Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze/Kapitel 5

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Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze
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V.
Mich dürstet.


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Joh. 19, 28.
28. Darnach, als JEsus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, spricht Er: Mich dürstet.
 So wie die drei ersten Worte des HErrn vom Kreuz in einem unverkennbaren Zusammenhang stehen, so kann man ein Gleiches von den drei letzten behaupten; nur das vierte steht einsam in der Mitte und auf dem Gipfel. In den drei ersten scheint es, wie wenn Sich der HErr von allen Menschen los machte, um frei von allen in die große schwere Arbeit Seiner gottverlaßenen Finsternis hineinzugehen. Bei den drei letzten im Gegentheil ist es, wie wenn Er mit der Hauptsache Seiner Leiden bis auf die Erfahrung Seines zeitlichen Todes fertig wäre und nun nur noch dafür sorgte, Seinen Ausgang aus der Zeit recht öffentlich und feierlich zu machen. Das bange schwere Gefühl, welches man bei dem mittleren Worte JEsu erfahren hat, ist nun eigentlich vorüber, wie denn auch unser Text vor Erwähnung des fünften Wortes ausdrücklich sagt, der HErr habe gewußt, daß nun alles vollendet sei. Im fünften Worte scheint der HErr für Seine leibliche Erquickung zu sorgen, um im sechsten als der größte aller Prediger und Propheten der Welt das volle Gelingen Seiner Arbeit anzukündigen, und dann im siebenten die letzte große That und Erfahrung des leiblichen Todes| vor- und hinzunehmen. So laßt uns denn nun, meine lieben Brüder, das fünfte Wort JEsu Christi genauer betrachten.

 Bei dieser Betrachtung haben wir vor allen Dingen eine Verschiedenheit in der Auffaßung dieses fünften Wortes vorzulegen, sodann die richtige Auffaßung genauer zu erwägen und endlich das fünfte Wort Christi nach der richtigen Auffaßung im Zusammenhange der Leiden des HErrn zu würdigen.

 I. Es ist Euch vielleicht allen, meine lieben Brüder, bereits bekannt, daß die Gewohnheit, die Texte der heiligen Schrift geistlich auszulegen, sich auch auf Worte erstreckt, die, an und für sich ganz klar und verständlich, der geistlichen Deutung gar nicht zu bedürfen scheinen. Die Ansicht von einem mehrfachen, von dem heiligen Geiste selbst beabsichtigten Schriftsinn, nach welcher die wörtliche Auffaßung nur gleich dem Leibe als Trägerin eines höheren und tieferen Sinnes angesehen werden müßte, hat bei alledem, was man hie und da an derselben bedenkliches gefunden hat, doch so viel Nachwirkung in der Kirche gefunden, daß die Ankündigung einer geistlichen Deutung von heiliger Stelle gegen den Prediger durchaus nicht mistrauisch macht, sondern im Gegentheil viele zu größerer Aufmerksamkeit reizt. So hat man es denn auch je und je gerne vertragen, wenn nach Verlesung des fünften Wortes Christi vom Kreuz als Predigttextes die Frage aufgeworfen wurde: Von was für einem Durste redet der HErr in diesem Texte? Obwol Ihm auf Sein Wort „mich dürstet“ der Trank gereicht wird und Er denselben nicht verschmäht, also ganz einfach geantwortet werden könnte: Der HErr redet von Seinem leiblichen Durste, so kann man doch| hundertmal in Büchern lesen und von Kanzeln hören, entweder