen des Schloßbesitzers, der abwesend war) – jetzt waren sie ebensoviele Mahnungen an die Zukunft, an die nächste. Die Unterhaltung ging zwischen Furcht und Hoffnung; die eine Sehnsucht zog, die andere (vorwirkend) hielt zurück. Aber man war ja jung. Hinter Wochen und Monden lagen lachende Jahre. So schied man. Auf dem schmalen Wege, der zwischen Weidengestrüpp an dem seebreiten Flusse hinlief, stand er noch einmal still, löste das blaue Halstuch, das er trug, und ließ es im Winde flattern.
Heyse reiste mit seinem Freunde Ribbeck, jetzt Professor in Kiel. Sie machten die große Tour in den üblichen drei Stationen: Florenz, Rom, Neapel. In Florenz wurde der Bewunderung, in Rom dem Studium, in Neapel dem Vergnügen gelebt. Im September 1853 ging es über die Alpen zurück.
Dieser italienische Aufenthalt hatte den größten Einfluß auf Heyse. Dieser bezeichnete ihn selbst in einem Gedichte als eine „Rückkehr zur Natur“. Das blos Geistreiche war abgethan; in seiner Ausdrucksweise war ein neuer Geist über ihn gekommen. Kein Zuviel mehr; das schöne Maß war gefunden.
Alle Arbeiten, die seinem Aufenthalt in Italien ihre Entstehung verdanken, zeigen diese Wandlung bereits. Ich nenne nur die „Idyllen aus Sorrent“ und die Novelle „La Rabbiata“, von denen namentlich die letztere als ein Muster von Einfachheit, Klarheit und Tiefe zu bezeichnen ist, klar und tief wie das Golfwasser, an dessen Ufern sie entstand.
Fast unmittelbar nach seiner Rückkehr erfolgte Heyse’s Berufung nach München. Er nahm an. Als der Winter um war, übersiedelte er, nachdem wenige Wochen zuvor seine Vermählung stattgefunden hatte. Er war eben vierundzwanzig Jahre alt.
Von da ab, fast durch ein Jahrzehent, verlor ich ihn aus dem Auge. Seine Besuche in Berlin kamen mir nicht zu gute; wie ihn nach Süden, hatten mich Beruf und Neigung nach dem [567] Westen geführt. Nur eine lose Verbindung blieb zwischen uns; aber wäre der Faden auch zerrissen, der wachsende Klang seines Namens hätte dafür gesorgt, mir den Träger dieses Namens im Gedächtniß zu erhalten. Mit lebhaftestem Interesse verfolgte ich seine Entwickelung. Wenn ich diese Entwickelung charakterisiren soll, so möchte ich es dahin thun: er ließ das Lyrische, auch das Lyrisch-Dramatische, das er eine Zeit lang, beispielsweise im Perseus, im Meleager, mit Vorliebe cultivirt hatte, fallen und wandte sich mit einer Art von Ausschließlichkeit dem Epischen zu. Er begann zu erzählen, zunächst in Prosa, bald auch in Versen, und im Verlauf weniger Jahre entstanden jene „Novellen“, „Neue Novellen“, „Meraner Novellen“, „Novellen in Versen“, die ihm seitdem, draußen und daheim, einen Namen gemacht und ihm unter unsern deutschen Erzählern einen allerersten Rang angewiesen haben.
Was vielleicht am meisten zur Bewunderung zwingt, das ist ihre Mannigfaltigkeit bei aller Verwandtschaft, ihre Verschiedenheit in der Einheit. Sämmtlich erotischer Natur und immer, sei es in Bangen oder in Hoffnung, zu Glück oder Unglück, das „selig Eine“ als alleiniges Thema behandelnd, wiederholen sie sich doch nie und Phrasenhaftes und Verbrauchtes mit gleich sicherem Tact vermeidend, erschließen sie uns immer neue Seiten, führen immer neue Situationen vor uns herauf. Das Geheimniß des Gelingens ist vielleicht in der pathologischen Behandlung des Gegenstandes zu suchen, darin, daß der Dichter jede neue Aufgabe als ein psychologisches Problem faßt, als ein Räthsel, an dessen Lösung er uns theilnehmen läßt. Gewagtem, der ganzen Natur Heyse’s nach, begegnen wir auch hier, Verfehltem nie. Uebrigens ist ein Unterschied zwischen seinen Prosa-Novellen und seinen Novellen in Versen. Wir möchten den letzteren den Vorzug geben. Das, was seine glänzendste Seite ausmacht, das Graciöse, es findet hier, in Ueberwindung formeller Schwierigkeiten, eine gleichsam gesteigerte Gelegenheit, sich geltend zu machen, und Witz und Humor, die, wie die Fahnenschwenker bei einem Festzuge, fast sichtbarlich von Strophe zu Strophe vor einem her schreiten, zaubern den Leser in eine heitere Fest- und Reisestimmung hinein. Heyse’s Prosa-Novellen reihen sich an das Beste, das wir haben, seine Novellen in Versen aber nehmen einen Platz für sich innerhalb unserer modernen Literatur ein. Wir wüßten nicht, daß, seit Wieland’s Oberon, so heitere epische Dichtungen erschienen wären, wie die „Braut von Cypern“ oder der „Walchensee“.
Dem Werth dieser Arbeiten entsprachen ihre äußeren Erfolge. Immer neue Auflagen, besonders der Prosa-Novellen, erschienen und vielleicht war es mehr ein Zufall, eine äußere Anregung, als ein innerer Drang, was ihn, Ausgangs der fünfziger Jahre, seiner ersten Liebe, dem Drama, wieder zuführte. Diese äußere Anregung gab eine Concurrenz. 1857 wurde, von Seiten des Königs von Baiern[WS 2], ein Preis für die beste deutsche Tragödie ausgesetzt; – es war selbstverständlich, daß sich die Münchner Poeten an diesem Wettkampf betheiligten. Heyse’s „Sabinerinnen“ gewannen den Preis. Das Sprüchwort sagt: „wen erst die Bühne hat, den läßt sie nicht wieder los“ und die Wahrheit des alten Satzes schien sich alsbald an unserem Poeten bewähren zu sollen. In rascher Reihenfolge erschienen neue Stücke: „Elisabeth Charlotte“, „Die Grafen von der Esche“, „Hadrian“, „Maria Moroni“, „Hans Lange“. Als ihn die Vorarbeiten zu dem letztgenannten, in seiner Hauptgestalt völlig originellen Drama beschäftigten, sah ich ihn wieder. Freilich nur auf kurze Stunden und nachdem ich die Hoffnung auf ein Wiedersehen fast schon aufgegeben hatte.
Der Spätherbst jenes Jahres hatte mich nach Süddeutschland, nach Heidelberg, dann nach Stuttgart geführt; auf dem Heimwege beschrieb ich eine Curve von dreißig Meilen, eigentlich zu keinem andern Zweck, als um Heyse, nach so vielen Jahren, ‘mal wieder einen guten Tag zu bieten. Ich ging also über München, hatte mich aber verrechnet und stieß auf das leere Nest. Heyse war verreist, nach Wien. Ein Glück unter diesen Umständen, daß ich in München nicht völlig ein Fremder war. Ich kannte Diesen und Jenen aus der Dichter-Colonie (von den „Krokodilen“,[WS 3] wie sie sich nennen) und sah mich also nicht ganz auf die Glyptothek und ihren Marmor angewiesen, die, wie alle Bauten derart, in Novembertagen mehr mausoleum- als museumartig wirkt.
Es war kurz vor der Abreise des Königs. Vor seinem Aufbruch wünschte der liebenswürdige Fürst, der humansten einer, die je einen Thron zierten, seine Poeten und Philosophen noch einmal um sich zu sehen; die Einladungen ergingen; – auch ich durfte erscheinen. Ich war unwohl, erkältet, doch es lockte mich, ein Zeuge dieser eigenthümlichen Zusammenkünfte zu sein.
Ein scharfer Ostwind pfiff durch die Straßen, als ich, von der Seite des Theaterplatzes her, in das alte Schloß einbog. Ein paar Gaslichter brannten, aber an solchen Windtagen, wo Alles hin und her flackert und jeder Windstoß das Gas in die Röhren zurückdrückt, hat das Licht keine Leuchtekraft; im Portal war Alles dunkel oder erschien doch so; ebenso auf der Treppe, die ich hinanstieg. Zehn Schritt vor mir, in einen Shawl fest eingewickelt, stieg ein Vordermann die breiten Stufen aufwärts. Er ging sicherer als ich. Ich folgte rasch, wie um mich zu attachiren; außerdem aber Gestalt und Haar, das in einzelnen Locken über den Shawl fiel, dazu die gefällige Nonchalance des Ganges, – ich konnte mich nicht täuschen, er mußte es sein. Heyse! … ich rief seinen Namen. Er war es wirklich; vor wenig Stunden zurückgekehrt. Herzlichste Begrüßung, aber leider bei Zugluft; – wir kamen also überein, die eigentliche Erkennungsscene mit der Versicherung beiderseitigen Junggebliebenseins erst oben stattfinden zu lassen. Hand in Hand stiegen wir den Corridor hinauf.
Es ging durch eine lange Reihe von Zimmern. Auch hier herrschte Halbdunkel; überall lagen dicke persische Teppiche, in den Fensternischen standen einzelne Lakaien, blau und weiß galonnirt, ächt bairische têtes quarrées, alt, häßlich, wenig verbindlich.
Drei dieser Zimmer, wenn ich nicht irre, dienten dem Zweck dieser literarischen Reunions, der „Symposien“, wie diese Zusammenkünfte scherzhaft genannt worden sind. Das eine war Empfang-, das andere Billardzimmer; hinter beiden der eigentliche Sitzungssaal. Der König wurde frühestens in einer Viertelstunde erwartet; wir hatten also Zeit zu privater Begrüßung. Ich fand Heyse wirklich wenig verändert, trotz manchen Jahres und manchen Erlebnisses, das zwischen heut’ und den Berliner Tagen lag. Dasselbe Lachen, dieselbe Leichtigkeit der Bewegung, dieselbe Jugendlichkeit der Züge; nur um Kinn und Mund war er voller geworden. Waren es die Jahre oder der Hofbräu?
Der König erschien. Er begrüßte Jeden von uns; mich, als Gast, mit besonderer Freundlichkeit. Dann, im Passiren des Billardzimmers, einen der Bälle aussetzend (eine bloße ceremonielle Form) schritt er in das eigentliche Sitzungszimmer voran. Wir Andern folgten. Das Zimmer selbst war behaglich. Einzelne Lampen hingen über einem Längstisch mit grüner Decke; Kamine, Lehnstühle; Alles nahm Platz. Rechts und links neben dem König saßen Liebig, Moritz Carrière, Bodenstedt, Paul Heyse, ihm gegenüber v. d. Thann, Geibel, Riehl. Andere sind mir nicht mehr gegenwärtig.
Die Unterhaltung machte sich leicht und ungezwungen. Zunächst wurde politisirt, aber mehr von allgemeinen Gesichtspunkten aus. Die Tagesereignisse gaben nur die Anregung, nicht den Inhalt des Gesprächs. Dann wurde Heyse nach seiner Reise befragt. Er gab einen kurzen Bericht; das Wiener Theater wurde berührt, Laube, Halm, Frau Rettich;[WS 4] Anekdoten folgten; dann verallgemeinerte sich das Gespräch und ging alsbald in eine Debatte über das moderne Drama über.
Ich saß ein wenig zurückgebogen, in diesem Augenblick doppelt ein Fremder, fremd in dem Kreise, aber auch fremd in der Debatte. Diese nahm bald einen Flug, daß ich nicht mitkonnte. Ein Material wurde herangeschleppt, Stellen aus Stücken citirt, die ich kaum dem Namen nach kannte; – ich schob meinen Stuhl weiter zurück in den Schatten. Die Wahrheit zu gestehen, war mir’s lieb, daß es so kam. Was hätt’ ich von der Ehre gehabt, auch mein Scherflein beigesteuert zu haben? Vielleicht nur Verlegenheit. Jetzt hatte ich den Genuß bei noch ungestörter Beobachtung.
