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ADB:Krüdener, Juliane von

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Artikel „Krüdener, Barbara Julie von“ von Wilhelm Baur in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 196–212, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kr%C3%BCdener,_Juliane_von&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 10:03 Uhr UTC)
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Band 17 (1883), S. 196–212 (Quelle).
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Krüdener: Barbara Julie von K., geb. von Wietinghoff[1], berühmte weltliche, literärische, prophetische und politische Frau, ist am 21. Novbr. 1764 zu Riga in Liefland geboren. Ihr Vater, einer alten deutschen Familie angehörig, aus welcher vor Zeiten mehrere Deutschordensmeister hervorgegangen, hat den später verdunkelten Glanz seines Hauses durch den Reichthum erneuert, den er in industriellen Unternehmungen erworben. Er war russischer Geheimrath und Senator. Ihre Mutter, die Tochter des Marschalls Münnich, verband mit der Arbeitsamkeit einer Hausfrau die Lebensweise einer Weltdame. Julie wuchs in dem Reichthum des elterlichen Hauses auf, sprach früh französisch und deutsch nebeneinander, befaßte sich auch ein wenig mit Latein, einer sorgfältigen Erziehung entbehrte sie. 13 Jahre alt begann sie mit den Eltern bereits das der Befestigung des Charakters so gefährliche Reiseleben. Sie hatte das Leben in Spa, in Paris und auf den Schlössern Englands schon durchgekostet, als sie, in die Heimath zurückgekehrt, die Augen durch Jugend, Anmuth und Reichthum auf sich zog. Die Hand der Achtzehnjährigen gewann der Baron Burchard Alexis Constantin von Krüdener. Zwanzig Jahre älter als die Braut, geb. am 24. Juni 1744, einst in Leipzig Zuhörer in Gellert’s Vorlesungen über die Moral und von seinen Commilitonen der Gelehrte genannt, ward er zuerst bei der Gesandtschaft in Madrid, dann in Paris beschäftigt, wo er mit J. J. Rousseau in Verbindung kam, später von der Kaiserin Katharina II. zum Minister in Kurland mit dem Wohnsitze in Mitau ernannt. Als der Ehebund zwischen dem Minister und der Jungfrau vollzogen wurde, hatte die Braut schon die Auflösung eines Verlöbnisses, der Bräutigam die Scheidung von zwei Frauen hinter sich. Der Gemahl, in ernstem Amte stehend. war ernsten Beschäftigungen auch im Hause geneigt: die junge Frau dürstete nach anmuthigem Genuß des Lebens. Der ältere Mann wünschte der jüngeren Lebensgefährtin zu bieten, was ihre Erziehung versäumt: sie erwartete von seiner Stellung und seinen Mitteln nur leichte Beschäftigung für ihren Kopf und Befriedigung ihrer Eitelkeit. [197] Am 31. Januar 1784 gebar sie einen Sohn. Im folgenden Jahre zog sie mit dem Gemahl, der zum Gesandten in Venedig ernannt worden war, dorthin und genoß mit vollen Zügen das weiche, müßige, berauschende Leben der Stadt auf dem Meer. Das eheliche Leben des Paares nahm hier die Gestalt an, welche Frau von K., allerdings in verklärendem Tugendschein, in ihrem Roman „Valerie“ schildert – wie denn als der landschaftliche Boden dieses Romans Venedig mit all’ seinen Bezauberungen erscheint. Die junge Frau liebt ihren Gemahl aufrichtig, erweist ihm die zartesten Aufmerksamkeiten, ängstigt sich um ihn, wenn er spät heimkehrt. Aber das Gefühl, von ihm „nicht verstanden“ zu sein, fängt an sich zu regen. Ein junger Mann, Alexander von Stakieff, entbrennt in Leidenschaft für sie und verbannt sich selbst aus ihrer Nähe. So scheint die Gefahr für die junge Frau beseitigt. Von Venedig 1786 nach Kopenhagen übergesiedelt, wo ihr Mann Gesandter geworden, führt sie das im Süden begonnene Leben auch in der nordischen Residenz fort. Man spielte Theater – und was auf der Bühne begann, gewann bald Raum im Leben. Stakieff kam nach Kopenhagen, und da er die Leidenschaft zu Frau v. K. aufs neue in sich auflodern fühlt, flieht er aufs neue. Aber er vertraut zugleich ihrem Gemahl das Geheimniß seiner Liebe an: „Ich verehre sie um ihrer Liebe zu Ihnen willen. Von dem Augenblick an, in welchem Sie ihr weniger theuer wären, würde sie für mich nur eine gewöhnliche Frau sein und ich würde sie nicht mehr lieben“. Krüdener giebt den Brief seiner Frau, und diese, seither in naiver Unwissenheit über die Liebe des Entflohenen, wird durch den ungewollten Erfolg, den sie gehabt, auf die schlüpfrige Bahn, gefallen zu wollen, getrieben. Denn „sie ist nicht verstanden“. Aus großer Gemüthsaufregung entwickelt sich eine Krankheit, ein Wochenbett kommt hinzu, das ihr Leben gefährdet. Sie soll ins südliche Frankreich reisen und verläßt Kopenhagen im Mai 1789, um sich zunächst nach Paris zu begeben. Hier macht sich das Bedürfniß nach Ausbildung des Geistes mit Macht geltend. Sie liest das Beste, was die französische Litteratur bietet, und sucht die Männer der Kunst und Wissenschaft auf. Mit Bernhardin von St. Pierre, dem Verfasser von Paul und Virginie, wohnt sie in einer Vorstadt unter demselben Dache zusammen und genießt mit ihm die Reize der Natur. Aber während sie ihren Geschmack am einfachen Leben rühmt, macht sie bei einer Modistin eine Rechnung von 20 000 Franken. Wir finden sie bald darauf in Barèges als Königin der Badegäste. Sie giebt den Ton an in der Mode, sie sitzt am Spieltisch und rührt dann wieder in der freien Natur die Gesellschaft durch das Vorlesen von Paul und Virginie zu Thränen. Und als bei der Heimkehr Einer aus der Gesellschaft klagt, daß die Freude der Sommernacht schon zu Ende sein solle, wird sie die Anführerin einer nächtlichen Partie, die an studentischen Uebermuth erinnert. In Montpellier macht sie, immer von ihren Kindern begleitet, die Bekanntschaft des Grafen Frègeville, eines jungen, schönen, verführerischen Offiziers. Er erklärt ihr seine Liebe – sie weist ihm die Thür. Er droht mit Selbstmord. Sie läßt wie aus Erbarmen der Sünde ihren Lauf. Ihre Erzieherin heirathet und läßt sie schutzlos zurück. Sie will heimreisen, aber sie sagt es dem Liebhaber und dieser überzeugt sie, daß sie ohne männliche Begleitung nicht reisen kann. In der Tracht eines Lakaien reist er mit. Je näher sie dem Gemahle kommt, desto unruhiger wird ihr Gewissen. Endlich sehen sich die Eheleute wieder und die Frau gesteht, daß das Band innerlich zerrissen ist. Der Mann hört das Geständniß mit würdigem Schmerz an. Die gewünschte Scheidung verweigert er, aber er läßt die Frau zu ihrer Mutter nach Riga gehen. Dort findet sie so viel Ruhe, als eine Seele finden kann, die mit Sünde belastet ist, aber die Schuld nicht fühlt und die Vergebung nicht sucht. Sie pflegt ihren Vater auf dem Sterbebette. Im Briefwechsel mit der ehemaligen [198] Erzieherin, Frau Armand, spricht sie die Sehnsucht nach der Ruhe in Gott aus. Ein Wiedersehen mit Stakieff und die Verachtung, die er sie fühlen läßt, weil sie ihrem Manne untreu geworden, senken zwar den Stachel der Reue in ihr Gewissen. Aber es ist die Traurigkeit der Welt. Noch mehr als ein Jahrzehnt vergeht, bis die Reue zur göttlichen Traurigkeit wird. Nach mancherlei Fahrten, zwischen welchen sie ihren Gemahl zuweilen wiedergesehen, glänzt