ADB:Roth, Friedrich von
Drück verdankt R. die Grundlagen der hohen classischen Bildung, welche [318] ihn später schmückte. Sehr bewandert in den alten Schriftstellern und auch des Französischen für seine Jugend ungewöhnlich mächtig, bezog er noch nicht 18 Jahre alt 1797 die Universität Tübingen. Der sehnliche Wunsch des Vaters war, daß der Sohn der Theologie sich widme. R. zeigte jedoch hiergegen eine unüberwindliche Abneigung und entschied sich für die Jurisprudenz. Er hatte die damals viel gelesenen französischen Schriftsteller Montesquieu, Voltaire, Rousseau und andere bereits kennen und bewundern gelernt. Ihr Geist hatte ihn im Zusammenhang mit der ganzen Zeitströmung mächtig entzündet und nahm ihn eine Weile förmlich gefangen. Er trat auf Universitäten einem Vereine bei, welchem die Kirche und ihre Glaubenslehre überwundene Größen waren, der nichts geringeres als eine radicale Reform der Gesellschaft und namentlich der Volksschule auf Grund der Menschenrechte sich zum Ziele gesetzt hatte. Roth’s Entwicklungsgang war in die Zeit des mächtigsten Uebergangs vom Alten zu einem Neuen, der schroffsten Gegensätze, welche die Weltgeschichte kennt, gefallen; er sollte diese Gegensätze nicht bloß äußerlich erfahren, sondern innerlich durchleben, um sie wahrhaft zu überwinden. Der treffliche Rechtslehrer Malblanc, der R. in sein Haus aufgenommen hatte, suchte ihn zugleich mit dem Vater auf den richtigen Weg dadurch zurückzuleiten, daß er ihm das Studium der Staatengeschichte und Politik, neben der Civilgesetzgebung, die R. mit unermüdetem Fleiße studirte, die Durchforschung der geschichtlichen Quellen des römischen Rechts empfahl. Jetzt erst lernte er Polybius, Dionys von Halicarnaß, Dio Cassius kennen, wendete sich aber auch neueren Historikern wie Machiavelli und Hume mit großem Fleiße zu. Radicale Ungeschichtlichkeit lag der herrschenden revolutionären Bewegung zu Grunde; Versenkung in die Geschichte erschien als das beste Heilmittel gegen die Krankheit der Zeit. R. selbst erfuhr dies im reichsten Maße. Noch ehe er die Universität verlassen, hatte die innere Gährung sich gelegt. Eine Frucht seiner classischen und geschichtlichen Studien war die Schrift: „De re municipali Romanorum libri II“, Stuttgart 1801, womit der 21jährige Jüngling sich den Doctorgrad der Rechte erwarb. Dieses Werk war das erste von Bedeutung über diesen Gegenstand nach der Schrift des Sigonius De jure Italiae, es liegt den späteren Arbeiten von Guizot und Savigny über das römische Municipalwesen zu Grunde. Bedeutende Autoritäten wie Heyne, Joh. v. Müller, Eichstädt nahmen es mit Beifall auf. Das Loos eines unabhängigen Gelehrten, das sich R. nunmehr wünschte, ward ihm jedoch nicht zu Theil. Die erste praktische Verwendung, die R. fand, schien vielmehr im Widerspruch mit seinen innersten Neigungen zu stehen, bahnte ihm aber den Weg zu seiner ganzen späteren Laufbahn. Auf die Empfehlung Dr. Malblanc’s berief ihn die Reichsstadt Nürnberg zu dem Amte eines Consulenten; R. hatte die schwierige Aufgabe, die zerrütteten Verhältnisse der Reichsstadt möglichst zu ordnen und zu diesem Zwecke ein ganz neues Feld, das Schuldenwesen zu bearbeiten. Auf dem Reichstag zu Regensburg, in Paris, in Berlin und Wien vertrat er die Interessen der Stadt. Am 21. Novbr. 1806 kam Nürnberg an die Krone Baiern. R. trat nun in den bairischen Staatsdienst, zuerst als Finanzrath des Pegnitzkreises in Nürnberg, dann auf Empfehlung des geheimen Raths Heinrich v. Schenk, eines der besten Männer jener Zeit, dessen Andenken R. später in der Akademie der Wissenschaften durch eine Lobrede geehrt hat, 1810 als Oberfinanzrath in München und 1817 als Ministerialrath in dem Staatsministerium der Finanzen. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit gab sich R., obwohl er manches Jahr mit Arbeiten überladen war, seinen gelehrten Beschäftigungen hin. Auch weit Auseinanderliegendes wußte er in seiner beruflichen und wissenschaftlichen Thätigkeit zu einer gewissen Einheit zu verknüpfen. Er behandelte Gegenstände, die ihn an sich gar nicht [319] ansprachen, wie das Zollwesen, das ihm als Finanzrath übertragen war, mit einer Gründlichkeit, als hätte er eine gelehrte Arbeit vor sich; er wußte seinen Referaten über Finanzsachen eine formale Vollendung zu geben, die von selbst an den Liebhaber des classischen Alterthums erinnerte; sie wurden deshalb gerne auch von anderen Räthen nachgelesen.
Roth: Karl Johann Friedrich von R., U. J. D., k. bairischer Staatsrath und Oberconsistorialpräsident in München, eine hervorragende und einflußreiche Persönlichkeit, auf staatlichem, kirchlichem und gelehrtem Gebiet gleich ausgezeichnet, ist in Vaihingen an der Enz in Württemberg am 23. Januar 1780 geboren. Sein Vater war Präceptor der Lateinschule und wurde später an das Gymnasium zu Stuttgart versetzt. Dem Vater und außer ihm besonders dem ProfessorSchon ein Jahr nach seiner Uebersiedelung in die Hauptstadt, im J. 1811, wurde R. in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen, er führte sich in dieselbe ein durch eine vortreffliche Lobschrift auf Johann v. Müller. Sein in die Tiefe gehendes geschichtliches Studium und reifende Erfahrung hatten ihn mehr und mehr mit dem concreten Inhalt des Christenthums befreundet. Bezeichnend hierfür ist seine Schrift: „Die Weisheit Dr. Martin Luther’s“, ein vortrefflicher Auszug aus dessen Werken, welcher 1817 zur Feier des Reformationsjubiläums erschien. Seine philologische Ader verleugnete R. dabei nicht, sofern es ihm in jener Sammlung auch darauf ankam, das Vollendetste in der Sprache Luther’s, dasjenige, worin der Geist des Reformators sich am reinsten und schönsten kund gibt, zum Ausdruck zu bringen. Von 1821–1825 gab er Hamann’s Schriften mit Erläuterungen in sieben Bänden heraus (Berlin, Reimer) in vollster Sympathie mit dem Bunde antiken und christlichen Sinnes, der bei dem Magus des Nordens so charakteristisch hervortritt. Auch Jacobi’s „Auserlesenen Briefwechsel“ veröffentlichte R. in zwei Bänden (Leipzig 1825 bis 1827).