geradezu, Er rede von Seinem geistlichen Durste nach der Seligkeit unserer Seelen, oder Er rede, wenn auch von einem leiblichen Durste, doch nicht allein von diesem, sondern von ihm, als einem Bilde Seines vorhandenen größeren Durstes nach unserer Seelen Seligkeit. Selten einmal wird sich ein Prediger begnügen, die Textesworte einfach zu nehmen, zu glauben und zu predigen, daß der HErr in Seinem fünften Wort am Kreuz nichts anders gemeint als gesagt und nur die Empfindung Seines leiblichen Durstes in Worten ausgesprochen habe. Es ist, wie wenn der leibliche Durst des Gekreuzigten für eine Betrachtung oder Predigt nicht Stoff genug gäbe, wie wenn die Seelen der Hörer durch eine bloße Erwägung des leiblichen Durstgefühles JEsu nicht passionsmäßig genug gestimmt und nicht genug zum Dank gegen den HErrn erweckt werden könnten. Wie wenn des HErrn wörtlich Wort für eine Passionspredigt zu arm wäre, oder wie wenn viel daran läge, eine Predigt so lang wie die andere machen zu können, ergreift man die sogenannte geistliche Deutung, um doch auf keinen Fall in Verlegenheit zu kommen. – Nun kann ja wol kein Mensch in Abrede stellen, daß der HErr allezeit, auch am Kreuze, ja namentlich am Kreuze ein großes Verlangen nach der Seligkeit unserer Seelen gehabt hat; man kann sagen, daß Ihn dies Verlangen ans Kreuz brachte, daß Sein Leben auf Erden vom ersten bis zum letzten Hauche eine große reiche Kette von Beispielen und Beweisen dieses Seines Verlangens sei; daß dies Verlangen der Schlüßel zu allen Geheimnissen Seines Lebens und Wirkens, Seines Leidens und Sterbens genannt werden müße. Auch wird niemand in Abrede stellen, daß man| dieses Verlangen einem Durste, ja einem heftigen, anhaltenden, bis zur Erreichung des Zieles unauslöschlichen Durste vergleichen, und es daher geradezu einen Durst, einen geistlichen Durst nennen könnte. Allein, meine Freunde, wenn wir auch den Durst JEsu nach unserer Seligkeit überall finden, und ihn mit allen möglichen Wirkungen des HErrn, ja mit Seinem Athem und Blut, mit Seinem Sehen und Hören, mit Seinem Gehen und der Arbeit Seiner Hände vergleichen können, ihn überall angedeutet und ausgesprochen finden, namentlich auch in den Worten vom Kreuze, auch in dem, von welchem wir heute handeln: was veranlaßt uns denn, gerade bei dem fünften Worte von dem Verlangen JEsu zu reden, wenn nicht etwa das treffende Bild vom Durste? Es hindert uns niemand, den Durst auch bildlich zu faßen und geistlich zu deuten; aber war diese Deutung wirklich am Kreuze diejenige, welche die Seele des HErrn bewegte? Hat Er wirklich die Absicht gehabt, durch die Worte „mich dürstet“ Sein Verlangen nach unsern Seelen kund zu geben? Wollte Er damit geistliche Deutungen veranlassen, oder wollte Er Labung für Seine brennende Zunge? War Ihm in Seiner schweren Pein am Kreuze Sein leiblicher Durst etwa auch zu gering, um ihm eine Aeußerung zu geben? Hat Er von ihm, – der doch vorhanden war, sonst hätte Er ja nicht getrunken, – mehr schweigen, als reden wollen, da Er sprach „mich dürstet?“ Erlaubet mir, dazu ungläubig mein Haupt zu schütteln, und mich, wie in so vielen andern Fällen, so auch diesmal zum einfachen Wortsinn zu bekennen und euch deswegen heute von dem leiblichen Durste JEsu am Kreuze zu predigen.
