Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze/Kapitel 6

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« Kapitel 5 Wilhelm Löhe
Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze
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VI.
Es ist vollbracht.


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Joh. 19, 30.
30. Da nun JEsus den Essig genommen hatte, sprach Er: es ist vollbracht; und neigte das Haupt, und verschied.
 Es ist, als wenn sich der HErr durch den Eßigtrank, der Ihm gereicht wurde, welchen Er auch nach Seinem Worte „mich dürstet“, nicht verschmähte, hätte stärken wollen zu dem mächtigen Ruf, welchen Er am Ende in die Welt hinein ertönen laßen wollte, zu dem Rufe: „Es ist vollbracht,“ den wir in unserem Texte lesen. Bedeutungsvoll schreibt ja der heilige Johannes: „Da JEsus den Eßig genommen hatte, sprach Er: „Es ist vollbracht.“ Wäre aber aus diesen Worten ein solcher Schluß nicht zu machen, so könnten und dürften wir dennoch die große Kraft und Macht nicht verkennen, welche in dem Rufe liegt, der nach dem Grundtext mit einem einzigen Worte geschah. Johannes schreibt wohl nur: „JEsus sprach“; aber das, was Er gesprochen hat, ist dem Inhalt nach so gewaltig, daß man gar nicht anders kann, als an die Erzählung der andern Evangelisten, namentlich an die des heiligen Matthäus und Markus zu denken, welche den HErrn mit lautem Geschrei von der Welt und vom Leben Abschied nehmen laßen. Ist es auch so, daß man nach Lukas den lauten Posaunenton des Sterbenden zunächst auf Sein letztes Wort| vom Kreuze beziehen muß, so wird uns doch immer der Zusammenhang der Erzählung St. Matthäi und Marci und die Verbindung, die wir zwischen dem letzten Tranke und den beiden letzten Worten des HErrn annehmen müßen, geneigt machen, anzunehmen, daß der laute Ton der Stimme JEsu Seine beiden letzten Worte begleitete, und es wird dadurch dem Inhalte der Worte nur genug gethan. Beide letzte Worte unterscheiden sich von einander wie Predigt und Gebet. Das sechste Wort ist eine Predigt vom Kreuz hinaus in die ganze Welt, eine Proklamation des wichtigsten Ereignisses seit der Welt Grundlegung. Die darf nicht mit leisem Hauche durch die Lüfte hinwehen, und da es zum Gang der ganzen Geschichte und der Ereignisse gehörte, daß alle anderen Wesen noch mußten schweigen, so blieb nichts anderes übrig, als daß Er selbst, der Vollbringer, noch einmal Kraft und Stärke anziehen mußte, um mit Würden den Inhalt zu verkünden, welcher aller Welt Friede und Freude bringen und das Lied der über Bethlehem jubilierenden Heerschaaren Gottes bestätigen sollte. Ebenso ist es nicht bloß der Drang des Beters, sondern auch die Wichtigkeit des Zeugnißes, welches in dem letzten Worte JEsu von Seinem Tode gegeben wird, was einen lauten Ruf und eine mächtige Stimme erheischt. Es sind die beiden letzten Worte JEsu nicht bloß Ankündigung eines Lebensendes und beginnenden Sterbens, sondern Siegesrufe des Herzogs unserer Seligkeit, und wie Sein Siegen im Unterliegen, Seine ewige Krone im Tode Ihm gegeben wird, so muß, da Gott und alle Kreaturen schweigen, der wunde, todtmüde Leib des HErrn noch einmal emporflammen in die helle Lohe des mächtigen doppelten Ausrufs, mit welchem Seine Seele außer dem Leibe wallen| geht, ins Paradies dahinfährt, und zur Anbetung der Seligen gelangt.