R. war hinreichend legitimirt, als er im J. 1828 vom Finanzdienst an die Spitze des protestantischen Oberconsistoriums in München berufen wurde. R. gestand selbst, daß es keinen Beruf in der Welt gab, der ihm wünschenswerther als dieser gewesen wäre; keine Aeußerung des Verlangens, viel weniger ein Schritt zur Bewerbung ging jedoch von ihm aus. Am 5. März 1828 war der erste Präsident des Oberconsistoriums, ein Freiherr v. Seckendorf, ein wohlwollender, aber kränklicher Mann, der in seinem Amte wenig hervorgetreten ist, gestorben; schon unter dem 14. März wurde R. vom König Ludwig „in besonderem Vertrauen auf dessen bewährte Religiosität, seine ausgezeichnete Dienstestreue und seine ausgebreiteten Kenntnisse“, wie es in dem Decrete hieß, als Seckendorf’s Nachfolger berufen. König Ludwig hatte sich für R. trotz starken Widerspruchs solcher, welche ihn wegen seiner scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeit nicht wollten, entschieden, was die protestantische Kirche Baierns diesem Könige nicht vergessen wird. Noch am 13. März wurde R. in die Residenz berufen, wo er aus dem eigenen Munde des Königs seine Ernennung vernahm. Der König ermahnte ihn, sein Amt ohne irgend anderweite Rücksicht nur nach bestem Wissen und Gewissen zu führen: „was hälfe es dem Menschen“, erwiderte R., „wenn er die ganze Welt gewänne“ – und der König unterbrach ihn, indem er hinzusetzte: „und nähme doch Schaden an seiner Seele“. Das Leben bedeutender Männer bietet öfters schon in früher Jugend vorbedeutende Züge für den späteren Lebens- und Berufsgang. R. erinnerte sich damals eines charakteristischen, wie weissagenden Ereignisses aus seinen Knabenjahren. Sein Vater hatte ihn einst in die Stiftskirche zu Stuttgart mitgenommen, die Probepredigten anzuhören, welche von Candidaten abzulegen waren; dem zwölfjährigen Knaben erschien hier das Loos eines Consistorialdirectors, welcher, auf einen Stock mit goldenem Knopfe gestützt, jedem der Candidaten das Satis est zurufen durfte, über alles beneidenswerth, worauf der Vater sagte, so weit könne er es auch bringen, wenn er fleißig lerne, und noch weiter. Das Oberconsistorium gab sofort dem Könige seine Freude und seinen Dank über die Ernennung Roth’s in den wärmsten Ausdrücken kund. R. selbst trat in den neuen Beruf voll Bewunderung der [320] göttlichen Führung, deren eigenthümliche Wege er in ernstem Nachdenken oft betrachtet hatte.
Roth’s Wirksamkeit war für die baierische Landeskirche von der höchsten Bedeutung. Er hat diese Kirche von Innen aus neu organisirt. Seit dem Jahre 1803 waren die verschiedensten kleineren und größeren Territorien, im ganzen 27, darunter auch viele protestantische, dem Kurfürstenthum, nachher Königreich Baiern einverleibt worden. Es war nichts geringes, diese letzteren, die durch Krieg und kriegerische Durchzüge, theilweise auch durch die länger andauernde französische Herrschaft sehr gelitten hatten, wenn nicht in kirchliche Verwilderung oder Auflösung gerathen waren, auch nur äußerlich zusammenzufassen und einigermaßen einheitlich zu gestalten. Im J. 1818 wurde die baierische Verfassung gegeben und mit großem Dank, ja Jubel begrüßt; in dieselbe war auch die Verfassung der protestantischen Kirche in ihren wesentlichen Zügen aufgenommen worden, ein im ganzen sehr zweckmäßiges Werk, welches die innere Selbständigkeit der protestantischen Kirche bei formaler Unterordnung des Oberconsistoriums unter das Staatsministerium festhielt, den Confessionsstand nicht alterirte, im Gegentheil für die im diesseitigen Baiern ganz kleine reformirte wie die hier vorherrschende lutherische Kirche die normirende Bedeutung der Bekenntnißschriften ausdrücklich anerkannte. In einem im allgemeinen conservativen Sinne hatte das Oberconsistorium schon immer gewirkt, besonders gilt dies von dem um das baierische Schul- und Kirchenwesen hochverdienten Rath Niethammer. Als R. sein Amt antrat, hatte der gewöhnliche Rationalismus unter den Geistlichen jedoch entschieden die Vorherrschaft. Roth’s Verdienst ist die Ueberwindung des Rationalismus für das evangelisch-kirchliche Leben Baierns im großen und ganzen, es gebührt ihm dieses Verdienst in Gemeinschaft mit seinem Collegium, in welchem er außer Niethammer noch besonders von dem ganz ausgezeichneten weltlichen Rath Grupen unterstützt wurde. R. hat um seiner positiv evangelischen Gesinnung willen viel Anfechtung zu erleiden gehabt, wie oft wurde er als Kryptokatholik und Jesuit bezeichnet! Noch heute kann man die Beschuldigung lesen, daß R. mit bureaukratischer Gewaltsamkeit der baierischen Landeskirche das Joch äußerer Orthodoxie wider ihren Willen aufgeladen habe. Nichts ist unrichtiger als dies. Nicht mit kirchenregimentlichem Zwang, wohl aber mit seltener kirchenregimentlicher Energie und Weisheit zugleich, mit sehr einfachen Mitteln im Grunde genommen, vor allem unter schirmender, pflegender, bekräftigender Anknüpfung an die bereits eingetretene Reaction gegen die herrschende Aufklärung hat R. das Werk innerer Neugestaltung der seiner Leitung anvertrauten Kirche vollbracht. Zu dessen richtiger Würdigung erscheint eine nähere Andeutung der damaligen kirchlichen Lage unbedingt noth. Der Rationalismus ist aus der eigensten Entwicklung der protestantischen Kirche hervorgegangen, es war auch der innerste und freieste Lebenstrieb dieser Kirche, der gegen denselben in den ersten Decennien des 19. Jahrhunderts mehr und mehr reagirte. Diese Reaction trug an verschiedenen Orten eine verschiedene Gestalt. In Baiern war es zunächst weniger vertiefte theologisch-wissenschaftliche Arbeit als die frische, aus unmittelbarster Ueberzeugung und Erfahrung quellende Bezeugung des alten, nie völlig verstummten Evangeliums. Ein einfacher Pfarrer und bald darauf Professor der reformirten