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|  II. Man hat oftmals in neuerer Zeit in einem wahren Gegensatz gegen frühere Zeiten die Kreuzigungsleiden geringer darzustellen gesucht. Man hat hervorgehoben, daß ein Mensch am Kreuze tagelang leben könne, bis endlich der Tod erscheine und den müden Pilger ablöse. Man hat damit eigentlich nichts gewollt, als sagen, daß man die Leibesleiden unseres HErrn nicht betonen müße, sondern vielmehr das unverdiente und das stellvertretende in ihnen. Indes ist bei dieser Bemühung doch sehr häufig eine Art von Untreue zu bemerken gewesen, denn eine getreuere Beachtung der Schrift und des Alterthums würde doch zum entgegengesetzten Ergebnis geführt haben. Es ist ja doch wahrlich der ganzen Schrift abzumerken, daß in dem Tode der Kreuzigung nicht blos eine besonders schmähliche und schändliche Art der Hinrichtung, sondern auch eine besonders schmerzenreiche und erbärmliche dargestellt werden soll. Auch gibt es ja einem jeden seine eigne Vernunft, beurtheilen zu können, was das für ein unaussprechlicher Jammer sein muß, an einem Kreuze angeheftet zu sein, und mit brennenden, reißenden Wunden nicht zu liegen, nicht zu stehen, nicht zu sitzen, sondern eben zu hängen und so bei zunehmender Schwere des Todesleibes allen Jammer auch zunehmend und immer schrecklicher inne zu werden. Sollte aber auch jemand, von verkehrter Absicht getrieben, Gedanken finden, um sich die Sache anders und leichter darzustellen, so berichtet uns das Alterthum aus unmittelbarer Erfahrung, die wir nicht mehr haben, weil die Todesstrafe der Kreuzigung abgekommen ist, doch etwas ganz anderes über diese Todesart, und es läßt sich aus den vorhandenen Notizen der alten Zeit nicht blos schließen, sondern auch beweisen, daß die leiblichen Schmerzen der| Kreuzigung besonders groß und heftig waren. Wenn man auch sagen wollte, der Körper eines Gekreuzigten habe in der Mitte des Kreuzes eine Art hölzernen Nagel oder doch etwas gehabt, auf dem er hätte aufsitzen können, und die Füße seien oft auf einen hervorragenden Pflock oder gar ein Brett aufgestellt und so befestigt worden; so weiß man doch einerseits nicht, ob es auch beim Kreuze des HErrn gerade so war, andererseits würde man aus den angegebenen Umständen gar wenig tröstliches und die schwere Pein des Kreuzes erleichterndes nachweisen können. Dazu überlegt man bei alle dem nicht, daß ja Christus kein gewöhnlicher Gekreuzigter ist, daß Seine Person, Seine Leiblichkeit, wie man sie annehmen muß, Sein sündloses Wesen eine tiefere Leidensfähigkeit bedingt, daß schon bei dem Kampf im Garten eine leibliche Anstrengung, eine Ermattung und eine Ermüdung muß stattgefunden haben, welche mit einem ganzen Leben der gewöhnlichen Schmerzen eines gewöhnlichen Menschen nicht verglichen werden kann. Gar nichts zu sagen von den Leiden vor dem geistlichen und weltlichen Gericht, namentlich der Geißelung, wohl aber noch überdies zu betonen die grausame, Leib und Seele des Gekreuzigten angreifende, keinem anderen Menschen erträgliche oder auch nur verständliche Noth der Gottverlaßenheit! Wenn uns von jenem bei Damaskus gekreuzigten Sklaven erzählt wird, daß das ganze versammelte Volk beim Anblick seiner Leiden, insonderheit aber seines lechzenden erquickungslosen Durstes vor Mitleid in Jammerthränen ausgebrochen sei; was wollen wir denn von unserem Erlöser am Kreuze sagen, von Seinen Schmerzen und von Seinem Durste! Der Blutverlust, das Fieber Seiner Wunden, die Mehrung aller Schmerzen durch die| unaussprechliche Angst und Noth der Seelenleiden, die Länge der Zeit und die Schwere Seiner Leiden müßen Ihm, wie dem Sklaven bei Damaskus, einen brennenden Durst erregt haben, einen Durst, den man wohl mit vollestem Rechte nicht bloß die Wirkung, sondern auch den Gipfelpunkt aller Seiner leiblichen Leiden nennen kann. Weit entfernt also, daß wir das Wort „mich dürstet“ für unbedeutender oder geringer als eines der andern ansehen dürften, stellen wir es im Gegentheil dem großen Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlaßen,“ zur Seite, und schließen aus allem, was wir aus Schrift, Erfahrung und Ueberlegung wißen, daß es ebenso den Höhenpunkt aller leiblichen Leiden JEsu bezeichne, wie das vierte Wort den Höhenpunkt aller inneren, geistlichen Leiden. Wir denken dabei an die Worte des zweiundzwanzigsten Psalms, Vers 15, 16, 18: „Ich bin ausgeschüttet wie Waßer, alle meine Gebeine haben sich zertrennet, mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs; meine Kräfte sind vertrocknet, wie ein Scherben, meine Zunge klebt an meinem Gaumen, ich möchte alle meine Gebeine zählen“ – Worte ohne Zweifel, die ebenso sehr dazu dienen können, die schweren Leiden JEsu Christi als deren austrocknende, dursterregende Kraft darzuthun. Meine Brüder, wer einmal schon im Leben, sei es durch Gemüthserregungen oder durch Mangel dahin gekommen ist, einen heftigen Durst zu erleiden, der kann von dieser Erfahrung aus auf den Durst eines schmerzenreichen, ja eines gekreuzigten Menschen schließen und sich aus dem Mangel an Getränk bei den großen Schmerzen und der jämmerlichen Verlegenheit der Kreuzigung zu einiger Erkenntnis des Zustandes voll Pein und Noth emporheben, aus welchem heraus das Wort „mich| dürstet“ ertönt ist. Ist es rührend und erbarmenerregend, sich den menschgewordenen Gottessohn an der Brust eines menschlichen Weibes als Säugling zu denken: was für ein Erbarmen muß es erst erregen, sich den, der alle Tage alle Kreaturen mit Speise und Wohlgefallen sättigt, in dem Gefühl der allerjämmerlichsten Armuth und Entbehrung und voll Sehnsucht nach einem Tropfen Waßer zu denken, während tagtäglich auf Sein Geheiß alle Brunnen und Quellen fließen und die ganze Welt erquicken. Er gibt der ganzen Welt Waßer, ja Wein und Milch und allen Ueberfluß, ohne ihr Bitten, umsonst, und für sich selbst ist Er durch Seinen eigenen Entschluß so gar arm geworden, daß Er von Seinem Kreuze herunter Seine ärgsten Feinde bittet und anbettelt, nur um einen Tropfen Waßer, ja gar um das elende Getränk, das man für die hinzurichtenden Verbrecher bereit hielt, und welches Er am Anfang Seiner sechs bittern Stunden verschmähte. Wahrlich, meine lieben Brüder, ich weiß nicht, welches Wort vom Kreuze mich armen Menschen so sehr zum Mitgefühle reizen könnte, als gerade dieses. Es spricht ganz unmittelbar an mein menschliches Gefühl, erinnert und ermahnt mich, daß mein HErr und Gott um meinetwillen sich es nicht hat verdrießen laßen, zu allen Seinen Schmerzen und unaussprechlichen Verlegenheiten auch noch die tiefe leibliche Armut und Verlaßenheit eines brennenden, tödtlichen Durstes zu erfahren.
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 III. Wenn wir nun aber zum Schluße daran gehen, dem Durste JEsu am Kreuz die ihm gebührende Stelle im Zusammenhang der Leiden unseres HErrn einzuräumen, so liegt alles daran, die Wichtigkeit der körperlichen Leiden JEsu überhaupt für das gesammte große Werk der Erlösung zu erkennen und zu bekennen.| Der HErr hat am Leibe gelitten. Wer sieht und erkennt das nicht? Was aber in Seinem Leben vorgekommen ist, das muß auch ohne Zweifel eine große und heilige Absicht gehabt haben: absichtslos sind also die leiblichen Leiden JEsu Christi nicht. Wie könnte das auch sein, da die Menschwerdung das Anziehen einer Leiblichkeit in sich schließt, da der Leib überhaupt in der heiligen Schrift so hoch geachtet ist und eine Bestimmung für die Ewigkeit hat. Ist doch der Leib unser Organ und Werkzeug zur Erfüllung unseres ganzen zeitlichen Lebenszweckes und können wir doch von allem, was wir thun, nichts thun, ohne auch den Leib zu gebrauchen. So wahr daher der HErr Mensch geworden, und ein wahrer Mensch gewesen und noch ist, so gewis hat auch Sein Leib und Sein leibliches Leiden am Werke der Erlösung großen Antheil. Er würde den Leib nicht angenommen haben, wenn Er ihn nicht hätte zu Seinen Erlösungsgeschäften ebenso brauchen müßen, wie wir unsern Leib zu unsern Lebensgeschäften bedürfen. – Der HErr ist unser Erlöser. Hat Er etwa bloß unsere Seele