 Nachdem wir uns also die äußerliche Art und Weise des sechsten Wortes JEsu Christi vergegenwärtigt haben, schicken wir uns an, das Wort selbst zu betrachten. Wir werden dabei am besten thun, wenn wir den gesammten Inhalt deßen, was zu sagen ist, als Beantwortung zweier Fragen faßen. Die erste Frage ist diese: Welches ist der Sinn des Wortes JEsu: „es ist vollbracht.“ Die zweite lautet: Was folgt aus diesem Worte? Diese Fragen sind wie sehr einfache Rahmen, die einen großen Inhalt und reiche Bilder umfaßen sollten, oder wie arme, geringe Pforten, durch welche man nichtsdestoweniger in Paradiese eingehen kann, eine Bemerkung, die ich nicht mache, um meine eigene arme Zuthat zu dem großen Inhalt anzupreisen, sondern welche im Gegentheil mit einem tiefen Bewußtsein meiner Unfähigkeit und unter herzlicher Anrufung einer höheren Hilfe geschieht. Ich weiß, zu welchem Hauptgedanken ich eure Seelen kraft des sechsten Wortes JEsu führen soll; ich weiß, daß in dem einfachen sechsten Worte eine Welt, ja ein Himmel voll Seligkeit ausgeleert wird, aber HErr Gott, wie mach ichs, wie red ich, daß wir zum Hauptgedanken also gelangen, wie es desselben würdig ist, und daß wir am Ende bei demselben mit Frucht und reichem Segen angelangen. Da helfe der Meister göttlicher Gedanken und verleihe aus Seiner Fülle Licht und Kraft. Amen.

 I. Indem wir nun zuerst das Wort: „Es ist vollbracht,“ ansehen, finden wir, daß einige Verse vorher, Vers 28, vor dem Worte des HErrn „Mich dürstet“ St. Johannes einleitend| schreibt: „Darnach, als JEsus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet war, spricht er: Mich dürstet.“ Demnach hatte, wie wir auch bereits geschloßen haben, unser HErr schon vor dem Worte: „Mich dürstet,“ Sein Wort: „Es ist vollbracht“, im Sinn. Er spricht: „Mich dürstet“, und sucht damit die leibliche Erquickung und Stärkung, um sodann Seine gewaltigen Abschiedsworte vom Vollbringen und Sterben ertönen zu laßen. Aber nicht bloß, um diesen Zusammenhang aufzufinden, dient uns der 28. Vers; sondern wir könnten versuchen, den Ausdruck „es ist vollbracht,“ durch dieselbige einleitende Bemerkung des heiligen Johannes zu erläutern. Johannes hat ja einen Beisatz, welchen das große Wort JEsu nicht hat; er sagt: „JEsus wußte, daß alles vollbracht war, auf daß die Schrift erfüllet würde,“ und wir ersehen also daraus, in welchem Sinne das Wort des HErrn gemeint ist und in welch anderem es nicht gemeint sein kann. Ganz offenbar will der HErr nichts anderes sagen, als daß nunmehr die Schrift erfüllt sei, daß Weißagungen hinausgegangen seien, alles Ziel und Ende gefunden habe, was es habe finden sollen. Ist aber Von Erfüllung und Vollbringung göttlicher Worte und Weißagungen die Rede, so ist es zu wenig, wenn man das große Wort des HErrn bloß als ein Schlußwort Seines Lebens ansehen und es so auffaßen wollte, als hieße es mehr nicht als: Consummatum est, nun bin ich mit dem Leben fertig. Es ist keine bloße Freudenbezeugung darüber, daß nun die Last und Mühsal und das unaussprechliche Leid und Weh zu Ende geht, auch liegt in dem Worte „es ist vollbracht“ nicht allein das Zeugnis eines guten Gewißens, etwa wie St. Paulus von sich sagt: Ich habe einen| guten Kampf gekämpfet, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten. Wenn wir auch keinen Augenblick zweifeln werden, daß der HErr über das Ende Seiner Leiden froh gewesen sei und Sein Gewißen Ihm das beste Zeugnis über jedes apostolische Gewißen hinaus gegeben haben werde, so leitet uns doch der 28. Vers des Textkapitels mit bestimmten Worten auf eine andere Bahn, auch wenn uns unser eigener Sinn und Verstand nicht sagen würde, daß sich zum bloßen Ausdruck der Sterbensfreude und Gewißensfreudigkeit