Theologie in Erlangen, Krafft, hat ohne hervorragende Geistes- und Vortragsmittel durch sein schlichtes, aber von einer geweihten, wahrhaft apostolischen Persönlichkeit getragenes Wort tiefen Eindruck gemacht auf Männer wie Schelling, Puchta (den Juristen), Stahl, besonders aber auf den theologischen Nachwuchs erweckend und damit auf die Landeskirche regenerirend gewirkt; Baiern hat auch den Ruhm, die erste Zeitschrift erzeugt zu haben, welche den Kampf gegen die Neologie [321] mit voller Entschlossenheit aufnahm. In dem von Brandt herausgegebenen homiletisch liturgischen Correspondenzblatt wurden von Geistlichen der Landeskirche in jugendlichem Feuer, hie und da wohl auch in jugendlichem Uebermuth die Blößen des gewöhnlichen Rationalismus mit überlegenem Geist und vernichtender sittlicher Energie aufgedeckt. Auch Nichttheologen wie Schubert und Karl v. Raumer wirkten damals in Franken in wesentlich gleichem Sinne anregend und befruchtend. Unter den Einflüssen der Freiheitskriege und des Reformationsjubiläums wendete sich die tiefere Zeitbildung überhaupt mehr und mehr von der bisher herrschenden theologisch-kirchlichen Richtung ab. In diese Signatur der Zeit, mitten in den brennendsten Kampf zwischen altem und neuem in der eigenen Kirche fiel Roth’s Amtsübernahme. Bei seiner hohen Geistesbildung und seinem geschichtlichen Sinn konnte R. an der Aufklärung mit ihrer religiösen Armuth und sittlichen Flachheit, ihrem Mangel an Verständniß kirchlicher Form und Institution kein Gefallen haben. Aber gerade sein historischer Sinn war es auch, der ihn gegen jede Ueberstürzung schützte und sein consequent verfolgtes kirchenregimentliches Princip nicht zum starren Gesetz werden ließ, das keine Rücksicht für die geschichtlich gewordenen Verhältnisse und die in dieselben verflochtenen Persönlichkeiten kennt. Ein restauratives Verfahren ohne diese Rücksicht hätte der kirchlichen Erneuerung nicht gedient, um welche es R. allein zu thun war. R. trat unleugbaren Auswüchsen in Lehre und Leben mit dem Bewußtsein kirchlicher Pflicht entgegen, er suchte sonst aber überall Sache und Person zu unterscheiden, er behandelte die einzelnen Vertreter des herrschenden Systems mit möglichster Schonung und Milde, er schloß sie von angemessener Beförderung nicht aus, während er mit Recht bedacht war, auf die wichtigeren Stellen tüchtige Männer von kirchlichem Geiste zu setzen, was ihm um so leichter gelang, als die bedeutenderen jüngeren Kräfte von dem religiösen Aufschwung der Zeit getragen waren. R. vertraute in erster Linie auf die umbildende Macht der evangelischen Wahrheit und seiner in dieser wurzelnden kirchlichen Principien, welche unsicheres Schwanken ebenso wie verbitternde Härte ausschlossen. R. wollte durch das Allgemeine auf das Besondere wirken, durch das Höhere das Niedere überwinden. Seine Anschauung über die Bedeutung der Kirche und des kirchlichen Amtes war eine weit tiefere und umfassendere als die der herrschenden Richtung; er machte sie überall geltend. Ein Jahr, ehe er Präsident geworden, hat R. in seinem Vortrag in der Akademie der Wissenschaften: über den bürgerlichen Zustand Galliens um die Zeit der fränkischen Eroberung, sich am Schlusse geäußert: „Elf Jahrhunderte sind zwischen unserer Zeit und jener mit der unbehülflichen Kindheit vergleichbaren. Bedarf der großgewordene Staat jetzt nicht mehr des Pflegers und Aufsehers, wozu ihm in den Jahren der Unmündigkeit die Geistlichkeit gegeben war, so mag doch die Erinnerung an das, was damals von diesem Stande geleistet wurde, nicht untauglich sein, aufmerksamer darauf zu machen, was von demselben zur Erhaltung, Mehrung, Ausbildung alles Guten in dem gemeinen Wesen noch jetzt und jederzeit geleistet werden kann, wo nur kein äußeres noch inneres Hinderniß ihm die Erfüllung seiner Bestimmung verkümmert“. In einem Briefe vom Jahre 1833 äußert er sich dahin, daß gewisse ihm unheilvoll scheinende Bestrebungen mit sicherem Erfolge nicht anders bekämpft werden können als durch eine Bildung der Geistlichkeit, die ihr den alten Platz an der Spitze der allgemeinen Bildung wieder anweist. R. wollte den geistlichen Stand nach der religiös-ethischen wie nach der theologischen und allgemein wissenschaftlichen Seite heben; Frömmigkeit ohne tüchtige Bildung hatte für ihn bei einem Geistlichen zweifelhaften Werth. Durch Hebung der vorhandenen, durch Schaffung neuer Institutionen wollte er [322] dieses Ziel erreichen. Er wollte für den neuen Geist sichere Gefäße schaffen, um durch sie denselben fortzuleiten und die ganze Kirche mit demselben zu durchdringen. Vor allem richtete R. sein Augenmerk auf die theologische Facultät in Erlangen; er pflegte später öfters zu sagen: er habe diese gehütet wie seinen Augapfel. Das Oberconsistorium wird bei Besetzung jeder theologischen Stelle um sein Gutachten angegangen. Wurde ein Theologe vorgeschlagen, den R. nicht kannte, so ließ er sich vor Abgabe seines Votums dessen Werke kommen, um sich über Charakter und Richtung desselben vollkommen zu orientiren. Im ganzen waren in Erlangen während der früheren Periode würdige, gemäßigte, gelehrte Männer thätig; einzelne waren auch nicht unbeeinflußt von dem neuen Geiste, der zu wehen begann. Aber der tiefergehende, wahre Begeisterung schaffende Einfluß fehlte doch gar sehr; der reformirte Krafft stand außerhalb der Facultät. Als nun im J. 1832–1833 neue Berufungen stattfanden, griff R. entscheidend in die Entwicklung der Facultät, fast möchte man sagen, der protestantischen Theologie ein. Auf Antrag des Oberconsistoriums wurden Harleß und Höfling vom Könige zu Professoren der Theologie ernannt, zwei geborene Baiern, beide von dem neuen kirchlichen Geiste aufs tiefste ergriffen. Harleß, der schon Privatdocent in Erlangen war, erschien unter allen, an