erlöst und nicht auch unsern Leib? Soll etwa dermaleins unsere Seele befreit von aller Sünde und jeder Sündenfolge ein ewiges Leben genießen, und dabei in einem Leibe wohnen, der nicht erlöst wäre, sondern alle Strafen und Folgen der Sünden noch an sich trüge? Könnte man so etwas auch nur denken? Wenn Er aber unseren Leib erlösen muß, wie unsere Seele, wenn Er es auch will und thut, kann es dann ohne Leibesleiden abgehen? Sein Leiden ist doch stellvertretend: um aber leidend die Stelle der Sünder zu vertreten, muß doch auch Sein Leib von Plagen ergriffen werden, da ja auch alle diejenigen, deren Stelle Er vertritt, mit ihrem Leibe gesündigt haben, und samt demselben| der Schuld und göttlichen Strafe anheim gefallen sind. Büßt Seine heilige Seele mit allem, was man Seelenleiden nennen kann, die Sünden unserer Seele, so muß Sein Leib in die Theilnahme der Leiden eingehen, um die Mitgenoßenschaft unserer Leiber an unserem Sündenleben zu büßen und zu bezahlen. Ein Leib, der nicht versöhnt ist, kann weder die Strafen der Ewigkeit vermeiden, noch kann er in die ewige Herrlichkeit Gottes eingehen. Alles, was in dem ewigen Reiche Gottes leben, blühen, grünen und Frucht tragen soll, muß vor allen Dingen versöhnt werden. – Die Versöhnung geschieht durch Opfer. Nun ist es jedermann bekannt, seitdem Johannes mit Fingern auf das Gotteslamm gezeigt hat, daß JEsus Christus unser einiges Opfer ist, und daß Er mit Seinem einigen Opfer in Ewigkeit alle vollendet hat, die geheiligt werden, daß Er sich durch den heiligen Geist selbst geopfert hat, und daß wir also bei Betrachtung Seiner den Gedanken des Opfers nie zurücktreten, sondern immer hervortreten laßen müßen. Was hat Er aber geopfert? Sich selbst, antwortet uns die Schrift. Ist aber das der Fall, so kann doch beim Opfer Sein Leib nicht fehlen, so wenig, als bei Seiner Person: Er selbst ist doch kein anderer, als der Christus, Deßen göttliche Natur eine vollkommene Menschheit, also Leib und Seele an sich genommen hat. So hat Er also auch Leib und Seele geopfert. Geopfert aber heißt nichts anderes, als in den schmerzenreichen Tod gegeben, und es sind daher die schmerzenreichen Todesleiden JEsu Opferleiden, und zwar nothwendige, denn es ist zweifellos anzunehmen, daß den HErrn von allen Seinen Leiden nichts getroffen haben würde, wenn es nicht nothwendig gewesen wäre. Daher auch jedes Ach und Weh, jeder Seufzer,| jede Thräne Ihm voraus zugemeßen und bestimmt ist, und Er gerade so und nicht anders leiden mußte, damit wir an Leib und Seele erlöst würden. Da kommen wir denn auch auf dem Wege unserer Gedanken zu dem heißen Durste des sterbenden JEsus, und wir können und dürfen in Anbetracht seiner keine andere Sprache führen, wir müßen sagen und behaupten, daß dieser heiße Durst Ihm insonderheit muß zugemeßen gewesen sein und daß er, so gewis man in ihm die höchste Höhe der leiblichen Leiden des HErrn zu erkennen hat, auch die höchste Höhe Seiner leiblichen Strafen und körperlichen Versöhnungsarbeit bezeichnet. Ist irgend etwas geeignet, ein Bild von allem Verlangen und jeder Begier der Seele zu sein, so ist es der Durst, dieses Gefühl von unaussprechlicher Armuth und Entbehrung und von unnennbarem Verlangen. Unserer Begierden ist keine Zahl, wir verlangen und begehren ohne Ende und können es auch nicht laßen; wir sind so geschaffen, daß wir es nicht laßen können; auch der Fall hat die Sache nicht geändert, nur daß unsere Begier eine andere Richtung genommen. Es geht auch in keiner anderen Sache der Leib mit der Seele so innig zusammen, als in der Begier: der Nerv, das Blut, die Muskel, alle Glieder, alle Sinne – unabläßig sind sie von dem Verlangen der Seele bewegt, Begier und Verlangen trieft von ihnen allen. Daß nun all unsere Begier die verkehrten Wege geht, Seele und Leib nach Verbotenem und Schädlichem Tag und Nacht fragen und sehen und begehren, ja daß bei den meisten Menschen alle Begier der Seele verwandelt ist in die fleischliche Begier, und alle Gedanken nichts anderes sinnen und bewegen, als