Diese Freude war um so lebhafter, als mir bald kein Zweifel blieb, wer in dieser Frage den Kreis beherrschte. Heyse war noch in Reisestimmung. Er hatte das Wort. Mir klingt noch das Eine und das Andere im Ohr: „… Auch in ästhetischen Dingen, wie in so vielen andern, sind wir an einen Wendepunkt gelangt, namentlich im Drama. Die alten Theorien thun’s nicht mehr … die Grenzen sind weitaus zu eng gezogen. Wir müssen aus dem Schematisiren heraus, vor Allem aus dem Balancirsystem von Schuld und Sühne… Das ist eine Krücke für den Lahmen, aber für den, der laufen kann und laufen will, ist es ebenso oft ein zwischen die Füße geworfener Stock. Das Dramatische [568] macht ein Drama. Damit ist freilich wenig, aber doch auch Alles gesagt. Schuld, Schuld! Wo ist Schuld in Romeo und Julia? Man hat sie finden wollen; man wird sie immer finden, wenn man sucht. Denn wie kein Tag unseres Lebens schuldlos verrinnt, so sind auch noch nie drei Acte verronnen – Acte, von denen es werth ist zu sprechen – in denen sich nicht bongré malgré so etwas wie Schuld nachweisen ließe. Die Sünde ist das Correlat des Lebens, sie durchdringt Alles und die natürliche Gekränktheit aller Dinge damit ist die alleinige Wurzel des Dogmas von der dramatischen Schuld und Sühne.“
So ging die Debatte. Lebhaft trat jener erste Nachmittag unter dem Nußbaum wieder vor meine Seele. Dieselbe Lebhaftigkeit, dieselbe bona fides, dieselbe Leichtigkeit und Freiheit des Ausdrucks.
Der König zog sich früh zurück. – Bei Elfer Rheinwein, wie er nirgends besser lagert als im Münchner Schloß, plauderten wir Mitternacht heran. Als wir uns an der Kaufunger Gasse trennten, rief ich ihm zu: „Glücklicher Du, der Du jung geblieben bist!“ – „Caro mio, Du siehst nicht, wo es fehlt.“ Er mochte so sprechen. Jeder bangt, daß man ihm die Gunst der Götter berede. Und nicht mit Unrecht, denn sie sind launisch und eifersüchtig.
Ihm aber sind sie treu geblieben, auch seither. In immer neuer Frische schafft er, sich und Andern zur Freude, im „entsiegelten Auge“ nach wie vor den ungetrübten Blick „der hellgebornen, heitren Joviskinder“.
Wir haben seit mehr als einem Menschenalter nicht umsonst gesungen: „Sein Vaterland muß größer sein“. Es ist erstaunlich, wie weit „die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt“, wo der deutsche Händedruck Eide schwört, „die Treue hell vom Auge blitzt und Liebe warm im Herzen sitzt“.“
Dieses rund um die Erde herum erklingende deutsche Lied hat nicht nur Flügel, sondern auch Hand und Fuß. Deutscher Kopf und Arm mit heiteren Kräften, überall sind sie zu Haus. Mit dem deutschen Liede und dem kräftigen Turnerarme verbindet sich als unbesiegbarer Eroberer das deutsche Bier, welches freilich von den deutschen Brüdern nicht selten in zu großen Massen vertilgt wird, als daß sie anderen Völkern darin immer zum Muster dienen könnten. Aber es vertreibt wenigstens überall, wo es sich einbürgert, die viel verderblicheren Alkohol-, Opium- und Haschisch-Teufel, und das erste deutsche Wort, welches der Sultan und sein Gefolge in Wien kennen und lieben lernten, hieß: Bier. Es tritt fast überall mit dem deutschen Liede, mit der Sprache Mozart’s und Beethoven’s auf und reinigt und veredelt dadurch seine etwas zu materielle Schwerfälligkeit. Außerdem sind diese deutschen Sänger und Trinker überall auf der Erde im Alltagsleben als die fleißigsten und geschicktesten Arbeiter willkommen und werden sogar in vielen Fällen den einheimischen vorgezogen. Zwischen den Fingern des Deutschen wird die Aachener Nähnadel zum einäugigen Erzengel der Weltcultur. Bekanntlich erklärte Gerstäcker, daß er überall auf seinen Weltreisen in allen Gegenden der Erde mindestens deutsche Schneidergesellen gefunden habe. Neben der Nähnadel macht sich der Faberbleistift als immer wichtigerer deutscher Kosmopolit in aller Welt geltend, und die erzgebirgischen und die thüringischen Spielwaaren sind schon längst die Freude aller Kinder der Erde, mächtigere Eroberer, als die für alle Welt bestellten Krupp’schen Kanonen. Auch Berliner Stickmuster und in fünf, sechs Sprachen übersetzte deutsche Modezeitungen bilden ein siegreicheres Heer, als alle Soldaten Europas zusammen genommen, und erobern die schöne Welt aller Farben und Racen ohne Blutvergießen, höchstens daß sich dabei eine Anfängerin einmal in den Finger sticht. Auch das schwere, solide deutsche Contobuch hat bereits in allen Häfen und Handelsstädten der Welt Armeen von Zahlen, von Truppen des Soll und Haben geschaffen, denen Niemand widersteht und welchen sich jeder solide Kauf- und Geschäftsmann frei und freudig unterwirft, da sie die sicherste Bürgschaft für seinen Gewinn und Wohlstand bilden.
Unter diesen stets siegreichen kosmopolitischen Truppen Deutschlands spielen Bücher und Zeitschriften als wahrhafte Leipziger Lerchen mit unermüdlichen Schwingen eine bedeutendere Rolle, als wir im engeren Vaterlande glauben, und vielleicht haben die Mitarbeiter dieser Blätter selbst keine Ahnung davon, wie weit manche derselben reichen und daß sie selbst auf Inseln des großen Oceans und in China und Japan umherfliegen. Kurz, wir finden überall auf der Erde, wo nur die ersten Strahlen der Bildung hingedrungen sind, Deutsche mit ihren heiteren Köpfen und Armen und Schätze des Fleißes und Geistes aus dem engeren Vaterlande. Wir können uns deshalb auch nicht wundern, daß selbst mitten in Asien und durch ganz Rußland hindurch von Memel bis zu den Amurmündungen deutsche Gemeinden und Vereine blühen. Es wird uns aber doch überraschen, daß mitten in der altrussischen Czarenstadt Moskau der deutsche Club zu den glänzendsten Institutionen dieses an Wundern reichen Mittelpunktes des alten Russenthums gerechnet wird. Obgleich es weit bis dahin ist, soll es uns doch leicht werden, uns einmal als Gast einführen zu lassen.
Die dahinführende Eisenbahn ist, sowie sie auf russisches Gebiet kommt, viel eleganter und bequemer, wenigstens in den Waggons erster und zweiter Classe, als irgendwo in Deutschland. Auch könnten wir zur Noth die ganze Reise zu Fuß machen, ohne aus dem Gebiete Deutschlands herauszukommen. Die lebendige Culturkette deutscher Ansiedelungen und Gemeinden, welche bereits um die ganze Erde herum reicht, wird auch bis Moskau selten unterbrochen, so daß wir mit einigen geschickten Umwegen fast überall unterwegs bei einem Landsmanne einkehren könnten. Giebt es doch nach einer Schilderung in der St. Petersburger Zeitung in einem nicht zu weiten Umkreise um Petersburg herum allein nicht weniger als vierhundert und dreiundachtzig deutsche Gemeinden. Wir wollen aber auf unserem Wege nur auf ein paar Minuten in der deutschen „Palme“ zu St. Petersburg einkehren und uns des gemüthlichen frischen Lebens der verschiedensten Classen Deutschlands darin freuen. Erst vor etwa sechs Jahren von deutschen Geistlichen als Gesellenherberge gegründet, hat sie sich durch ihre Mitglieder, Arbeiter im Verein mit Kaufleuten, Künstlern, Gelehrten etc., sehr rasch zu einem der schönsten Mittelpunkte des deutschen Lebens in Petersburg entwickelt. Der Verein, jetzt etwa aus sechshundert Mitgliedern bestehend, hat sich bereits ein eigenes Haus erworben und bietet den Mitgliedern außer substantieller Belehrung durch wissenschaftliche Vorträge auch ein Lesecabinet und ein eigenes „Palmblatt“, ferner viele heitere, gesellige Abende, von welchem alle spirituösen Getränke streng ausgeschlossen sind. Das sonst so beliebte Kartenspiel zählt hier wenig Freunde, dafür werden Domino, Schach, gesellige Spiele, besonders aber die Kegelbahn desto eifriger benutzt. Aber der Segen dieser Vereinigung beschränkt sich nicht auf das Clubhaus, sondern dehnt sich auf das ganze häusliche, geschäftliche und sociale Leben der Mitglieder und auf Fürsorge für ankommende Landsleute aus. Eine Kranken-, Spar- und Vorschußcasse und sogar eine Lebensversicherung schützt alle Mitglieder und deren Familien vor Verlegenheiten und Sorgen in der Gegenwart und für die Zukunft. Mit einem Worte, unsere deutschen Landsleute erfreuen sich unter dem Schutze dieser heiteren „Palme“, trotz des ungünstigen Klimas, so vieler segensreicher Institutionen wie nur wenige Vereine im engeren Vaterlande.
Doch nun im Fluge zu unserem deutschen Club in Moskau, der neben allen geschlossenen Gesellschaften, dem adeligen, dem englischen, dem Kaufmanns- und Künstlerclub, dem Vereine der Handels-Commis, dem Casino und der Liedertafel, in welchen beiden letzteren deutsche Elemente ebenfalls die Hauptmacht bilden, unbestritten die hervorragendste Stellung einnimmt. An Großartigkeit, Mitgliederzahl, mit seinen Einrichtungen, seiner geselligen Unterhaltung, seinen Mitteln und seinem Glanze übertrifft er sie alle. Der deutsche Club gründet sich auf ein Privilegium vom 30. August 1819, welches sich einige deutsche Gewerbtreibende in der alten Czarenhauptstadt durch die Achtung, die sie genossen, zu erwerben wußten. Der Plan war, Deutsche und Ausländer für Zwecke geselliger Unterhaltung, der Wohlthätigkeit und des gegenseitigen Schutzes zu vereinigen. Wir werden sehen, bis zu [569] welchem Glanze und zu welcher fruchtbaren Ausdehnung sich dieser kleine Kern entwickelt hat.
Zunächst ein Wort über die Verwaltung. Diese ist sieben gleichberechtigten Vorstehern anvertraut, denen fünf „Repräsentanten“ berathend zur Seite stehen, welche als „Revidenten“ alle Angelegenheiten der Gesellschaft den Vorstehern gegenüber vertreten. Erstere bilden sonach eine Art Oberhaus, letztere die zweite Kammer. Sie gemeinschaftlich appelliren in streitigen Fällen an einen „Ehrenvorsteher“. Diese Regierung zählt jetzt nicht weniger als achtzehnhundert freie Unterthanen, von denen nur vierhundertfünfzig wirkliche Mitglieder sind. Die Uebrigen betheiligen sich als Jahresgäste (Russen), Candidaten, sonstige Ausländer und Ehrenmitglieder, zu welchen die höchsten Beamten und Persönlichkeiten der Stadt gehören. Das Clubhaus, eines der geräumigsten Locale der Stadt ist noch nicht Eigenthum der Gesellschaft, sondern wird mit einer Miethe von jährlich siebentausend Silberrubel bezahlt. Das ist viel Geld; aber in den glänzendsten deutschen Städten würde auch für viel höhere Preise kein ähnliches Local erworben werden können, einfach deshalb, weil sie nicht da sind. Die Mitglieder begnügen sich nicht einmal mit diesen von sechshundert Gasflammen erleuchteten Sälen und Zimmern, in denen außer den achtzehnhundert Theilnehmern bei Concerten, Bällen und Maskeraden oft noch die doppelte Anzahl von Gästen bequem Platz finden, da fast jeder Theilnehmer von seinem Rechte Gebrauch macht, zwei Damen und männliche Gäste gegen Entree einzuführen. Während der drei Sommermonate bezieht der Club seine reizend gelegene Villa in dem prächtigen Parke vor der Stadt und bezahlt dafür monatlich tausend Rubel.
Das Clubhaus in der Stadt enthält außer Tanz-, Speise- und Gesellschaftssälen viele geräumige Zimmer zum leider sehr vorherrschenden Kartenspiel, drei Billards, eine prachtvolle, im Winter geheizte Kegelbahn, einen Lesesalon mit Zeit- und Flugschriften und Depeschen in allen möglichen Sprachen und eine Bibliothek von zwanzigtausend Bänden. Möbel, Tafelservice und Wäsche sind äußerst elegant und haben, auch nachdem fünfundzwanzig Procent amortisirt worden sind, noch einen Werth von mehr als fünfundvierzigtausend Silberrubel. Dabei sind natürlich die dunkelblaugrauen Leibröcke mit weißen Metallknöpfen, die schwarzen Tuchbeinkleider, rothen Westen, weißen Halstücher und Handschuhe der zahlreichen Dienerschaft nicht mitgerechnet.
