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ADB:Bernays, Jacob

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Artikel „Bernays, Jacob“ von Hermann Usener in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 393–404, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bernays,_Jacob&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 11:59 Uhr UTC)
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Bernays: Jacob B., classischer Philologe, 1824–1881. Den Geburtstag, den er selbst weder auf der Schule noch auf der Universität angegeben hat und auch seine Familie nicht kannte, hat Herr Schulrath Hoche im Geburtsregister der jüdischen Gemeinde zu Hamburg ermittelt *). B. ist danach am 11. September 1824 zu Hamburg geboren, als ältester Sohn des mit einer geb. Berend aus Hannover vermählten dortigen Rabbiners. Der hochgebildete und gründlich gelehrte Vater ließ sich die geistige Entwicklung seines Erstgeborenen besonders angelegen sein; der tägliche Verkehr mit dem Vater und dessen nahem Freunde Dr. M. Isler, dem bekannten Schüler B. G. Niebuhr’s, fördert den begabten Knaben zu früher Geistesreife. Hier ist die eigentliche Quelle der geistigen Bildung und Richtung zu suchen, die Bernays’ Wesen ausmacht. In den beiden Gelehrtenschulen Hamburgs, dem Johanneum und akademischen Gymnasium, die er zuletzt, im ganzen vier Jahre lang, besuchte, hatte er zwar das Glück, ausgezeichnete und anregende Lehrer zu finden, wie den Thukydidesforscher Ullrich und den mit Religionsgeschichte und Archäologie beschäftigten Chr. Petersen: aber eine merkliche Umlenkung hat B. durch sie nicht erfahren. Mit den beiden classischen Sprachen, in denen er bei Isler den Grund legte, verband der Vater eine gründliche Unterweisung in der hebräischen Sprache und Litteratur, den Talmud eingeschlossen. Der Vater war es auch, der ihn zeitig anleitete, nicht in geläufigen Handbüchern Belehrung zu suchen, sondern auf die grundlegenden Werke früherer Meister, vor allem Joseph Justus Scaliger’s zurückzugehn. Der angeregte Verkehr des Hauses brachte von selbst die Bekanntschaft mit den neuen Litteraturen, in erster Linie der englischen und französischen mit sich.

Bis zum zwanzigsten Lebensjahre blieb B. in dieser unvergleichlichen Schule. So war er zu seltener Reife gediehen, als er im J. 1844 (immatriculirt am 29. April) die Universität Bonn bezog. Unter seinen dortigen Lehrern hebt er in dem seiner Dissertation angehängten Lebensabriß den Philosophen Chr. Aug. Brandis, den Historiker Dahlmann, den Orientalisten Freytag hervor. Für die classische Philologie wirkte damals in noch ungetrübter Kraft, erfrischt durch die große griechische Reise (1841–43), reif und abgeklärt wie firner Wein, Friedrich Gottlieb Welcker (geb. am 4. Novbr. 1784). In noch aufsteigender Linie bewegte sich die außerordentliche Kraft Friedrich Ritschl’s. Eben 38 Jahre alt geworden, stand Ritschl wie ein Schnitter auf dem Aehrenfeld seiner Plautinischen Forschungen und band die vollen Garben des reichen Ertrags seiner [394] italienischen Reise und der daran sich schließenden, nach allen Seiten, auf Textgeschichte, Sprache, Metrik, Litteratur und Institutionen des Alterthums Licht verbreitenden Studien. Gerade damals, als B. in seine Kreise trat, entfaltete Ritschl eine ungewöhnlich vielseitige und, wie immer und überall, tief eindringende Thätigkeit. Die Parerga zu Plautus und Terenz (Leipzig 1845) gingen ihrem Abschluß entgegen, von der Vorbereitung der Ausgabe des Plautinischen Trinummus zeugten die Programme der Jahre 1844 und 1848; zu einer kritischen Ausgabe von Dionysios’ altrömischer Geschichte legten Programme der Jahre 1846–47 den Grund; die alten Studien über die Geschichte der griechischen Grammatiker lebten in dem Abdruck des Etymologicum Angelicanum (1846–47) wieder auf; und daneben liefen die bahnbrechenden Untersuchungen über Varro’s Schriftstellerei (1848, Rhein. Museum 6, 481 ff.), über die Loghistorici und die Disciplinarum libri (1845) her – um nur die Hauptsachen zu erwähnen. Wer diesem Manne damals richtig vorbereitet näher trat, der mußte wie mit elementarer Gewalt fortgerissen werden. Das war der Fall bei B. Der Zauber, den Ritschl auf seine Schüler ausübte, war nicht denkbar ohne den Herzensantheil, den er jedem strebsamen Schüler entgegenbrachte. B. wurde bald Ritschl’s Lieblingsschüler. Es ist schwer zu sagen, ob der Schüler den Lehrer oder der Lehrer den Schüler mehr ins Herz geschlossen hatte. Auch von Seiten der Commilitonen fehlte es nicht an Anregung. Zu der Garde des philologischen Seminars gehörte noch Leopold Schmidt (promovirt am 25. Juli 1846), der Holländer Eugen Mehler (promovirt am 18. Juli 1846), der Linguist August Schleicher (promovirt am 10. Januar 1846), der spätere Orientalist Max. Enger, der Lucrezforscher Joseph Reisacker (promovirt am 17. December 1847), Anton Lowinski, etwas später auch Georg Bunsen.