welche überhaupt gedacht ward, in jeder Beziehung als der bedeutendste. Durch diese Berufung wurde Erlangen die Pflanzschule einer ebenso wissenschaftlich tief gründenden, als entschieden kirchlich lutherischen Theologie, die nach der theoretischen wie praktischen Seite ungemein befruchtend auf das ganze evangelische Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus wirkte; es darf nur weiter an Männer wie Hofmann, Thomasius, Schmid, Harnack sen., Delitzsch, v. Zezschwitz, Plitt erinnert werden, von den gegenwärtig noch dort wirkenden Theologen abgesehen. Um dieselbe Zeit wurde in Erlangen ein theologisches Ephorat mit vier Repetenten zur Beaufsichtigung und Leitung des theologischen Studiums durch R. gegründet, eine Einrichtung, welche allerdings ihre Schattenseiten hatte, aber nur zum Schaden der Kirche dem Freiheitsdrang des Jahres 1848 erlag; sie war auch als Vorschule künftiger akademischer Kräfte von Bedeutung. Dagegen steht ein damals für mehrere Candidaten zu zweijährigem Aufenthalt nach bestandenem ersten Examen zum Zweck wissenschaftlich-praktischer Ausbildung in München gestiftetes Seminar heute noch in Blüthe. Es gibt ferner kaum eine Frage des praktisch kirchlichen Lebens, die unter R. nicht in Angriff genommen worden. Schon im J. 1833 wurde der kleine lutherische Katechismus ohne jede Zugabe außer einem Spruchbuch in allen lutherischen Gemeinden eingeführt; gute agendarische Formulare kamen zu facultativem Gebrauche; der Religionsunterricht an den Mittelschulen und in den Volksschulen wurde sicher und höchst zweckmäßig geordnet; für Herstellung eines neuen Gesangbuchs wurde später eine Commission niedergesetzt; für Verbesserung des Kirchengesangs, Einführung des rhythmischen Chorals geschahen unter R. wohl die ersten Schritte überhaupt in Deutschland; die allgemeine Verpflichtung der Candidaten auf das kirchliche Bekenntniß bei der Ordination erhielt einen angemessenen, zwischen falscher Weite und falscher Enge die richtige Mitte haltenden Ausdruck. Mit dem sicheren Princip, von dem all diese Maßnahmen ausgingen, verband R. das lebendigste persönliche Interesse. Die bestehende Einrichtung, wornach die Geistlichen regelmäßige Arbeiten, Predigten und wissenschaftliche Elaborate, einzusenden hatten, suchte R. zu beleben und hat sich die Mühe nicht verdrießen lassen, die Vorlagen selbst einer genauen Durchsicht zu unterziehen. R. verstand es, aus den Acten sich über Verhältnisse und Persönlichkeiten eigenthümlich sicher zu orientiren. Was er aus dieser Quelle oder auch sonst über Geistliche Merkwürdiges erfuhr, kam ihm nicht wieder in Vergessenheit, er benützte es für seine amtlichen Zwecke. [323] Trotz persönlicher und amtlicher Ferne hatte er überhaupt ein väterliches Herz für die Geistlichen. Er war der stille Wohlthäter so mancher armen Pfarrfamilie, ohne zu fragen, ob der alte oder neue Geist in ihr walte. Den später so bedeutend gewordenen Löhe nahm er gegen weltliche und geistliche Bureaukratie kräftigst in Schutz und öffnete ihm den Weg zu umfassenderer Wirksamkeit. An allem, was der Erleichterung der äußeren Lage der Geistlichen diente, nahm R. den innigsten Antheil; die Gründung eines Waisenhauses für männliche Pfarrwaisen in Windsbach von Seiten des obengenannten Brandt nahm er unter seine besondere thatkräftige Protection und hat die Anstalt einst selbst besucht, so wenig sonst Reisen seine Sache war.
An Conflicten konnte es freilich nicht fehlen. Bedeutender war jedoch nur ein Fall, der aber charakteristisch ist für die Gegensätze, um welche es sich handelte und für Roth’s kirchenregimentliches Verfahren. Die herrschende Richtung hatte in Baiern in dem Stifter der Lautirmethode, dem Kirchenrath Stephani in G., ihren kaum mehr zu überschreitenden Höhepunkt erreicht. Er soll in früherer Thätigkeit in C. an Weihnachten über Stallfütterung gepredigt haben. Im J. 1811 gab er ein Buch über das heilige Abendmahl heraus mit einem Titelkupfer nach der Erzählung Sallust’s, wornach Catilina seinen Genossen Menschenblut unter Wein gemischt zur Besiegelung ihres Schwures in Schalen herumgereicht haben soll. Diese Schrift war der katholischen Geistlichkeit des Lechkreises gewidmet. Nicht wegen dieses Buches, wohl aber aus andern ihn wenig ehrenden Gründen wurde Stephani vom Amte eines Kreisschulrathes entfernt und mit dem Stadtpfarramt und Decanat in G. betraut. Hier wurde er längere Zeit in keiner Weise angefochten, obwohl er im Sinne eines im J. 1830 von ihm herausgegebenen Katechismus wirkte, welcher alle Tradition hintansetzte, die zehn Gebote durch andere ersetzte, „die Furcht Gottes“ strich, weil Gott nur ein „wohlwollender Vater“ sei, bis die neuerwachte evangelische Erkenntniß gegen das ruchbar gewordene Aergerniß sich erhob und die Sache öffentlich besprochen wurde. Stephani hatte sich zugleich in einer von ihm herausgegebenen „Neuen allgemeinen Kirchenzeitung“ und sonst unglaubliche, auch persönliche Invectiven gegen das Oberconsistorium und dessen Mitglieder erlaubt. Auf Grund einer nun nothwendig gewordenen, würdevollst geführten Untersuchung wurde Stephani seiner Aemter enthoben, jedoch ohne finanziellen Verlust. Stephani gab die Geschichte seiner Suspension heraus mit dem Motto: „Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen“. Auf der ersten Seite bemerkt er, daß er bloß ein Opfer der Verfolgungswuth der Feinde des Lichts und der Wahrheit geworden sei. Ein Jahr nachher äußerte er sich in einer pädagogischen Schrift, der Erzieher müsse von der Ueberzeugung ausgehen, daß die Menschen von Gott das Vermögen empfangen haben, sich hienieden schon zu wahren Engeln oder Heiligen auszubilden. Den persönlichen Angriffen gegenüber, die R. damals und sonst erfuhr, beobachtete er größte Ruhe und beantwortete sie mit Schweigen.