sie am Ende des Jahrhunderts in Lausanne in der Gesellschaft der emigrirten Franzosen. Sie tanzt, sie scherzt, sie reißt durch die Anmuth ihrer Gestalt und ihres geistigen Wesens hin. „Ein entzückendes Gesicht, ein leichter und gefälliger Geist; bewegliche Züge, die innere Gedanken und Gefühle ausdrücken; ein mittlerer und vollkommener Wuchs; blaue, immer heitere, immer lebhafte Augen, deren durchdringender Blick Vergangenheit und Zukunft durcheilen zu wollen schien; aschfarbene in Locken über die Schultern herabfallende Haare; etwas Neues, Besonderes, Unvorhergesehenes in ihren Geberden und Bewegungen“, so wird ihr damaliges Wesen geschildert, das sie mit vollendeter Koketterie vor den Augen der bewundernden Gesellschaft in einem oft von ihr aufgeführten mimischen Tanze, dem sog. Shawltanze, entfaltete. In „Valerie“ ist dieser Tanz von ihr selbst beschrieben. Auch Frau von Staël schreibt davon: „Niemals haben Grazie und Schönheit auf eine zahlreiche Gesellschaft eine außerordentlichere Wirkung hervorgebracht“. Frau v. K. trieb diese Koketterie so lange, bis Jemand aus der Gesellschaft ihr die Kunst abgelernt hatte, und diese allen Reiz für sie verlor. Am Anfang des Jahrhunderts ist sie mit ihrem Mann in Berlin, wo er als Gesandter wohnt, voll der besten Grundsätze, ruhig zu leben, aber immer wieder in den Strudel der Feste hineingerissen, schmerzlich durch den Glanz des Lebens getäuscht und nie ruhend in dem Bestreben, vor allen zu glänzen. Ihre ernsten Gedanken sind noch von der alten Eitelkeit durchzogen. Die Frau, welche ihrem Manne untreu geworden und lange fern von ihm gelebt, sieht sich als seinen Schutzengel an und bringt die Auszeichnungen, die ihm widerfahren, auf Rechnung ihres Gebets. Aber der Schutzengel hat auch jetzt nicht Lust, einfach bei dem Schützling auszuhalten. 1801 fühlt sie sich in Teplitz so wohl, daß sie sich vor der Rückkehr nach Berlin fürchtet. Sie schreibt ihrem Gemahl ihren Wunsch, in die Schweiz zu reisen. Und ehe derselbe sein Mißfallen darüber aussprechen kann, befindet sie sich in Genf. Während von Berlin her die ernste, verständige Mahnung kommt: „die Pflicht hat Dir Deinen Platz im Schooße Deiner vereinigten Familie angewiesen“, freut sie sich in Coppet mit Frau von Staël, in Paris mit Chateaubriand litterärisch zu verkehren, und mitten in diesem Leben geistigen Genusses, in welchem die zügellose, vor aller Welt kund gegebene Berauschung durch den Sänger Garat eine große Rolle spielt, trifft sie die Nachricht, daß ihr Gemahl plötzlich, Juni 1802, am Schlag gestorben. Die bitteren Vorwürfe, die sie sich machte, kamen zu spät – bald war sie ganz dem eitlen Leben wieder hingegeben. Nach zweimonatlicher Trauer reist sie von Paris nach Genf, von da nach Lyon, wo sie sich unter einer Fluth von Huldigungen überaus glücklich fühlt. Doch sehnt sie sich nach Paris zurück. Unter dem Einfluß der Pariser litterärischen Kreise will sie ihrem Roman „Valérie“ die letzte Feile geben. Nur in Paris darf er erscheinen. Aber sie will gerufen, ersehnt, erwartet sein. Sie bestellt sich selbst Ruf, Sehnsucht, Erwartung. Sie hatte einen Roman verfaßt, „La Cabane des Lataniers“, in welchem sie sich unter dem Namen Sidonie schildert. Ihr Freund, Dr. Gay in Paris, mit welchem sie einen Bund auf gegenseitige Lobeserhebungen geschlossen hat, muß eine „Elegie an Sidonie“ in Pariser Blätter rücken, in welcher die Hauptstadt die Provinz um den Besitz der unvergleichlichen Frau beneidet und dieselbe sich sehnlich zurückwünscht. Sie folgt der eigenen Einladung. 1803 erscheint „Valérie“ ohne den Namen [199] der Verfasserin. Aber sie sorgt, daß ihr der Ruhm nicht entgehe. Sie setzt alle Mittel der Reclame in Bewegung. Ergebene Freunde und neidische Gegner, unabhängige Schriftsteller und käufliche Journalisten, alle beschäftigen sich mit Frau v. K. und ihrem Buche, und sie selbst nicht am wenigsten. Sie fuhr von Putzladen zu Putzladen und forderte bald Hüte und Federn, bald Echarpen und Bänder „à la Valérie“. Und wenn die Ladenmädchen mit der neuen Mode sich unbekannt zeigten, so fragte sie verwundert: ob sie denn den Roman „Valérie“ nicht kennten und erzählte davon. Der Roman hatte einen außerordentlichen Erfolg in Frankreich wie in Deutschland. Parisot sagt in seiner Vorrede: Frau von Staël und Frau Cottin haben die Verfasserin nicht schlafen lassen. Aber ebenso viel als das Verlangen nach schriftstellerischem Ruhm hat gewiß zur Abfassung des Romans die Sehnsucht nach romanhaftem Ruhm getrieben. Sie wollte sich selbst verherrlichen. Wer von der Betrachtung ihres Lebenslaufes sich zur Lectüre ihres Romans wendet, der kann keinen Augenblick im Zweifel sein: Valerie ist sie selbst; Gustav ist jener Stakieff, der in so edler Weise sich selbst bezwang, um nicht seine glühende Leidenschaft als Brand in ihr eheliches Glück zu werfen; der Graf, der Gustav als seinen Adoptivsohn bei sich hat, der würdige, wohlwollende, seine junge Frau mit verständiger Liebe, Gustav mit väterlicher Zärtlichkeit umfassende Hausvater ist Herr von Krüdener. Die Geschichte des Romans ist so einfach wie möglich: es ist die Geschichte der wachsenden leidenschaftlichen Liebe des Pflegesohnes zu der Frau des Pflegevaters: einer Liebe, die durch das Zusammenwohnen und durch die fortwährende, im Familienleben begründete vertraulichste Berührung geschürt wird, während der Graf blind gegen das Feuer bleibt und Valérie erst dann, als die Flamme schon das junge Leben zu verzehren droht, ahnt, daß sie die Nährerin derselben ist. Alle drei an dem Geschick betheiligten suchen durch vollendete Tugend es abzuwenden. Der Roman ist wie Goethe’s Werther in Briefen verfaßt, die Gustav, ein schwedischer Graf von Lynar, in die Heimath an seinen Freund schreibt. Nach der Weise Bernhardin’s, Rousseau’s, Goethe’s läßt Frau v. K. das Leben der Natur die Leidenschaft des Herzens begleiten, bald harmonisch, bald dissonirend. Die Erinnerung bietet nordische, die Gegenwart italienische Scenen. Der Kampf zwischen einer gebieterischen Tugend und der widerstrebenden Gluth giebt den kleinen Scenen des nahen Zusammenlebens erregenden Reiz. Der Liebende stirbt wie Werther durch den eigenen Entschluß, aber nicht von einer Kugel, sondern lediglich von der Unmöglichkeit länger zu leben: das Licht des Lebens verzehrt sich in seiner eigenen Flamme. Französische Beurtheiler bemerken in der Sprache kleinere Fehler, die nur einer Ausländerin begegnen konnten, geben aber zugleich dem Buch das Lob, ein französisches im besten Sinne zu sein und nordische Natur und deutschen Geist in die bezaubernde Anmuth der französischen Sprache gekleidet zu haben. Herzensgluth, Schwung des Gedankens, warme Naturempfindung, graziöse Darstellung auch der schwierigsten Situationen müssen auch wir dem Roman zugestehen. Aber während wir bei Goethe’s Werther den Eindruck gewinnen, daß das Erlebniß des Einzelnen die Gesammtstimmung einer Zeit in vollendeter Individualisirung darstellt, ist uns beim Lesen der „Valérie“, als sei sie nur geschrieben zur Verherrlichung der Frau, welche die Schriftstellerin selbst ist.