Die Luft, in die er eintrat, war geladen mit Elektricität. Sein erstes Semester fiel in den Sommer, in dem die berühmte Ausstellung des heiligen Rocks zu Trier gewagt wurde, welche die Gründung einer deutschkatholischen Gemeinde durch Ronge veranlaßte. Von Bonn gingen damals die vernichtenden Broschüren Gildemeister’s und v. Sybel’s aus, welche der rheinische Clerus erst in der Conflictszeit zu vergessen anfing. Männer wie E. M. Arndt und Dahlmann boten wie Säulen dem aufgeklärten Liberalismus der jüngeren Generation Anhalt. Es war zudem die Zeit des jungen Deutschland, der Hallischen Jahrbücher, der vollen Wirkung von D. F. Strauß und L. Feuerbach. Der nahe und rege Verkehr in den Familien hervorragender Professoren, die dem feingebildeten und geistvollen Jüngling das gastliche Haus gern aufthaten, zog ihn in all diese schwebenden Fragen des Tages hinein. Es fehlte darin nicht an geistreichen Damen, die aus dem gleichen Stamme erwachsen waren und unwillkürlich bestimmenden Einfluß auf die jugendlich bildsame Seele des Studenten gewannen. Das Bedürfniß, die politischen, kirchlichen, socialen und wissenschaftlichen Fragen des Tages aufmerksam zu verfolgen und sie mit den geschichtlichen Thatsachen, die ihm sein ausgebreitetes Wissen zur Verfügung stellte, in Zusammenhang zu setzen, muß sich schon damals in ihm befestigt haben. Wenn in späteren Jahren parlamentarische Debatten ihn erregten, pflegte er zu Demosthenes oder Mirabeau zu greifen; der Krieg von 1866 drückte ihm den Thukydides in die Hand. Und bei der bloßen Betrachtung ließ er es nicht bewenden: er stellte auch seine Prognosen; manchen Kassandraruf hat er erschallen lassen, oft mit treffendem Seherblick. Noch eine andere, auch für seine Schriftstellerei wichtige Eigenthümlichkeit glaube ich aus jenen Beziehungen der Universitätszeit herleiten, oder doch wenigstens ihre Befestigung daraus erklären zu müssen: das Bestreben, seine Erkenntnisse, vornehmlich allgemeinere Sätze so lange zu wenden und zu drehen, bis er die bündigste und [395] treffendste, möglichst pikante Form dafür gefunden hatte. Die hinterlassenen Entwürfe führen anschaulich vor Augen, wie er nicht müde wurde, denselben Satz immer von neuem umzuschreiben, so lange bis ihn die Prägung befriedigte.

In seinen Studien, die B. durch eifrige und ausgebreitete Lectüre förderte, hatte von Anfang an die alte Philosophie, Platon und Aristoteles, die Vorsokratiker und unter ihnen vornehmlich Herakleitos, die Darstellung der Epikureischen Physik bei Lucretius und die stoische Popularphilosophie des Seneca eine centrale Stellung; daneben fesselten ihn sein ganzes Leben hindurch die Berührungen des Judenthums mit der antiken Cultur; auch wichtigere Denkmäler antiker Geschichte, wie Thukydides, Cicero’s Briefe, Sallustius und Suetonius haben ihn, wie in der Jugend, so auch im späteren Leben oft von neuem angezogen. Schon im J. 1845 konnte Ritschl eine Preisaufgabe bei der philosophischen Facultät beantragen, die ganz eigentlich auf B. zugeschnitten war, die Erforschung der handschriftlichen Ueberlieferung des Lucretius zu dem Zwecke, für die Herstellung des Textes feste Normen zu gewinnen. Die Liberalität J. Geel’s und seine Freundschaft für Ritschl gab B. die Möglichkeit, die beiden entscheidenden Leidener Handschriften in bequemer Muße zu Bonn durchzuarbeiten. So entstand seine erste größere Arbeit, die am 3. August 1846 mit glänzendem Elogium preisgekrönte und – eine seltene Ehre für einen Studenten – im Rheinischen Museum von 1847 (5, 533 ff.) abgedruckte Abhandlung „De emendatione Lucretii“. Durch das Meisterwerk C. Lachmann’s (1850) ist diese Jugendarbeit in Schatten gestellt worden, aber es blieb ihr unbestrittenes Verdienst, die wesentlichen Erkenntnisse zuerst entwickelt zu haben. Inzwischen schickte sich B. an, seine Universitätsstudien durch die Erwerbung der Doctorwürde abzuschließen. Zum Stoff der Dissertation wählte er seine schöne Entdeckung, welche für die Analyse der Hippokrateischen Schriftensammlung bahnbrechend gewirkt hat, das in einem Abschnitt des ersten Buchs von Hippokrates ‚Ueber Diät‘ deutliche Benutzung von Herakleitos vorliege. Die Arbeit erschien als „Heraclitea, particula I.“, die angehängten 12 Thesen zeugen wie die Arbeit selbst von dem weiten Umfang der bisher betriebenen Studien; er vertheidigte sie am 14. März 1848 und erwarb sich damit die Doctorwürde summa cum laude. Noch in demselben Jahre habilitirte sich B. als Privatdocent der classischen Philologie zu Bonn. In dem Colloquium trug er eine Abhandlung „De scriptorum qui fragmenta Heracliti attulerunt auctoritate“ vor, von der er einen Theil später deutsch ausführte, in den „Heraklitischen Studien l“ (Rhein. Museum 1850, Bd. 7, 90 ff.). Leider hat er die Fortsetzung unterlassen. Erst die Entdeckung des Ketzerbuchs des Hippolytos (der Philosophumena des sog. Origenes) veranlaßte ihn 1854 noch einmal auf Herakleitos zurückzukommen, um den neuen Gewinn, der daraus für die Kenntniß des Ephesischen Denkers sich ergab, nachzuweisen (Rhein. Mus. 9, 241 ff.).

Die öffentliche Habilitationsvorlesung, die er am 3. November 1848 in der Aula hielt, handelte De philologiae historia. Auch auf diesem Gebiete war er kein Neuling mehr. Die ausgebreitete und genaue Kenntniß der Geschichte unserer Wissenschaft, welche B. vor allen Zeitgenossen auszeichnete, war schon im Vaterhause begründet und mit den reicheren Mitteln der Universitätsbibliothek auf das eifrigste erweitert worden. Er beschäftigte sich eingehend mit den großen italienischen Humanisten der Renaissance; seine eigentlichen Lieblinge aber waren die großen französischen Philologen des XVI. Jahrhunderts. Das Interesse galt nicht nur den Büchern, sondern vorab den Persönlichkeiten. So wurde er weitergeführt zu den geschichtlichen Verhältnissen und der Litteratur der Zeit. Die Memoirenlitteratur, an der die Franzosen so reich sind, gewann frühe [396] für ihn besonderen Reiz. Und allmählich mußten diese Interessen sich zu Plänen zusammenschließen für darstellende Werke dieses Gebiets, für die er hervorragend und Niemand mehr als er berufen war.

