Drei Abende mit Ferdinand Hiller
Musik ist unter allen Künsten die |
rein menschlichste, die allgemeinste. |
In einem großen anmuthigen Zimmer, mitten unter den epheuumrankten Statuen Bach’s und Händel’s, unter den charakteristischen Portraitköpfen Beethoven’s, Felix Mendelssohn’s, Mozart’s und Schumann’s, einem reichbesetzten Blumentisch gegenüber, stand ein Härtel’scher Stutzflügel. Die Lichter waren weggenommen, und selbst über die große Lampe drüben auf dem Theetisch hatte man einen rosenrothen verhüllenden Schleier gebreitet, die kleine Gesellschaft aber, die sich um ihn versammelt, Frauen und Männer, lauschten eben einer reizenden, kleinen Tondichtung: Ferdinand Hiller spielte sein „Zur Guitarre“.
Draußen war es Herbst, der Wind klopfte ungestüm an die Fenster, Regenschauer schlugen gegen die Scheiben, drinnen träumte man von einer warmen Sommernacht unter italienischem Himmel. Die Rosen blühten, vom hohen Balcon neigte sich eine schöne Frauengestalt à la Giulietta, das Mondlicht verklärte ihr Blumengesicht, und der elegante glühende Cavalier gestand ihr „zur Guitarre“ seine Liebe. Es war eine Liebe, wie sie im Lande, wo die Citronen blüh’n, aufflammt, und der arme Nordländer beneidete den Glücklichen, denn Orangenblüthen duften süßer als Vergißmeinnicht, die Nordländerin aber seufzte. Wer könnte ihr ein Ständchen „zur Guitarre“ bringen, im Lande der Regenschauer und Gewitterstürme, des Hustens und Schnupfens und der klatschsüchtigen neidischen Nachbarn?
Ich habe diese entzückende musikalische Déclaration d’amour bis jetzt nur vom Componisten selbst spielen hören, aber ich meine, sie könne nie und nirgend ihre Wirkung verfehlen. Was unseren damaligen kleinen Kreis betrifft, so waren wir Alle bezaubert, wie man beim Anblick des ersten Frühlingsstraußes bezaubert ist, oder von dem Ton einer langentbehrten theuren Stimme. Hiller mußte sein Lied sofort noch einmal singen. Er kam damals, mit Ehren überhäuft, etwas ermüdet von allerlei lucullischen Festsoupers mit obligaten Toasten und Lorbeerkränzen, von Bremen zurück, wo man seine Oper „die Katakomben“ zum ersten Mal aufgeführt und den Componisten in glänzendster Weise gefeiert hatte, und da ruhte er denn einen Abend in dem Freundeshause aus. „Ausruhen“ aber hieß: im tiefen Sessel behaglich plaudern und einmal nicht „ex officio“, sondern nur con amore musiciren. In der Nacht um drei Uhr wollte er weiter, nach Köln zurück, vorher noch ein paar Stunden schlafen. Da galt es denn die Zeit zusammennehmen, hatte man sich doch so lange nicht gesehen, so viel zu fragen und zu erzählen. Hiller selbst spricht und erzählt so frisch und köstlich, wie er spielt, und erschien während des kleinen Soupers sprudelnd heiter. Es war eben einer jener Abende, wie sie selten vom Himmel fallen, Stunden, die einen Veilchenduft in der Seele zurücklassen. Später hörten wir noch eine kleine Beethoven-Sonate von ihm; dann spielte er noch einige geistvolle Kleinigkeiten – „Bagatellen“, wie er sie nannte, eigener Composition. Dazwischen sang die Hausfrau seine tiefergreifende „Wallfahrt nach Kevelaer“, diese schöne Tonillustration zu dem Heine’schen Gedicht, dann Mendelssohn’s Suleika, Schubert, Schumann, Franz und endlich das Scheidelied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath etc.“[WS 1]