der HErr durch den Labetrunk nicht gestärkt haben wird, daß er größeres muß vorgehabt haben, daß die allerdings liebliche und schöne Deutung des Wortes für Ihn weit aus nicht groß und herrlich genug ist. Ja, ja, es redet ein gutes Gewißen aus diesem sechsten Worte JEsu, aber was für eines? Nicht das Gewißen eines gerechten, tugendhaften Heiligen, sondern das Gewißen des Erlösers der Welt und des Sohnes Gottes. Es ist eine eitle Einbildung, wenn irgend wer aus der übrigen Menschheit am Ende seines Lebens das Consummatum est im Sinne JEsu sprechen wollte. Das verbietet sich von selbst. Wir wißen, daß sich des HErrn Wort auf die Erfüllung großer göttlicher Worte bezieht; wir wißen damit eigentlich noch gar nicht viel, aber doch so viel, daß sich auf uns, unsern Lebenslauf und unser Lebensende keine besondere Weißagung bezieht, und daß wir sterbend, auch wenn wir gut Gewißen genug hätten zu einem „es ist vollbracht“, doch nur wie im Delirium Unsinn reden würden, wenn wir unserer Umgebung durch ein letztes Wort ankündigen wollten, die von uns gegebenen und geschriebenen Weißagungen seien am Ende. Das Wort JEsu in Seiner nächsten Beziehung ist einzig,| niemand kann es nachsagen, und warum? Weil die Lebens- und Sterbensaufgabe und das Gewißen JEsu einzig ist, weil der nächste Sinn der Worte JEsu auf keinen anderen Menschen eine Anwendung leidet. Laß alle Heiligen Gottes in der ganzen Welt am Ende ihres Lebens Christo nachrufen: „Es ist vollbracht“; sie dürfens, sie mögens thun, aber sie mögen dabei ihre Hände, die an kein Kreuz geschlagen sind, brauchen und damit an ihre Brust schlagen; denn sie müßen das Wort in der tiefsten Demuth armer Sünder und Gnadenkinder sprechen, so daß es im wahren Sinne nur eine Lobpreisung des HErrn JEsus, des einzigen Vollbringers, wird, und sie damit kund geben, wie bei ihnen von einem Vollbringen, von einer Todesfreudigkeit und einem guten Gewißen nur die Rede sein kann, weil der HErr am Kreuz vollbracht hat. –
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 Sind wir nun aber auf diese Weise eine verkehrte Auffaßung des göttlichen Wortes los geworden, und im allgemeinen auf den rechten Weg gewiesen, so ist damit unsere Ueberlegung doch noch nicht geschloßen, sondern wir müßen sie noch eine Weile fortsetzen. Zuerst kann es uns nemlich auffallen, daß Johannes sagt, der HErr habe gewußt, daß bereits alles vollbracht sei, auf daß die Schrift erfüllet würde, während er doch noch am Kreuze lebt, der Tod noch nicht geschehen ist, und dieser Tod selbst von den Propheten und dem HErrn geweißagt ist und daher erst vollendet werden muß, ehe alles geschehen ist, was auf Christum geschrieben steht. Man könnte freilich sagen, es könne der Natur der Sache nach das Wort „es ist vollbracht“ sich nur auf diejenigen Weißagungen beziehen, die bis zum Tode gehen, da ja der HErr begreiflich nicht habe können sagen wollen, es| seien alle und jede auf Ihn bezügliche Weißagungen vor dem Eßigtrank erfüllt worden. Erinnern wir uns nur an jenes in der Offenbarung beschriebene Buch mit sieben Siegeln, welches lauter Weißagungen auf Christum enthält, die über den Charfreitag hinaus und in die Zeit der herrlichen Regierung unseres Königs Christus im Himmel hinein reichen. Der HErr hat mit Seinem Worte „Es ist vollbracht“ ganz offenbar nicht gesagt, was er nicht gesagt haben kann. Somit hätten wir also diesem, Seinem Worte Grenzen gesteckt, aber ob völlig richtige, das ist die Frage. Meint der HErr wirklich mit Seinem sechsten Worte bloß die Weißagungen, die sich auf Seine irdische Zeit bis zum Eßigtrank beziehen, oder geht es etwa hier auch, wie bei der Himmelfahrt, wo wir lesen, daß Er, das Urbild aller Hohenpriester, den