Von Anfang an, schon als Privatdocent, hat B. seine Pflichten als Lehrer in gleicher Ausdehnung erfüllt wie später als Professor. Er pflegte mit einer meist vierstündigen Privatvorlesung eine bald ein- bald zweistündige öffentliche Vorlesung zu verbinden. In den Hauptvorlesungen behandelte er damals Platon’s Gorgias, Aristoteles’ Poetik und Politik, Lucretius, Thukydides; in den öffentlichen interpretirte er den Xenophontischen Staat der Athener, Sallustius’ Historien, Cicero’s Briefe und de legibus. Auch über französische Philologie und Litteratur sprach er einmal; mit Otto Abel zusammen unternahm er philologisch-historische Uebungen. Später fügte er dazu noch Platon’s Staat und Sueton’s Leben des Augustus. Diese exegetischen Vorlesungen pflegte er so einzurichten, daß er in Einleitung und Excursen allgemeinere Orientirung über dasjenige Gebiet antiken Lebens oder Denkens gab, dem das vorgelegte Schriftwerk angehörte. Diese Begrenzung sagte ihm mehr zu als die Form zusammenhängenden systematischer oder geschichtlicher Darstellung, zu der er sich höchstens in kleineren öffentlichen Vorlesungen entschloß. Als er sich einem Collegen gegenüber, der eine Handhabe suchte um B. zu einer ordentlichen Professur für alte Philosophie vorzuschlagen, bereit erklärt hatte Geschichte der alten Philosophie vorzutragen, entsprach er 1868 dieser Verpflichtung in der Weise, daß er auf 4 Blättern ausgewählte Bruchstücke der ältesten griechischen Denker zusammendruckte, die er seinen Hörern als Text für eine öffentliche Vorlesung über die Geschichte der vorsokratischen Philosophie in die Hände gab. Einen besonderen Reiz gab seinen exegetischen Vorträgen die Uebersetzung, worin er gleichzeitig den strengsten Anforderungen an Durchsichtigkeit und Eleganz des deutschen Ausdrucks zu genügen und mit seinem scharfen Sprachgefühl die feinsten Nuancen der Textworte zur Geltung zu bringen wußte. Er war Meister in der Verdeutschung von Prosawerken. Das hatten längst die zahlreichen in seinen Abhandlungen eingelegten Proben gezeigt, ehe er mit seinen Uebersetzungen der drei ersten Bücher der Aristotelischen Politik (1872) und des Lukianischen „Ende des Peregrinus“ (Lukian und die Kyniker, 1879) hervortrat. Die anregende Kraft dieser Vorlesungen, die geistvolle Durchdringung und lichtvolle Beherrschung einer umfassenden Gelehrsamkeit hat auf begabtere Schüler stets nachhaltige Wirkung geübt; erst später, als ihn seine pessimistische Ueberzeugung von dem Niedergange wissenschaftlicher Vorbildung und Strebsamkeit dazu bestimmte immer weniger bei seinen Zuhörern vorauszusetzen, ist es wol vorgekommen, daß er gerade die strebsamsten zurückschreckte. In seiner Docentenzeit hatte er die Genugthuung, die besten der damaligen jungen Philologen um sich zu sammeln. Es genügt an Joh. Vahlen zu erinnern, dessen erfolgreiche Beschäftigung mit Aristoteles’ Poetik und Rhetorik sichtlich durch B. geweckt worden ist. Auch Paul Heyse, der 1849 nach Bonn gekommen war um unter Fr. Diez romanistische Studien zu betreiben, trat ihm nahe; aus dem Schülerverhältniß entwickelte sich eine Freundschaft fürs Leben, der Heyse durch die Zueignung seiner deutschen Bearbeitung von Leopardi’s Gedichten und Gesprächen an „seinen lieben Freund J. B.“ ein Denkmal gesetzt hat *).

Zu den erfreulichen persönlichen Beziehungen, die ihn schon während der Studentenjahre mit den hervorragendsten Mitgliedern der Universität und deren Familien verknüpft hatten, trat nun der anregende Verkehr in einem Kreise junger Bonner Gelehrter, der sich zu Vorträgen und wissenschaftlichem Austausch [397] allwöchentlich zu versammeln pflegte. Man nannte sie die „Schwanenritter“, weil das an der Sternstraße gelegene Gasthaus zum Schwan ihnen zur Vereinigung diente. Der später so berühmt gewordene Theologe Albrecht Ritschl, der Jurist Hälschner, die Philologen Leopold Schmidt, August Schleicher, Nikolaus Delius, der Philosoph K. Schaarschmidt, der Geologe Römer u. A. sicherten diesem Kreise seine geistige Bedeutung, die sich auch über die Mauern des Schwanen hinaus bemerklich machte. Einen Höhepunkt des Bonner Lebens, auch für B., bildete der Winter 1850–51. Für diese Zeit hatte der Fürst Wied in der an entzückender Stelle des Rheinufers gelegenen Vinea domini Wohnung genommen. Die reizvolle Geselligkeit, die sich hier entfaltete, hatte ihren natürlichen Mittelpunkt in der Fürstin Marie, einer geborenen Prinzessin von Nassau, wenn dazu Geist, Seelenstärke und hoheitsvolle Anmuth sich vereinigen müssen, einer königlichen Frau. In nächster Beziehung zum Hause stand Franz Freiherr v. Roggenbach, der nachmalige badische Minister, und der frühere Studiengenosse Bernays’ Georg Bunsen. Der letztere, der mit der ihm eignen Hingebung B. verehrte, wird ihm wol den Zugang zum Wied’schen Hause eröffnet und das freundschaftliche Verhältniß zum Frhrn. v. Roggenbach vermittelt haben, das noch 1879 in der Widmung des Buchs „Lukian und die Kyniker“ einen Ausdruck fand. Jedenfalls war es G. Bunsen, der engere Beziehungen zwischen seinem Vater und B. herbeiführte. Christian K. Josias v. Bunsen, damals preußischer Gesandter in London (1848–1854), war eben mit seinem Werke Hippolytus and his age beschäftigt und hatte die ersten Bände dem hoffnungsvollen Freunde seines Sohnes übersandt. Die neuentdeckten Philosophumena des sogen. Origenes (ed. E. Miller Oxon. 1851) oder vielmehr, wie Bunsen sofort zeigte, des Hippolytos, mußten schon als Fundgrube neuer Bruchstücke des Herakleitos B. aufs höchste fesseln. Er folgte in den Herbstferien des Jahres 1851 bereitwillig einer Einladung in das Vaterhaus seines Freundes. Der Aufenthalt bei Bunsen gab B. Gelegenheit viele englische Gelehrte kennen zu lernen und Freunde wie Mark Pattison, dem er später das Buch über die Dialoge des Aristoteles widmete, und Max Müller zu gewinnen. Als Zoll seiner dankbaren Gesinnung hinterließ er die am 26. September 1851 unterzeichnete „Ad Chr. C. J. Bunsenium epistola critica“, welche zuerst als Beilage des IV. Bandes des genannten Bunsen’schen Werks erschien, das Ergebniß des ersten Studiums jener Philosophumena. Seitdem ist B. stets in nahem Verhältniß zu Bunsen geblieben. Er lieferte ihm zu dem Werke Egypts place in universal history einen werthvollen Beitrag, indem er ihm eine Textbearbeitung der Reste des Sanchuniathon mit kritischem Apparat und ausführlichem Commentar übersandte: leider hat Bunsen diesen Beitrag nicht unverändert zum Abdruck gebracht, sondern nur frei benutzt in seiner Ausgabe des Sanch., die erst 1867 im fünften Band der englischen Ausgabe erschien; nur der Commentar ist im Entwurf erhalten, die Reinschrift des Ganzen ist bis jetzt nicht aufgefunden worden *). Später nahm B. thätigen Antheil an Bunsen’s großem Bibelwerk (Leipzig 1858 ff.); um die Bearbeitung der historischen Bücher des Alten Testaments hat er sich nicht bloß durch technische Revision der Druckbogen verdient gemacht.