Mitternacht war längst vorüber, wer hätte daran gedacht! [817] Mit aller Lebhaftigkeit wurden noch musikalische, literarische und andere Themen besprochen, auch pikante Skizzen des Pariser Lebens von Hiller entworfen, er schloß den Reliquienschrein seiner Erinnerungen auf, um manches funkelnde Kleinod herauszunehmen und an’s Licht zu tragen. Dabei leuchteten die klugen Erzähleraugen, und die Mundwinkel umspielte ein schalkhaftes Lächeln. Plötzlich sprang Hiller auf und setzte sich noch einmal an den Flügel. Leise huschten die vollen Hände über die Tasten – Hiller hat keine eigentliche Clavierhand – und es war zuerst nur wie ein „Rufen aus Träumen“, allmählich aber reihten sich die Gedanken aneinander, und der seltene Gast phantasirte über alle jene Lieder, die man ihm gesungen. Die Kirchenglocken läuteten zu der Procession: „Das ist zu Köln an dem Rheine“, die Mutter Gottes kam leise hereingeschritten und legte ihre Hand auf das Herz des Kranken, dann wehte der West auf feuchten Schwingen daher. Suleika hauchte: „Sag’ ihm, aber sag’s bescheiden,“ Schumann’s Frühlingslied klang wie Nachtigallenschlagen dazwischen, Schubert’s „Auf dem Wasser zu singen“ zog vorüber, und das köstliche Liebeslied Rückert’s, von Franz, „Er ist gekommen in Sturm und Regen“ brauste daher, und endlich kam die liebe Melodie, weich und tief wie ein Abschiedsblick:
„Wenn Menschen auseinandergehn,
So sagen sie: auf Wiederseh’n!“
Als Hiller sich erhob, da standen manche schöne Augen in Thränen und schlanke Frauenhände streckten sich ihm dankend entgegen. Aber mitten in diese erregte kleine Scene fiel eine Männerstimme, die halb scherzend, halb ernst sagte: „Es hilft eben nichts, mein verehrter Herr Capellmeister, das Scheiden ist da; wir müssen hinunter gehen, in sieben Minuten fährt der unerbittliche Courierzug ab. Es ist drei Uhr vorüber.“ Das war die „lustige Person“ des Stückes.
Ferdinand Hiller ist ein Frankfurter Kind, der zärtlich geliebte Sohn hochgebildeter Eltern, im Jahre des großen Kometen und des feurigen Weines geboren, und hell und feurig ist diese Künstlerseele bis zur Stunde geblieben. Allerlei gute Geister haben bei seiner Jugend gleichsam Pathe gestanden: Goethe’s Hand lag auf dem Scheitel des Knaben, als er, um den Clavierunterricht Hummel’s zu genießen, nach Weimar kam. Beethoven’s erlöschende Augen haben ihn bedeutungsvoll angeschaut, als der Jüngling seinen berühmten Lehrer nach Wien begleitete und mit ihm an das Schmerzenslager des sterbenden Titanen trat. Der tiefdenkende gelehrte Gründer des Cäcilien-Vereins in Frankfurt a. M., Schelbele, nannte Hiller seinen Liebling, und Aloys Schmitt prophezeite ihm eine glanzvolle Laufbahn. Der strenge, abgeschlossene Cherubini thaute dieser liebenswürdigen Künstlernatur gegenüber auf, und die ganze geistige und musikalische Aristokratie des damaligen Paris interessirte sich für den kaum Siebenzehnjährigen, als seine Mutter, um ihn in diese reiche Welt einzuführen, dort einen Salon eröffnete, in dem sich oft die heterogensten und anziehendsten Elemente zusammenfanden. Welch’ ein Vorwurf für einen Maler, diese Vereinigung von feinen Köpfen und Gestalten!