Der Club bietet seinen Mitgliedern für einen geringen Beitrag vielfache Vergnügungen und Unterhaltung, und man findet jeden Abend gute Gesellschaft darin. An Sonn- und Feiertagen, den sogenannten Familienabenden, giebt es Unterhaltungsmusik, Gesangsvorträge, durchreisende Tänzer, sonstige Künstler und Künstlerinnen, sogar Escamoteurs, Akrobaten und andere Virtuosen zu bewundern. Jeden Winter finden zehn Masken- und mehrere unmaskirte Bälle statt, an denen oft dreitausend Personen Theil nehmen; außerdem während der Fastenzeit acht bis zehn Concerte. Die Ausgaben dafür betrugen im vorigen Jahre fünfundzwanzigtausend Silberrubel. Dazu kamen zehntausend Rubel Abgaben an die Stadt, die Theaterdirection, das Findelhaus und andere Institutionen und Behörden, die gern Geld nehmen.
Besuchen wir im Geiste einen Ball dieses deutschen Clubs. Welch ein leuchtendes, farbiges Gewimmel von Gewändern und Völkern! Die helle, leichte Poesie der Damenroben bildet einen grellen Gegensatz zu der nüchternen, schwarzen Allgemeinheit der Herrenleibröcke, aber zwischen ihnen leuchten die glänzenden Uniformen der Officiere, der malerische Anzug des Tscherkessen, der lange Talar des Armeniers, das seidene Gewand des Persers und des Tataren. Der weibliche Ballanzug wird auch hier leider schon durch die geschmacklosen Vorschriften der Pariser Modistinnen verallgemeinert, so daß sich die Damen verschiedener Nationalitäten meist nur noch durch den Gesichtsausdruck unterscheiden. Der langwallende Schleier aus dem dunklen Haar und der melancholische Blick verräth die Armenierin; diese sanften Augen und das blonde Haar darüber können nur einer Tochter Deutschlands gehören; an dem ruhigen Gange und Gesicht bei lebhafter Unterhaltung erkennen wir die Russin, und diese edlen Züge mit schönem Profil, dunklem Teint und feurigem Blick erinnern uns mitten in Rußland an den lachenden, warmen Himmel Italiens.
In einem Nebenzimmer endlich machen unsere Augen eine interessante Entdeckung. In phantastischer Toilette schwebt eine elastische Gestalt in geschmeidiger Ueppigkeit der Formen an uns vorüber, während sie mit Grazie die weiße Papier-Cigarre zum Munde führt und den Rauch kokett in kreisenden Ringen aus ihrem üppigen Munde bläst; dabei glühen die Augen, als könnte man sich die Cigarre daran anzünden, aus dem dunklen, aber olivenfarbig feurigen Teint hervor, der durch die Fülle blauschwarzen Haares noch reizender wird. Wer ist sie und welcher Nation gehört sie an? Der Laie wird schwer errathen, daß sie als eine der schönsten Perlen aus dem ewig wandernden, geheimnißvollen Stamme der Zigeuner von einem russischen Officier entdeckt, gereinigt, geschliffen und in Gold gefaßt, für ein höheres, eheliches und sociales Leben gewonnen und hier mit Stolz in den deutschen Club eingeführt ward. Der Ball und die vorzügliche Musik unterscheidet sich durch keine wesentlichen Merkmale von den Vergnügungen gleichen Namens in unserer civilisirten Welt. Auch an den verschiedenen Büffets und im Speisesaale ißt und trinkt man, wie es jetzt überhaupt Mode ist, nur daß man jedenfalls dem Weine mehr zuspricht, als anderswo. Wenigstens wurde im vorigen Jahre für dreißigtausend Rubel Rebensaft getrunken, obgleich er hier billiger ist, als außerhalb des Clubs. Man hat überhaupt durch die ganze ökonomische Abtheilung hindurch das praktische Princip der englischen Clubs eingeführt und dafür gesorgt, daß alle Speisen und Getränke besser und billiger geliefert werden, als in öffentlichen Anstalten.
Durch eine endlose Reihe von Zimmern und Sälen kommen wir endlich in die Treppe zur zweiten Etage, die fast durchweg mit Spieltischen und dem buntesten Gemisch von Spielern aller Nationen gefüllt ist. Allerdings sind Hazardspiele nicht erlaubt, aber man drischt jedenfalls zu viel Karte, was daraus hervorgeht, daß der Gewinn an verkauften Spielkarten im vorigen Jahre nicht weniger als fünfzehntausend Rubel betrug. Vor diesen leidenschaftlichen Dreschern habe ich eine große Abneigung, und auch die Billardzimmer und die Kegelbahn haben für uns wenig Anziehungskraft, so daß wir hiermit den Ball verlassen und nur noch mit der interessanten statistischen Notiz aufwarten, daß die Spieler um drei Uhr Morgens aufhören und für jede spätere halbe Stunde Strafe zahlen müssen, welche im vorigen Jahre bis auf die Summe von achtzehntausend fünfhundert Rubel stieg.
Jetzt, mitten in unserem besten Sommermonate sind wir, wie alle anständigen Familien, weit hinausgezogen in unseren herrlichen Petrowski-Park, um dessen willen allein die alten Moskowiter mit ihrer giftvollen Presse gegen die Deutschen uns unsre Vorzüge (den hauptsächlichsten Grund ihres Hasses) verzeihen sollten, denn diese Schöpfung voll üppiger Waldung und grüner Augenweiden, schönen Sommerwohnungen und Kaffeehäusern auf ehemals dürrem Sande ist das Werk eines deutschen Gärtners, des unlängst verstorbenen Fintelmann. In diesem Parke logiren wir deutschen Clubmitglieder auf einem aus unsern eigenen Mitteln erworbenen und eingerichteten Grundstück mit Blumengarten, Fontainen, Aquarien, Vogelhäusern, Kegelbahn, Billardzimmern, Spielsälen, Ziel-Schießstand, Plätzen für Seiltänzer, Akrobaten, Kunstreiter und Spielplätzen für uns selbst und unsere Kinder. Hier amüsiren wir uns alle Tage und oft spät bis in die Nacht hinein im Lichte von vierhundert Laternen und Tausenden von farbigen Glasbechern und Kugeln, und essen Sonntags table d’hôte mit rauschender Militärmusik.
Es wird jedoch für solidere und nachhaltigere Zwecke gesorgt. Unser baares Vermögen von mehr als zweihunderttausend Silberrubeln verzinst sich mit beinahe neuntausend, welche nur für Zwecke der Wohlthätigkeit verwendet werden. Verarmte Mitglieder oder deren Waisen erhalten beträchtliche Unterstützungen. Außerdem hat jede Wittwe eines verstorbenen Mitgliedes schon nach fünf Jahren regelmäßig gezahlter Beiträge Anspruch auf eine lebenslängliche Pension von jährlich fünfzig und nach zehn Jahren von hundert Rubeln. Auch erhalten alte, invalid gewordene Beamte nach zwanzigjähriger Dienstzeit ihren ganzen Gehalt als lebenslängliche Pension. Mehrere Kinder genießen aus den Mitteln des Clubs freien Schulunterricht, und nach dem Attentate auf Kaiser Alexander in Paris beschloß der Vorstand als Denkmal ewiger Dankbarkeit für dessen Rettung den beiden hiesigen lutherischen Kirchen ein Capital zu übergeben und von den Zinsen desselben zwei Knaben und zwei Mädchen armer Eltern frei erziehen und unterrichten zu lassen. Bei Spendung aller dieser Wohlthaten wird keine Rücksicht auf Glauben oder Nationalität genommen. Und auch hierin offenbart sich wieder das kosmopolitische Talent der Deutschen. Nur sie sind im Stande und beweisen es in aller [570] Welt durch rasch aufblühende und fruchttragende Schöpfungen und Institutionen einer vorurtheilsfreien Weltcultur, daß sie, ohne ihre Nationalität aufzugeben, Herz und Kopf frei genug haben, um sich in die Anschauungen, Sitten und Gebräuche anderer Völker hinein zu leben, sich mit ihnen zu befreunden und in ihrer eignen Anschauungs- und Lebensweise arbeitend, schaffend und gestaltend, singend und trinkend in allen Völkern zugänglichen Vereinen sie für sich zu gewinnen.
In diesem Leben und Treiben der Deutschen unter allen Längen- und Breitengraden und allen möglichen Nationen vollzieht sich unsere kosmopolitische Mission, schlingt in stiller, aber ununterbrochener Thätigkeit das heitere Band der Verbrüderung und Verschmelzung aller Nationen und schafft immer festere Bürgschaften für den ewigen Frieden und die Freiheit auf Erden, so sehr diese Träume auch noch im engeren Vaterlande selbst und von anderen Nationen verlacht werden.
Von der kosmopolitischen Macht unseres deutschen Clubs in Moskau über die Russen und andere Nationen können wir durch nüchterne Zahlen einen Beweis geben: die Theilnehmer zahlten im vorigen Jahre einen Beitrag von vierundzwanzigtausend Rubel, während die Gäste, bestehend aus allen möglichen Racen und Völkern, nicht weniger als dreißigtausend Rubel bezahlten, um sich dafür die anziehende Freude zu erkaufen, durch unsere geselligen Unterhaltungen ihren eigenen Lebensgenuß zu erhöhen und dadurch unseren jährlichen Umsatz auf beinahe vierhunderttausend Rubel zu steigern.
Es giebt nicht überall solche glänzende Clubs zur Verbreitung deutscher Gemüthlichkeit und Fähigkeit des Lebensgenusses, aber überall auf der Erde finden sich deutsche Pioniere der Weltcultur, die sich immer früher oder später mit ihrem Kneiptalent in Turn- und Gesangvereinen zusammenthun und dem deutschen Kopfe und Arme mit heiteren Kräften, der hell aus den Augen blitzenden Treue und Zuverlässigkeit neue, willkommene Heimstätten gründen. So kann es uns am Ende nicht fehlen, daß wir mit den überall siegreichen Waffen unserer friedlich schaffenden Thätigkeit und Offenherzigkeit für alle Völker noch die ganze Welt erobern, befreien und vereinigen.
Viele Tausende trägt alljährlich die Eisenbahn quer durch das freundliche Thüringer Land vom Norden und Osten nach dem Süden und Westen, Tausende streifen allsommerlich in den Bergen und Thälern des reizenden Thüringer Waldes umher, Hunderte nisten sich auf Monate in einem oder dem andern der vielen kleinen Bäder und Sommerfrischen ein, die sich so verlockend in seinem grünen Schooße bergen, nur Wenige aber aus diesen Reisenden- und Touristenschwärmen fesselt die ehrwürdige Hauptstadt Thüringens, das alte Erfurt, länger als höchstens zu einem flüchtigen Besuche ihres Domes, jener Perle deutscher Baukunst, von welcher die Gartenlaube vor wenigen Jahren (1864, Nr. 15) ein so meisterhaftes Bild gegeben hat. Allerdings Erfurts mittelalterlicher Glanz ist lange dahin; aus der blühenden Reichsstadt mit ihrer stolzen, ewig streitlustigen und streitbaren Bürgerschaft ist eine preußische Festung, eine preußische Militär- und Beamtenstadt geworden, trotzdem aber bietet auch das bürgerliche Element derselben und seine rege industrielle Thätigkeit des Interessanten genug, um, ganz abgesehen von der freundlichen Wald- und Hügelumgebung, uns zu längerem Weilen einzuladen. Namentlich aber ist es Ein Zweig gewerblicher Betriebsamkeit, der in neuerer Zeit Erfurts Namen weit hinaus über die Grenzen Thüringens und Deutschlands, ja über die Europas und über den Ocean hinüber in die neue Welt getragen hat, – sein Gartenbau. Wohl giebt es in Deutschland noch manche Orte und Gegenden, die sich durch Umfang und Leistungen ihrer Gärtnereien auszeichnen, wie Quedlinburg, Köstritz, Bamberg, Ulm u. a. m., die Gärtnerei Erfurts jedoch ist nach verschiedenen Richtungen hin ein Unicum.