Seinen den Segen spricht, ehe Er in das Heiligthum eingeht, während Er ihn doch nur in Kraft Seines Eingangs und der dort vollendeten Geschäfte sprechen kann? Greift nicht der HErr auch hier voraus in bester Absicht, aus Barmherzigkeit, zum Trost der Seinen? Müßen wir nicht annehmen, daß in Sein großes Wort: „Es ist vollendet,“ der letzte Theil Seiner großen Thaten und Leiden, das große Ende des ganzen Lebenslaufes, nemlich der Tod selbst, mit eingeschloßen sei? Es ist ja so einfach, anzunehmen, daß der HErr Sein Vollbringen selbst verkündigen wollte, und wenn Er es nun einmal wollte, es in keiner anderen Weise thun konnte, als vor den letzten Todesaugenblicken, weil nach dem Tode Seine Lippen gegen die Sterblichen schweigen, bis Er wiederkommt. In der That, meine Brüder, ich kann mir das Wort JEsu nicht denken, es sei denn auf diese Weise: nicht über dies irdische Leben hinaus,| aber bis zu dessen wirklicher und völliger Vollendung muß das Wort „Es ist vollbracht“ greifen, weil uns die ganze Schrift bezeugt, daß der Tod des HErrn der große Abschluß alles deßen ist, was Er im sterblichen Leben dahier zu thun hatte. Er weiß vor dem Eßigtranke, daß alles vollendet ist, und nichts mehr zu thun, als die Vollendung anzukündigen und zu sterben, da greift Er mit Seinem Worte voraus, und in der Gewisheit, daß nun Seine Seele von den Banden des Leibes sich losreißen werde, im vollen Entschluß zu sterben, ruft Er: Es ist vollbracht.
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 Um ein wenig deutlicher ist uns nun allerdings das Wort des HErrn „Es ist vollbracht,“ aber die Frage: „was ist vollbracht?“ ist uns der Sache nach doch noch nicht gelöst. Die Weißagungen sind vollbracht, so viel wißen wir; aber welche Weißagungen? Heißt das bloß so viel als: Er ist Mensch geworden und geboren von einer Jungfrau, wie es geschrieben steht? Er hat gelehrt und Wunder gethan, wie es verheißen war? Er hat gelebt und gewirkt nach dem Worte der Propheten? Er ist verrathen und übergeben in die Hände der Sünder, Er hat gelitten und ist gestorben nach dem vorauslaufenden Zeugnis der Propheten? Ohne Zweifel liegt das mit in dem großen sechsten Worte. Es ist ja der Lebenslauf des HErrn in den Worten der Propheten voraus verkündigt und die großen Umrisse Seines Schattens hat Er vor sich her auf den Plan der Erde geworfen, ehe Er kam. Aber ist denn bloß Sein großer Lebenslauf und Sterbenslauf geweißagt und hernach vollendet? Stehen die außerordentlichen, alle Gedanken der Menschen überragenden Thatsachen völlig unbegriffen und räthselhaft, wie ein Fragezeichen im Verlauf der Geschichte, oder hat auch etwas verlautet von der| Absicht des großen Lebenslaufes? Ist geweißagt, wozu sich diese Lebensleiden zur Sterbensgeschichte vor den Augen Israels entwickeln soll, und ist uns also klar, was mit diesem Leben, Leiden und Sterben vollbracht ist? Ich denke, ich brauche es nicht einmal zu predigen, es wird euch allen unzweifelig und vollkommen gewis sein, daß es unsere Erlösung gegolten hat, daß uns in Christi Lebens- und Sterbenslauf die geweißagt, daß sie mit Seinem letzten Hauch vollendet ist. Das, was in dem Rathe der heiligen Dreieinigkeit von Anfang her beschloßen war, was die Absicht der ganzen Geschichte bis zum Charfreitag gewesen ist, der Plan Gottes, den Er Seinen Knechten und Freunden, den Patriarchen und Propheten offenbarte, welchen Er dem Teufel und seinen Rotten verhüllte, den Er trotz aller Hindernisse hindurch führen wollte, der ist nun eben erfüllt, vollbracht, vollendet. Es gilt noch ein einziges, das leibliche Sterben, dann ist für alle Ewigkeit besiegelt das große Werk, welches der Schöpfung ebenbürtig zur Seite stehen sollte, und die ungeheure Arbeit der Dämonen, dem Schöpfer Seine Geschöpfe, dem guten Hirten Seine Schafe für immer und ewig zu entwenden, ist mislungen für immer, und am Holze ist der Sieg dem entrungen, der ihn am Holze errungen hatte. Vollbracht, besiegelt, unabänderlich für immer geschehen, zur Verhöhnung des ewigen Bösewichts und seines Reiches, zum Jubel aller auserwählten Engel, zur Wonne aller armen Sünder ist die Erlösung. Als der HErr am Abend vorher sich erhob, um nach Gethsemane zu gehen, sprach Er: „Der Fürst der Welt kommt, und hat nichts an mir.