Die Erscheinung der „Valérie“ bezeichnet den Gipfel der Weltlichkeit, den Frau v. K. erstiegen. Mit der Abreise von Paris beginnt die Wendung ihres Lebens. Sie selbst, so erzählt Jacob, begründete diese Abreise mit dem Morde des Herzogs von Enghien, um dessen willen sie Napoleon gehaßt: in Wahrheit, so behauptet der französische Schriftsteller, habe dieser Haß seine Ursache in der Geringschätzung gehabt, mit welchem der Consul den mit großer Beeiferung ihr [200] von der Verfasserin nahe gebrachten Roman behandelt. Im Frühling 1804 findet sie ihre Mutter wieder. Die Langeweile in Riga sucht sie vergeblich durch Spiel um Geld zu überwinden. Auf ihrem Gute Kosse findet sie in der Wohlthätigkeit einige Befriedigung. Die Briefe an die Freunde in Frankreich, die sie aus der Heimath sendet, bezeugen ein Heimweh nach der Fremde, nach dem schönen Frankreich und seinen liebenswürdigen Kindern. Aber die Zeit war nahe, wo sie zur Heimkehr in Gott starke Aufforderung erhielt. Eines Tages war sie aufgestanden, müde von Schwermuth und kraftloser Reue über ihre Vergangenheit. Von ihrem Fenster aus betrachtete sie die Herbstwolken, welche der Wind langsam über die Düna [WS 1] hintrieb, als ein liefländischer Edelmann, der an ihrem Fenster vorübergeht, sie begrüßt, wankt und vom Schlag getroffen vor ihren Augen niederfällt. Es war einer der Männer, die ihre aufreizende Koketterie ausgezeichnet hatte. Man hob ihn todt auf. Sie war aufs Heftigste erschüttert: ihr Durst nach Huldigungen erschien ihr auf einmal als die vermessenste Thorheit, als die verwegenste Herausforderung des lebendigen Gottes, dem allein Anbetung gebührt. Angst vor dem Tode ergreift sie, dann überschattet Todesstille ihr Wesen. In dieser Zeit tritt ihr Schuhmacher bei ihr ein. Ohne ihn anzusehen, läßt sie sich das Maß nehmen. Als der Handwerker eine Frage an sie richtet, nimmt sie die Hände von den Augen. Das heitere und fröhliche Ansehen des Mannes erscheint ihr als eine Beleidigung gegen ihren Schmerz, sie antwortet kurz und fällt in ihre Traurigkeit zurück. Aber nicht lange und sie fragt den Mann: „Mein Freund, sind Sie glücklich?“ „Ich bin der glücklichste der Menschen“, war die Antwort. Sie erwidert nichts, aber der strahlende Ausdruck des Mannes, der Ton seiner Rede verfolgen sie, daß sie des Nachts nicht schlafen kann. „Er ist glücklich, der glücklichste aller Menschen und ich das unglücklichste Geschöpf“, wiederholt sie sich. Sie hat keine Ruhe, bis sie den Schuhmacher aufgesucht. Er gehörte zur Brüdergemeinde. Mit der schönen Ausschließlichkeit, welche dieser Gemeinschaft eigen ist, verkündigte er ihr Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Sie fühlt sich geliebt. An die Stelle des rächenden Gottes, vor dem sie gezittert, ist der getreten, welcher aus Liebe für die Sünder stirbt. Mit der ganzen Gluth einer begnadigten Sünderin liebt sie den, der sie zuerst geliebt. Alsbald predigt sie diesen Gott der Gnade, der in seinem Sohn erschienen, in Briefen an die Freunde, im Salon der Mutter. Im Umgang mit der Brüdergemeinde stärkt sie das neue Leben, das sie gewonnen. Und als neues Leben erweist es sich durch den Einfluß auf ihren Wandel: sie bringt Ordnung in den Gebrauch ihrer Zeit, die Verwaltung ihres Gutes, die Verwendung ihres Vermögens. Freilich das Reiseleben stellt sie auch nach der Bekehrung nicht ein. Wir finden sie auf dem Heimweg von einem Badeaufenthalt in Wiesbaden im Herbste 1806 nach der Niederlage von Jena, in Königsberg, wo sie mit der Königin Luise in eine innige Gemeinschaft tritt. Beide, auf so verschiedenen Wegen zu Christus geführt, die Königin, die durch das Unglück ohne herben Sündenfall zur Erkenntniß der Sünde gekommen, Frau v. K., die durch die bittersten Sündenerfahrungen hindurchgegangen war, vereinigten sich in dem Bekenntniß desselben seligmachenden Namens und an den Krankenbetten der Soldaten in derselben Liebe. Nach einem Aufenthalt in Dresden, zwischen welchem sie die Brüdergemeinden in Kleinwelke, Herrnhut und Berthelsdorf besucht, begiebt sie sich nach Karlsruhe, um Jung Stilling kennen zu lernen. Sie tritt mit ihren Kindern in die ganze Innigkeit des Stilling’schen Familienlebens ein, kann sich aber auch dem Umgang mit dem Hofe nicht entziehen. Die Flucht aus den Hofkreisen in die pietistischen Kreise Württembergs wird ihr durch die polizeiliche Ueberwachung, der ihr Leben und Briefwechsel dort ausgesetzt war, verleidet. Sie kehrt nach Karlsruhe zurück und widmet sich mit Eifer selbst Hand [201] anlegend, der Armenpflege auch in den elendesten Wohnungen. Verhängnißvoll ward um diese Zeit ihre Verbindung mit dem Pfarrer Friedr. Fontaine in St. Marien (aux mines). Er war durch seinen Eifer, seine Armenpflege, seine Gebetserhörungen schon weithin bekannt, als er mit einer ekstatischen Bäuerin, Marie Kummer, in Verbindung trat. Sie hatte den Besuch der Frau v. K. voraus verkündigt, und als sie kam, begrüßte sie der Pfarrer mit dem Worte: „Bist du die da kommen soll oder sollen wir einer anderen warten?“ und die Prophetin wies ihr einen hohen Beruf an, in welchem sie von Fontaine unterstützt werden sollte. Die Jahre lange unbedingte Hingabe an dieses unlautere prophetische Paar war ein Rückfall ins alte Leben, in die Sucht nach Absonderlichem, in die Voranstellung ihrer Person. Durch die Aussagen der Marie Kummer läßt sie sich zu all ihren Schritten bestimmen, auch zum Ankauf eines Gutes in Bonigheim[2] in Württemberg und zur Gründung einer christlichen Colonie auf demselben. Dies geschah zu Anfang 1809. Große Menschenhaufen strömten dorthin, bis der König Friedrich, durch die Weissagungen geärgert, das Haus mit Gensdarmen besetzen und die Prophetin ins Gefängniß führen ließ. Frau v. K. selbst mit ihren Gästen mußte Württemberg verlassen. Sie fand in Baden-Baden bei der Erbgroßherzogin Stephanie freundliche Aufnahme und in der vornehmen Gesellschaft Geschmack an ihren Gesprächen, zumal wenn sie etwa in den Ruinen des alten Schlosses Baden durch Erzählung von ihren Visionen ein angenehmes Grausen erregte. Der Unruhe ihres Lebens, welche durch ihre Geldverlegenheiten und den Spott der Welt immer neue Nahrung empfing, suchte sie durch die Uebung der reinen selbstlosen Liebe nach den Schriften der heiligen Therese, der Guyot und Fenelons ein Gegengewicht zu schaffen. Ein gesundes Gefühl trieb sie zu der Mutter, der sie sich entfremdet hatte und der sie gern ihre Glaubensseligkeit mitgetheilt hätte, nach Riga. Im August 1809 kam sie dort an. Im Januar starb die Mutter plötzlich am Schlage, nachdem sie mehrmals „Jesus, lieber Jesus“ gerufen. Auch im fernen Norden kann sie der vornehmen Verbindungen, welche sie in Baden geknüpft und namentlich des zauberischen Frankreichs nicht vergessen. Durch einen Briefwechsel mit Fräulein Cochelette, Vorleserin der Königin von Holland, Hortensie von Beauharnais, drängt sie sich mit ihrem missionirenden Eifer dicht an diese heran. Sie erzählt von ihren Unterredungen, die sie mit der Königin von Preußen über die Frage des ewigen Lebens gehabt, um das Evangelium durch die Zustimmung einer verklärten Königin einer noch lebenden desto köstlicher zu machen. „Das Leben hat mir alles gesagt“, so lautet ihr Zeugniß, „und ich will keine Täuschungen mehr. Die Wahrheit ist für mich das erste Nothwendige und das Glück des Himmels wohnt seit lange in meiner Seele. Ich müßte aufhören, ich selbst zu sein, wollte ich nicht schildern, was mich beherrscht. Ich versetze mich im Geiste zu dieser Königin, der Sie das Glück haben, nahe zu sein, ich erinnere mich an die rührenden Beweise ihrer Güte und ich sage mir: „„Wenn ich Throne für sie vom Himmel zu erbitten hätte, würde ich sie glücklich sehen?““ Nein. Sie hat viel mehr nöthig. Das erhabene Leiden, eine Tochter des Himmels, hat diese engelgleiche Seele geprüft: sie ist unter so vielen bittern Schmerzen fast erlegen. Ich habe sie im Geiste gesehen, getrennt von ihren Kindern, und ich kenne sie! Ich habe so viel erfahren! Aber ich habe auch vor ihr die weiten Gebiete eines unerschütterlichen Glückes sich öffnen sehen. Ich habe denselben Gott, der diejenige, welche nicht mehr ist (– die Königin Luise –) gerufen, zu ihr sagen hören: „„Nichts kann auf Erden ein Herz befriedigen, welches für unermeßliche Güter geschaffen ist. Ich werde den Frieden des Himmels in dies von Menschen beunruhigte Herz senden.