Von der Höhe des bekannten anmuthigen Lieblingsluftortes der echt thüringisch gemüthlichen Erfurter, von dem mit hochstämmigen Eichen bestandenen und mit einer Menge kleinerer und größerer Vergnügungsetablissements geschmückten Steigerwald, den im Norden die gen Gotha ziehende Schienenstraße säumt, überblickt man dorthin ein weites flaches Thal, aus welchem im Nordosten die ehrwürdige Stadt mit ihren vielen schönen alterthümlichen Thürmen aufragt und wo weiter im Hintergrunde die Bastionen der Citadelle Cyriaksburg die anmuthige Landschaft abschließen. Diese von sanften Rändern eingefaßte, etwa sechzig Acker enthaltende Thalmulde, jetzt das Bild lachender Fruchtbarkeit, war ehedem ein Terrain, das fast nur aus Sumpf und Teichen bestand; heute ist es urbar gemacht und von dem Quell, dem Dreienbrunnen, regelmäßig bewässert, welcher dem ganzen Gebiete den Namen giebt, insbesondere durch die Bemühungen des einst hochgeschätzten Gartenbauers und horticulturistischen Schriftstellers Christian Richard zu der Hauptstätte des weit und breit berühmten Erfurter Gemüsebaues umgeschaffen.
So erläuterte mir ein Freund, ein alter Erfurter, mit dem ich an einem milden Frühlingstage über den Steiger schlenderte und mit dem Gefühl innern Behagens in die nicht imposante, aber anheimelnde Gegend hinausblickte.
Jedem Fremden fallen in dieser sofort die eigenthümlichen Streifen auf, die in regelmäßigen Zwischenräumen mit ihrem satten Grün wie Sammetbänder von einem hellen Kleide abstechen. „Es sind dies,“ antwortete auf meine desfällige Frage der Freund, der, selbst in nahen Beziehungen zu einem der ersten Gärtnereietablissements, der beste Gewährsmann war, den ich mir wünschen konnte, „die Beete oder vielmehr die Gräben, in welchen wir unsere Brunnenkresse ziehen, deren zarte Blätter Dir heut Mittag als Salat so sehr gemundet haben. Wir nennen sie Klingen. Sie bestehen aus regelrecht geordneten, verschiedene Länge und Breite, etwa zwei bis zwei ein halb Fuß Tiefe enthaltenden, an ihren Rändern mit Rasen eingefaßten Gräben, die entweder ausschließlich zur Bewässerung des dazwischen liegenden Gemüselandes oder zur Züchtung der Brunnenkresse dienen. Die erstere Art dieser Gräben bezeichnet man mit dem Namen ‚Gießklinge‘, während man die andere Art ‚Brunnenkreßklinge‘ nennt. Diese, ein Gesammtareal von zweiundzwanzig Morgen umfassenden Brunnenkreßklingen werden durch drei am Fuße des Steigerwaldes entspringende, in einer Entfernung von zweihundert und fünfzig bis dreihundert Schritt von einander gelegene, einen ziemlich constanten Wärmegehalt von acht bis zehn Grad R. enthaltende, süße Hauptquellen gespeist. Aber auch bei dieser Speisung hat die kunstgeübte Hand der Natur hülfreich entgegenkommen müssen, denn der Untergrund dieser Klingen ist mit großer Sorgfalt geebnet und nivellirt und ihm gerade so viel Neigung zugemessen, um dem Wasser eine stetige, sanfte Strömung zu geben. Nur äußerst selten gefriert dieses Wasser im Winter; unter vorherrschend kaltem Winde indeß bei vierzehn Grad, bei Windstille aber erst bei einem Thermometerstande von achtzehn bis zwanzig Grad Kälte.
Erfurt darf sich übrigens nicht als alleinige Pflanzstätte dieser wohlschmeckenden Kresse rühmen, wie dies oft geschieht. Auch in einigen wenigen Orten Frankreichs hat man Brunnenkreßanstalten in größerem Umfang angelegt, aber ganz nach dem Systeme unserer Dreienbrunner. Paris hat beispielsweise zur Zeit über neunhundert derartige Klingen. Die Uebereinstimmung der französischen Kresseanlagen mit den hiesigen und die gleichmäßige Behandlung in ihrer Cultur findet ihre geschichtliche Erklärung darin, daß während der französischen Occupation im Jahre 1809 Napoleon zwei mit dem Anbau dieser Pflanze vertraute Männer (Nottrodt aus Erfurt und Zugwurst aus Visselbach) anwarb und zur Einrichtung dieser Cultur nach Versailles sandte. Doch soll die Erfurter Kresse einen bedeutend bessern Geschmack haben als die französische, was um so mehr an Glaubwürdigkeit gewinnt, als nicht unerhebliche Sendungen der Erfurter Kresse nach Paris befördert werden.“
„Die Erfurter Brunnenkresse,“ belehrte mein Begleiter mich weiter, „gehört zur Familie der Kreuzblätter mit ziemlich kleinen weißen Blumen. Die Pflanze selbst ist dunkelgrün und blüht vom Monat Juni bis zum Herbst. Ihre Erntezeit sind hauptsächlich Herbst und Winter, sie wird aber vereinzelt selbst bis in den Monat Mai [571] hinein verspeist. Die Cultur der Kresse ist zwar eine sehr einfache, aber eine ebenso mühevolle. Zu Anfange des Herbstes wird nämlich alljährlich der Grund der Klinge von allen vegetabilischen Ueberbleibseln mittels eines Rechens befreit, der darin abgelagerte Schlamm geebnet, die Spitze der alten ausgezogenen Pflanze sodann etwa neun Zoll abgeschnitten und gegen den Strom, dicht nebeneinander, in regelmäßigen Abständen auf den Schlamm gelegt, wogegen die Ränder der Anlage der vortheilhafteren Bewirthschaftung wegen von der Anpflanzung verschont bleiben. Hierauf wird die Kresse mittels eines eigens dazu construirten Brettes (des Patschbrettes) festgedrückt. Je nachdem die Bewurzelung der Pflanze schnell oder langsam vor sich geht, führt man das inzwischen abgedämmte Wasser den Gräben allmählich wieder zu. Bei jeder Erneuerung der Klinge werden Bett und Ufer frisch regulirt. Aber auch in den Sommermonaten müssen die Spitzen der Kresse wiederholt abgehauen werden, weil andernfalls ein Milliarden von kleinen Maden erzeugender Käfer sich in dieselbe einnistet, welcher die Pflanze bis zum Wasserspiegel verzehrt und demnächst seine verheerende Wanderung nach den Gemüsebeeten einschlägt. Leider ist dieser Käfer nicht der einzige die Arbeit und Mühe des Anbaues beeinträchtigende Feind der Kresse, denn auch Krähen, wilde Enten und Elstern fallen im Winter zur Nacht- und Tageszeit schaarenweise in diese Anlagen ein, um nährende Speise theils der Pflanze selbst, theils den auf ihr hausenden Schnecken und Würmern abzugewinnen. Zur Erntezeit werden die Spitzen der Kresse in einer Länge von etwa drei bis vier Zoll abgeschnitten, mittels einer Weidenruthe in kleine Bündelchen geschnürt und demnächst dem Markt und Handelsverkehr übergeben. Uebrigens liefern die Klingen zu dieser Zeit alle vier bis sechs Wochen einen reichlichen Ernteertrag.“
Eine mindestens ebenso ergiebige Ertragsquelle wie die Brunnenkreß-Anlagen bietet das zwischen denselben gelegene Gemüseland im Dreienbrunnen, welches der Erfurter mit dem Namen „Jähnen“ bezeichnet. Es sind dies acht bis zwölf Fuß breite, hoch aufgeworfene Beete mit schrägen Böschungen an ihren Rändern, von ganz vorzüglicher natürlicher Fruchtbarkeit, welcher letzteren durch jährlich erneuerte gute Düngung sowie durch den Vortheil der Zuführung von Feuchtigkeit in trockener Jahreszeit aus den sie umgebenden Brunnenkreßgräben wesentlich nachgeholfen wird. Dadurch gewinnt die Anlage das Ansehen und den Charakter eines großartigen offenen Treibhauses.
Nicht ohne überwiegenden Einfluß auf die fast beispiellosen Erträge des Dreienbrunnens ist unzweifelhaft die dort zur Anwendung kommende Wechselwirthschaft sowie die sorgfältigste Benutzung jedes Raumes, ja selbst der Böschungen. Die Aussaat von Kopfsalat, von Blumenkohl und Kohlrabi wechselt mit dem Sellerie, dem Porrée, dem Wirsing, dem Kraut, Blaukohl, der Zwiebel und anderen Gemüsearten zeitgemäß und in genau bestimmter Reihenfolge dergestalt, daß durch dieses System eine alljährliche drei- und vierfache Ernte erzielt wird. Aber auch nur so außergewöhnliche Ertragsresultate sichern das Anlagecapital und den Verdienst des Züchters, denn ein hundert und achtundsechszig Quadratruthen enthaltender Acker mittlerer Qualität wird durchschnittlich zu dem enorm hohen Preise von achthundert Thalern und einzelne besonders ertragsfähige Stücke werden sogar zum Preise von vierzehn- bis fünfzehnhundert Thalern pro Acker erworben!
Nach einer im verflossenen Jahre gemachten Zusammenstellung ergab der Erfurter Gemüsebau einen Umschlag von mehr als einunddreißigtausend Thalern, der Acker im Dreienbrunnen mithin einen Reinertrag von einhundert achtundachtzig bis einhundert und neunzig Thalern. Es stellt sich derselbe aber in Wirklichkeit wesentlich höher, da die Producenten die erforderlichen Culturarbeiten meist selbst oder durch ihre Angehörigen verrichten und weil fernerhin der Ertrag der Brunnenkreßklingen bei dieser Berechnung nicht mit inbegriffen ist, welche letztere jährlich etwa vierzig- bis fünfzigtausend Schock Bündchen der schönsten Kresse zu einem Mittelwerthe von zweitausend Thalern liefern.
Doch nicht allein Vielfältigkeit und Menge der Erzeugnisse des Dreienbrunnens haben ihm und seinen Züchtern den weit verbreiteten Ruhm erworben, mehr als diese noch sind es die besondere Güte, die außerordentliche Schwere und Größe, wie die bevorzugte Schmackhaftigkeit der einzelnen Gemüsesorten. Wenn auch Bodenbeschaffenheit, Klima und Lage als wesentliche Ursachen dieser erzielten Vorzüge zu betrachten sind, so kann andererseits doch nicht verkannt werden, daß in der Herbeischaffung und mühevollen Acclimatisation der vorzüglichsten Sämereien aus Holland, Frankreich, Italien und selbst aus fremden Welttheilen seit einem Jahrhundert schon der Keim zur Zucht dieser ausgezeichneten Gemüsesorten gelegt worden ist. So wird nachgewiesen, daß der Schmuck der Erfurter Gemüsebeete, der große, frühe Blumenkohl, mit seinem schneeweißen, flachgewölbten, acht bis zehn Zoll im Durchmesser haltenden Kopfe, seine Abstammung vom cyprischen Blumenkohl hat und etwa in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts von der Insel Cypern eingeführt wurde. Er ist daher auch nicht blos ein Gegenstand des örtlichen Handels- und Marktverkehrs, sondern ein von auswärts mehr als andere Gemüsesorten gern begehrter Artikel. Von diesem Blumenkohl beförderte die thüringische Eisenbahn-Gesellschaft in dem für Gemüsezucht ungünstigen Jahre 1862 allein auf der Eilgutexpedition, also außer dem gewiß nicht unerheblichen gewöhnlichen Frachtgute, zusammen über tausend siebenhundert Centner nach den verschiedenen Städten Mitteldeutschlands. Erwähnenswerth ist auch noch der hier gezüchtete, berühmte schwarze Winterrettig, welcher allerdings in früherer Zeit von bedeutend größeren Dimensionen war als gegenwärtig, da nach älteren verbürgten Nachrichten fünf bis sechs derartige Rettige früherhin oftmals ein Gewicht von einem Centner und darüber hatten.
Von den Feldfrüchten sind die Erfurter Bohnen (weiße Bohnen) und die Puffbohne in weiten Kreisen bekannt, während der Obstbau schon früherhin eine untergeordnete Stellung eingenommen und dieselbe bis hierher behauptet hat.
Diesem hier in kurzen Umrissen beschriebenen Gemüsebaue schloß sich als naturgemäße Entwickelung und Fortbildung die Blumenzucht an, die nach und nach dergestalt an Vollkommenheit und Ausdehnung gewann, daß zur Zeit sich die Erfurter Blumenzüchterei einen weitverbreiteten ehrenvollen Ruf und Namen erworben und durch die im September des Jahres 1865 aus den entferntesten Theilen der Erde besuchte wahrhaft großartige Ausstellung von Producten des Land- und Gartenbaues sich eine bleibende Gedächtnißtafel der Ehre und des Ruhmes gesetzt hat.