“ Er kam auch, denn es war hereingebrochen seine Stunde und die Macht der Finsternis. Der Feind merkte, daß| es ihm nun gälte, darum griff er hitzig an, es gab, ach welch einen Streit und Strauß! Wer könnte die sechs letzten Stunden und was in ihnen geschehen ist, darlegen und faßen! Aber was auch in der Finsternis am Kreuze den Menschen verborgen geschehen ist, es ist geschehen, der am Kreuz hat gewonnen, Sein gequältes Herz wird von Siegsgefühl durchströmt, es gilt nur noch eins, nemlich sterben, und da vollendet und vollbringt Er also Seinen ganzen Sieg, indem Er in des Todes Rachen springt und diesen Siegessprung mit Seinen Worten verkündigt: Es ist vollbracht. Bisher war es still im Himmel, nun aber geht freudiges Beben durch die ganze Welt, und es bereitet sich ein neues Lied der Himmel, und die Heerschaar der Ewigkeit schickt sich an, nun nicht mehr allein Den zu verherrlichen, der auf dem Stuhl sitzt und die Welt erschaffen hat, sondern auch das Lamm, das erwürget ward und hat uns Gott erkauft mit Seinem Blute. Von diesen Augenblicken an schreiben sich jene wunderbaren entzückenden Gottesdienste der Ewigkeit, die Johannes nach dem vierten und fünften Capitel seiner Offenbarung im Geiste hörte, die da ewig währen, und die am Ende ewig nichts anders sein werden, als das dankbare und unauslöschliche Echo aller Kreaturen auf den Ruf des großen Erlösers: „Es ist vollbracht.“
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 II. Schon im alten Testamente, meine lieben Brüder, ist das Himmelreich einem Mahle verglichen, von dem die Fetten auf Erden und die Elenden eßen sollen, die einen wie die andern. Dies Gleichnis ist auch in das neue Testament übergegangen. Erinnert euch an das, was der HErr vom großen Abendmahl sagt, wie Er die vorausbestimmten Gäste mit den Worten einladen läßt, seine Ochsen und sein Mastvieh seien geschlachtet,| und die ungeladenen zu Seiner Tafel bitten und führen, ja nöthigen läßt. Bringen wir dies Gleichnis mit dem sechsten Worte des HErrn vom Kreuze in Verbindung, so weiß ich es nicht anders zu nehmen, als daß mit dem Tode des HErrn die ganze Mahlzeit des Reiches Gottes zugerichtet, fertig und gar sei. Der Ruf „Es ist vollbracht“ deutet an, daß nun das Osterlamm des neuen Testamentes geopfert und angenommen und bereitet sei, auf daß die ganze Welt von ihm eße und satt werde. Indem ich euch am Schluße dieses Vortrags darlegen will, was aus dem Worte „es ist vollbracht“ folgt, erscheint es mir bequem, den Grundgedanken dieses Gleichnißes festzuhalten und an dem Mahle zu zeigen, was geschehen ist und nun noch übrig bleibt. Das Opfer ist geschlachtet und angenommen, und die Opferspeise ist bereitet. Was von Seiten des HErrn, der allein helfen konnte, geschehen mußte, um die verlorne Menschheit wieder zurückbringen zu können, das ist geschehen, und die Bedingungen unserer Seligkeit sind erfüllt. Der Plan unserer Errettung ist, im Herzen Gottes entstanden. Auch die Ausführung desselben gehört alleine dem HErrn. Keine Kreatur hat hier Verdienst außer der einige Mensch JEsus Christus, der nicht bloß Kreatur ist, sondern der ewige Sohn des Hochgelobten. Gott hat in Christo