Eine Stütze für seine kirchenregimentlichen Maximen fand R. in der Staatsregierung, vor allem in König Ludwig selbst. Dieser bedeutende Herrscher war der Sache der Religion nicht bloß im Zusammenhang mit einem genialen Kunstsinn gewogen, sondern hatte ihre Bedeutung für das Leben des Volkes klar erkannt, er war ein grundsätzlicher Gegner eines zerfahrenen, schwung- und geistlosen Rationalismus. Er wünschte, daß die protestantische Kirche vom Boden der Augsburger Confession aus geleitet werde. Um so auffallender war es, daß vom Jahre 1838 an unter dem Ministerium Abel eine Epoche vielfacher Bedrängniß für den Protestantismus in Baiern anbrach. Es ist nicht so leicht, diese unerquickliche Periode, die bis zum Jahre 1847 währte, richtig zu beurtheilen. [324] Die ganze Constellation der Zeit, der Kölner Streit, politische Interessen sind zu ihrer Würdigung in Betracht zu ziehen. Döllinger behauptet wohl mit Recht (akadem. Vorträge II, S. 185): „Man meinte damals, da Preußen die Schutzmacht des Protestantismus auf dem Continent sei, so könne Baiern durch Schutz und Pflege katholischer Interessen in Deutschland sich zu höherer politischer Bedeutung erheben“. Politische Strebungen, trübe Vermischung von Geistlichem und Weltlichem, unklare Romantik spielten in die Abel’schen Regierungsmaximen herein. Nur so erklärt sich die wiederholte, noch ein Jahr vor seinem Tode erfolgende Versicherung König Ludwig’s, daß er den Protestantismus nicht habe schädigen wollen; R. selbst und auch Harleß waren dieser Ueberzeugung. Zu entschuldigen sind die Maßnahmen der Staatsregierung jedoch in keiner Weise: Erschwerung der Gründung evangelischer Gemeinden, die doppelt empfindlich war, weil nirgends, auch in Preußen nicht, die Mischung der Confessionen so groß ist wie in Baiern, Verbot des Gustav Adolf-Vereins, Umgehung oder Mißdeutung der Staatsverfassung zu Gunsten der katholischen Kirche bei der Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen und bei confessionellen Uebertritten, Beschränkung der Freiheit der Generalsynoden, das Gebot der Kniebeugung vor dem Venerabile auch für das protestantische Militär, das drückendste von allem; diese Maßnahmen sind auch dann nicht zu entschuldigen, wenn die Lage der katholischen Kirche in Betracht gezogen wird, die trotz ihrer offenbaren Bevorzugung über willkürliche Eingriffe Abel’s oft genug sich beklagte. Selbst die gewaltsame Entfernung Harleß’ von seinem theologischen Lehramt hat ihr wenn auch schwächeres Seitenstück in der Behandlung Möhler’s, der, damals Professor in München, ohne sein Wissen ja wider seinen Willen, wenn auch nicht gerade in böslicher Absicht, zum Domdecan in Würzburg ernannt wurde, was seinen Tod beschleunigt haben soll. Die im J. 1849 erschienene interessante Schrift: Kirche und Staat in Baiern unter dem Minister Abel und seinen Nachfolgern, von einem Schüler Görres’ verfaßt, gibt den Protestanten in vielem Recht, nur seien ihre Bedrückungen nicht zu Gunsten der Katholiken geschehen, beklagt sich aber entschieden darüber, daß Abel auch die Selbständigkeit der katholischen Kirche und ihre Freiheit wenig geachtet habe. All dies dient aber nur zur geschichtlichen Erklärung der damaligen Vorgänge. Die protestantische Bevölkerung sah sich mit vollem Grunde ohne alle ihrerseits gegebene Veranlassung mitten im tiefsten Friedensstand und bei einer sonst unangefochtenen Gültigkeit der Verfassung in ihren Rechten und ihrer Gewissensfreiheit gekränkt. Die tiefste Beunruhigung ergriff sie; zahllose Bitten und Beschwerden liefen bei dem königl. Oberconsistorium ein. Es ist nun eine damals stetig erhobene und auch gegenwärtig noch nicht verstummte Anklage gegen R., daß er im Schutz protestantischer Interessen zu wenig Energie entwickelt habe, zu nachgiebig nach oben gewesen sei. Auf Grund genauer Sach- und Actenkenntniß muß aber behauptet werden, daß diese Beschuldigung allen und jeden Grundes entbehrt. Von Seiten des Oberconsistoriums ist nichts unterlassen worden, das verfassungsmäßige Recht der protestantischen Kirche zu wahren. Mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Vereinigung von echter Loyalität und echtem Freimuth, von juridischer Schärfe und theologischer Wärme beleuchtete insbesondere Grupen dem Ministerium gegenüber die Kniebeugungsfrage von der dogmatischen, historischen und kirchenrechtlichen Seite; aber auch sonst ließ er, ließ das ganze Collegium es an sachgemäßen, tief erwogenen Remonstrationen nicht fehlen. R. selbst stand nach Innen und Außen völlig selbständig da, es wäre für ihn mit sonderlichen Opfern nicht verknüpft gewesen, wenn er um seine Quiescenz nachgesucht oder durch ungestümes Auftreten sie veranlaßt hätte. R. hielt damals aber mit Rücksicht auf seine Kirche in schwerer Lage aus unter manchen Demüthigungen [325] von oben, unter Angriffen von unten, auf bessere Zeiten rechnend. Sein Weggang hätte die Lage seiner Kirche nur verschlimmert. R. genoß des Königs persönliches Vertrauen in hohem Maße; er vertraute auch seinerseits dem Könige. Er behielt überhaupt im Auge, daß bei der hergebrachten Verbindung von Kirche und Staat es gerade im Sinne und Geiste der evangelischen Kirche liege, neben dem rechtlichen auch ein ethisches Verhältniß nach oben festzuhalten und jenes durch dieses zu stärken und zu läutern. Seine Hoffnungen und Bestrebungen täuschten ihn nicht. Die Beschwerde bezüglich der Kniebeugung wurde endlich infolge eines Briefes von R. an den König unter dem 12. December 1845 gehoben; noch am selben Tage theilte der König R. die getroffene Entscheidung mit. In würdigster, seiner Stellung angemessener Objectivität und zugleich mit wirklichem Freimuth hatte R. in der Reichsrathskammer am 28. Januar 1843 die erwähnte Beschwerde besprochen. Er fürchte, sagte er damals, die Entfremdung der Gemüther – ein großes Uebel zu jeder Zeit, vornehmlich aber in der unsern. Von ähnlicher Bedeutung war seine am 15. Mai 1846 gehaltene Rede bezüglich der noch fortdauernden Beschwerden, in welcher er das Palladium der Verfassung zu Gunsten seiner Kirche hochhielt und die Bedeutung des Glaubens an ihre Unantastbarkeit hervorhob. Sie schloß mit den wie weissagenden Worten: „Die Zeiten wechseln und die Menschen; ganz das Gegentheil des jetzt Beliebten kann in Kurzem die Oberhand gewinnen; vergeblich wird dann eine Festigkeit, die man verscherzt hat, angerufen und zurückgewünscht“. Schon im nächsten Jahre wurde das Ministerium Abel und mit ihm das bisherige Regierungssystem gestürzt. Diese ganze Bewegung schadete der Regierung, schadete der katholischen Kirche, nützte aber der protestantischen – diese, in deren innere Entwicklung sonst nicht eingegriffen und die von R. im gleichen Sinn und Geiste wie bisher geleitet wurde, ging aus dem Druck gestärkt, vertieft, noch mehr befestigt und innerlich geschlossen hervor.