Der große politische Umschwung des Jahres 1848 konnte zu der Hoffnung berechtigen, daß die Bedenken, welche bisher die Anstellung von Juden an Schulen und Universitäten verhindert hatten, endgültig gehoben seien. Unter dieser Voraussetzung hatte Ritschl, überzeugt, daß eine Kraft wie B. sich rasch Bahn brechen werde, B. dazu ermuthigt die Docentenlaufbahn zu betreten, obwol [398] B., dessen unbemittelter Vater für eine zahlreiche Familie zu sorgen hatte, keinen anderen Rückhalt besaß als das Capital seiner Leistungsfähigkeit. Es konnte keinen bedürfnißloseren Menschen geben als B. war; so gelang es ihm mit den Erträgen seiner Vorlesungen und litterarischen Thätigkeit einigermaßen sich zu erhalten; Ritschl und Welcker zogen ihn überdies in die Redaction des Rheinischen Museum, als dessen Mitherausgeber er in den Jahrgängen VII–IX (1850–54) erscheint, und Ritschl vermittelte ihm den Auftrag zur Textausgabe des Lucretius für die Bibliotheca Teubneriana (1852). Englische Freunde verschafften ihm die lohnende Aufforderung der Clarendon Press in Oxford, eine erklärende Ausgabe des Lucretius zu besorgen. Seine Lage mußte ihn drängen auf den Vorschlag einzugehn. Druckfertig ausgearbeitet hat er, in musterhafter knapper Weise, den Commentar zu den ersten 689 Versen *). Da brach er ab; das Gefühl, Lohnarbeit zu thun, war ihm unerträglich geworden.

Inzwischen hatte die Reaction ihr Haupt erhoben, und das Ministerium v. Raumer ließ keinen Zweifel daran übrig, daß die Hoffnungen, unter denen B. sich habilitirt hatte, unerfüllbar geworden waren; B. erhielt geradezu den Bescheid, daß er auch in der Folge keine Beförderung zu erwarten habe. Als daher gegen Ende des Jahres 1853 an B. die Aufforderung erging an dem Fränckel’schen Rabbiner-Institut (dem „jüdisch-theologischen Seminar“) zu Breslau den Lehrstuhl für classische Philologie zu übernehmen, konnte er eine Stellung nicht zurückweisen, die ihn endlich irdischen Sorgen enthob und ihm zugleich die Möglichkeit bot, als akademischer Lehrer weiter zu wirken. Die zu Ostern 1854 angetretene neue Stellung gewährte ihm neben freier Wohnung ein für seine Bedürfnisse mehr als ausreichendes Gehalt. Empfehlungen der Bonner Professoren veranlaßten, daß er ohne Formalitäten in die philosophische Facultät zu Breslau als Docent übertreten konnte. Mit Rücksicht auf seine Amtspflichten und auf schriftstellerische Pläne beschränkte er seine erfolgreiche Wirksamkeit an der Universität auf öffentliche Vorlesungen. Mochte er auch auf den warmen und fördernden persönlichen Verkehr, den er in Bonn genossen hatte, mit Sehnsucht zurückblicken, so fand er doch auch in Breslau freundliche Aufnahme bei Männern, mit denen geistiger Austausch sich ihm lohnte, wie dem Philologen Friedrich Haase und dem geistvollen Historiker der Philosophie Chr. J. Braniß. Die beseelende Kraft für alle voranstrebenden Mitglieder der Universität wurde bald Theodor Mommsen, der, durch die königliche Verfügung vom 15. Februar 1854 **) endgültig zum Leiter des Corpus inscriptionum latinarum bestellt, von Zürich zunächst nach Breslau gesetzt wurde, um dort, wie im Verdacht demokratischer Seuche, eine Art Quarantänezeit zu verbringen (1854–58), bevor er nach Berlin gezogen werden konnte. Niemand konnte Mommsen’s Persönlichkeit und Bestrebungen ein volleres Verständniß entgegen bringen als B., so hat sich zwischen beiden rasch ein enges Freundschaftsverhältniß gestaltet, das räumliche Trennung überdauerte und in brieflichem Austausch lebendig blieb. Mommsen gab denn auch den Anstoß dazu, daß die ersten Kräfte Breslaus sich zu einer Historisch-philosophischen Gesellschaft vereinigten, die seit 1857 mit Abhandlungen hervortrat. Es ist bei einem Bande geblieben, der in demselben Jahre 1858 abgeschlossen wurde, worin Mommsen nach Berlin übersiedelte. B. war an diesem Bande mit der berühmten Schrift „Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie“ ***) betheiligt, welche eine ganze [399] Litteratur über die Streitfrage der Aristotelischen Lehre von der Katharsis hervorgerufen hat.