Die eigentliche Entwickelung der Erfurter Blumenzüchterei datirt aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, doch waren es damals zumeist die drei Floristenblumen, Nelke, Aurikel und Levkoye, welche eine so bevorzugte Stellung einnahmen, daß sich solche bis zur heutigen Stunde forterhalten hat. Namentlich bildet die Levkoyen-Cultur einen wesentlichen Theil des gärtnerischen Welthandels. Diese Blume umfaßt gegen dreihundert in ihren Formen charakteristisch verschiedene Varietäten. Sorgfältig angestellte Ermittelungen ergaben im Jahre 1863, daß in den Samen-Culturanstalten, ausschließlich der kleineren Privatzüchter, sechshundert und fünfzigtausend Töpfe mit Levkoyen vorhanden waren, die einen Ernte-Ertrag an Samen von achthundertsechsundsechzig und zwei Drittel Pfund zu einem gewöhnlichen Werth von fünfundvierzigtausend neunhundert und dreiundsechzig Thaler repräsentiren. Da aber von den besseren Sorten je hundert Körner zwei bis vier Silbergroschen kosten, so dürfte die angeführte Werthsumme wohl zu tief gegriffen sein, vielmehr der Werth dieses Artikels auf nahezu sechszigtausend Thaler veranschlagt werden können. Der Samen dieser Blume ist daher auch einer der bevorzugteren Handelsartikel der Erfurter Gärtner. Ebenso bildet die Aurikel, sowie die Nelke oder Grasblume nach wie vor neben der Rose einen Hauptzweig der localen Blumenzüchterei, da diese von der Nelke einen jährlichen Absatz von etwa hunderttausend Stück junger Pflanzen, von der Edelrose aber von hundertsechszigtausend Stück nachweist.
Außer den vorgedachten allerdings zumeist hervorragenden drei Floristen umfaßt die Züchterei von Blumensamen und Ziersträuchern eine so erhebliche Menge von verschiedenen Sorten und Gattungen, daß die Kataloge der Kunst- und Handelsgärtner über viertausend und fünfzig Nummern ergeben. Aber auch die Gewächshaus-Culturen Erfurts sind, da sie zumeist Decorationspflanzen und prachtvoll blühende exotische Gewächse umfassen, in großer Vollkommenheit ganz dem modernen Geschmacke angemessen und nehmen so großartige, fast unglaubliche Dimensionen ein, daß die zur Cultur exotischer Gewächse vorhandenen Werkstätten (Häuser) in Verbindung mit den Warm- und Kaltbeeten zur Anzucht von Pflänzlingen eine Glasbedeckung von zweihundert und fünfzigtausend Quadratfuß oder ungefähr neunundeinhalb Morgen einnehmen, während das gesammte zur Blumensamenzucht [572] bestimmte Areal zweihundertzwanzig Morgen und das zu Gemüsesamen verwendete zweihundertzehn Morgen enthält. Eine so beispiellose Ausdehnung bedingt allerdings auch einen ganz außergewöhnlichen Kraftaufwand, in welchen sich nach amtlichen Listen einundvierzig Kunst- und Handelsgärtner und siebenundvierzig Gemüsegärtner mit über hundert Gehülfen, dreihundertsechszig Arbeitern und einundfünfzig Lehrlingen theilen, welche den Geschäftsinhabern nach gewöhnlichen Lohnsätzen eine Ausgabe von etwa dreiundsechszigtausend Thalern jährlich verursachen.
Einer der Erfurter Handelsgärtner beschäftigt sich, unter Hülfe von einigen dreißig Arbeitern, ausschließlich mit der Anfertigung und Versendung von Bouqueten und Kränzen aus lebenden und getrockneten Blumen. Die kunstgerechte, äußerst geschmackvolle Auswahl und Zusammenstellung der Blumen in Form und Farbe findet allgemeine Anerkennung und Bewunderung. Die getrockneten Blumen sind zwar geruchlos, allein ihre Haltbarkeit und ihr Farbenspiel unterscheiden sich nur wenig von dem der lebenden. Sie bilden die winterliche Zierde so manches zum frohen Festmahle geschmückten Heerdes in naher und weiter Ferne, wie sie die Trauerbahren schmücken und in den Händen der über Schnee und Eisdecken schreitenden Bräute im fernen Norden an Frühlingsluft und Frühlingspracht mahnen.
Mit dem Auslande stehen siebenundzwanzig Gärtner in Verkehr; sie lassen in der Regel jährlich etwa dreihunderttausend Stück, öfters fünf bis sechs Bogen starke Kataloge zu einem Kostenpreise für Satz, Druck und Papier von nahezu vierzehntausend Thalern drucken, welche für die Postverwaltung einen jährlichen Portoertrag von ungefähr dreitausend Thalern abwirft.
In Bezug auf die Absatzwege aller dieser Gärtnereierzeugnisse nehmen die österreichischen Staaten den ersten Platz ein. Ein besonders lebhafter Verkehr hat sich mit Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina, mit Böhmen sowie mit dem Districte unter- und oberhalb der Enns entwickelt und fest begründet. Diese Länder sind seit vielen Jahren schon die hauptsächlichen Abnehmer der Erfurter Erzeugnisse von Blumen- und Gemüsesamen und entnehmen, nach festgestellten Ermittelungen, über die Hälfte des gesammten Ernte-Ertrages. Die demnächst noch verbleibende kleinere Hälfte vertheilt sich auf das deutsche Gebiet, auf Frankreich, Rußland, England, Italien, sowie auf außerhalb Europa’s gelegene Länder. Rußland gegenüber ist indeß in den letzten Jahren eine fühlbare Verkehrsabnahme eingetreten, wegen der unvortheilhaften Verwerthung der russischen Banknoten, wie anderweiter hemmender Uebelstände.
Da sitzen nun die Männer der Finsterniß und des Rückschrittes, zerkäuen sich die Nägel und sinnen und halten geheimen und offenen Rath mit einander, wie sie die Welt um ein paar hundert Jahre zurückschrauben und mit den Lumpen vermoderter Anschauungen mindestens die Canäle verstopfen können, durch welche der Geist, den sie nicht zu tödten vermögen, der lichte und fröhliche Geist der Befreiung und Humanität, der Erlösung von herabdrückenden und trennenden Vorurtheilen bald in gewaltig brausender Strömung, bald mit dem linden Wehen des Frühlingshauches in die große Masse des Volkes dringt. Die Verblendeten! Auf ihrer Fahne steht, was das Jahrhundert nicht mehr will: Bevormundung des menschlichen Denkens und Fühlens nach von oben her vorgeschriebener Satzung, feindselige Sonderung und Scheidung der Menschen hier um des Standes und Interesses, dort um der Confession und des Glaubens willen! Sehen sie denn nicht, daß sie einen vergeblichen Kampf kämpfen, einen wahnwitzigen Verzweiflungskampf nicht gegen spukende Ideengespenster, sondern gegen das unaufhaltsame Vordringen einer riesenhaften Macht, die mit ungeheuerer Siegesgewißheit aller kleinlichen Maßregeln menschlicher Klugheit spottet und an dieser und jener Stelle nur durch künstliche Dämme gehemmt wird, um unerwartet an einer anderen wieder hervorzubrechen, ein Feuer, das nicht zu erlöschen, ein Leben, das nicht zu ersticken und mit Keulen nicht todtzuschlagen ist? Nicht lange, so werden wir in dieser Hinsicht wiederum ein merkwürdiges Schauspiel erleben, eine Schleuße werden wir plötzlich geöffnet, ein majestätisches Stück deutschen Geistesstroms seiner hemmenden Schranken entledigt, ja eine ganze Schaar von Geistern losgelassen sehen, um sich aus dürren und beengenden Höhen in die weiten und frischen Auen des Volkslebens zu stürzen und nun hier ihre stille Arbeit, ein langes und fruchtreiches Wirken zu beginnen in Häusern, die ihnen bis jetzt verschlossen, in Köpfen und Herzen, die ihnen fremd geblieben sind.
Oder braucht es vielleicht erst bewiesen zu werden, daß die im November d. J. endlich eintretende Befreiung unserer classischen Dichter und Schriftsteller im wahrsten und eigentlichsten Sinne eine Wiedergeburt derselben, eine ganz unermeßliche Verstärkung ihrer Wirkungskraft und demzufolge ein bedeutsamer Wendepunkt in der Entwickelungsgeschichte unseres Jahrhunderts ist? Wird ja das Recht zum Verlage und zur Herausgabe dieser Classiker alsdann nicht mehr das Privilegium einzelner Buchhändler und Familien, sondern der freien Concurrenz des gesammten Buchhandels überlassen sein. Wer die Bedeutung dieses Ereignisses nicht sieht und fühlt, dem wird sie freilich nicht klar zu machen sein. Die Finsterlinge sehen es und empfinden ihre Ohnmacht, sie ahnen, daß ihren Plänen und Bemühungen in den längst von ihnen verdammten, in den Bann gethanen und trotzdem nun erst ungehindert in das Volksleben hereintretenden Lessing und Herder, Goethe und Schiller ein neuer und gefährlicher Feind erwächst.
Denn die Nation, wenigstens ein beträchtlicher Theil des Volkes, steht einer neuen und wohlfeilen Darreichung ihrer unsterblichen Denker und Dichter nicht theilnahmlos und unvorbereitet gegenüber. Die Erkenntniß vielmehr, daß aus den Werken dieser Dichter ein Hauch lichtvoller Erweckung strahlt, daß in ihnen ein reiner Quell hoher Geistes-, Herzens- und Geschmacksveredelung fließt, daß die Lectüre, das sorgfältige Studium dieser Werke eine unerläßliche Grundlage deutscher Bildung ist, diese Erkenntniß lebt jetzt in den Herzen Unzähliger, hat in Unzähligen einen lebhaften und sehnsüchtigen Drang nach einem vertrauten Umgange mit jenen Geistesschätzen erzeugt. Ueberhaupt haben sich die Verhältnisse in dieser Beziehung in einer fast wunderbaren Art verändert. Könnte man einen Einblick in die Handelsbücher des deutschen Buchhandels während der letzten dreißig Jahre erlangen, so würde sich an der ganzen Anlage und dem allmählich sich steigernden Absatze ihrer Unternehmungen eine der merkwürdigsten culturgeschichtlichen Umwälzungen verfolgen lassen: eine Durchfrischung, Verjüngung und riesenhafte Erweiterung des lesenden Publicums, wie keine andere Periode der bisherigen Menschheitsgeschichte als unzweifelhaftes Ergebniß fortgeschrittener Gesittung aufzuweisen hat.
Auf den Charakter dieser machtvollen Wandlung, auf ihre mannigfachen Ursachen, Wirkungen und Zusammenhänge, sowie auf ihre tiefgreifende Bedeutung für die Zukunft näher einzugehen, kann hier nicht unsere Absicht sein. Genug, es ist eine unleugbare Thatsache, daß in Deutschland die Gewohnheit und Fähigkeit, das Bedürfniß des Lesens nicht mehr das ausschließliche Vorrecht einer sogenannten „Gelehrtenrepublik“ und ihres Schweifes von gebildeten und schöngeistigen Laien, kurz eines winzigen Häufleins sind, das früher allein einen directen Verkehr mit der Welt des geistigen Schaffens unterhielt und gleichsam das Vermittelungsglied bildete, durch welches sich die von den Schriftstellern ausgestreuten, einen Umschwung der Sitten und Anschauungen herbeiführenden Ideen nur langsam, spärlich und erst aus zweiter Hand auf die weiteren Kreise übertrugen. Vielmehr ist aus dem gährenden Umschwunge aller politischen, aller Cultur- und Bildungsverhältnisse, aus der Erstarkung des Bürger- und Arbeiterstandes mit erstaunlicher Schnelligkeit ein gänzlich neues Publicum auch für die Literatur herangereift, und an die Stelle der Hunderte, die früher allein ein wärmeres Interesse für Bücher und Schriften hatten, sind eben so viele Hunderttausende getreten,
[573]
[574] deren begeisterungsfrischer Lesedurst, deren eben erwachter noch junger Bildungsdrang nicht blos der schriftstellerischen Thätigkeit eine verjüngende volksthümliche Richtung, sondern auch dem buchhändlerischen Vertriebe ein neues Arbeitsfeld, einen bis jetzt für denselben gar nicht vorhandenen Boden von unermeßlicher Ausdehnung gegeben hat. Daß dieses neue Publicum keine rohe, für Besseres nicht empfängliche Masse ist, wie gern es vom Schlechteren sich abwendet, wenn ihm Gutes geboten wird, zeigt die massenhafte Verbreitung, welche neuerdings gute Bücher und sorgfältig in edlem Sinn und Geschmacke geführte Zeitschriften finden.