Noch im J. 1839 äußerte sich die von Röhr herausgegebene kritische Prediger-Bibliothek: „Seit König Maximilian’s Tod hat der König der Finsterniß von neuem eine Freistätte in Baiern gefunden, und zwar eine weit sicherere und bequemere, da selbst das protestantische Oberconsistorium kein Mittel unversucht läßt, dem christlichen Volke von neuem die schmachvollsten Fesseln dumpfen Aberglaubens und Irrwahns früherer Jahrhunderte zu schmieden“. Die Wahrheit ist, daß das frühere Baiern sich zwei Jahrhunderte gegen jede freiere Geistesbewegung verschloß, worauf nach einem unentrinnbaren Gesetz der Geschichte eine gewaltsame Eruption erfolgen mußte. Sie erfolgte in Baiern nicht von unten, sondern von oben. Unter dem Ministerium Montgelas wurden, vielfach allerdings mit despotischer Willkür, ohne Schonung der religiösen Gefühle des Volks, die Fesseln gesprengt. Erst die herbeigerufenen auswärtigen, namentlich protestantischen Kräfte leiteten mehr den Weg sicherer, organischer Reform ein. Zugleich erholte sich aber der Katholicismus allmählich von seinen Niederlagen und Verlusten und sollte vom Jahre 1826 an durch Berufung von Männern wie Döllinger, der bald einen europäischen Ruf erhielt, Görres, Möhler gerade in Baiern und München seine glänzendsten Seiten entfalten. Von um so größerer Bedeutung war es, daß um dieselbe Zeit die Leitung der protestantischen Kirche in die Hände eines so geistesstarken, ideal gerichteten und zugleich praktisch nüchternen Mannes, wie R. war, kam. Durch ihn gewann die protestantische Kirche erst die würdige, auch der katholischen Kirche gegenüber Achtung gebietende Stellung, der sie bedurfte, um ihren Beruf zu erfüllen. Die Pflege der positiven Richtung in der evangelischen Kirche, welche ebenso dem Indifferentismus als einem nur formalen Gegensatz gegen den Katholicismus wehrt, hat aber auch neben Vermeidung der Extreme auf Seiten der leitenden [326] Auctoritäten der andern Confession – wie denn König Ludwig und auch Döllinger nie für Zurückrufung der Jesuiten waren – und einer entschiedenen und consequenten Anwendung der Kirchenhoheitsrechte auf Seiten des Staats dahin geführt, daß trotz der angeführten Störungen beide Confessionen in Baiern sich besser vertrugen und auch jetzt noch vertragen als irgendwo sonst in Deutschland.
Als R. vom Schauplatz abtrat, war ein großes Werk vollbracht; der Rationalismus war unter den Geistlichen innerlich überwunden; wo er unter dem älteren Geschlechte noch Vertreter fand, war er nicht mehr aggressiv, er war aber auch durchaus macht- und einflußlos, während alle oder doch die meisten deutschen Landeskirchen damals noch in den Banden der früheren Richtung lagen; das kirchliche Leben war in frischem, kräftigem Aufblühen; die theologische Facultät in Erlangen war in der erfreulichsten Entwicklung begriffen und stand hochgeachtet unter ihren Schwestern in Deutschland da; eine solidare Einheit zwischen Kirchenregiment, theologischer Facultät, Geistlichkeit und den Generalsynoden bildete sich mehr und mehr heraus. Die Folgezeit baute auf dem gelegten Grunde fort, wenn auch sofort mit dem Rücktritt Roth’s separatistische und später restaurative Tendenzen, welche die zarte Grenzlinie des Berechtigten oder Erlaubten überschritten, Störungen veranlaßten. Ich rede hier von der protestantischen Kirche diesseits des Rheins; von der unirten Kirche der Pfalz, welche im J. 1848 ihr Verhältniß zum Oberconsistorium löste und fortan ihre eigenen Wege ging, möchte ich hier überhaupt absehen.
R. war als Präsident des Oberconsistoriums auch Mitglied der ersten Kammer der bairischen Ständeversammlung, der sogenannten Reichsrathskammer. Auch nach dieser Seite entfaltete R. eine bedeutende, in manchem Betracht glänzende Thätigkeit; der kirchliche Würdenträger trat hier zugleich als Staatsmann im besten Sinne des Wortes auf. Ohne den Mittelpunkt seines kirchlichen Amtes aus dem Auge zu verlieren, beschrieb er bei seltener Kenntniß und Erfahrung auch auf andern Gebieten einen ungemein weiten Kreis. Sehr Ideales und sehr Reales zugleich behandelte R. in seinen häufigen Vorträgen und Reden. R. hat eine Auswahl derselben vom Jahre 1828 bis 1847, München 1852, herausgegeben; diese Auswahl ist für die Kenntniß der Zeitgeschichte ungemein lehrreich und enthält eine Fülle tiefgehender Erörterungen voll gesunden, historisch fundamentirten Urtheils. R. beleuchtete hier die Bedeutung der Kirche und ihre Stellung zum Staate nach den verschiedensten Seiten, er sprach aber auch über Gewerbsteuer, Gewerbwesen und Gewerbfreiheit, über Lehenwesen, das Preßgesetz, über die Schule und das Zollwesen. R. behauptete nicht bloß den wichtigen Einfluß der Religion auf „die moralische Bildung der Unterthanen“, sondern bezeichnete jene geradezu als den „Grundstein der bürgerlichen Gesellschaft“, das alte Heidenthum habe dies vielleicht besser eingesehen als die Christenheit des 19. Jahrhunderts, wobei er ein Wort von Horaz anführte. Vortrefflich sind Roth’s Bemerkungen über eine vom Oberconsistorium eingereichte, von Grupen vorzüglich verfaßte Beschwerde über die wie es schien vom Ministerium in einem Erlaß vorausgesetzte unbedingte Abhängigkeit des Oberconsistoriums von dieser Staatsstelle im J. 1831. R. behauptete: „Die andere Stelle von der Unterordnung des Oberconsistoriums unter das Ministerium des Innern steht mit der verfassungsmäßigen Autonomie der protestantischen Kirche ebensowenig im Widerspruche. Unterordnung schließt keineswegs uneingeschränkte Macht des Vorgesetzten in sich; vielmehr ist in allen gesellschaftlichen Systemen und Hierarchien die Zuständigkeit jeder Sphäre so abgemessen, daß die höhere darein nicht eingreifen kann, ohne daß sie darum aufhört, die höhere zu sein. Wenn das Oberconsistorium dem Staatsministerium des Innern untergeordnet erklärt wird, so ist ihm dadurch die verfassungsmäßige Selbständigkeit so wenig [327] geschmälert, als den Gerichtsbehörden durch ihre ganz unzweifelhafte Unterordnung unter das Justizministerium.