Zu Breslau war B. auf der Höhe seiner Kraft, und die Gunst der Verhältnisse gestattete vielem, was er längst vorbereitet hatte, Reife und Abschluß zu geben. Das erste was ihm am Herzen lag, war die Fertigstellung des Werks über Joseph Justus Scaliger. Schon zu dem 25jährigen Doctorjubiläum, das F. Ritschl am 11. Juli 1854 beging, konnte er dem verehrten Lehrer den einleitenden Abschnitt mit dem schönen Widmungsbrief übersenden, der mit Recht als classisches Zeugniß für Ritschl’s Lehrthätigkeit und Verhältniß zu seinen Schülern betrachtet worden ist. Das fertige Werk erschien 1855 bei demselben Verleger, dem B. seitdem alle selbständig ausgegebenen Schriften übertragen hat, Wilh. Hertz in Berlin. Auf Grund sorgfältigster bio- und bibliographischer Forschungen hat B. darin verstanden, das Forscherleben des großen Gelehrten mit seinen persönlichen Beziehungen und dem Hintergrunde der Zeitgeschichte zu einem fein erwogenen Bilde zusammenzufassen (S. 31–104). Die Darstellung hätte an Frische und Reiz nur gewinnen können, wenn B. von ihr nicht vieles lebensvolle Detail abgetrennt und in die „Belege“ (S. 105–266) verwiesen hätte. Aber diese Scheidung der zusammenhangenden Darstellung und der oft zu Excursen anwachsenden Anmerkungen hat seit dem Scaliger einen wesentlichen Bestandtheil der Form gebildet, welche B. in seinen größeren Schriften anwandte. Der Brauch der Anstalt, woran er wirkte, zum Gedächtnißtag des Stifters (27. Januar) einen Jahresbericht nebst wissenschaftlicher Beilage auszugeben, wurde für B. Veranlassung zur Veröffentlichung zweier ausgezeichneter Abhandlungen „Ueber das Phokylideische Gedicht, ein Beitrag zur hellenistischen Litteratur, Th. Mommsen zugeeignet“ 1856 und „Ueber die Chronik des Sulpicius Severus, ein Beitrag zur Geschichte der classischen und biblischen Studien, Max Müller in Oxford zugeeignet“ 1861. Die classische Philologie beharrte damals noch ausnahmslos in der selbstgenügsamen Abgeschlossenheit eines bevorzugten Reichs der Mitte, und wich ängstlich den Berührungen namentlich mit dem semitischen Orient aus, ohne den doch die geistige Bewegung Alexandrias und der Kaiserzeit unverstanden bleiben mußte. In einer solchen Zeit waren jene beiden Abhandlungen Bernays’, auf deren besonderen Inhalt hier nicht näher eingegangen werden kann, eine wissenschaftliche That, und haben, wenn auch erst allmählich, befreiend und vorbildlich gewirkt. Der liebevollen Beschäftigung mit diesen Grenzgebieten, die ihm von früh ungewöhnlich vertraut waren, ist er niemals entfremdet worden, aber in der schriftstellerischen Thätigkeit trat sie seitdem mehr zurück. Dafür trat zunächst Aristoteles in den Vordergrund. Ritschl hatte dem bücherarmen Studenten einst ein Exemplar des ganzen Bekker’schen Aristoteles geschenkt: es konnte nicht leicht eine Gabe besser angewandt sein; sie hat B. sein Leben hindurch begleitet und dazu mitgeholfen uns die reifen Früchte seiner Aristotelischen Studien zu verschaffen. Der Poetik hatten die ersten Arbeiten, der durch die Sicherheit der Methode hinreißende Herstellungsversuch des verlorenen Abschnitts über die Komödie (Rhein. Mus. VIII, 1853) und die glänzende, eben besprochene Schrift über die Katharsis (1857) gegolten. Inzwischen hatte ihn die eindringende Beschäftigung mit den ethischen und politischen Schriften auf die Frage über die exoterischen Schriften des Stagiriten geführt. Durch genaue Interpretation der Aristotelischen Selbstcitate und scharfsinnige Behandlung der bezeugten oder durch Vermuthung gewonnenen Bruchstücke gelang es B. unsere Kenntniß der Aristotelischen Populärschriften d. h. der Dialoge erheblich zu fördern. Das Buch über „die Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhältniß zu seinen übrigen Werken“ (1863) und das gleichfalls noch zu Breslau verfaßte „Theophrastos’ Schrift über die Frömmigkeit, [400] ein Beitrag zur Religionsgeschichte“ (1866), worin er an der Hand von Porphyrios’ Auszügen die verlorene Schrift des Theophrastos herstellte und viele belehrende Winke für die antike Religionsgeschichte gab, sind wol die vollendetsten und gehaltvollsten Arbeiten, welche B. in dieser Art verfaßt hat, bewundernswerth durch die stilistische Meisterschaft, mit welcher auch in der philologischen Analyse der Texte der Faden eines größeren Zusammenhangs immer festgehalten wird, dergestalt, daß der wissenschaftlich gebildete Laie mit Genuß zu folgen vermag.

Für die Versagung staatlicher Anerkennung, für getäuschte Hoffnungen konnte B. sich entschädigt fühlen, als er im J. 1865 von der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin zu ihrem correspondirenden Mitglied ernannt wurde; er dankte durch die Widmung seines Theophrastos. Aber die Erlösung war nahe. Im Herbste 1865 hatte Ritschl sich genöthigt gesehen den Bonner Lehrstuhl, mit dem er unlöslich verwachsen schien, zu verlassen und einem Rufe nach Leipzig zu folgen. Um die Krise, welche dieser Verlust für Bonn mit sich brachte, zu beschwören, wurde außer anderen Maßnahmen B. als bedeutendster Schüler Ritschl’s nach Bonn gezogen, um dort mit dem Charakter e eines außerordentlichen Professors die Universitätsbibliothek zu leiten. Dem am Schluß des Jahres 1865 ergangenen Rufe folgte B. freudig im Frühjahr 1866. Damit hatte er endlich eine ihn befriedigende und seiner würdige Stellung gefunden; er konnte das Horazische bene est, nil amplius oro auf sich anwenden.