Freuen wir uns also und jubeln, daß jener schwer auf dem Fortschritte lastende Bann endlich gebrochen und dem Bildungsstreben wiederum eines seiner Hindernisse hinweggeräumt ist, so thun wir dies mit Tausenden und abermals Tausenden im weiten Umkreise unseres Volkes.[WS 5] Schauen wir uns doch um. Kaum ist der Befreiungsruf erschollen, so drängen sich auch schon überraschende Folgen desselben uns überall entgegen. Ein heißer Wetteifer, eine riesenmäßige Thätigkeit ist erwacht, große Capitalien sind aufgewendet und bereits Tag und Nacht Hunderte von Händen und Kräften in Bewegung, um zu geeigneter Zeit in massenhafter Weise[WS 6] einem massenhaft sich äußernden Verlangen genügen zu können. Schon binnen Kurzem werden wir sauber und elegant hergerichtete Ausgaben unserer Classiker zu Preisen kaufen, für welche bisher kaum die elendeste literarische Jahrmarktswaare zu erlangen war. Und nicht genug, daß Buchhandel und Typographie so großartige Anstrengungen machen, um dem ihnen eröffneten neuen Wirkungskreise würdig zu entsprechen, auch die Kunst ist bereits in diesen Dienst des Volkes getreten, um es den Gaben für Geist und Herz nicht an dem belebenden und deutenden Bilde, der geschmackvollen und erhebenden Augenweide fehlen zu lassen. Illustrirte Ausgaben von Dichtungswerken waren bisher nur in den Häusern der Wohlhabenden, auf den Salontischen vornehmer und eleganter Damen zu finden. Von jetzt ab wird auch der Unbemittelte sich einen solchen vielfach so schmerzlich ersehnten Besitz, eine so freundliche Haus- und Tischzierde für einen geringen Betrag verschaffen können. Namhafte deutsche Maler, wie Ferd. Piloty, Ad. Schmitz, Paul Thumann, Gabriel Max, Carl Schlesinger, Ernst Bosch, haben sich vereinigt, eine ebenso wohlfeile als schöne Sammlung der beliebtesten classischen Hauptwerke mit einer großen Reihe von Bildern zu schmücken, wie sie in dieser Sauberkeit und künstlerischen Vollendung früher nur in theuern Prachtausgaben zu finden waren. Was wir von diesen neuesten Leistungen deutscher Illustrationskunst bereits im Voraus gesehen haben, hat uns wahrhafte Freude bereitet, und wir glauben unseren Jubelartikel über das nahende Auferstehungsfest unserer großen Lichtträger und Vorkämpfer nicht besser schließen zu können, als wenn wir unseren Lesern hier einige dieser lieblichen Bilder vorführen.
Diese Bilder sind den Illustrationen zur „Luise“ von Voß entnommen, welche Ende dieses Monats erscheinen und den Reigen der genannten von der Verlagshandlung (F. Grote’sche Buchhandlung in Berlin) mit Sorgfalt bereits vollständig vorbereiteten Sammlung eröffnen wird. Dieselbe concurrirt nicht mit den neu entstehenden, auf möglichste Vollständigkeit berechneten Gesammtausgaben, sondern will nur eine „Illustrirte Hausbibliothek“ der beliebtesten Meisterwerke sein. Eine Verpflichtung der Subscribenten zur Abnahme erstreckt sich immer nur auf eine dem Inhalte nach vollständig abgeschlossene Serie von zwölf Bänden, das Ganze ist auf drei solcher Serien berechnet. Bei dem verschiedenen Umfange der Dichtungen können natürlich die einzelnen Bände nicht gleich stark sein, durchschnittlich aber wird jeder derselben elf bis zwölf Bogen mit literarisch-kritischer Einleitung, sechs bis acht eingeklebten Vollbildern und vielen in den Text gedruckten Illustrationen umfassen. Der Preis eines solchen Bandes ist auf nicht mehr als acht Silbergroschen bestimmt, so daß man also z. B. Goethe’s Faust, zwei Bände mit reichem Bilderschmuck ausgestattet, für sechszehn Silbergroschen als Eigenthum erwerben wird. Aus dem hier vor uns liegenden Verzeichniß der drei Serien ersehen wir, daß in den sechsunddreißig Bänden derselben viele der bedeutendsten Dichtungen unserer classischen Zeit ihren Platz gefunden haben, u. A. also die meisten Dramen Goethe’s und Schiller’s, Götz, Egmont, Tasso, Iphigenie, Don Carlos, Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Wallenstein, Fiesco, Tell, Lessing’s Minna von Barnhelm, Nathan der Weise, Emilia Galotti etc., natürlich jeder Band so reich illustrirt wie der andere. Daß ein solches Unternehmen im Interesse unserer Leser einer Hinweisung der Gartenlaube werth gewesen, werden die späteren Beschauer der versprochenen Leistung nicht bestreiten.
Wir treten heute durch die Porte Rapp in die Welt des Marsfeldes ein. Sie ist die beliebteste der vielen Weltausstellungsthüren. Warum sie es ist? Ich habe es noch nicht herausgebracht. Man bekömmt, bei ihr angelangt, nicht das großartige Bild, das die Porte Jena gewährt, Leben und Treiben sind auch vor dem „Thore der Militärschule“ weit bedeutender, und doch ist sie die belebteste. Alles fährt vor der Porte Rapp vor, Alles geht zur Porte Rapp hinein, der Kutscher, der dich fährt, setzt dich, so du nicht eigens einen andern Halteplatz angiebst, selbstverständlich an der Porte Rapp ab. Die Porte Rapp ist unsterblich geworden, das berühmteste, populärste Thor der Welt. Ich glaube fast, die Pariser haben wie auf stille Verabredung die Porte Rapp so in Schwung gebracht und blos, weil der Kaiser immer zur Porte Jena seinen Einzug hält. Die Opposition – und sie zählt wahrlich auf den Straßen von Paris mehr Seelen als im Corps Legislatif! – geht eben nicht den Weg des Kaisers, auch nicht einmal den zur Ausstellung.
Im Kleinen wiederholt sich auch hier vor diesem Thore das geschäftig industrielle Bild, das wir vor dem Thore von Jena gesehen haben. Da sind auch die fliegenden Photographien-Verschleiße wieder, aber das Verkaufsrepertoire ist ein anderes geworden. Andere Zeiten, andere Photographien! Sie bieten dir heute nicht mehr „le grand Sultan“ zum Kaufe an, der ist schon veraltet, heute rufen sie wieder „le pauvre Empereur Maximilien“ und empfehlen dir mit dieser mitleidsvollen Feilbietung für einen Sou ein stilles Angedenken an den Todten von Queretaro. Wie rasch so ein Souverain in den Händen eines solchen Photographienhändlers ablebt, man glaubt es gar nicht. Wer von diesen frägt hier heute nach dem Kaiser aller Reußen und seinen zwei Söhnen? Sie sind ja schon wochenlang weg und ziehen nicht mehr. Der Anwesende hat Recht! sagen diese Physiognomienverkäufer. Laßt heute den Herzog von Nassau hier sein, und diese Leute verdrängen den König von Preußen und stellen in ihren Ausrufen den herzoglich nassauischen Thron wieder her.
Die Speculation auf die Souveraine der Welt ist in dem Paris der Ausstellung eine große. Die unbeliebtesten Kaiser und Könige sind auf einmal beliebt, wenn sie zur Ausstellung nach Paris kommen und viel, viel Geld ausgeben. Aber das müssen sie, sonst ist’s schlecht mit ihrem Ansehen bestellt. Wodurch, meinen Sie, hat sich der „große Sultan“ seinerzeit hier in der Meinung der Pariser so herabgesetzt? Etwa durch seine christenverfolgenden Kriegszüge auf Candia? Bewahre! Er hat wenig Geld ausgegeben und das war sein Verbrechen! Ein Sultan müsse Millionen hier verzehren, sagten die Pariser, sonst ist er kein Sultan. Wozu hat er einen[WS 7] Harem mit so viel Weibern, wenn er nicht jedem von ihnen zehn oder zwanzig Kleider und Geschenke in Unzahl nach Constantinopel mitbringt? Der Mann hat sich für immer ruinirt, er hat kaum hunderttausend Francs in Paris ausgegeben! Das wird sich, sowie die orientalische Frage ernster wieder auftritt, gewiß rächen. Und darum, thut nur Geld in Euren Beutel, meine Herren Majestäten und kaiserliche und königliche Hoheiten, die Ihr noch, incognito oder nicht, nach Paris kommen wollt, thut Geld in Euren Beutel, und die Pariser werden nicht das Mindeste gegen Euere Regierung haben, sei sie sonst wie immer beschaffen. Mohrenköniginnen können hier blühend weiß gewaschen werden, wenn sie nur ihr Geld unter die Pariser werfen.
Aber welche Ehre man ihnen auch allen anthut, den kleinen und großen Potentaten der Welt! Und wie ausgesucht artig man gegen sie ist, wie allseitig discret und zart! Man fährt den Kaiser von Rußland nicht über den Boulevard Sebastopol und den König von Preußen nicht über die Jenabrücke und den Kaiser von Oesterreich nicht über den Boulevard Magenta, auf daß sie keine historischen Schmerzen überkommen. Eben hier im Gehen und Plaudern begegnet uns, während wir die französische Außengalerie hinabwandeln, eine neue Aufmerksamkeit für die Souveraine. Ueber einem buntdrapirten, hübsch herausgeputzten Pavillon lesen wir den stolzen Namen: „Nectar des Souverains“. Es ist dies das neueste Getränk der Weltausstellung, eine Nachahmung des köstlichen Crême-Eis-Soda, mit dem einer der amerikanischen Restaurants hier unter den Gourmands Furore gemacht. [575] Mädchen, in den Farben der verschiedenen Souveraine gekleidet, schenken den Nektar ein; da eine schwarz-weiße Jungfrau, dort eine schwarz-gelbe, dort wieder eine grün-roth-weiße und dann wieder eine blau-weiß-rothe etc. Aber der Nektar will nicht durchgreifen, der Durst der Menschheit scheint auch demokratisch geworden und er wendet sich lieber dem amerikanischen Original auf dem Marsfelde zu.
Die Menschen des Marsfeldes lassen sich recht eigentlich nach den Dingen, denen sie in der Ausstellung nachlaufen, unterscheiden und charakterisiren. Die Einen können nicht erwarten im Palais zu den Tuchen zu gelangen und sind heißhungrig die Fortschritte zu sehen, welche die Hosenstoffe in der großen Welt machen. Andere wieder zieht es zu der vergleichenden Forschung von Flanell und Leinenwaaren, wieder Andere liegen Tag aus, Tag ein in der Wolle der Ausstellung; was dem Einen das Eisen der Ausstellung, ist dem Andern das Holz und dem Dritten und Vierten und Fünften das Papier, das Leder, die Baumwolle und die Seide. Schwärmer in allen Stoffen der Weltproduction laufen hier umher und die Liebhaberei für das Eine und Andere wird auch hier gepflegt. Respect vor dem ganzen Gebiet menschlicher Arbeit, das sich im Bilde hier mächtig ausbreitet, wird wohl wenigen von denen fehlen, die da umherwandeln, aber die liebe Einseitigkeit, die sie mitgebracht, bringen doch Viele von ihnen wieder mit nach Hause.