Es ist ein Winterabend. Das Feuer im Kamin brennt. Draußen rollen die Equipagen vorüber und beim Scheine der Laternen zeigen sich rosengeschmückte Frauenköpfchen, blitzende Diamanten, bauschende Stoffe hinter den Scheiben. Paris tanzt heute in den Tuilerien, im Stadthause, im Theater, in der Closerie de Lilas, im Jardin d’hiver und wer weiß noch wo. – Das große Musikzimmer der Hiller’schen Wohnung ist sanft erwärmt und beleuchtet; man tanzt auch dort, aber nur zehn Finger sind’s, die tanzen, die Finger Chopin’s. In einer Marmorschale auf dem Tisch duften Veilchen, die holden Lieblingsblumen einer holden Kaiserin, die bei uns nur im Frühling, in Paris aber zu allen Zeiten blühen. Ein Erard’scher Flügel steht in der Mitte, vor ihm der junge träumerische Chopin. Er scheint die Tasten kaum zu berühren; wie aus weiter Ferne schwebt eine feurige und doch tief klagende Tanzweise herein, näher und näher, sie wird immer lauter; er spielt seine wunderbaren Mazurken und dämonischen Walzer. Hiller selber mit der Künstlerstirn und den klugen Augen steht neben dem Spieler und verliert nicht den Hauch eines Tones. Am Kamin, vor lustig flackerndem Feuer, sitzt der alte Cherubini, der Schöpfer des Wasserträgers, zerstreuten Blickes und doch wider Willen dem zauberhaften Spiele, lauschend, es [818] stört ihn fast, und doch hält es ihn so fest – der Schlußchor seines Requiem liegt ihm eben im Sinn. Neben ihm lehnt Adolf Nourrit, der edelste Pylades eines Gluck’schen Orestes, der je auf der Bühne erschienen, der Abgott der Frauen. Wenn er die berühmte Arie sang:
„Nur einen Wunsch, nur ein Verlangen“,
so zerflossen nicht allein die Damen in Thränen. Seine Stimme war von einem wunderbar weichen Timbre und doch voll Kraft, und sein Vortrag, wenn auch mehr elegisch als dramatisch, immer edel und tief empfunden. Wer hätte damals das tragische Ende des Vielgefeierten geahnt?! Fünfzehn Jahre später stürzte er sich in Neapel, in einem Anfall von Schwermuth, aus einem Fenster des dritten Stocks auf das Straßenpflaster.
Auf der anderen Seite des Kamins haben die Violinspieler Lafont und Baillie Platz genommen. Hinter ihnen taucht das charakteristische Profil des jungen Musikers Berlioz auf; eine Welt von Gedanken verbirgt sich hinter dieser schönen, von dunkelen Haaren beschatteten Stirn. In der Fensternische steht Ary Scheffer, der geniale Maler, mit ernsten Augen die Gruppen überschauend. Es ist etwas in diesem edlen Kopfe, das an sein berühmtes Bild, „der heilige Augustin neben seiner Mutter Monica“, erinnert. Nicht weit von ihm, in dem dunkelsten Winkel, sitzt einsam ein krank aussehender Mann, fast wie zusammengebrochen, die Wange auf die blasse Hand gestützt, den milden seelenvollen Blick wie in endlose Fernen gerichtet. Um den Mund liegt ein unverwischbarer Schmerzenszug, der Ausdruck eines unendlichen Heimwehes, der das seltene Lächeln so rührend erscheinen läßt. Die Stirn ist von hoher Schönheit, klar und licht. Es ist der Verfasser der Briefe aus Paris, der geistvollsten Kritiken und der glühenden Gedächtnißrede auf Jean Paul: Ludwig Börne. Die Musik ist seine Freundin; hat er doch von ihr gesagt: „Musik ist Gebet; ob nun das Kind es herstammele, ob der rohe Mensch in roher Sprache es halte, ob der Gebildete in feurigen geistvollen Worten – der Himmel hört sie mit gleicher Liebe an und giebt Jedem den Widerklang seiner Empfindung als Trost zurück.“
Chopin’s Spiel war ein Wunderbalsam für die Seele Börne’s. Diese feurigen und schwermüthigen Geister mußten sich verstehen und lieben.