Zur Vorstandschaft einer Universitätsbibliothek konnte B. durch seine ungewöhnlich ausgedehnte Gelehrsamkeit und Belesenheit als besonders berufen erscheinen. Wichtiger war es, daß sein Vorgänger Ritschl mit außergewöhnlicher Organisationsgabe, Einsicht und Hingabe Ordnung und Schwung in die Verwaltung der Bibliothek gebracht hatte, und daß B. in dem alten Freunde Prof. K. Schaarschmidt und für die ersten Jahre auch in Dr. Anton Klette ausgezeichnete Beamte vorfand, welche die Ueberlieferung Ritschl’s hochhielten. B. wurde ein sehr pflichtgetreuer Vorstand der ihm anvertrauten Anstalt, aber das Gefühl der Verantwortlichkeit konnte wol seine Initiative lähmen und ihn ängstlich machen. Während Ritschl auf sehr bescheidene Mittel angewiesen war und öfter außerordentliche Zuschüsse erwirken mußte, hatte B. die Freude, während seiner Verwaltung durch die Pütz’sche Stiftung und die Etatserhöhung der 70er Jahre die Betriebssumme erheblich wachsen zu sehn. An jedem Vormittag fand er sich auf der Bibliothek ein um die laufenden Geschäfte zu erledigen und für sich Nachforschungen anzustellen, stets den dort sich einfindenden Collegen, älteren wie jüngeren, freundlich begegnend und bereit ein belehrendes Gespräch anzuknüpfen. Eine halbe Stunde vor dem Mittagsschluß verließ er ebenso regelmäßig die Amtsräume, um einen Gang im anstoßenden Hofgarten zu machen, auf dem man den mittheilsamen und austauschbedürftigen Mann nicht leicht ohne Gesellschaft sah. Nicht minder lag ihm die Lehrthätigkeit am Herzen, die er regelmäßig in der gleichen Ausdehnung ausübte wie vordem als Bonner Docent. Ueber den Umkreis seiner Vorlesungen ist schon S. 396 gesprochen. Sie empfahlen sich nicht nur durch ihren Gehalt, sondern auch durch ihre wohldurchdachte geschmackvolle Form. Er hielt die Nachmittagsstunde 4–5 fest und pflegte den Mittwoch für die öffentliche Vorlesung, die vier übrigen Wochentage (Samstag mußte ausgeschlossen bleiben) für das Privatum zu benutzen.

Die geselligen Verhältnisse, die B. bei seiner Rückkehr nach Bonn vorfand, waren nicht mehr dieselben, deren er einst sich erfreut hatte. Die Schwanenritter hatten sich zerstreut. Zwar manche Persönlichkeiten aus früherer Zeit konnten ihn noch willkommen heißen. Aber mit dem Wechsel der Zeiten war [401] die geistige Luft, die er früher eingeathmet hatte, eine andere geworden. Der eiserne Gang der Weltgeschichte dröhnte auch in das stille Zimmer des Gelehrten. Statt Kunst und Wissenschaft waren es die politischen und socialen Fragen, welche die Gesellschaft bewegten, und der Zauber geistreicher Geselligkeit erblaßte vor dem Ernst handelnder Willenskräfte. B. mußte sich vereinsamt fühlen. Am nächsten standen ihm wol der damalige Curator der Universität Wilhelm Beseler (1861–84) und der Historiker H. v. Sybel; auch mit seinem ehemaligen Zuhörer F. Bücheler, seitdem dieser nach Bonn gezogen war (1870), liebte er zu verkehren. Für Jüngere wurde ein näheres Verhältniß zu B. durch die oft verletzende Form, mit der sein Selbstbewußtsein sich äußerte, durch die Neigung zu väterlichen Rathschlägen und durch einen mit den Jahren wachsenden und überzeugteren Pessimismus erschwert. Doch war es ihm stets eine sichtliche Freude, wenn ein College in seiner Wohnung vorsprach, die an der Franziskanerstraße gegenüber der Bibliothek lag. Lichtblicke seines Daseins waren die Besuche hervorragender Männer wie D. F. Strauß und Renan, der Austausch mit Johannes Brandis, dem Cabinetssecretär der Kaiserin Augusta, der regelmäßig im Sommer einige Urlaubswochen auf seinem Landhause in der Nähe von Bonn verbrachte († 1873), und der erneute Verkehr mit der inzwischen verwittweten Fürstin von Wied, die in der ersten Hälfte der 70er Jahre während zweier Winter zu Bonn lebte. In Reisen pflegte er nicht Erfrischung zu suchen. Seitdem er an den Rhein zurückgekehrt, hat er den Bereich Bonns nicht mehr verlassen; auch wo er sie als billige Beförderungsmittel in die Nähe hätte benutzen können, mied er Dampfschiff und Eisenbahn.