Weitaus die größte Gemeinde von Bewunderern hat auf dem Marsfelde aber die Maschine; um sie, in allen Arten und Unterarten, drängt sich zu jeder Tageszeit eine buntgemischte Menge von Wißbegierigen, Neugierigen, Kennern und bloßen Gaffern. Wo nur ein Rad oder Rädchen los ist, sind Leute in Hülle und Fülle rings herum; der eisen- und stahlbändigende Koloß, wie der kleine, nette, rasche Handschuhnäher und der Nadelöhrlöcherer haben ihre Zuschauer. Es ist, als ob sich alle Bewunderung in der Ausstellung vor den Werken der Erfindung zum Höchsten gipfelte. Sehen Sie nur diese Menschenmasse! Vor den Werken eines Lays, eines Kaulbach, eines Gerome steht zu keiner Zeit des Tages ein Fünftel von ihr versammelt. Und was geschieht hier Merkwürdiges? welch’ ein Triumph menschlicher Arbeit offenbart sich hier dem versammelten Volke verschiedener Zunge, verschiedener Länder, verschiedener Zonen? Filzhüte werden fabricirt! Man sieht die einzelnen Filzfasern im Urzustande in eine Maschine zusammenwerfen und dieselben auf der andern Seite der Maschine zu einem großen Stück geeint herauskommen. Eine zweite Maschine verrichtet dann das Formelle an dem Hute, die letzte Hand wird von Menschen angelegt und nach fünf Minuten ist aus den Filzfasern ein veritabler, runder Hut geworden. Nebenan feiert wieder Gevatter Maschinenschuster seine Triumphe, er macht in derselben Zeit ein Paar Schuhe, in der ein anderer Schuster ohne Maschine noch nicht einmal das Maß genommen hat. Ich glaube, der Mann weiß sogar von vorn herein, wo dich das Meisterwerk seiner Maschine in nicht ferner Zeit drücken wird. Zwei Schritte weiter staunt die überraschte Menge, wie eine kleine Maschine in zwei Minuten hundert Stück Visitenkarten wiedergiebt, die man eben erst bestellt hat. Weiterhin wird Chocolade vor unsern Augen fabricirt und emballirt, Seife gemacht, werden Bonbons geschaffen, Placate gedruckt, Bilder gravirt und noch einiges Andere. Und Alles nur Schnelligkeit, keine Hexerei! Die Franzosen haben eine ganze Reihe dieser werkthätigen Maschinen neben einander aufgestellt und lassen sie zum Ergötzen der Menge alle auf einmal, in buntem Nebeneinander arbeiten ad majorem nationis gloriam. Sie haben da eine gemeinsame Nationalwerkstätte für sich geschaffen und zeigen, wie sie auf diesem engen Raume jeglichen Menschen in kurzer Zeit mit den wichtigsten Culturbehelfen des Daseins auszustatten vermögen, mit Kleidern, Hüten, Stiefeln, Seife, Bonbons und Visitenkarten. Machen diese einzelnen Dinge zusammen den modernen gewöhnlichen Menschen, so kann man von dieser französischen Maschinenabtheilung behaupten, daß in ihr in wenigen Minuten mit der Maschine – Menschen gemacht werden. Diese Maschinenthätigkeit imponirt der Menge in ungewöhnlichem Grade und mit ihr ist für andere Thätigkeiten schwer zu concurriren. Warum malt auch Kaulbach nicht hier vor den Augen der Menge seine „Reformation“? Sein Bild würde dann vielleicht noch mehr Andrang erleben. Wir leben eben im Zeitalter der raffinirtesten Arbeit, und das „Wie“ der Arbeit interessirt so viele Leute mehr als das „Was“. Die Menschen geben sich eben auf Weltausstellungen nicht besser, als sie sonst sind. Sie laufen sonst in hellen Massen dem Gold nach und thun es auch auf dem Marsfelde.
Wir brauchen nur den französischen Bijouterie-Salon zu betreten – wir gehen einfach durch die Rue de Paris und sind schon dort – um uns davon zu überzeugen. Hier an diesem Salon hat die französische Werkstätte der Maschinengalerie einen[WS 8] bedeutenden Concurrenten, sobald es sich um den Massenanschlag des Besuches handelt. Wie sie, Männer, Frauen, Kinder, die mit rothem Sammet ausgeschlagenen geschmackvollen Schmuckkästen belagern! Man muß Queue bilden, um zu den ausgesuchten Herrlichkeiten der französischen Juweliere zu gelangen. Der Salon müßte die Größe der Rue de la Paix, bekanntlich die große Juwelenstraße von Paris, haben, um uns Ruhe des Anschauens gewähren zu können. Ich weiß nicht, was hier mehr funkelt: die vielen begehrenden Frauenaugen oder die ausgestellten Juwelen. Es ist jedenfalls ein interessantes Wettleuchten, das wir vor uns haben. Hunderte von Augen hängen zu gleicher Zeit an dem Schmuck der Kaiserin Eugenie, den der Juwelier der Krone, Mr. Bapst, ausstellt. Das Diadem und Collier strotzen von großen Perlen und doch nehmen beide noch lange nicht den ersten Rang im Schmuckkasten der hohen Frau ein. Wie viele von den Damen, die mit uns hier stehen, wären nicht schon mit diesem Schmuck höchlichst zufrieden! Vor dieser Bundeslade der Bapstischen Juwelen herrscht jene wahrhafte Weihe des Beschauens, die sonst nicht oft im Ausstellungspalast angetroffen wird. Das ist wahre Andacht, man schweigt in Ehrfurcht und verschlingt blos die theueren Sachen mit den Augen. Wenn ja einmal im Kreise der Umstehenden ein Mund sich aufthut, so ist es gewiß der einer Dame, die – auch Juwelen zu Hause hat, deren sie sich hier mit Vergnügen erinnert, dem Angedenken der Theuren schwungvolle Worte leihend und ihre sechs bis sieben Karate laut vor den Ohren der Umstehenden besingend.
Allen Respect, meine Gnädige! Aber muß es schon Juwelen geben, so halte ich mich doch gleich an den Kasten des Herrn Bapst. Er repräsentirt blos das Capital von dreißig Millionen! Und er birgt neben den verschiedenen Stirnreifen, Hals- und Brustschmucksachen, alle voll blitzender Diamanten oder großen und kleinen Perlen, Perlentropfen oder Smaragden, Rubinen, Sapphiren, von zehntausend Francs bis eine Million Francs im Werthe aufsteigend, auch noch ein historisches Juwel: den Diamant Sancy. Bekanntlich hatte die letzte Weltausstellung zu London ihren berühmten Diamanten, den Kohinor. Die jetzige Pariser wäre bald ohne ein solches Meisterstück geblieben, wenn nicht der Besitzer des „Sancy“ zur Ausstellung desselben bewogen worden wäre. Der Mann heißt Oulmann, hat also wahrscheinlich einmal Ullmann geheißen, was freilich, neben den Sancy gehalten, sehr nebensächlich wird. Liegen sich die Diamanten-Gelehrten ja auch wegen des Namens dieses Sancy in den Haaren. Die Einen sagen, er heiße „Sans-si“, und man wollte damit sagen, daß er nicht seines Gleichen habe. Die Anderen wieder sagen, der Diamant habe seinen Namen von einem der vielen Besitzer, die er schon gehabt, von einem Herrn De Sancy, der ihn an Heinrich den Vierten von Frankreich verkauft haben soll. Eines steht fest: der Sancy ist ein historischer Diamant und Karl der Kühne hat ihn in der Schlacht von Nancy getragen. Das ist aber etwas lange her, und der Sancy, wenn er sprechen könnte, so hell und schön, wie er im Bewußtsein seiner dreiundfünfzig und einem halben Karat leuchtet, wüßte Verschiedenes von Leuten, die ihn seither besaßen, zu erzählen. Er war auf einer ewigen Wanderung begriffen und man könnte ihn als den Ahasver unter den berühmten Diamanten der Welt bezeichnen. Seine Besitzer waren meist unglücklich und er ging schon oft den Weg aus den Palais der Großen der Erde in die Boutiquen der Juweliere. Er kam von Frankreich nach England, von England nach Belgien, von hier 1830 nach Petersburg an das Haus der Demidoffs. Aus diesen russischen Händen kam er wieder nach England mittels Kauf und von da nach Indien. Bombay war die letzte Station seiner langen und großen Wanderungen; von dort haben sie ihn zur Ausstellung nach Paris, seiner alten Heimath, geschickt und hier harrt er eines Käufers.
Prinz Demidoff hat seiner Zeit fünfmalhunderttausend Francs für den Stein in Brüssel gegeben, heute ist der Sancy vielleicht billiger zu haben und ist doch nicht an den Mann zu bringen. Man hat bereits allen Höfen Europas Verkaufsofferte gemacht, sie mögen ihn nicht. Ich kann es ihnen nicht verargen, ich legte mir eine halbe Million auch lieber in die englische Bank und ließe den Sancy Sancy sein. Vielleicht beißt aber einer der Souveraine, die noch zur Ausstellung kommen und vor dem Kasten des Herrn Bapst stehen bleiben, doch noch an und der Sancy kommt wieder in königliche Hände. Am Ende nimmt sich ein großbritannischer Edelmann des Edelsteines wieder an. In den Schmuckkästchen reicher, englischer Ladies hat ja schon so mancher historische Stein Ruhe gefunden.
So soll die Perle, die einst Cäsar der Sempronia, der Mutter des Brutus, geschenkt, dieselbe, die später Karl der Erste an dem Tage noch trug, da er im Tower das Schaffot bestieg, und die einen Werth von drei Millionen Francs repräsentirt, heute im Familienschmuck eines der ersten englischen Häuser eine sichere Unterkunft gefunden haben. Was die vornehmen Frauen Englands noch sonst für Schmuck in ihren Kästen haben mögen, man bekommt davon einen Begriff, wenn man die Diademe, Colliers, Ohrgehänge, Brochen etc. sieht, welche der Frau des Grafen von Dudley gehören und die, auf englischer Seite von dem Londoner Juwelier Hunt ausgestellt, das Erstaunen und die Bewunderung der beschauenden Damen aller Nationen in nicht geringerem Grade erregen, als die Kostbarkeiten des Bapst’schen Kastens auf französischer Seite. Mit Recht hat man den Grafen von Dudley zum Juror über Juwelen hier gemacht, er ist der erste und verständigste Juwelenliebhaber Englands. Seine Frau weiß davon, wie wir da sehen. Und wer, meinen Sie, war diese Lady Dudley, die sich heute Hals, Kopf und Brust mit solchen Steinen schmücken kann? Ein armes Arbeitermädchen von London! Wenn nur Juwelen reden könnten! – ich komme immer wieder darauf zurück. Nicht weit da von dem Schmuck der Dudley hat der Londoner Juwelier Brodgen zwei perlenbesäete Attilas des ungarischen Fürsten Paul Esterhazy ausgestellt, die bei der kürzlich in London vorgenommenen Versteigerung des Esterhazy’schen Familienschmucks um fünfzigtausend Francs in sein Eigenthum übergegangen sind. Was meinen Sie, wenn diese Perlen reden könnten, was würden sie uns von der Vergänglichkeit altaristokratischer Herrlichkeit Alles zu erzählen haben?
Zur Geschichte einer Unentbehrlichen. Kaum hatte der Mensch sich die Taschenuhr als einen stehenden Artikel seiner Toilette annectirt, als man auch schon begann, in Bezug auf Art und Form des neuen Bedürfnisses seiner Phantasie und Laune den Zügel schießen zu lassen; wie neue Moden für Kleider und Hüte, gab es bald auch für die Taschenuhren beständig wechselnde Moden. Die ersten Uhrmacher bevorzugten das Pflanzenreich, sie gaben ihren Uhren die Form von Blumen und Früchten. Wir erinnern uns, eine in Nürnberg gefertigte Uhr gesehen zu haben, welche die Gestalt einer Birne hatte; eine andere, von französischer Abkunft, war wie eine Melone geformt. Sie hatte nur anderthalb Zoll im Durchmesser und der Uhrschlüssel stellte ein Melonenblatt vor. Im Süd-Kensington-Museum zu London befindet sich eine etwa hundert Jahre alte sehr kleine Uhr in Apfelform mit einem emaillirten und
[576] mit Staubperlen besetzten Goldgehäuse. Eine der alten Nürnberger Uhren hat die Gestalt einer Eichel und ist mit einer niedlichen Radschloßpistole versehen, die wahrscheinlich als Wecker gedient hat.
Eine bekannte Londoner Raritätensammlung enthielt u. A. auch eine Taschenuhr, deren Werk ein als Adler geformtes Gehäuse umschloß. Quer über den Leib öffnete sich der Vogel und enthüllte ein wunderbar reichemaillirtes Zifferblatt. Die Uhr konnte entweder mittels eines Ringes am Gürtel getragen werden oder diente, auf drei Füßen stehend, als kleine Stutzuhr. Auch Uhren in Entenform kamen mannigfach vor, wie dies u. A. eine etwa zwei und einen halben Zoll lange Taschenuhr im Süd-Kensington-Museum und eine zweite in einer Londoner Privatsammlung darthun. Die Entenfedern sind in Silber gefaßt und ihre untere Hälfte öffnet sich, um ein mit Juwelen garnirtes Zifferblatt zum Vorschein zu bringen.
Die „Nürnberger Eier“ sind bekannt. Eines derselben, welches wir sahen, ist aus einem Hyacinth geschnitten, dessen Zifferblatt durch den transparenten Edelstein hindurchschimmert – ein allerliebstes kleines Kunstwerk. Das Dover-Museum bewahrt eine doppelgehäusige Eieruhr mit zwei Zeigern, von denen der eine in gewöhnlicher Weise die Stunden des Tages verkündet, der andere Namen und Tag des Monats weist; zugleich sind Vorrichtungen angebracht, um den Tag der Woche und die Stellung der Sonne im Thierkreis zu bezeichnen. Das Wunderbarste der Uhr aber besteht darin, daß die Zeiger, der allgemein recipirten Richtung entgegen, von rechts nach links laufen, als hätte der Künstler der Zeit eine retrograde Bewegung beimessen wollen.