An einem Blumentisch voll exotischer Pflanzen, aus deren Grün die Statue einer Polyhymnia hervorlauscht, mitten in einer Gruppe junger Frauen, sah man den verzogenen Liebling der Grazien und Musen, den Dichter des Buches der Lieder, Heinrich Heine. Als sein Nebenbuhler in der Gunst der Damen tritt der liebenswürdige schalkhafte Componist des Barbier von Sevilla, Rossini, auf. Der etwas corpulente Herr war trotz dieser kleinen Schwerfälligkeit noch immer Figaro ci, Figaro là, und die Schönen und Häßlichen schwärmten für ihn. Damals war der fein modellirte Kopf Heine’s unberührt von jener langsam schleichenden Krankheit, die später all’ seine Schönheit so grausam zerstörte, daß nur die Alles ausgleichende Hand des Todes die verzerrten Züge wieder zu glätten vermochte. Die blauen Augen blitzten noch wie die Sterne und die Lippen flüsterten den bezauberndsten gereimten und ungereimten Unsinn, so lange bis sich endlich eine schöne Hand auf den vornehm geschnittenen Mund legte. Diesmal waren es die Lilienfinger der berühmten und reizenden Delphine Gay, die als Schriftstellerin in Paris kaum mehr gefeiert wurde denn als Frau. Heinrich Heine küßte demüthig und feurig zugleich die kleine Hand, die, als Chopin’s Spiel begann, wie ein Rosenblatt leicht und flüchtig seine Lippen streifte. Jetzt hatte er längst den übermüthigen Scherz vergessen. Eine tiefe Melancholie lag auf seiner Stirn, der Kopf war auf die Brust gesunken, die langen Wimpern berührten fast die Wangen, manch’ schönes Auge verfolgte in diesem Moment die fesselnde Profillinie. Vielleicht träumte er Gedichte zu den phantastischen Weisen Chopin’s.
Und dort drüben dieses junge Wesen, dies feenhafte Geschöpf mit den großen südlichen Augen und der Fluth von dunkelm Haar, – diese Frau mit dem Lächeln eines Kindes und den Bewegungen einer Grazie, mit der Maestro Rossini so angelegentlich geflüstert? Wer anders als Marie Malibran, die größte Sängerin aller Zeiten, das geniale warmherzige Weib, der Abgott von Paris. Die Gräfin Merlin, ihre Beschützerin, hatte sie in dem kleinen deutschen Salon eingeführt. Auch andere berühmte und unberühmte Schülerinnen Garcia’s waren da, die Damen Lalande und Favart und allerlei süße Blumengesichter, die das Vorrecht hatten, sich eben nur zu zeigen, um der Bewunderung sicher zu sein.
Ich glaube, daß, wenn der Blick aus Beethoven’s Augen nicht den Musiker in Ferdinand Hiller gleichsam hieb-, stich- und kugelfest gemacht, der junge Mann damals, wie die Studenten sagen, „umgesattelt“ hätte und unter die Literaten gegangen wäre. Das Zeug dazu hatte er wie selten Einer. Hiller selbst gesteht auch in einem seiner Briefe, wie mächtig der Verkehr mit den bedeutendsten und verschiedensten Geistern, wie sie damals in Paris gewissermaßen „aufeinander platzten“, ihn aufgeregt und wie er zuweilen auf arge Gedanken gekommen sei.
„Der Umgang mit den größten Künstlern der Zeit und so vielen andern berühmten Männern,“ schreibt er, „war im höchsten Grade anregend, aber alles das, das ganze Pariser Treiben, auch die Politik, der ich mich leidenschaftlich hingab, und der ganze Strudel des hin- und herwogenden Lebens brachten mich doch, so zu sagen, aus mir selber heraus und störten die Entwicklung meiner musikalischen Anlagen. Ich hatte mehr als einmal Lust, die ganze Musik an den Nagel zu hängen, die mir ohnedies in diesem großartigen geistigen Treiben als etwas sehr Geringes vorkam.“
Wer Hiller’s Briefe kennt und seinen eleganten bei aller deutschen Gedankentiefe echt französischen Plauderstil, wie er in seinen vielen geistvollen Aufsätzen, Kritiken, Plaudereien mit Rossini, Feuilleton-Artikeln zu Tage tritt, der gewinnt den Schriftsteller Hiller nicht minder lieb wie den Musiker und Componisten, und wer ihn jemals über ein ihn begeisterndes Thema reden, oder über das Wesen und die Entwicklung der Musik Vorträge halten hörte, so klar, warm und fließend, der muß ihn auch als Sprecher bewundern.