““ O wie oft haben meine Gedanken der Königin die reinsten Huldigungen zugeführt! Sein Sie so freundlich, ihr das alles zu sagen, sein Sie [202] so freundlich mich ihr zu schildern mit diesem Herzen, welches schon so viel erfahren, so viel gelitten und das noch nicht erschöpft ist, welches nach allen Gütern des Lebens und nach allen Enttäuschungen zu dieser köstlichen und lebendigen Religion zurückgekehrt ist, die ich für sie ersehne“. Die Weissagungen der Marie Kummer riefen sie nach Baden zurück. Sie verkündigte unterwegs in Königsberg, Breslau, Dresden die Lehre von der reinen Liebe, fand Fontaine in der Nähe von Karlsruhe und gab sich aufs neue seinen Einflüssen hin, welche durch die Weissagungen der ekstatischen Bäuerin eine sehr verdächtige Weihe erhielten. Ein ungedruckter Brief an die Gräfin Stolberg-Wernigerode in Peterswaldau in Schlesien, mit welcher sie von Gnadenfrei aus christliche Gemeinschaft geschlossen, giebt Zeugniß von ihrer damaligen Wirksamkeit und von den Hoffnungen für das Reich Gottes. Er ist am 23. Juli 1812 in Karlsruhe geschrieben. Wir geben einige Stellen daraus mit ihren sprachlichen Mängeln. „Der Herr erzeigt mir unendliche Barmherzigkeit. Meine Seligkeit nimmt immer zu und ich werde immer mehr in der reinen Liebe geleitet und der Vernichtigung meiner selbst. – Mein Glaube seiner nahen Zukunft wird immer mehr gestärkt; und die Tiefen seiner Liebe, davon wir immer nur schwache Blicke bekommen können hier auf Erden, zeigen sich meinem Herzen wie strahlen, so das ich laut aufschreyen und alles zur Anbetung auffordern möchte, es wurde mir neulich ein Spruch geschickt aus Norden, der für mich gezogen war: gehe hin an den Zäunen und lade sie ein: o könnte ich Ihn, den angebeteten Herrn alles zuführen, könnte alles seinen Namen preisen und in Liebe entzündet werden; in Riga entstehen kleine Apostel, die große Aufschlüsse bekommen, diese Kinder predigen das Evangelium.“ – Von einer Tochter erzählte sie mit Entzücken: „Unter Thränen und heißer Liebe führte sie letzthin ein Kind in einen einsamen Platz und beyde vereinigten sich ganz für Christum zu leben, beide weinten heftig, als sie von seinen unnennbaren Leiden sprachen, eine Magd hörte sie und erzählte es nachher hier im Hause, wo ich wohne. Auch in diesem Hause schenkt mir der Herr viel Gnade und Segen, ich habe Ihn gefleht, das ich doch nirgend wohnen möchte, wo nicht seine große heilige Liebe für Sünder bekannt würde, wenn wir nun Abends Choräle singen, so ergreift es die Herzen mit Macht und Gewalt, die von weitem was davon hören. Der Herr bekennt sich mächtig und wir leben von Seiner Gnade und Seinem Segen. In Heidelberg erlebte ich etwas sehr Rührendes. Das Wirthshaus, wo wir wohnten, war gegenüber einem Thurm, wo Gefangene saßen, die in Räuberbanden eingezogen wurden und deren mehrere wohl zum Tode verurtheilt werden sollten. – Diese Leute standen an den Gitter, ich konnte sie am Fenster sehen vor ihre enge einsame Gitter, sie sangen wilde Tyroler Lieder, wo sich Töne der Verzweiflung mischten, mein Herz war für die Unglücklichen tief bewegt, ich flehte um Christi Erbarmen für sie, es kam der Pfingsttag heran und schön stand vor meiner Seele das große heilige schönste Fest, wo sich der Herr aller Herren durch seinen heiligen Geist so gnädig den ersten Christen mittheilte, und als ich meine Glückseligkeit so deutlich spührte, dachte ich an die Unglücklichen und bat den Herrn, auch den Tag ihnen zur Freude, zur frohen Botschaft zu machen, und ich bat Ihn meine Schritte zu leiten und ging heraus und stand vor der verschlossenen Thüre des Thurmes, die ich nicht aufmachen konnte und Menschenfurcht überfiel mir, da so in den Straßen von Menschen gesehen zu werden und was mir so einfiel über ihre Meinungen, aber Gottlob ich dachte an den der die Herrlichkeit des Himmels verließ und auf Erden niedrig und verkannt herumwandelte und dann ist doch wohl für uns elende Sünder nichts Demuth und Gottlob fühlte ich mich auch unter die Räuber und Mörder und schlechter als sie denn ich hatte ihn ja nie genug geliebt und gesündigt von Jugend auf und [203] als ich so dachte und flehte um Kraft und das ich doch auch zum Segen dieser armen Leute würde, kam ein Kind und machte von außen die Thüre auf, ich sahe die Leitung des Herrn und folgte, rief den Gefangenwärter und seine Frau, und siehe da, ihr Herz war vorbereitet und ich sagte ihnen, ich wäre die fremde Dame, die gegenüber mit den drei Wagen angekommen wäre, die Gefangenen hätte ich mit tiefer Rührung gesehen und ich möchte ihnen gerne eine Freude machen, darum bäte ich sie Braten und Sallat und Bier zu kaufen. ihnen ein gutes Essen zuzubereiten und ihnen dabei zu sagen, eine Dame aus der Fremde (ich sagte mit Fleiß eine vornehme Dame um mehr zu wirken) die das Glück hätte den Herrn Christum zu kennen und zu lieben liebte auch alle unglücklichen Menschen, und da sie sein Erbarmen kennte, ließ sie sie alle bitten, sich zu seinen Füßen zu werfen und um seine große und erbarmende Liebe Ihn anzuflehen und um Gnade zu bitten, die Er ihnen um seines Blutes und Todes willen auch schenken würde, wenn sie Ihm ihr ganzes Herz gäben und sich aufrichtig mit wahrer Reue zu Ihm wendeten. Es würde ihnen alles verziehen, Er wäre die größte Liebe, die sich zu Tode geliebt hätte, wenn sie das gehört hätten und zu Mittag essen würden, so sollte er ihnen jedem von den kleinen Büchelchen austheilen, die der liebe 38te (Prinz Reuß) mir mitgegeben, als, Der am Kreutz ist mein Leben und, Er trug unsere Strafe und mehrere solche. Der Gefangenwärter ganz gerührt durch Gottes Gnade versprach alles und die Frau sagte, oft weinten die Armen und bereuten ihre Sünden. Kömmt denn nie ein Prediger hin, nein sagte sie. Abends urtheilen Sie von meiner Freude als statt des wilden Tyroler Liedes ich die herrlichen Gesänge von Jesu Liebe zu den Sündern singen hörte. Nachmittags schon sah ich die Hände durch die schmahlen Gitter gesteckt und die kleinen Büchelchen halten und die Frau sagte mir nachher, ihre Freude wäre so groß, daß sie früh morgens aufständen und sich vorläsen und sängen.“ Wir sehen, welch eine Kraft der Liebe zum Evangelisiren in der Frau war. Hätte sie ihren alten Menschen völliger „vernichtigen“ lassen, wäre sie in der Schranke christlicher Weiblichkeit bei ihrem Wirken geblieben, in der Pflege der Familie, der Armen und Kranken, der Kinder und Alten, der Gefangenen und Gefallenen – reiner stünde ihr Bild in der Geschichte und wirksamer zugleich. Aber der Prophetenberuf wurde auch jetzt wieder durch Fontaine und Marie Kummer ihr vorgehalten. Sie reist umher, in die Schweiz, nach Straßburg. Hier findet sie einen alten Bekannten aus den Tagen ihrer ungezügeltsten Weltlichkeit wieder; den Präfecten Grafen Lezay-Marnesia und seine Frau. Der Graf war nicht wenig erstaunt über die Veränderung, welche mit Frau v. K. vorgegangen war, und diese wünschte nichts sehnlicher, als den Grafen zu Christo hinführen zu können. Ein Besuch bei Oberlin in Steinthal machte auf ihn einen heilsamen Eindruck. Einige Wochen darauf konnte Frau v. K. verkünden: „Wir haben das Glück gehabt, den Präfecten in unserer Mitte zu sehen, betend, auf den Knieen den Heiland der Welt anbetend. … Dieser bedeutende, schon als Charakter so große Mann ist nun völlig gedemüthigt, ein gelehriges Kind, groß durch die wahre Größe, Christ, Verehrer des wahrhaftigen Gottes und Jesu Christi des Gekreuzigten. O betet an, betet an!“ Nach Karlsruhe zurückgekehrt brachte sie manche Stunde unter den Zöglingen eines adlichen Mädchenpensionats zu, dessen Vorsteherin durch sie zum Glauben gekommen war. Dann ging sie, um Frau Armand, die ehemalige Erzieherin ihrer Kinder, wiederzusehen, nach Genf, eine Reise, die von großer Bedeutung für ihr späteres Leben ward. Frau Armand war in Verbindung mit einem Kreise ernster Christen, die sich um die kleine Brüdergemeinde in Genf gebildet hatte. Als Frau v. K. in diesen Kreis eintrat, befand sich gerade ein Zugehöriger desselben, der junge Theologe Empaytaz vor der Frage: ob er den Versammlungen und [204] der Predigt der christlichen Grundwahrheiten von der Sünde und der Gnade oder der Hoffnung auf den Dienst in der Genfer Kirche entsagen wolle. Mit prophetischer Rede, mündlich und nachher schriftlich, schürt die begeisterte Frau in dem Jüngling die Flamme des Glaubens, der für Christus alles wagt. Im Steinthal hat sie nachher bei Oberlin mit ihrem Freunde sich wiedergefunden und die Freude gehabt, daß er fest blieb. Sie selbst, die bald in Basel, bald in Karlsruhe unter den gewaltigen Bewegungen der Zeit – denn der große befreiende Krieg war ausgebrochen – einen fruchtbaren Boden für die Saat ihrer Predigt gefunden, sucht im Frühling 1815 Ruhe in Baden-Baden. Um sie war ihrer Tochter, die ganz in den Wegen der Mutter ging, Franz von Berckheim, der sein Amt aufgegeben, um mit Frau v. K. für das Reich Gottes zu wirken, und Empaytaz. Alle drei Stunden unterbrachen sie ihre Beschäftigung durch eine Gebetsvereinigung, damit Niemand in der Fürbitte versäumt werde. Bei schönem Wetter stiegen sie auf die Berge. Sie lasen im Gehen die Psalmen Davids. Die armen Kinder der Stadt sprangen der frommen Frau entgegen, wenn sie ausging; denn sie hatte auch ihnen vom Freunde der Kinder gesagt. Von Baden-Baden begab sie sich auf empfangene Offenbarung in eine Mühle in einer Gegend, wo die erregte Bevölkerung nach Osten schaute und nach Osten zu wandern gedachte, dem Herrn entgegen. Hier sollte sie warten, bis ihre Stunde käme – um dem Helden, der von Osten nahte, dem Kaiser Alexander von Rußland, den Willen Gottes zu verkündigen.