In behaglicher Arbeit ließ er hier zunächst das im J. 1869 herausgegebene Werk „Die Heraklitischen Briefe, ein Beitrag zur philosophischen und religionsgeschichtlichen Litteratur“ reifen, worin er durch sorgfältige Analyse dieser untergeschobenen Schriftstücke schätzbare Aufklärungen über Lebensverhältnisse und Gedanken seines alten Lieblings zu gewinnen und die Entstehungszeit der Fälschungen aufzuhellen wußte; das Buch ist der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen gewidmet, die ihn 1867 zum correspondirenden Mitgliede ernannt hatte. Der große Krieg des Jahres 1870/71, der auch B. mächtig erregte, blieb nicht ohne Einfluß auf seine litterärischen Unternehmungen. Er glaubte seinen bisherigen Leserkreis philologisch-historischen Untersuchungen auf nicht absehbare Zeit entfremdet. So griff er zur Politik und ließ, wie um einen Versuch zu machen, die drei ersten Bücher der Aristotelischen Politik in seiner Uebersetzung erscheinen (1872). Nach unsicherem Tasten griff er endlich 1874 zurück auf einen schon in der Breslauer Zeit vorbereiteten, auch in Bonn zeitweilig ihm wieder näher getretenen Arbeitsstoff, der geschaffen schien wie in einem Brennpunkt die glänzendsten Eigenschaften Bernays’ vereinigt glänzen zu lassen. Es war sein alter, liebevoll gepflegter Plan gewesen, Edward Gibbon’s Geschichtswerk nach Inhalt und Form zu würdigen. Längst war die Disposition entworfen und zahlreiche Notizen und Gedanken dazu aufgezeichnet. Nun beschloß er den Plan auszuführen. Die Einleitung und einen Theil des ersten Abschnittes führte er in druckreifer Form aus *). Da legte er plötzlich die Feder nieder; er hat seitdem keinen Strich mehr hinzugefügt. Was ihn dazu bestimmte, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht war das Interesse mächtiger, das ihn nun an eine große gelehrte Arbeit, die Ausgabe des Philonischen, von B. für [402] unecht erklärten Buchs „Ueber die Unzerstörbarkeit des Weltalls“ fesselte. Schon früh hat er sich mit dieser für die Geschichte der griechischen Philosophie bedeutsamen Quellenschrift beschäftigt und darin bereits 1868 in den Monatsberichten der Berliner Akademie durch den schlagenden Nachweis einer Blattversetzung den gestörten Zusammenhang hergestellt. Die Schrift war ihm werth genug um ihn dem Entschluß, Herausgeberthätigkeit Anderen zu überlassen und sich mit dem Lucretius zu begnügen, untreu werden zu lassen. Gestützt auf eine Vergleichung der Mediceischen Handschrift stellte er den vielfach schadhaften Text sauber und lesbar her, verfaßte eine Uebersetzung desselben und begann nun dazu eine ausführliche Abhandlung zu schreiben, worin er die Aufklärung des Gedankengangs und der Absichten des Schriftstellers in kunstvoller Weise mit der Erörterung der in dem Buch berührten Lehren alter Denker verknüpfte. Es war ein großer und lohnender Vorwurf, die Lehren der griechischen Philosophen über die Ewigkeit oder Vergänglichkeit der Welt darzustellen, und keiner war mehr dazu berufen als B. Aber auch hier fehlte zur Durchführung des Planes die Ausdauer. Er hat die Abhandlung bis in den zweiten Haupttheil der Schrift in vollendeter Form ausgearbeitet, um sie dann bei Seite zu legen. Erst nach dem Tode ist dieses Stück aus seinen Papieren dem Druck übergeben worden (Abhandl. der Berl. Akademie 1883). Was er selbst fertig gestellt hatte, Text und Uebersetzung, hatte er nebst kurzem Vorwort bereits 1876 in den Abhandlungen der Berliner Akademie (S. 207 ff.) erscheinen lassen. Danach hat B. nur noch zwei Schriftchen veröffentlicht, beide durch zufällig gefundene Combinationen veranlaßt, die ihn freuten und antrieben, anschließende Gedankenreihen, die ihm längst geläufig waren, auszuführen: seinen „Lucian und die Kyniker“ (1879), hervorgerufen durch eine bislang unbeachtet gebliebene Galenstelle über den Kyniker Theagenes, auf die ihn die Lectüre des Amatus Lusitanus geführt hatte, und den „Phokion und seine neueren Beurtheiler, ein Beitrag zur Geschichte der griechischen Philosophie und Politik“ (1881), veranlaßt durch eine Beziehung Mirabeau’s auf ein Programm Heyne’s, eine überaus geistvolle und fesselnde Darstellung des Verhältnisses der Platonischen und Aristotelischen Schule zur Politik. Eine neue Bearbeitung des Buchs über Scaliger, die er vorzubereiten begonnen hatte, sollte nicht mehr zur Ausführung kommen.

Die Schrift über Phokion hatte er gerade noch die Freude an seine Freunde und Collegen zu vertheilen (11. Mai 1881). Noch nicht eine Woche darauf (16. Mai) warf ihn eine Entzündung der oberen Hirnhaut aufs Krankenlager; schon am 19. traf ihn ein Schlagfluß, der ihm das Bewußtsein raubte und am 26. Mai seinem Leben ein Ende machte. Unter reichem Trauergeleit wurde er bereits am Nachmittag des 27. Mai auf dem neuen Friedhof der jüdischen Gemeinde beigesetzt. Was er sich immer gewünscht hatte, von den Leiden einsamen Alters und dem Rückgang der geistigen Kräfte verschont zu bleiben, das war ihm gewährt.

So war ein ungemein vielseitiges und reiches geistiges Leben abgeschlossen *). Eine lebendig vergegenwärtigende und in die Tiefe dringende Anschauung des classischen Alterthums, nicht nur in seinem geistigen sondern auch in seinem staatlichen Dasein, getragen von einem überaus feinen Sprach- und Stilgefühl; die genaueste, in täglichem Verkehr genährte Kenntniß der religiösen Urkunden und älteren Litteratur des jüdischen Volks; eine damals nicht gewöhnliche Vertrautheit mit dem neuen Testament und den Vätern der christlichen Kirche; eine in das Einzelste gehende Bekanntschaft mit den großen Forschern des XVI. [403] und XVII. Jahrhunderts, auf die er schriftlich und mündlich hinzuweisen nicht ermüdete; ein ausgebreitetes Interesse für die großen Gestalten der neueren Geschichte und Litteratur wie Deutschlands, so Englands und Frankreichs: das waren die Grundbestandtheile, die sein Geist verarbeitete und durch ein glückliches Gedächtniß unterstützt in überraschende Beziehungen zu setzen wußte. Die Vereinigung dieser Elemente ist es, die seinen Schriften Inhalt und Farbe, ihm selbst scharf ausgeprägte Individualität gegeben hat.