Ferdinand Hiller hat sehr früh schon – mit zehn Jahren – und stets mit ungemeiner Leichtigkeit componirt, und es ist ein Zeichen, wie tief der Sonnenstrahl der Goethe’schen Freundlichkeit in das junge Herz gedrungen daß er zum Text seines ersten Liedes die „rastlose Liebe“ wählte und unerschrocken den „Schnee“, den „Regen“ in Musik setzte. Mit siebenzehn Jahren trat er in Paris als Lehrer in die institution royale de musique classique et religieuse und ertheilte den Unterricht in der Harmonie daselbst, spielte auch in der Kirche der Sorbonne die Orgel, wenn die Schüler dort Messen sangen. Einige große Concerte, die er im berühmten Conservatorium gab, brachten ihm viel Ruhm und Ehre. Das elegante und künstlerische Publicum, das sich hier versammelte, lernte nun Hiller’sche Compositionen kennen, Symphonien und Clavierstücke. Französische und deutsche Blätter brachten Schilderungen von der warmen Aufnahme, die der junge Deutsche gefunden.
Viel Reizendes entstand in dieser Zeit: Trios, Quartette, Lieder, die verlockende danse des fantômes und die ersten Reverien. Dem berauschenden Pariser Leben folgte ein kurzer Aufenthalt in Frankfurt am Main, dann ein dolce far niente am Comersee, wohin die treue Mutter den Sohn begleitete (den Vater verlor er schon während seines ersten Aufenthaltes in Paris), und dort entstand das Oratorium „die Zerstörung Jerusalems“, dann ein Winter in Mailand, und endlich – ein Liebesfrühling.
Vor gar manchem Jahr erschien im Gewandhausconcerte zu Leipzig eine schöne Frau mit dunklem Haar und Feueraugen und einem Profil, dem man auf Cameen häufig, im Leben aber selten begegnet; sie sang die „Tarantella“ aus Rossini’s Soirées musicales mit brillanter Stimme und lebensvollem Vortrag: es war Frau Antolka Hiller. In demselben Concert spielte Hiller eine seiner reizenden Reverien. Eine liebenswürdige Frau sagte ihm nachher scherzend: „Jetzt weiß man doch endlich, von wem Sie immer so süß und geheimnißvoll geträumt!“
Nichts aber war anmuthiger, als Frau Hiller die Sopranpartie in jenen frischen originellen Quintetten singen zu hören, für Sopran und Männerstimmen, die Hiller in der ersten Zeit seines Eheglücks in Rom componirt. Der Gedanke, eine Frauenstimme in all’ ihrer Weichheit und Klarheit über einem Männerquartett schweben zu lassen, ist so bezaubernd in seiner Wirkung, daß man sich mitten in einen Frühlingstag versetzt fühlt, wo über uns und Allem, was da kreucht und fleugt, singt und brummt, die schmetternde Lerche aufsteigt, gerade in den blauen Himmel hinein.