JEsu das Werk unserer Seligkeit vollbracht. Wie die Schöpfung ein Werk des alleinigen Gottes ist, so ist unsere Versöhnung und Erlösung allein ein Werk Gottes in Christo JEsu und es kann im eigentlichen Sinne von einem menschlichen Verdienste keine Sprache sein. Es ist möglich, daß der HErr aus der Fülle des unendlichen Verdienstes Christi und des von ihm erworbenen Reichthums an Gnaden und Gaben irgend| etwas Besonderes, eine Gnadenverheißung an das Wohlverhalten eines erlösten Kindes anknüpft und Seine Heiligen in Gnaden würdigt, ihnen dies oder jenes in der Zeit oder in der Ewigkeit beizulegen, und man hat deshalb in einem untergeordneten Sinne selbst in den symbolischen Büchern der lutherischen Kirche von verdienstlichen Werken gesprochen. Man hat sich aber auch mit allem Rechte und in vollem Ernste gegen jede Schmälerung des Verdienstes Christi erklärt und es in der lutherischen Kirche namentlich je und je für hohe Pflicht geachtet, alles zu vermeiden, was dem großen Worte „Es ist vollbracht“ nur im mindesten zu nahe treten könnte. Die erste Folge, die man aus dem Vollbringen JEsu gezogen, ist die gewesen, daß also, weil Christus alles vollbracht hat, Sein Werk vollkommen sei, und ihm daher nichts fehlen könne, also auch jeder Versuch, etwas hinzuzuthun, frevelhaft und lästerlich sei; der Mensch entweder gar nicht, oder allein aus Gnaden, allein durch JEsum, ohne alle andere, sei es fremde oder eigene Zuthat, selig werden müße. Der uns geschaffen hat, der hat uns auch erlöst; Ein Schöpfer ist und Ein Erlöser. Diese Folgerung ist auch so richtig, so nothwendig, so nützlich und heilvoll, daß wir alle Ursache haben, sie festzuhalten, und daß eine Abweichung von ihr uns aus dem Frieden und der Gemeinschaft der Kirche hier und dort zu bringen droht. Das sei daher beschloßen von uns allen an dem heutigen Tage, Angesichts unseres Textes neu beschloßen, daß wir für das Wort „vollbracht“ eifern, und uns durch nichts in der Welt dahinbringen lassen wollen, neben dem einigen Mittler zwischen Gott und den Menschen noch irgend einen andern, und neben Sein alleiniges Verdienst noch ein Verdienst zur Seligkeit stellen zu laßen.
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|  Wenn nun aber das Opfer und die Mahlzeit vollendet und fertig ist, es kein anderes und keine andere gibt, so folgt daraus ferner, daß man sich das Opfer dadurch aneignen soll, daß man zum Opfermahle kommt und an der Tafel des Osterlammes ißt und trinkt. Wenn der HErr verkündigen läßt: „Meine Mahlzeit ist bereitet“, so läßt Er auch dazu setzen: „Kommet, es ist alles bereit.“ Es bezeichnet also das große Wort des HErrn vom Kreuze nicht allein den Schluß seines Erlösungswerkes und Opfers, sondern auch den Beginn unserer Theilnahme, und wer nun von allen Geladenen oder Genöthigten dem Rufe und der Nöthigung der Knechte Gottes widerstrebt, und nicht zur Gnadentafel kommt, der gibt dem Erlösungswerke Christi die Folge nicht, die ihm gebührt, und verhindert an seinem Theile, daß das dritte göttliche Werk zu Stande komme, was vor Eintritt des Tages der Ewigkeit gelingen muß, er verhindert die Heiligung der Menschheit und aller Creatur durch das Blut JEsu, und schließt sich dem Triumphzug Gottes gegen Seine Feinde nicht an, läßt Seinen Namen nicht heiligen, Sein Reich nicht kommen, Seinen Willen nicht geschehen, begibt sich aber auch eben damit seines eigenen Heiles und der einzigen Möglichkeit seiner Rettung zum ewigen Leben. So gewis daher unsere Seligkeit allein aus Gnade stammt, allein durch Christum erworben ist, ebenso gewis ist es auch, daß ein drittes nöthig ist, nemlich eben das, was in dem Eßen des Mahles angedeutet ist, die gläubige Annahme. Was hilfts, wenn