“ Vortrefflich sind hierbei seine Aeußerungen über den sogenannten Summepiscopat: „Wer einräumt, originär oder in der Idee sei das protestantische Episcopat mit der Staatsgewalt verbunden, ist dabei weit entfernt, eine effective oder active Verbindung einzuräumen, welche nie gewesen ist und nie sein konnte. Sie besteht sogar in England nicht, wo der König anerkanntes Haupt der bischöflichen Kirche ist. Jene Verbindung ist ungefähr derselben Natur wie die Vereinigung aller Gewalten, auch der richterlichen, in der Person des Monarchen. Unsere Verfassung sagt: Die Gerichtsbarkeit geht von dem Könige aus. Dieses Ausgehen von ihm hat mit der Verbindung des Episkopats mit der Staatsgewalt die größte Aehnlichkeit; nur daß das bischöfliche Amt dem Königthume noch etwas ferner als das richterliche steht“. Mit großem Freimuth redete R. vor der überwiegend streng katholischen Versammlung von „dem seltsamen Wahn von einer Selbstauflösung des Protestantismus“, offen sprach er von den Verlusten, welche beide Confessionen im Laufe der Zeit an Kirchengut erlitten und die hiermit zusammenhängende Verbindlichkeit des Staats, für den Unterhalt der Geistlichen zu sorgen, auf Grund des Reichsdeputations-Schlusses von 1803 § 35 für die katholische, und kraft des Religionsfriedens von Augsburg von 1555 § 19 und 21 für die protestantische Kirche. Wie viel treffendes bieten seine Aeußerungen auch über andere Gebiete! Besonders eindruckvoll mußten die häufigen historischen Reminiscenzen sein, mit denen er seine Voten würzte, so wenn er bei den Verhandlungen über die Censur die höchst charakteristischen Worte des „größten Demokraten des Jahrhunderts“, des Thomas Jefferson anführte, oder wenn er sein Plaidoyer für möglichste Freiheit des Gottesdienstes mit den Worten schloß: „Die Zeiten sind vorbei, wo die Gefahr von dort kam; nicht aus einem Betsaale, sondern aus einem Wirthshause ist der 14. Juli 1789 aufgegangen“. Allerdings ist so manches von dem, was R. damals äußerte, von der Zeit überholt worden. Es gibt ja Forderungen, die trotz der mit ihrer Erfüllung verknüpften Uebelstände schon aus dem Grunde zu bewilligen sind, weil deren Ablehnung die Quelle noch weit größerer Uebel wäre. R. war nach seiner ganzen Richtung conservativ, aber der Stabilität und dem Absolutismus hat er nie das Wort gesprochen. Bezeichnend ist, was er schon im J. 1828 bei der Debatte über Einführung von Landräthen sprach: „Wo die Gesammtheit, von dem Gefühle eines gewissen Bedürfnisses durchdrungen, dasselbe äußert, heißt es mit Recht: vox populi vox dei, obgleich über die Mittel der Befriedigung viel Irrthum mit unterlaufen kann, und daher hierüber der öffentlichen Stimme weit nicht dasselbe Ansehen gebührt als über das Dasein des Bedürfnisses selbst.“ R. war auch nach dieser Seite gründlichst in die Schule der Geschichte gegangen. Burke, Canning, Wellington waren ihm Muster solcher Staatslenker, welche, im Widerstehen wie im Nachgeben und Gewähren gleich groß und stark, unserer Zeit gezeigt hätten, wie man erhaltend fortschreiten und im Fortschreiten erhalten solle. Von derselben Grundlage war er ein abgesagter Feind von allem Phrasenhaften, Gemachten und Verworrenen. Er geißelte öffentlich die vielfache Beherrschung der Zeit durch Stichwörter: „einerseits: feudal, mittelalterlich, zurückbleibend, rückgängig; andererseits: Entfesselung, Neuzeit, Fortschritt, Licht; das hat, so wenig dabei oft gedacht wird, über die meisten eine zauberische Gewalt.“ Was er selbst sprach, hatte oft genug weniger das Gepräge des Parlamentariers des 19. Jahrhunderts als des antiken Redners.
R. war überhaupt ein Jünger des classischen Alterthums und brachte die classische Bildung in Wort und Schrift, in Art und Charakter zum Ausdruck, wie es wol nur bei wenigen in diesem Jahrhundert in Deutschland der Fall [328] war. Immer und immer wieder trat er für die Bedeutung des classischen Alterthums als der Grundlage unserer höheren Bildung ein. Nicht die philologische Beschäftigung mit den Alten, sondern diese selbst waren ihm die Hauptsache; die großen Autoren, meinte er, theilen ihrem Diener bei anhaltendem Dienst etwas von ihrem Wesen mit. Es war zuerst der Grad und die Art geistiger Anstrengung, welche das Eindringen in die alten Sprachen erfordert, was er als bildend für den Geist erkannte. Dann aber, meinte er, könne das Vermögen, fremde Gedanken vollständig aufzufassen, eigene mit Consequenz zu bilden, durch das Reden und Schreiben Ueberzeugung zu erwecken, könne auch die Reinheit und Schönheit der Sprache, der richtige Geschmack, niemals durch Regeln, wol aber und allein und gewissermaßen unbewußt dadurch gewonnen werden, daß man sich in die Alten, und zwar noch mehr in die Griechen als in die Lateiner, hineinlebte. Nur in den Meisterwerken des Alterthums, sagt er in seinen Vorträgen, ist der Same einer Bildung zu suchen, die eine menschliche im vollen Sinne des Worts zu nennen ist. „Die Humaniora“ blieben auch in der Zeit bitterer Entzweiung um die kirchliche Gewalt ein von den Streitenden hochgeachtetes Gemeingut, das viel dazu wirkte, daß der Zwist der Völker nicht in gänzliche Scheidung ausschlug. Unter dem Einfluß der classischen Studien vornehmlich brachte zuerst England und Frankreich, später Deutschland eine eigene Litteratur hervor. Er tadelt ausdrücklich die von inniger Bekanntschaft mit den großen Meistern des Alterthumes entfernende, mehr zu Aeußerlichkeiten, die zwar auch zum Theil sehr schätzbar sind, ablenkende Richtung, wo mehr an den alten Schriftstellern gearbeitet, als in sie eingedrungen, und mehr auf Kennen als Insichaufnehmen, mehr auf mannigfaches Wissen als auf Bildung ausgegangen wird. Was uns in Abhängigkeit von den Alten hält, ist ganz vorzüglich die unübertroffene Vollendung ihrer Form, wie in der bildenden Kunst, so in der Rede; und daß sie in jener ohne Widerspruch Muster sind, würde sie allein schon auch in dieser dazu beglaubigen. Sehr richtig ist gewiß auch die Behauptung: „so wenig das Handwerk unabhängig ist von Wissenschaft und Kunst, oder gar mit ihnen einerlei; von denen es vielmehr zu lernen hat, und desto mehr lernt, je blühender sie sind; ebensowenig kann die niedere Bildung, welche man die allgemeine nennt, ihrer natürlichen Abhängigkeit von der hohen entzogen oder dieser gleichgestellt werden, von welcher sie vielmehr, damit sie nicht stocke und schwinde, unablässig zu empfangen hat, und desto mehr empfängt, je kräftiger diese wurzelt, und sich ausbreitet.“ Die eigentlichen Bildner der Menschheit sind ihm aber die Griechen; die höchste Bildung, zu welcher je ein Volk gediehen ist, findet sich unter ihnen. Aber nicht Vollkommenheit überhaupt, sondern nur bestimmte Vorzüge vor anderen sind auch diesem Volke zuzuschreiben. Homer, Thucydides, Horaz, Tacitus blieben ihm die liebsten Autoren. Ilias, Odyssee, Virgil’s Georgika ließ er sich etwa von seinem 58. Jahre an der Reihe nach alle Morgen vorlesen, und der Seinigen wegen, die dabei waren, auch die Vossische Uebersetzung dazu. Es wehe ihn, sagte er, wie die frischeste Morgenluft an, wenn er in der Frühe Homer’s Stimme vernehme. Mit den Alten lebte er so ununterbrochen fort, daß er auch Nachts, wenn er wachte, sich bedeutende Stellen ihrer Werke vergegenwärtigte. Er wußte deren unzählige auswendig; wo ihm aber ein Wort fehlte, mußte er vom Bette aufstehen und nachschlagen; sonst hätte er den Schlaf nicht mehr gefunden. R. war überhaupt in seiner geistigen und gelehrten Thätigkeit von einem riesigen Gedächtniß unterstützt; gelegentlich konnte man ihn in einer Abendunterhaltung große Stücke aus einer französischen Uebersetzung eines aeschyleischen Dramas vortragen hören.