Die Verbindung der Frau v. K. mit dem Kaiser Alexander bezeichnet eine der bedenklichsten Verquickungen des Religiösen mit dem Politischen, welche die Geschichte kennt. Die adliche Frau, welche von einer Bäuerin zur Prophetin sich hatte ausrufen lassen, pries den Kaiser als Erlöser des gegenwärtigen Geschlechtes. Die Anlässe zu so überschwänglicher Auffassung lagen allerdings in den thatsächlichen Verhältnissen. Das Gericht, das Gott im Gang der Geschichte gesprochen, hatte Napoleon und Alexander gegenübergestellt wie den von Gott Verworfenen und den von Gott Erhobenen. Er oder ich, das war Alexanders entschlossene Losung, als Napoleon Rußland mit seinen Kriegsvölkern überzog. Auch die Deutschen, welche in der Vernichtung des Weltherrschers die Befreiung ihres Vaterlandes sahen, hatten hoffnungsvoll ihre Blicke auf Alexander gerichtet. Treffliche preußische Offiziere ließen sich verabschieden, um an der Seite der Russen zu kämpfen. Der mächtigste deutsche Staatsmann, Stein, bot seine Kräfte dem russischen Kaiser in der Gewißheit, sie für Deutschland einzusetzen. Ernst Moritz Arndt, von Stein nach Rußland gerufen, verfaßte im slavischen Osten einige der kräftigsten Weckschriften für seine lieben Deutschen. Es war nicht schwer, in Napoleons Emporsteigen die Entblößung von jeder Gottesfurcht nachzuweisen – die Erhebung Rußlands wider ihn dagegen schien ganz von religiösen Kräften durchdrungen. Und nun hatte Gott in den Flammen Moskaus, in den Schneefeldern Rußlands seinen Zorn wider Napoleon, seine Gnade gegen Alexander geoffenbart. Schenkendorf sprach aus dem Herzen seines Volkes, wenn er Alexander 1813 als den „Retter dieser Zeit“, als „der Freiheit Held und Hort“, als den „lieben Gotteshelden, der Gottes Ruf gehört“ begrüßt. Es ist leicht zu begreifen, daß die Frau, die sich für die Gottbegeisterte, Gottgesandte hielt, in Alexander den Herrscher sich ersah, dem sie als das Werkzeug Gottes ihre Offenbarungen mitzutheilen gedachte. Drei Dinge standen für sie fest: daß nach dem ersten Pariser Frieden neue Stürme über Europa hereinbrechen müßten, daß Gott in denselben dem Kaiser Alexander eine große Aufgabe zugewiesen und daß sie selbst, wenn ihre Stunde gekommen wäre, berufen sei, dem Kaiser mit der Fülle der Heilsbotschaft zu seiner eigenen Seele Reinigung und Befestigung vor die Augen zu treten. – Durch eine Hofdame der Gemahlin [205] Alexanders, der Kaiserin Elisabeth, Roxandra Stourdza, die Freundin Stilling’s, ließ sie ihre Stimme in die Seele des Kaisers dringen, als dieselbe durch das Leben auf dem Wiener Congreß nicht wenig gefährdet war. Am 29. Octbr. 1814 hatte sie der Freundin geschrieben: „Wir werden das schuldbeladene Frankreich, welches nach dem Rathschluß des Ewigen durch das Kreuz, das ihm auferlegt worden war, verschont geblieben, wir werden es gezüchtigt sehen. Christen sollten nicht strafen, und der Mann, den der Ewige auserwählt und gesegnet, der Mann, den wir so glücklich sind als unsern Herrscher zu lieben, konnte nur Frieden bringen. Aber der Sturm schreitet voran; diese Lilien, welche der Ewige bewahrt hatte, dies Zeichen einer reinen und zerbrechlichen Blume, welche ein eisernes Scepter zerbrach, weil der Ewige es also wollte, diese Lilien, welche zur Reinheit, zur Liebe Gottes, zur Reue hätten rufen müssen, sind erschienen, um zu verschwinden: die Lection ist gegeben und die Menschen verstockter als je träumen nur Tumult.“ Dann über den Kaiser: „Ich weiß seit lange, daß der Herr mir die Freude geben wird, ihn zu sehen. – Ich habe ihm ungeheure Dinge zu sagen; denn ich habe in Betreff seiner viel erfahren: der Herr allein kann sein Herz bereiten, es anzuhören: ich beunruhige mich nicht deßwegen; meine Aufgabe ist, ohne Furcht und ohne Tadel zu sein, die seine, zu den Füßen Christi, der die Wahrheit ist, zu liegen. Möge der Ewige den leiten und segnen, der zu einer großen Mission berufen ist.“ Der Kaiser hörte diese Verkündigungen und fühlte das lebhafte Verlangen, diese prophetische Frau kennen zu lernen. Die Weissagungen waren eingetroffen. Die Lilien Frankreichs waren von dem wiedergekehrten Napoleon in den Staub geworfen. Die verbündeten Herrscher waren gegen ihn ausgezogen. Alexander war unter all’ den Huldigungen, die ihm gebracht wurden, unruhigen Gewissens: er fühlte den Zwiespalt zwischen den Liebeszügen Gottes, die ihm zu Theil geworden und dem eitlen Weltleben, das er in Wien geführt. Er war in Heilbronn angekommen und dachte einsam über sein Leben nach. Er wünschte sich einen Freund heran, vor dem er sein Innerstes ausschütten könnte. Auch die Frage zog durch seine Seele: wo mag Frau von K. jetzt weilen? Da meldet der Fürst Wolkonsky – es war spät am Abend – daß eine Frau den Kaiser zu sprechen wünsche und sich nicht abweisen lasse. – Es war Frau v. K. Wie eine Gebetserhörung erschien dem Kaiser dieser Besuch. Sie ward sofort eingelassen. Sie riß den Schleier von der Seele des Herrschers. „Nein, Majestät“, sagte sie, „Sie haben sich dem Gottmenschen noch nicht genähert wie ein Sünder der Gnade bittet. Sie haben noch nicht Gnade von dem empfangen, der allein Sünden vergeben kann: Sie sind noch in Ihren Sünden, haben sich vor Jesu noch nicht gedemüthigt: Sie haben noch nicht wie der Zöllner von Herzensgrunde gerufen: Gott, sei mir Sünder gnädig! Und darum haben Sie noch keinen Frieden. Hören Sie die Stimme einer Frau, die auch eine große Sünderin war, die aber Vergebung gefunden hat am Fuße des Kreuzes Christi!“ Der Kaiser vergoß Thränen und verbarg sein Antlitz in seinen Händen. Sie entschuldigte ihre Lebhaftigkeit. „Nein, rief er, fahren Sie fort, Ihre Worte sind Musik für meine Seele.“ Er bat die Frau, ihn auch ferner nicht im Stich zu lassen. Als er sein Hauptquartier nach Heidelberg verlegt hatte und Frau v. K. ihm dahin gefolgt war, brachte der Herrscher alle zwei Tage den Abend bei der Prophetin in der einfachen Bauernwohnung am Neckar zu, die sie gemiethet hatte. Auch Empaytaz nahm an diesen Zusammenkünften Theil. Bibellesen, Gespräch, Gebet auf den Knieen füllte die Stunden aus, oft über Mitternacht. Neugierige und Boshaftige näherten sich der Freundin des mächtigsten Herrschers, aber auch edle Männer, wie Stein und Kapodistrias. In den Tagen vor dem Sieg von Waterloo las Alexander mit seiner christlichen Freundin viel in den Psalmen: [206] das Wort Davids auf sich deutend. Die Siegesbotschaft beugte ihn auf die Kniee zum Dank, daß Gott ihn zum Friedensstifter für die Völker berufen, zum Gelübde, ihnen das Evangelium des Friedens zu bringen. Der Kaiser zog nach Paris und lud die Freundin ein, ihm dahin zu folgen. Nachdem sie ihre Tochter dem Herrn von Berckheim am Altare übergeben, säumte sie nicht ihre Mission in Paris fortzusetzen. Die Versammlungen wurden auch hier unter dem Beistand Empaytaz’ gehalten und Alexander befand sich oft unter den Zuhörern. Auch Fontaine und Marie Kummer erschienen. Daß aber die Prophetin ihre Anrede an den Kaiser mit der Zumuthung schloß, Geld zur Gründung einer christlichen Gemeinde in Weinsberg zu geben, benahm ihm von vornherein den Geschmack an ihrer Prophetie, sie kehrte dann alsbald nach Rappenhof, in das von Frau v. K. zur christlichen Colonisation gekaufte Gut, zurück. Völlig war in Paris die Hingabe Alexanders an den Einfluß der Frau v. K. in Bezug auf seine Politik. Was sie predigte, war Milde gegen Frankreich aus christlicher Feindesliebe. Der persönlichen Stellung der Frau, welche aus dem russischen Reich stammend am meisten dem französischen Wesen gehuldigt, nun aber ihre Mission in der Berathung des russischen Kaisers sah, entsprach diese Politik allein. Kein Lob war ihr reich genug für Frankreich und die Franzosen. „Adieu, adieu“, so schrieb sie an die Vorleserin der Königin Hortense, „Maria Stuart von Schottland sagte, wenn sie an ihr Vaterland dachte: „O du so süßes Land Frankreich!