Den düstersten Eindruck von allen Taschenuhren müssen indeß jedenfalls die gemacht haben, denen man, zweifellos um die Kürze der Zeit und des menschlichen Lebens anzudeuten, die Form von Todtenköpfen gab, wie solche noch in verschiedenen öffentlichen und Privatsammlungen vorhanden sind. Eine derselben trägt auf dem äußeren Gehäuse die Worte eingravirt: „Incertite hora – Hesterna respice“. Die berühmteste Todtenkopfuhr gehörte einst Maria Stuart. Sie war von vergoldetem Silber und auf der Stirn des Schädels sah man die Symbole des Todes, die Sense und das Stundenglas, zwischen einem Palaste und einer Hütte angebracht, um damit die Unparteilichkeit des finstern Schnitters zu versinnbildlichen. Auf dem Hinterkopfe ist die Zeit als Allzerstörerin dargestellt, während den obern Theil des Schädels Scenen aus dem Paradiese und aus der Kreuzigung Christi illustriren. Dreht man den Todtenkopf um, die obere Seite in die hohle Hand legend und mittels eines Charniers die Kinnlade aufhebend, so öffnet sich die Uhr und ihr mit Darstellungen aus der biblischen Geschichte, mit Abbildungen der heiligen Familie, von Engeln und Schäfern sammt ihren Heerden geschmücktes Innere erscheint. Das eigentliche Werk der Uhr ist eine Nachbildung des Gehirns, von einem silbernen Gehäuse umschlossen, das zugleich als musikalisch abgestimmtes Glockenspiel fungirt, während das Zifferblatt den Gaumen vorstellt. Dies höchst originelle Kunstwerk war in Blois gefertigt, aber zu groß, um als Taschenuhr gebaucht werden zu können.
Viele der früheren Uhrmacher huldigten mit besonderer Vorliebe der Astronomie und verflochten das Planetensystem in ihre Producte mit so großer Genauigkeit und Geschicklichkeit, wie dies bei unsern modernen Uhren nur noch selten der Fall. So construirte der Genfer Jean Baptiste Duboule eine große Taschenuhr, welche die vier Tageszeiten, die Stunde des Tages, den Tag der Woche, den Tag des Monats, den Namen des Monats, das Zeichen des Thierkreises, Mondalter und Mondphasen und die vier Jahreszeiten angab; jedenfalls aber war das Ganze viel zu complicirt, um als wirklicher Chronometer und astronomischer Führer gelten zu können, da die geringfügigste Störung an irgend einem kleinen Rade über Sonne, Mond und Erde die entsetzlichsten Katastrophen verhängt haben dürfte. Praktischer war eine Uhr, welche ein polnischer Bauer in Warschau gefertigt hatte; sie zeigte die Zeit unter verschiedenen Längengraden an, wie man dies jetzt wieder bei Chronometern mehrfach angewendet findet. Als vor einigen Jahren die Engländer den Sommerpalast des Kaisers von China plünderten, entdeckte man unter den dort aufgehäuften Curiositäten auch eine merkwürdige Taschenuhr; sie stammte aus den Tagen Ludwig’s des Sechszehnten und war wahrscheinlich von diesem dem Sohne der Sonne und des Mondes verehrt worden. Sie war eigentlich ein Teleskop, dessen Objectivglas aus einer mit Perlen besetzten Uhr bestand. So berichteten wenigstens die Zeitungen; wir gestehen aber gern, daß wir von einer solchen Verschmelzung zweier so verschiedener Geräthe uns keine rechte Vorstellung machen können.
Wunderliche Uhren und noch wunderlichere Gehäuse für dieselben waren ehedem überhaupt Mode. So sagt ein englischer Erzbischof in seinem vor dreihundert Jahren niedergeschriebenen Testamente: „Meinem hochehrwürdigen Bruder Richard, Bischof von Ely, vermache ich meinen Rohrstock, in dessen Knopf sich eine Taschenuhr befindet.“ Noch heute zeigt man dergleichen Spazierstöcke mit Uhren in verschiedenen Sammlungen; häufiger noch sind Ringe mit Uhren, die beiläufig auch neuerdings wieder in Aufnahme gekommen sind. Einer der sächsischen Kurfürsten hatte gar eine Uhr in seinem Reitsattel. Fromme Personen jener Tage pflegten Uhren in Kreuzform zu tragen. Eine derselben, die uns zu Gesicht gekommen, ist unter dem Namen „die Uhr der Abtessin“ bekannt; etwa zweihundert Jahre alt, ist sie jedenfalls für die Vorsteherin eines Klosters gemacht worden, was auch die auf ihrem Gehäuse befindlichen vielen Bibelsprüche darzuthun scheinen. Eine andere derselben Gestalt war zugleich mit heidnischen und biblischen Mottos und Bildern versehen und zeigte namentlich die Figuren von Diana und Endymion. Ab und zu führten die Damen auch wohl Uhren in Gestalt von kleinen Büchern, durch deren durchbrochene Decken das Zifferblatt sichtbar wurde.
Ursprünglich hatte die Taschenuhr keine mit der Hauptfeder in Verbindung stehende Kette, statt ihrer diente vielmehr eine Darmsaite. Eine Uhr dieser Art war es, welche Maria Stuart am Abende vor ihrer Hinrichtung einem ihrer treuen Diener schenkte. Manche Uhren wurden aus Krystall gemacht, damit man den schönen Mechanismus sehen konnte. Viele hatten anstatt der zwölf Zahlen auf dem Zifferblatte die Buchstaben ihrer Verfertiger oder ihrer Besitzer, andere waren zugleich Pedometer (Schrittmesser), wie es solche noch heute giebt. Napoleon besaß unter anderm einen dergleichen Pedometer, der sich mittels eines bei jedem Schritte steigenden und fallenden Hebels selbst aufzog. Auch sogenannte Tastuhren giebt es, d. h. solche, die man im Finstern oder für Blinde brauchen kann. Rund um den Rand des Gehäuses laufen zwölf Nägel mit breiten Köpfen; ein Zeiger an der Rückseite hält, sobald man ihn in Bewegung setzt, an dem Punkte an, welchen die Weiser des Zifferblattes als augenblickliche Zeit angeben, und so läßt sich diese letztere mit den Fingern fühlen.
Ueberaus zahlreich sind die Versuche, Töne verschiedenster Art in der Uhr hervorzubringen. Die Repetiruhren Breguet’s, des berühmten Uhrmachers, erfreuten sich eines besondern Namens, und die europäischen Monarchen zahlten gern eine seiner Uhren mit zwei- bis dreihundert Guineen. Natürlich sind die Mechanismen der Weckuhren viel einfacher, da diese nichts weiter bezwecken, als zu einer vorher bestimmten Zeit eine Glocke in Bewegung zu setzen. Vor ungefähr hundert Jahren verfertigte ein französischer Uhrmacher Namens Rangaut eine Spieluhr, die, nicht größer als die damaligen gewöhnlichen Taschenuhren, eine Reihe von Duetten zum Besten gab und dabei so sinnreich construirt war, daß der musikalische Apparat mit dem eigentlichen Uhrwerke nicht in Berührung kam. Noch weit kunstvoller aber ist eine etwa eiergroße Uhr, die ein russischer Bauer zur Zeit Katharina’s der Zweiten gemacht hat und welche sich gegenwärtig in der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg befindet. Dies complicirte Werk ist Repetir- und Spieluhr zugleich. Inwendig ist das Grab Christi mit den römischen Wachen dargestellt. Drückt man auf eine Feder, so rollt der Stein vom Grabe hinweg, die Wachen fallen nieder, Engel erschienen, die heiligen Frauen treten in die Gruft und stimmen den Gesang an, welcher am Osterabend noch heute in den russischen Kirchen gesungen wird. Man erzählt auch von Uhren, die wirklich sprachen, d. h. articulirte Laute in Gestalt von Worten von sich gaben; wir haben indeß keine solche Uhr zu Gesicht bekommen und bezweifeln, ob ein Mechanismus dieser Art überhaupt möglich ist.
Die größte Taschenuhr, welche vielleicht je fabricirt wurde, war vor etwa achtzig Jahren für einen berühmten irischen Riesen bestimmt; das Werk war außerordentlich stark und Uhr und Schlüssel wogen zusammen fast ein Pfund. Viel häufiger sind jedoch jene Miniaturuhren, die unser Erstaunen erregen durch den überaus kleinen Raum, in welchem sich oft der complicirteste Mechanismus zusammengedrängt findet. Auf der ersten großen Londoner Weltausstellung sah man z. B. eine Schweizer Uhr von nur einem sechszehntel Zoll Durchmesser, die in einen Bleistifthalter eingelassen war. Sie zeigte die Stunden, die Minuten, die Secunden und den jedesmaligen Tag im Monate. Dem König Georg dem Dritten von England endlich – und damit wollen wir unsere kleinen Mittheilungen schließen – wurde einst eine vortreffliche Uhr überreicht, die ungefähr die Größe eines Silbersechsers hatte; sie befand sich in einem Ringe und bestand aus nicht weniger als hundertundzwanzig verschiedenen Theilen, die zusammen kaum so schwer waren wie ein Zweigroschenstück. Um diese wunderbare Uhr herzustellen, hatte der Künstler, aus dessen Händen sie hervorging, der bekannte Londoner Uhrmacher Arnold, sich erst besondere Werkzeuge dazu machen müssen. Der König war so entzückt über die Uhr, daß er Arnold fünfhundert Guineen dafür übersenden ließ. Als der Kaiser von Rußland davon hörte, bot er dem Künstler die Summe von tausend Guineen, wenn er ihm eine ähnliche Uhr verfertigte; allein Arnold schlug das Anerbieten aus, weil sein Souverain der Einzige sein sollte, der sich des Besitzes eines derartigen Kleinods rühmen dürfe.
Bei der Redaction der Gartenlaube gingen wieder ein: Von B. D. 1 Thlr.; Liedertafel in Schäßburg (Siebenbürgen) 10 fl.; dem deutschen Dichter von einer deutschen Frau M. P. D. 2 Thlr.; von einem deutschen Handlungscommis in Prag 1 Thlr.; Sammlung deutscher Studirender in Zürich 35 Thlr. 15 Sgr.; L. Auler in Bensheim 5 Thlr; Gesangverein in Bielitz-Biala 25 fl.; Männergesangverein in Borna 3 Thlr., beide durch die Redaction der Sängerhalle übersandt; eine Dame aus Holstein 1 Thlr.; Liedertafel in Holzminden 5 Thlr.; K. A. in Bublitz 1 Thlr.; gesammelt beim zehnjährigen Stiftungsfest der Bier-Heilanstalt in Zeitz 17 Thlr.; W. F. in Witten a. R. 2 Thlr.; Freunde des Dichters in Norden 12 Thlr.; bürgerlicher Gesangverein in Zweibrücken 5 fl.; A. u. E. in Koethen 3 Thlr.; für vier Exemplare von Freiligrath’s Glaubensbekenntniß 4 Thlr.; 20 Thlr. beim Fahnenweihfeste in Klingenberg a. M. mit den Worten:
Da ist kein Ort im deutschen Land
So einsam und versteckt,
Woher nicht eine treue Hand
Sich Dir entgegenstreckt.
Sagt Dir nicht jeder Liebesgruß
Des Volks, für das Du rangst,
Daß bald der Tag ihm kommen muß,
Von dem Du glühend sangst,
Der Tag, an dem, nach langer Nacht
Im Freiheitslicht erglüht,
Dies Deutschland hell in Frühlingspracht
Als Wunderblume blüht!“
Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Ein Liebling der Musen. Mit Portrait; – Ein deutscher Club im fernen Norden. – Die Garten- und Gemüse-Metropole Thüringens. – Literatur und Kunst für das Bürgerhaus. Mit Illustrationen. – Pariser Weltausstellungs-Briefe. Von Michael Klapp. 4. – Blätter und Blüthen: Zur Geschichte einer Unentbehrlichen. – Freiligrath-Dotation.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: nach
- ↑ ADB:Maximilian II. (König von Bayern), (1811–1864)
- ↑ Krokodile in München. In Die Gartenlaube (1866), Heft 34, S. 531–534
- ↑ ADB:Rettich, Julie. Artikel in der Wikipedia, (1809–1866), deutsch-österreichische Schauspielerin.
- ↑ Vorlage: Vokes
- ↑ Vorlage: Weisse
- ↑ Vorlage: einem
- ↑ Vorlage: eine