[819] Hiller leitete, als Mendelssohn, mit dem ihn die innigste Freundschaft verband, Leipzig mit Berlin vertauschte, die Leipziger Abonnementsconcerte, siedelte aber bald nach Dresden über, um dort ebenfalls Concerte im größeren Stil einzurichten und zu dirigiren. Dazwischen componirte er seine Oper „der Traum in der Christnacht“, seinen „Konradin von Hohenstaufen“, verschiedene Streichquartette, Sonaten, Capriccios, Etüden und seine schönen Impromptus, auch viele Lieder. Die „Zerstörung Jerusalems“ ging von Dresden aus in alle Welt, mit dem tiefsten Interesse und dem wärmsten Beifall aufgenommen. Wer könnte je den klagenden Chor wieder vergessen: „Eine Seele tief gebeuget“, oder das ergreifende: „Wir ziehn gebeugt, das Joch auf unserm Nacken“, und das herrliche Duett: „O wär’ mein Haupt eine Wasserquelle“
Im Jahre 1850 nahm Hiller einen ehrenvollen Ruf als städtischer Capellmeister und Director des Conservatoriums nach Köln an, und schafft und wirkt dort mit einer kurzen Unterbrechung, wo er einen Winter in Paris die italienische Oper dirigirte, bis zur Stunde in ungetrübter Kraft und Frische. Seine schöpferische Phantasie treibt immer neue Blüthen, unter welchen als eine der anmuthigsten wohl seine „Operette ohne Worte“ für Clavier zu vier Händen erscheint. Seine Oper „die Katakomben“ entstand, seine Symphonie mit dem köstlichen Veilchenduft und dem Motto: „Es muß doch Frühling werden!“ und ihre Schwester, die fröhliche „Im Freien“. Mehrere größere und kleine Gesangsstücke erschienen für Solo und Orchester, das Oratorium „die Gründung Roms“, mit dem Text des geistvollen Musikkenners und Kritikers Professor Bischoff. Trotz alledem fand Hiller noch immer Zeit, die feinsten ästhetisch-kritischen Artikel zu schreiben und manchen wunderschönen Nachruf heimgegangenen berühmten Freunden. Die lebenden Freunde, berühmte wie unberühmte, finden ihn immer bereit zu heiterem und ernstem Geplauder, und nicht nur männliche, sondern auch die bekanntlich viel plauderlustigeren weiblichen Freunde. Liebenswürdig, offenherzig, lebensfroh und opferbereit, ist er jeden Augenblick mit Rath und That bei der Hand, wenn man ihn persönlich oder brieflich aufsucht. Sein Haus ist noch immer, wie es überall war, das gastfreie Asyl der Künstler von Nah und Fern. In diesem Augenblick – Dienstag Abend, den 4. December – steht er am Dirigentenpult im Gürzenichsaal in Köln, den Tactstab in der Hand, es ist sein Oratorium „Saul“, das er dem dichtgedrängten Publicum zum zweiten Mal vorführt.
Welch’ ein gewähltes Publicum lauscht den „prächtigen Chören“ mit der „pomphaften Instrumentirung“! Wie heiter erscheint das Gesicht des kritischen Richters Professor Bischoff in der Nähe des Orchesters! Welch’ ein embarras de richesse von schönen und minder schönen Frauen, von Civil und Uniformen, Jugend und Alter! Und dabei die Sängerinnen „in Weiß“ und die Sänger „in Schwarz“! Das Orchester, das unter seinen Mitgliedern viele glänzende Namen zählt, schaut mit gespannter Aufmerksamkeit auf seinen König und Herrn, der Chor hängt an seinen Blicken und den Bewegungen seiner Hand. Wie sie mit sichtlicher Liebe und Lust unter seiner sichern Leitung spielen und singen!
Man nennt Ferdinand Hiller einen unübertrefflichen Dirigenten, und wer ihn einmal am Dirigentenpult stehen sah oder unter seiner Führung sang, den überkommt die felsenfeste Ueberzeugung seiner und der eigenen Unfehlbarkeit, und so kann also eine musikalische Leistung, die sich unter seinem Schutze hervorwagt, nicht verderben. Das letzte Düsseldorfer Musikfest hat den Beweis geliefert, wie elektrisirend die Persönlichkeit Hiller’s mit dem Tactstab in der Hand auf Chor, Orchester und Publicum wirkt. Der kleine, runde Mann mit dem edlen Kopfe wird der Größten Einer, wenn er das Podium des Orchesters betritt. Die Rheinländer sind stolz auf ihren Hiller, besonders aber die Kölner auf ihn als den Leiter und die Seele ihrer berühmten Gürzenich-Concerte.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ von Ernst von Feuchtersleben (1806-1849)