An den Vorschriften des mosaischen Gesetzes hielt B. mit starrer Strenge fest. Er schnürte täglich den Gebetriemen um Stirn und Arm, er würde am Sabbat niemals den dringendsten Brief eigenhändig geöffnet haben; und wenn er an der Geselligkeit Andersgläubiger theilnahm, begnügte er sich mit Brot, Wein und einem Ei, das Aufmerksamere ihm stillschweigend vorsetzten. Zu seiner philosophischen Bildung und Ueberzeugung schien das nicht zu stimmen. Eine geistreiche Jüdin wollte mir einmal den Widerspruch aus einem mystischen Zug seiner Natur erklären. Sie that ihm damit sehr unrecht. Der scharfe Verstand eines Mannes, der sich an den Werken der französischen Aufklärung erbaute, ließ Mysticismus nicht aufkommen, und die Freiheit mit der er über theologische Dinge dachte, mußte ihn nicht bloß über confessionelles Christenthum, sondern auch über die Enge des mosaischen Gesetzes hinausheben. Es war die Treue für sein Volk und für die Ueberlieferung der Väter, die ihm die strenge Beobachtung des Gesetzes zur Pflicht machte. Dem jüdischen Volk gibt der Glaube und das Gesetz Moses’ den Halt der Nationalität: er fühlte klar, daß kein Stein aus diesem Gefüge gelockert oder herausgenommen werden dürfe, wenn man nicht den ganzen Bau zerstören und dem Judenthum die Grundlage seines Daseins entreißen wolle. Bei dieser Gesinnung mußte ihm der Abfall von Glaubensgenossen ein tiefer Schmerz sein, vollends wenn er in der eigenen Familie vorkam. Den Uebertritt des bekannten Bruders Michael zum Christenthum hat er nie verwunden.

So großen Reiz für B. der Verkehr mit geistig angeregten Frauen hatte, der Gedanke einer Verehelichung ist ihm ferne geblieben, wenigstens seitdem seine Verhältnisse das nicht mehr ausschlossen. Er hielt es mit dem „goldenen Büchlein des Theophrast“ und bemitleidete die verheiratheten Collegen um die Hemmnisse, die ihnen Frau und Kinder bereiteten. Von den drei Lebensformen der Aristotelischen Ethik kam für ihn nur das Forscherleben in Betracht, und er hat dies Ideal in einem Maaße verwirklicht wie Wenige seines Jahrhunderts. Er lebte in der That dahin wie ein Weiser des Alterthums. Der ebenmäßige Fluß des äußeren Daseins spiegelte sich wider in einer fast nie getrübten Ruhe und Heiterkeit des Gemüths. Die Treue, womit er am Glauben seines Stammes festhielt, mußte ihn zeitig gewöhnen auf die Ehren dieser Welt zu verzichten. Seit er endlich zu Bonn eine würdige Stellung erhalten hatte, schien er keine Forderung mehr an das Leben zu haben, an das, was die Menschen Leben nennen. Er zog sich davon mehr und mehr zurück. Nicht um Einsiedler zu werden: davor bewahrte ihn seine mittheilsame, liebenswürdig offene Natur; nicht daß er dem äußeren Leben theilnahmlos sich abgewandt hätte: er folgte den politischen Ereignissen stets mit gespannter Aufmerksamkeit und verarbeitete sie in seiner Weise, indem er je nachdem bald Thukydides bald Demosthenes oder Cicero zur Hand nahm um sich die Gegenwart durch die Vergangenheit und umgekehrt verständlich zu machen. Vielmehr um alle Lebenskraft in sich zurückzuwenden und das innere Dasein zu erhöhen. Das eigentliche Bedürfniß seines Lebens war, mit den Größten, die gedacht und geschaffen, sich in Berührung zu halten. Auch die wissenschaftliche Thätigkeit hatte für ihn nur so weit Werth und Reiz, als sie diesem Bedürfniß genüge that; und [404] schriftstellerische Versuche mußten sich dieses seines Verkehrs mit den Halbgöttern würdig zeigen durch ein Gewand, das ihnen den Zutritt zur besten Gesellschaft öffnete. Aus den Edelsteinen, die sein Spürsinn und Finderglück aus dem Schutt der Ueberlieferung hervorgrub, liebte er und verstand es wie Wenige, durch Schliff und Fassung kleine Kunstwerke zu gestalten. Von seinen Heraclites bis zu dem Phokion hat er der Oeffentlichkeit keine Arbeit übergeben, die nicht die gleiche durchgeistigte Reife des Inhalts und der Form zeigte. Mindestens ebenso sehr wie die darin gegebenen Belehrungen ist es der Adel dieser Bildung und die Kunst der Darstellung, welche Bernays’ Schriften Werth und Dauer verleiht. Die Sammlung von Bernays’ kleineren Schriften, die in treuer Freundschaft Th. Mommsen den Verleger als würdiges Denkmal dem Todten zu weihen veranlaßte, kann wie die Weite seines Horizonts, so die Größe auch im Kleinen veranschaulichen.

Bücheler im Rhein. Mus. 36, 480. – K. Schaarschmidt i. d. Kölnischen Zeitung 1881, Nr. 149 vom 80. Mai, und im Biographischen Jahrbuch f. Alterthumskunde (Berlin) 1881, Jahrg. IV, S. 65–83 mit wichtigen originalen Mittheilungen. – Chronol. Uebersicht d. Schriften: Gesammelte Abhandlungen von Jac. Bernays (1885) I, S. X ff.; Verzeichniß des an die Bonner Bibliothek übergegangenen litterar. Nachlasses: ebenda S. XVIII ff.

[393] *) In Brockhaus’ Conversationslexikon (13. Aufl.) 2, 859 wird fälschlich der 18. September 1824 als Geburtstag angegeben.

[396] *) Giacomo Leopardi. Deutsch von P. Heyse. Berlin 1878, in 2 Th.

[397] *) Siehe Bernays’ Ges. Abhandlungen I, S. V und XXI.

[398] *) Bernays’ Ges. Abhandlungen II, 1–67.

[398] **) Siehe A. Harnack’s Geschichte der K. Pr. Akademie der Wissenschaften zu Berlin I, 912, 3.

[398] ***) Sonderausgabe Breslau 1857. Neu abgedruckt in dem Buche „Zwei Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Drama von J. B.“ 1880.

[401] *) Was von Entwürfen und Aufzeichnungen zu seinem Gibbon sich in Bernays’ Nachlasse vorfand, ist in den Ges. Abhandl. 2, 206 ff. nach Anleitung der Disposition geordnet mitgetheilt worden.

[402] *) In der folgenden Charakteristik sind einige Stellen der Vorrede zu Bernays’ Ges. Abh. I, S. III f. wörtlich benutzt.