“ Derselben Königin zu gut schrieb sie später: „Entsetzliche Mißgeschicke nahen dem so schuldigen Frankreich. Denken Sie an das Jahr 1815, es wird denkwürdig sein.“ In der That, welche Rettung konnte sie aus diesem Zwiespalt der Predigt gegen Frankreich und der Liebe für die Franzosen finden als den Rath der Milde aus Feindesliebe? Daß sie für den General Labedoyère, den Anhänger Napoleons, den das hergestellte Königthum zum Tode verurtheilte, mit aller Kraft eintrat, war ein gutes Werk: hat sie ihn nicht vom Tode retten können, so hat sie ihm doch den Sterbetrost des Evangeliums verschafft. Aber die Politiker der verbündeten Mächte, namentlich die deutschen, hatten alle Ursache über ihre unberufene Einmischung in die Welthändel zu zürnen, wie sie sahen, wie Alexander Frankreich ermunterte, seine Heere herzustellen, wie er die Brücke von Jena gegen den guten deutschen Zorn Blüchers in Schutz nahm, wie er das Wort: so Jemand den Rock von dir fordert, dem gieb auch den Mantel, das für Privatverhältnisse gesagt ist, auf die politischen Verhältnisse anwandte. Alexander verlor dabei von seinem russischen Mantel nichts, dagegen den deutschen Mantel gab er aufs neue der Zersetzung Preis. Wie der Kaiser, als es gewaltiger Anstrengungen des sittlichen Menschen bedurfte, um Napoleon zu stürzen, ganz von Stein sich leiten ließ und ihn immer neben sich haben mußte, so war ihm jetzt nicht zuversichtlich zu Muthe, wenn nicht Frau v. K., seine Bußpredigerin, in seiner Nähe war. Er wies ihr einen Platz an in der griechischen Capelle, damit der Hauch ihrer Gebete mit seinem Gebetsathem sich vermische. Zu einer großen Heeresschau auf dem Camp de Vertus, die er an seinem Geburtstag für die russischen Truppen veranstaltete, mußte sie kommen, um dem gottesdienstlichen Theil der Feier beizuwohnen. Heimgekehrt, konnte er die Zeit kaum erwarten, mit ihr den Psalm, den die Armee gesungen, noch einmal durchzulesen. „Das war der schönste Tag meines Lebens“, sagte er, „ich werde ihn nie vergessen. Mein Herz war voll Liebe für meine Feinde. Ich habe mit Inbrunst für sie alle beten können und weinend zu den Füßen des Kreuzes Christi habe ich für das Heil Frankreichs gefleht.“ Sie selbst hat in einer kleinen Schrift: „Camp de Vertus“, mit überschwänglicher Begeisterung ausgesprochen, in welchem Lichte ihr jene Heeresschau erschienen. „Wer hat nicht, so ruft sie aus, wenn er Alexander unter dieser großen Standarte sah, an alle Siege des [207] Glaubens, an alle Lehren der Liebe gedacht? Wer hat zu zweifeln gewagt, daß hier hohe Eingebungen wären, und wer hat nicht mit den Aposteln gesprochen: das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden? – - Welches Herz, beim Anblick aller dieser Dinge, hat nicht auch für dich geschlagen, o Frankreich, einst so groß, daß du größer noch aus deinem Mißgeschick hervorgehen wirst? Frankreich, dass du aus deinem Rath den Allmächtigen hast verbannen wollen und das du die Arme von Fleisch, obwol auf Weltreiche gestützt, hast vor Furcht sinken und ohnmächtig werden sehen! – Einstiges Frankreich, altes Erbe der Gallier, Tochter des heil. Ludwig und so vieler Heiligen, welche auf dich ewige Segnungen herabgezogen haben, Gedanke der Ritterlichkeit, deren Träume die ganze Welt entzückt, kehre ganz zurück, denn du bist lebendig durch die Unsterblichkeit!“ Sie schließt, indem sie auf das Kreuz hinweist, welches auf dem Felde der Heeresschau zurückgelassen wurde, als ein Altar, der alles vereinigen sollte und der laut verkündet: „Hier ward Jesus Christus angebetet durch den Helden und das seinem Herzen so theure Heer: hier haben die Völker des Ostens für das Glück Frankreichs gebetet.“ Das stärkste Zeugniß für den Einfluß der begeisterten Frau auf die Politik Alexanders ist die heilige Allianz. Der Bischof Eylert verlegt die Geburt des Gedankens derselben in die Seele Friedrich Wilhelms III. und in die Zeit der ersten unglücklichen Schlachten im Frühling 1813. Damals habe der König zu seinem kaiserlichen Freunde Alexander gesagt: „Wenn Gott, wie ich hoffe, unsere vereinten Anstrengungen segnet, dann wollen wir vor der ganzen Welt diese Ueberzeugung aussprechen, daß ihm allein die Ehre gebührt.“ Früher als Frau v. K. hatte Franz von Baader den drei verbündeten Herrschern auf ihren Zügen nach Frankreich den Rath gegeben, wie hinfort die Politik mit der Religion sich verbinden müsse. Aber von durchschlagender Wirkung auf den erregbarsten unter den Herrschern war der unmittelbare Einfluß der Frau v. K. Der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz, Friedrich Wilhelms III. Schwager, betrachtete die heilige Allianz geradezu als ihr Werk. Sie selbst schrieb sie einer Eingebung Gottes zu. Alexander kam einige Tage nach der Heerschau von Camp de Vertus zu seiner Freundin mit dem Entwurf der Urkunde und der Bitte, ihn zu prüfen. „Ich wünsche, sagte er, daß der Kaiser von Oesterreich und der König von Preußen sich mit mir in diesem Amt der Anbetung vereinigen, damit man uns, wie die Weisen aus dem Morgenlande, die oberste Herrschaft Gottes, des Heilandes, anerkennen sehe.“

Als Alexander Paris verlassen hatte, blieb auch Frau v. K. nicht länger. Sie wendet sich im October 1815 nach der Schweiz. Die Beratherin der Großen wird jetzt zur Mutter des Volkes. Ueberall, wo sie erscheint, drängen sich heilsbedürftige Menschen um sie her, überall predigt sie den Heiland der Sünder und verursacht große Bewegung, aber das Ungewöhnliche und Schwärmerische ihres Auftretens, der anmaßliche Weheruf über die Länder, welche nicht ohne Weiteres ihren göttlichen Beruf erkennen wollen, das Aufregende, welches ihre Thätigkeit namentlich im Hungerjahre 1817 hat, veranlaßten die Obrigkeiten zu polizeilichen Maßregeln gegen sie. Wie eine Fürstin auf dem Gebiete der Frömmigkeit, als die „gnädige Frau“ von tausenden von Elenden angeredet, von einem geistlichen Hofstaat umgeben, in welchem, neben Empaytaz und ihrem Schwiegersohne Berckheim, hauptsächlich Kellner, ein ehemaliger Postbeamter aus Norddeutschland, ein ihr ganz ergebener, zu jeder Schwärmerei geneigter Mann, erscheint, – so zieht sie von Ort zu Ort, hier verfolgt, dort mit Jubel begrüßt. In Basel legt sie, in Gemeinschaft mit Spittler, dem Leiter der „Christenthumsgesellschaft“, den Grund zu einer Tractatgesellschaft. Von ihrem Sohn, dem russischen Gesandten in Bern, in diese Stadt gerufen, schafft sie sich selbst durch die mächtige Wirkung ihrer Predigt die Ursache, warum sie, wenn auch in [208] der mildesten Form, von der Polizei ausgewiesen wird. Sie kehrte nach Basel zurück. In großen Versammlungen geschehen Erweckungen, nicht nur im Kreise der Frauen, sondern auch der Männer, nicht blos der schlichten: Lachenal, Professor der Philosophie und ein katholischer Priester werden von der Macht des Evangeliums ergriffen. Von Basel vertrieben, läßt sich die fromme Karawane in dem Hause eines frommen Bauern in dem badischen Grenzorte Grenzach-Horn, genannt Hörnlein, nieder. Auch hierher folgte die hörbegierige Menge. Frau v. K. blieb bis zum April 1816. Von zwei englischen Frauen nach Aarau berufen lernte sie auch Pestalozzi kennen, der von dem Singen, Beten, Predigen tief ergriffen, Thränen der Rührung in die Hände der prophetischen Frau vergoß. In Aarau, auf Schloß Liebegg – dieselben Erfolge. Nach Grenzach-Horn zurückgekehrt predigte sie den Wallfahrern nach Einsiedeln die freie Gnade. Um jene Zeit fing die Hungersnoth an, sich fühlbar zu machen. Ihre Diamanten allein brachten ihr 30 000 Franken, die ihr neben den Einkünften aus Rußland zur Unterstützung des hungernden Volkes dienten. Ihre Freunde halfen mit ihrem Vermögen. Bald in Hörnlein auf badenschem Gebiet im kleinen Bauernhause, bald in Unterholz im Kanton Basel in Lachen als Wohnung hielt sie sich mit der wandernden Gemeinde auf. Sobald sie da war, gabs Volksaufläufe. Hungrige nach der Gerechtigkeit, und vom leiblichen Hunger Entkräftete suchten Hilfe. Es wurde gepredigt und gebetet, es wurden Suppen gekocht und Decken vertheilt, alles unter der Verfolgung der staatlichen Gewalt. Gerade die Linderung der leiblichen Noth in ihrer Verbindung mit den scharfen Anklagen gegen die Regierung und mit den maßlosen Hoffnungen der Bevölkerung, gab ihr den Schein des Aufrührerischen. Nachdem sie den Becher des Hohnes und der Verfolgung bis auf die Neige getrunken, ward ihr der Aufenthalt in Grenz-Hornach und Unterholz versagt. Nun beginnt ihre unstäte Wanderung durch die Schweiz: in Warmbach, Rheinfelden, Munytz, Aarau, Zürich, Losstätten, überall Zudrang des Volkes, Neugieriger, Hungriger, Heilsbedürftiger, überall ist sie viel bewundert und viel gescholten. Die Erlebnisse in der Schweiz setzen sich in dem österreichischen, württembergischen und badischen Gebiet am Bodensee fort. Der Hunger wüthet aufs Gräßlichste. Tausende schweifen in Wäldern und Feldern umher, um sich Kräuter zu suchen. Frau v. K. speist, so lange sie etwas hat, die Hungernden, mahnt zugleich zur Bekehrung, verkündet mit prophetischem Ernst das Gericht. Aus der Schweiz verstoßen findet sie in Freiburg im Breisgau einige Tage Ruhe. Dann befiehlt ihr die Regierung die Heimkehr nach Rußland. Wie eine Staatsgefangene, nur von ihrer Tochter, Frau von Berckheim und Kellner begleitet, reist die müde Frau unter polizeilicher Aufsicht durch Würtemberg und Baiern nach Sachsen. In Weimar fand sie ihre Freundin Fräulein von Stourdza, in der Brüdergemeinde zu Neudietendorf hatte sie einige Tage friedliche und erquickliche Rast. Dann zog sie nach Leipzig, wo Professor Krug ein von ihm veröffentlichtes Gespräch mit ihr hatte. Gern wäre sie, ihre angegriffene Gesundheit zu pflegen, den Winter in Dessau geblieben. Aber sie mußte, von einem preußischen Commissär begleitet, ihre Reise über Eilenburg und Lübben fortsetzen. Wir besitzen die „treu niedergeschriebene Rede, welche Frau v. K. in einer Versammlung zu Beeskow am 22. Januar 1818 gehalten hat“ (Berlin bei Enslin). „Gott erwählte ein Weib zu diesem Berufe, so sprach sie, weil er es besser brauchen konnte, als einen Mann … Der Kaiser selbst, so wie ihr König, meine Lieben kennt meine göttliche Sendung. Der Erstere steht an der Spitze der Mission, welche der heilige Bund genannt wird. Ohne diesen heiligen Bund würde die Welt in Trümmern gehen und Deutschland wäre nicht gerettet worden, wenn die Fürsten nicht vor Bekämpfung des allgemeinen Feindes bereits denselben beschworen hätten. Der russische Kaiser selbst hat mir gesagt: [209] auf den Ruinen seines Reiches sei er erst zur Erkenntniß gekommen, – nur Gott allein habe gethan, was keiner menschlichen Macht mehr zu vollbringen würde möglich gewesen sein. Bilden Sie Sich also ja nicht ein, meine Herren vom Militär und die, „welche eine papierne Existenz haben“, d. h. Beamte, Gelehrten und Philosophen, die eigentlich den Samen des Verderbens ausstreuten und die Welt ihrem Untergange nahe brachten, bilden Sie Sich ja nicht ein, daß Sie zur Erhebung Deutschlands Etwas oder wol gar Alles beigetragen hätten … Das eiserne Kreuz, meine Herren Militärs, welches Sie auf Ihrer Brust tragen, ist nicht dasjenige Kreuz welches die Feinde schlug … Es hat mich gefreut, Ihnen als eine Gottgesandte sein heiliges Wort ans Herz zu legen und Ihnen meinen Segen geben zu können.“ Während sie andere zur Demuth ermahnte, zeigte sie sich selbst nicht blos im Bewußtsein einer hervorragenden Stellung, sondern geradezu eitel. In den „Beiträgen zu einer Charakteristik der Frau Baronesse von Krüdener von dem Consistorialrath Brescius und dem Professor Dr. Spieker in Frankfurt a. O.“ (Berlin bei Dümmler 1818), welche aus der Beobachtung ihres dortigen Auftretens stammen, heißt es: „Ihr Anzug verrieth kein phantastisches Streben nach Auszeichnung, nur den Schleier, in welchem sie sich beständig blicken läßt, scheint sie nach einem berühmten Madonnenbilde absichtlich zu ordnen.“ Es war nicht blos Schein. Den Maler, der sie malen wollte, nahm sie erst ins Verhör: ob er auch wohl ihr Bild, das bis jetzt keinem gelungen, zu malen im Stande sei: ihre alten Züge und ihre äußere Gestalt werde er vielleicht treffen, aber ein anderes sei das Göttliche, welches die Form belebe, die Hülle idealisire. „Ich lasse mich nicht meinetwegen, sondern zur Ehre Christi malen“, sagte sie und setzte sich dann kunstvoll zurecht. – Auf dem ganzen langen Wege, den sie zu machen hatte, hielt sie, wo es irgend ging, ihre Versammlungen. Endlich kam sie auf ihrem Gute Kosse an und fand die Stille, die ihr im Leben fast immer gefehlt und die sie nicht ernstlich gesucht. Am Meere wandelnd ergoß sie ihre Mystik im Lied. Der Bevölkerung ward sie eine geistliche Mutter. Noch einmal begab sie sich aus der Einsamkeit des Landlebens nach St. Petersburg, durch die Krankheit des Schwiegersohnes gezogen. Sie war vielgesucht von allen, die innerhalb der griechischen Kirche an den religiösen Erweckungen in den Befreiungskriegen Theil genommen. Alexander aber, dessen Vorbild zu dieser Erweckung so mächtig mitgewirkt, hatte bereits dem Einfluß der Priester nachgegeben, den Cultusminister Fürst Gallitzin entlassen und die Bibelgesellschaft unterdrückt. So war ihm die ehemalige geistliche Beratherin unbequem. Auch ihre Begeisterung für das jüngst aufgestandene Volk der Griechen dünkte ihm gefährlich, da er von Metternich gelernt, in Griechenland sei die Revolution. Sie kehrte, in der Residenz unwillkommen, aufs Land zurück, die unfreiwillige Entsagung durch selbstgewählte Kasteiung steigernd. Sie schrieb kaum mehr Briefe, aber sie betete, las in der Schrift, sang, sorgte für die Armen, im Winter von 1822 auf 1823 saß sie ohne Feuer, ohne doppelte Fenster in ihrem Zimmer. Ihr Körper litt, aber ihre Seele rang sich durch die Angst des Todes hindurch, der ihr eine Zeitlang als Sühne für ihre Sünden schrecklich schien. Mit Freuden ging sie auf den Plan ein, mit der Fürstin Gallitzin und ihrer Bauerncolonie im Frühling 1824 die Wolga hinunter nach der Krim zu reisen. Auf dieser Reise entwickelte sich ihre Krankheit und im gleichen Schritt ihre Befreiung von der Eigenheit. In Karasou-Bazar angekommen, bereitete sie sich unter der liebevollen Pflege ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes auf den Tod. Sie ließ sich gern Tersteegen’s Lieder vorlesen. Immer stand der Gekreuzigte vor ihrer Seele. Am 15. Decbr. nahm sie unter herzlichem Gebet von allen ihren Lieben Abschied. Am 24. Decbr. konnte sie nicht mehr sprechen, mit den Augen bat sie, daß man das Zeichen des [210] Kreuzes über ihr mache. Um Mitternacht hörte sie, daß die Weihnacht gekommen. Mit leuchtendem Antlitz und vernehmbarer Stimme gab sie Gott die Ehre. Den Weihnachtstag ging sie heim. Ihre irdische Hülle ward in der armenischen Kirche zu Karasou-Bazar beigesetzt und dann in die griechische Kirche übergesiedelt, welche die Fürstin Gallitzin zu Koreiß gebaut hatte.