wie dem Fleische und Leibe die Lust zu büßen sei; – daß schier alles Leben in den| Durst zeitlicher Lust und zeitlichen Vergnügens ausläuft, das ist Jammer genug und liefert eben das endlose Register leiblicher Sünden und Verbrechen. Sagen doch die Erfahrenen, daß das ganze Heer der Jugendsünden seinen Mittelpunkt in der bösen fleischlichen Lust habe, und daß, wer diese wegnehmen könnte, das Feuer der Jugendsünde auf dem Herde löschen, und das ganze wuchernde Gewächs mit der Wurzel ausrotten würde! Und könnte man doch das gleiche von den Sünden der älteren Tage behaupten, wenn sich da auch alles etwas anders formen und gestalten müßte. Daran laßt uns denken, und dann wieder heimkehren zu dem Worte JEsu: Mich dürstet. Dieser Mann am Kreuze hat sich niemals auch nur mit Einer Begier Seiner Seele von dem graden Weg zu dem einig richtigen Ziele, dem Wege zu Seinem Gott verirrt. „Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist,“ das ist Sein kindlich und Sein männlich Wort, darin bleibt Er sich völlig gleich. Darum sollte Er auch niemals ein Gefühl des Mangels, der Armuth und des Elends gehabt haben, am wenigsten in den bittern Stunden Seiner Todesleiden. Wird Ihm etwas davon auferlegt, so geschieht es nicht, weil Er es so verdiente, sondern Er trinkt fremden Trank und leidet fremde Pein. Sein heißer Durst am Kreuze, den Er öffentlich bekennen, ja ein wenig stillen muß, um vollenden zu können, ist daher, wie wir aus dem allgemeinen Gedanken der Stellvertretung schließen müßen, nichts anderes, als die Büßung und Versöhnung aller unserer unlauteren Begier und bösen Lust, der wir von Anfang unseres Lebens und von unserer Mütter Brüsten an unterworfen gewesen sind, und eben dadurch am allermeisten das Bild des lebendigen Gottes, welches uns anhangt, verunreinigt und entwürdigt| haben. Die reine Seele und der vollkommen reine Leib Des, der am Kreuze hängt, muß alle Noth und allen Jammer eines heftigen tödtlichen Durstes empfinden, damit die Schuld derjenigen, die von einem unreinen Gelüsten nach dem andern ohne Ende hin und her getrieben werden, gebüßt und es möglich werde, Leiber und Seelen zu reinigen, welche auch ihr innerstes Mark und Leben dem unreinen Feuer ohne Ende überliefern. O, es liegt etwas an dieser Erkenntnis! Es können in der Zeit und in der Ewigkeit Zustände kommen, in denen man mit Grauen und Erstaunen bemerkt, wie weit man im armen Erdenleben sich von dem Ruhme einer reinen Seele und eines reinen Leibes entfernt hat. Für solche Fälle ist alsdann das Andenken an den Durst unsers HErrn selbst ein labendes Waßer des Lebens, und Sein Wort „mich dürstet“ stillt dann das Verlangen. Der Geist des HErrn erzieht in Seinen Heiligen eine solche Scham und ein solches Wehgefühl über die Verirrung unserer geistlichen und leiblichen Begier, daß man eines göttlichen Trostes bedarf, um Ruhe zu finden. Da wird alsdann das kleine Wort „mich dürstet“ groß, und nicht um alle Welt würde man in solcher Noth von den sieben Lampen, die uns in den letzten Worten JEsu leuchten, die fünfte auslöschen oder wegthun laßen, sintemal sie eine Gewähr der Vergebung und Versöhnung für alle diejenigen ist, denen der heilige Geist Herz und Auge zu reinigen beginnt und ihnen das Licht über die tiefe Schmach der Hingebung in Fleischeslüste aufsteckt.
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 So helfe euch nun der HErr euer Gott, das Wort „mich dürstet“ faßen; faßet ihr es, so seid ihr gewappnet wider glühende Anfechtungen und der HErr wird euch durch Seine Kräfte den| Grund eurer innern Begier reinigen, eure Seele und euren Leib in wahre Heiligung einführen. Sein Geist erzeige euch die große Barmherzigkeit, euch die Frucht dieses Wortes zu schenken, und laße euch in dem fünften Worte JEsu selig ruhen, wenn euch einmal die Einsicht kommt, wie sträflich und abscheulich vor Gott und Seinen Heiligen die Hingabe in die schnöde Begierlichkeit des Fleisches und in die Lust der Welt ist. Amen.




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