die Tafel mit Gerichten beladen ist, und du ißest nicht davon: wirst du auch satt werden? Und wenn nun alles vollbracht ist, was zu deinem Heile nöthig ist, kann es dir gelten, wenn du dich gleichgültig oder ungläubig davon abwendest,| den treffenden Schluß auf dich nicht machst, und dein Vertrauen nicht darauf setzest? Man kann doch nach aller Arbeit und Mühe des HErrn nimmermehr selig werden ohne Glauben, so wenig man eine Gabe genießen kann, die man nicht empfangen mag. Es kann auch niemand, der zum Eßen geladen ist, an die Stelle des Eßens irgend eine andere Thätigkeit setzen, man wird nicht satt, als durchs Eßen, und nicht selig, außer durch die gläubige Aneignung des Opfers JEsu und Seiner heiligen Opfergabe. Glauben, geistlich eßen, geistlich-leiblich eßen im Sakramente, hinnehmen, sich schenken laßen und empfangen, das ist es, wovon allein die Rede sein kann, und man muß daher gewis zu den Ausdrücken: „allein aus Gnaden, allein durch Christum“ den bekannten dritten hinzusetzen: „allein durch Glauben“ Es darf auch niemand der Meinung sein, daß man mit diesem dritten Ausdruck eine pur menschliche Thätigkeit zu einer gedoppelten lauterlich göttlichen setze, denn der Glaube ist zwar die menschliche Thätigkeit des Empfangs, aber diese menschliche Thätigkeit selbst liegt über die menschliche Möglichkeit hinaus, und es muß uns erst durch das Wort und den darin waltenden Geist der Glaube gegeben werden, ehe wir ihn üben, und um durch ihn unser Heil ergreifen zu können. Gehört es daher zu den Folgen des großen Wortes JEsu: „es ist vollbracht“, daß wir nun glauben sollen und das ewige Heil uns aneignen, so werden wir auch, um den Glauben zu finden, den in Christo JEsu ruhenden und selig machenden, dem Worte stille halten müßen, uns demselben nicht entziehen dürfen, sondern seine Wirkungen aufnehmen müßen, durch welche allein Licht, Freude und Vertrauen des Glaubens in uns hergestellt wird.
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|  Wir haben oben gesagt, daß seit dem „Es ist vollbracht“ des HErrn das neue Lied der Seligen in der Ewigkeit begonnen habe, und gewis, diese Behauptung beruht auf einer Schlußfolge aus dem Worte JEsu: „Es ist vollbracht.“ Das Vollbringen JEsu hat eine allseitige Wirkung, Sein gelungenes Werk der Versöhnung muß an allen Orten der Herrschaft Gottes gespürt worden sein. Ist die Versöhnung gelungen, so ist eben der ewige Vater versöhnt, der Friede im ewigen Vaterhause hergestellt, Friede ist in ihm. Wenn auch dem Frieden noch an unzähligen Orten Geltung zu verschaffen ist, und der kleine Krieg noch an allen Orten und Enden wider die Feinde fortdauern muß, die zwar weichen, aber noch im weichen fechten, so ist doch bereits die entscheidende Schlacht unwiederhintertreiblich gewonnen und das Panier des Sieges und des Friedens auf den Zinnen der obersten Burg des HErrn aufgesteckt, es ist einmal da Friede, wo zuerst Friede sein muß, in der Höhe, das andere wird werden. – Ist aber Friede im Himmel, dann ist auch Ehre in der Höhe. Hat Gott Seinen Zweck erreicht, so wird bei Seinen Engeln und Auserwählten Dank, Ruhm und Preis nicht fehlen, und die Harmonien der ewigen Chöre müßen nun wie großer Waßer Rauschen von Ewigkeit zu Ewigkeit erklingen. Je höher und tiefer die Einsicht der seligen Geister in das Unglück der Sünde und in die Wonne des ewigen Reiches ist, desto mehr müßen sie sich durch das „Es ist vollbracht“ des HErrn ewiglich gedrungen und getrieben fühlen, sich und alle Creatur demüthig in den Staub zu legen und Dem die Ehre zu geben, Dem sie allein gebührt. So sähen wir also, daß die Behauptung von| dem neuen Liede der Himmel und seinem Ursprung im sechsten Worte am Kreuze guten Grund hat.