Es ist eine außerordentliche Frau, die wir auf ihrem Lebensgang begleitet, eine Berühmtheit des Salons und der Litteratur, der Politik und der christlichen Erweckung. International in ihrer Stellung und in ihrer Wirksamkeit hat sie, längst heimgerufen, immer wieder das Interesse der Russen und Franzosen, der Deutschen und Schweizer auf sich gezogen. Eine reiche natürliche Begabung war zunächst die Macht, durch welche sie die Menschen, wenn nicht zur Bewunderung, doch zur Beachtung zu nöthigen wußte. Ohne eigentlich schön zu sein, hatte ihre Erscheinung eine bezaubernde Anmuth. Ihrem Herzen war eine leicht erregbare Fülle, ihrem Geist eine große Schwungkraft eigen und der Wille wohnte ihr inne, Leben um sich her zu wecken. Und so energisch ihr Wille vor ihrer Bekehrung auf Weltlichkeit gerichtet war, so völlig wandte er sich dem Geistlichen zu, nachdem sie, der Welt müde, von der ewigen Liebe zuerst sich ergriffen gefühlt. Rückhaltlos bekannte sie nun ihre Sünde; mit der größten Innigkeit umklammerte sie das Kreuz ihres Heilands; die Gluth, mit welcher sie zum Gebete rief, läßt schließen, daß aus ihrem eigenen Herzen die Flamme kräftig emporstieg; aus der Versenkung in die Liebe, welche sich ihrer erbarmte, erhob sie sich in der Liebe, welche den Mühseligen und Beladenen die erbarmende That zuwendet; mit schwärmerischem Auge sah sie in die Zukunft des Reiches Gottes und mit begeisterndem Munde lud sie zum Eintritt in dies Reich ein. Aber alle diese Zeichen eines neuen Lebens können die Reste des alten nicht verdecken. Durch ihre Bekehrung hat sie zwar eine neue Anschauung und eine neue Liebe, einen neuen Weg und ein neues Ziel gewonnen, aber ihre Persönlichkeit ist nicht völlig neu geworden im Sinne der neuen Creatur in Christus. Von jenem Wort: Christus muß wachsen, ich aber muß abnehmen, wie gut sie es kannte, hat sie sich nicht mit tödtender und belebender Kraft durchdringen lassen. Sich selbst hat sie auch als Bekehrte gefeiert, als eine Gottbegeisterte und Gottgesandte zwar, aber dennoch als sich selbst. Romanhaft blieb ihre Erscheinung, auch als sie Romane nicht mehr las und schrieb. Von dem Evangelium, dessen Flamme sie durchglühte, hatte sie nicht gelernt, was des Weibes Schmuck sei, der verborgene Mensch des Herzens und der stille Wandel, der ohne viel Worte wirkt. Hinaus über die Schranken der Häuslichkeit, innerhalb welcher die Mutter Predigerin sein soll, über die Wege des Dienstes in der Gemeinde, welche die Diakonissin geht, über die weibliche Fürsorge für ein bestimmtes Gebiet menschlicher Noth, wie sie eine Elisabeth Fry, eine Amalie Siveking übte, hat sie als prophetische Frau den Großen der Erde gepredigt und sich an die Spitze der Volksbewegung gestellt. Und diese hätte sie durch die Verkündigung des Heils der Seele und durch die Stillung der leiblichen Noth allein schwerlich hervorgerufen, aber sie fügte die unberufene Geißelung des Staates hinzu und die unkluge Hinweisung der Elenden auf den Osten, von dem das Heil komme und dahin auszuwandern rathsam sei. – Die Heimathlosigkeit, welche in der weltlichen Periode ihres Lebens aus der Unruhe der unbefriedigten Seele erklärt werden mochte, war in den Tagen ihres christlichen Bekenntnisses nicht mehr zu rechtfertigen. Männer wie Paulus und Augustin sind nach der Bekehrung zunächst stille geblieben, zur Vertiefung, zur Befestigung, zur Ausreifung ihres neuen Lebens. Frau v. K. hätte als Frau doppelt Ursache gehabt, in die Stille zu gehen. Ihre Wirksamkeit hätte dann nicht einem Brillantfeuer, aber der erwärmenden Gluth des Heerdes geglichen. – Eine große [211] Schwäche ihres Wesens liegt in ihrer Vaterlandslosigkeit. Deutsch von Blut, eine russische Unterthanin, war ihr das schöne Frankreich mit seinen graziösen Menschen doch eigentlich das liebste Land. Ohne politischen Verstand, weil ohne brennende Liebe zu einem Vaterlande, glaubte sie die weltgeschichtlichen Prozesse, die zwischen den Völkern schweben, mit der evangelischen Mahnung von der Feindesliebe schlichten zu können – eine Mahnung, welche sie an Alexander richtete, zum Schaden der Deutschen, zum Nutzen der Franzosen. – Auch ihre Confessionslosigkeit giebt ihrem Wesen Unsicherheit und Verschwommenheit. Von der Taufe her dem lutherischen Bekenntniß angehörig, nach der Bekehrung mit Stilling’s Mystik, mit der Erweckung, die in der reformirten Schweiz geschehen war, innig verbunden, mochte sie in jener Zeit einer allgemeinen christlichen Belebung auch mit den christusgläubigen Gliedern der römischen und griechischen Kirche Gemeinschaft halten. Aber die Anrufung der heiligen Jungfrau, die man bei ihr findet, zeugt von dem Vorwalten der Phantasie und dem Mangel an Nüchternheit in ihrem religiösen Leben. Und auch das ungeduldige Warten auf die göttlichen Strafgerichte, das Lauschen auf jedes Gerücht von Erdbeben, Gewitter, Hagel, Feuersbrunst, Pestilenz, um mit neuer Zuversicht den nahen Gerichtstag vorausverkündigen zu können, die Freude am Absonderlichen, die gewaltsame Auslegung mancher Bibelstelle nach ihrem Geschmack, das Werthlegen auf Aeußerlichkeiten, auf den Gruß: Gelobt sei Jesus Christus, auf die Kreuzesform, auf die Kniebeugung, die unruhige Hast ihres Evangelisirens, die übertriebene Vielgeschäftigkeit, mit welcher sie zugleich Briefe hörte, Briefe dictirte, ein Bibelwort betrachtete, zum Schaden jeder einzelner dieser Thätigkeiten – dies alles entbehrt der christlichen Nüchternheit. – Das richtige Urtheil über die außerordentliche Frau vernehmen wir schon aus zeitgenössischen Stimmen. E. M. Arndt, der sie 1814 in Heidelberg, Karlsruhe und Baden sah, ist mit Recht aus seinem deutschen Sinn heraus auf die „Feldmarschallin der Alexandrinischen Weiberei“, „die weiland schönste und berühmteste Nachtigall diplomatischer Salons“, „noch mächtig mit den Augen und einem schönen schlanken polnisch-kurländischen gewundenen und geschlungenen Wuchs“ nicht gut zu sprechen. Georg Müller in Schaffhausen bemerkte an ihr „etwas radotirende Geschwätzigkeit des alternden Weibes, wenig logische Ordnung, große Leichtgläubigkeit mit Scharfrichterei“. „Nun aber, fährt er fort, abgesondert von diesen Schwärmereien, spricht sie sehr schön, mit unverkennbarem Gefühl der Wahrheit, mit innigster Herzenswärme von dem einzigen Grund der Seligkeit, der Lehre vom Kreuz und der Versöhnung Jesu: da ist sie wahrhaft erweckt und von Dank, Liebe, Demuth, Zerknirschung und völliger Hingebung an Jesu durchdrungen.“ Und nach wiederholter Begegnung mit ihr: „Ich sehe auf die Hauptsache und da bekenne ich, daß ich diesen Geist der christlichen Weisheit, Demuth und Liebe, die Liebe zum Herrn und um des Herrn willen zu den Menschen seit langem nicht in dieser Vollkommenheit gesehen habe. Nur in ihren Urtheilen über die Schweiz fehlt diese Liebe“. Anna Schlatter, die edle christliche Bürgersfrau in St. Gallen, als sie hörte, daß ganze Familien durch die Vorspiegelungen des Glückes im Kaukasus unglücklich geworden, „hätte diese Irrthümer mit dem Schwerte des Geistes zerhauen mögen“, sie braucht keinen „Bergungsort“, so lang der Richter ihr Freund ist, und faßt ihr Urtheil so zusammen: „Ich halte die Frau v. K. und alles was durch sie gewirkt wurde, für Zeichen der eilenden Zeit, für Wehen, welche auch Kinder der neuen Kirche zur Geburt befördern, für Werkzeuge, wodurch unser guter liebevoller Heiland manchen sichern Sünder erwecken, manchen Schlafenden ermuntern kann. Aber für die neue Kirche halte ich sie und ihre nächsten Angehörigen nicht.“ Wir schließen mit dem erfreulichsten Urtheil, das Frau v. K. selbst in einem Briefe an ihren Sohn wenige [212] Wochen vor ihrem Tode über sich gefällt hat. „Was ich Gutes gethan habe, wird bleiben: was ich Böses gethan (denn wie oft habe ich nicht für Gottes Stimme genommen, was die Frucht meiner Einbildung und meines Stolzes war), das wird die Barmherzigkeit meines Gottes auslöschen. Ich habe Gott und den Menschen nichts als meine zahlreichen Ungerechtigkeiten darzubieten, aber das Blut Jesu Christi reinigt mich von allen Sünden.“

Vie de Madame de Krudener, par Charles Eynard. Tome I. II. Paris. Lausanne. Genève 1849. – Ueber die Wirksamkeit in der Schweiz ist zu vergleichen J. Georg Müller’s Tagebuch in Gelzer’s protest. Monatsblättern, Jahrgang 1863. Bd. 22; außerdem eine Anzahl anonymer Flugschriften aus der Zeit. – Ueber die Reise durch Deutschland die oben angegebenen Schriften. – Aus der französischen Litteratur: Sainte-Beuve, Portraits de femmes. Nouvelle édition. Paris 1852. – Valérie ist in der Petite bibliothèque de luxe als 5. Band 1878 in Paris erschienen mit einer Preface de Parisot. – Madame de Krudener ses lettres et ses ouvrages inédits. Etude historique et littéraire par P. L. Jacob bibliophile, Paris 1880.[3]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 196. Z. 24 v. o. l.: Vietinghoff. [Bd. 55, S. 890]
  2. S. 201. Z. 13 v. o. l.: bei Bönnigheim (st. in Bonigheim). [Bd. 21, S. 795]
  3. S. 212. Z. 16 v. o.: Vgl. noch v. Weber’s Archiv für die Sächsische Geschichte. N. F. I, 39 ff. [Bd. 45, S. 668]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Düne