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 Aber meine lieben Brüder, eine ähnliche Folge wie im Himmel hat die Vollbringung JEsu auch auf Erden. Auch da beginnt seit jenem großen Worte JEsu Friede und Ehre. Dem Worte „Friede ist im Himmel und Ehre in der Höhe“ entspricht auch das Wort: „Friede auf Erden, Ehre in der Gemeine.“ Wenn denn der HErr vollbracht hat, also daß im Himmel Friede ist, so hat Er auch vollbracht, daß auf Erden Friede ist, denn aus dem friedenvollen Himmel geht der Geist aus in alle Lande und überwindet mit der Botschaft des himmlischen Friedens den Unfrieden sündiger Seelen. Das Opfer ist geschehen, vollgiltig vor dem Auge des ewigen Vaters; also was wird Ihm denn fehlen, das Vertrauen derer zu gewinnen, für welche geopfert ist? Was den Allerheiligsten befriedigt, muß doch auch die Sünder befriedigen können, dazu wird auf Erden die himmlische Mahlzeit gereicht, überall ist gedeckter Tisch, allenthalben lädt, ruft, führt, nöthigt man die Gäste, die Stimme der Boten wird an allen Orten und Enden gehört: Kommet, es ist alles bereit. Es ist also nicht allein Friede gewonnen und Friede verkündigt, sondern ein heiliger Zug, ja ein mächtiger Drang und süßer Zwang geht durch die ganze Welt, um in Kraft des Friedens in der Höhe auf Erden Friede herzustellen. Auch ist die Arbeit der Boten und der Zug des Geistes nicht erfolglos, sondern es wird Friede im Herzen und Gewißen vieler Tausende, und aus der Predigt: „Friede auf Erden“ erwächst Unzähligen Friede im Herzen, Friede im Gewißen, und aus dem Herzens-| und Gewißensfrieden entspringt dann die lautere Quelle des Friedens der Kinder Gottes und Brüder JEsu. Aus der Friedenspredigt kommt Friedenserfahrung und je mehr das der Fall ist, je mehr folgt auch die Ehre in der Gemeine. Wer kann den Frieden predigen hören, Frieden glauben, Frieden empfinden, ohne daß er Seele und Harfe zum Ehren- und Preisgesang Gottes und Seines Erlösers stimmt? Wenn Himmel und Erde in Christo sich vereinen, wenn die Herzen und Gewißen, wenn Freunde und Feinde eins werden und die Harmonie aller Wesen wieder zu wachsen und zu gedeihen beginnt, so folgen, wer wirds hindern können, auf Erden in der Gemeine, wie im Himmel am Throne Gottes harmonische Lieder, Psalmen, Hymnen, Oden, und das Rauchwerk versöhnter Herzen steigt mehr und mehr empor. Da heißt es diesseits und jenseits, wie man singt: „Amen, uns ewig währet die Freude, Gott die Ehre,“ und es kann ja nicht anders sein, je mehr Anklang das Wort: „Es ist vollbracht“ in den Herzen findet, desto mehr muß es an allen Orten wiederhallen von schönen Gottesdiensten, Andacht und Anbetung. Die Predigt, die zur Erfahrung geworden ist, wird auch zum Gottesdienste, und wenn, was aus dem Herzen Gottes entsprungen ist, von uns angenommen wurde, dann werden wir auch von heiliger Macht und Andacht zum Herzen Gottes gezogen.
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 Vollgiltigkeit des Verdienstes JEsu – Opfermahlzeit – Friede und Ehre in der Höhe – Friede und Ehre in der Gemeine: das alles und damit vier wallende Oceane der Gnaden fließen aus dem Worte des HErrn: Es ist vollbracht. Wohlan,| so helfe uns der Geist, der aus der höchsten Burg des Friedens ausgeht, daß wir allem eigenen Verdienste Abschied geben, als die Bettler zum Osterlamm kommen, Osterfrieden und österliches Halleluja finden mögen. Amen.




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