Das lateinische Sprachidiom hatte R. sich in hohem Maße angeeignet. [329] Davon zeugt außer seiner Promotionsschrift die Laudatio auf seinen Vater, Stuttgart 1814, auf Professor Drück vom Jahre 1807, besonders aber die Schrift: Friderici Rothii J. U. D. de bello borussico commentarius, Stuttgart 1808, in welcher die Geschichte des traurigen, durch die Katastrophe bei Jena entschiedenen Krieges ebenso, wie die Ursachen des innern Verfalls und der momentanen Auflösung der Monarchie des großen Friedrich in einer dem Geiste und selbst der Latinität des Julius Cäsar würdigen Weise, wie Friedrich Thiersch urtheilt, kurz und eindringlich geschildert werden. R. war aber fern von bloß äußerer Nachahmung der Alten und sklavischer Abhängigkeit von ihnen. Er wußte, was er von den Alten gelernt, auch auf den deutschen Sprachgeist überzutragen. Die deutsche Litteratur hat nach dem competenten Urtheil Thiersch’s weniges, was sich an Gesundheit und Geist des Urtheils und an formeller Abrundung und Vollendung des Stiles mit seinen Schriften messen könnte. R. hat übrigens verhältnißmäßig wenig geschrieben; am charakteristischsten für ihn ist „Die Sammlung etlicher Vorträge in öffentlichen Sitzungen der k. Akademie der Wissenschaften zu München in den Jahren 1812, 1814, 1817, 1822, 1825, 1827, 1830; Erlangen 1851“, aus denen wir bereits manches angeführt haben. In einzelnen dieser Vorträge wie dem über Thucydides und Tacitus, vergleichende Betrachtungen, über die Schriften des M. Corn. Fronto und über das Zeitalter der Antonine, über den Nutzen der Geschichte, in der Lobschrift auf Johann v. Müller den Geschichtschreiber, gibt eine Würde und Größe der Darstellung, eine Hoheit der Auffassung und Gesinnung, in allen eine Inhaltsschwere bei knappster Form sich kund, die immer wieder Bewunderung erwecken. Ein schon in den dreißiger Jahren vollständig ausgearbeitetes Manuscript, die Geschichte der Deutschen von der Völkerwanderung bis auf Karl den Großen, hat er zu vernichten befohlen; ein umfassendes Werk über die Geschichte der Hohenstaufen war in der Anlage vorhanden, ist aber durch die Erscheinung anderer Werke über diesen Gegenstand unterbrochen worden, nur einige Partien sind ausgearbeitet unter seinen Papieren gefunden worden. „Beiträge zur deutschen Geschichte“ hatte der Verleger schon in dem jüngsten Meßkatalog angekündigt gehabt. Infolge gehäufter Berufsgeschäfte erschien aber nur die geistvolle Abhandlung: „Hermann und Marbod“, Stuttgart 1817. Besonders bemerkenswerth ist hier die Schärfe der Quellenkritik, welche R. übt; er spricht von den frechen Uebertreibungen des Vellejus Paterculus und der wahrhaft hündischen Erniedrigung vor den Machthabern seiner Zeit, wodurch dessen geschickte Feder entehrt worden sei.
Alterthum und Geschichte waren die beiden Pole, um welche die wissenschaftliche und gelehrte Thätigkeit Roth’s sich bewegten. Aus den Alten lernte R. Geschichte und Geschichtschreibung in erster Linie; mit seltener Ausdauer im Studium der Quellen verfolgte er aber den ganzen Verlauf der Geschichte bis auf die Neuzeit; so hat er sich, was nicht leicht einer nachthun wird, durch die Acta Sanctorum und durch sämmtliche Hauptschriftsteller des Mittelalters hindurch gearbeitet. Im J. 1835 übernahm er nach König Ludwig’s Wunsch die Herausgabe der damals beginnenden Münchener Gelehrten Anzeigen, in deren Devise Liba recuso, pane egeo er den Sinn ausdrückte, mit dem er die neue Zeitschrift einleitete und fortführte. Vieles darin ist von ihm selbst, vornehmlich Anzeigen bedeutender, sonst in Deutschland kaum bekannt gewordener englischer und französischer Werke.
Seine Studien entfremdeten R. der Gegenwart nicht, er verfolgte im Gegentheil im Lichte der Geschichte deren Erscheinungen mit der größten Aufmerksamkeit. R. war ein sehr scharfer Beurtheiler der Gebrechen seiner Zeit; er war aber nicht Pessimist. Den Wahrheitssinn des deutschen Volkes fand er zwar [330] geschwächt, aber nicht geschwunden; die geistigen Kräfte nirgends so groß und so mannigfaltig als hier, obwol durch ihre Zerstreuung minder wirksam; und vor allem hoffte er auf die unüberwindliche Macht des Christenthums.
Roth’s innere Stellung zu Christenthum und Kirche erheischt noch eine nähere Beleuchtung, um so mehr, als nicht immer ganz richtig nach dieser Seite geurtheilt wurde. Es gilt letzteres selbst von der trefflichen Schrift: Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Baierns. Ein demüthiger, inniger, kindlicher Glaube an die Wahrheit des Evangeliums begegnete sich in R. mit einer großartigen Anschauung über die völkererneuernde und völkererhaltende Macht des Christenthums. Schon in der Laudatio seines Vaters vom Jahre 1814 finden sich als religiöse Charakteristik desselben die schönen Worte: „Tale ingenium (erat enim erecto et feroci viribus animo) secreta vi et admirabili christianae doctrinae ita temperatum erat, ut non exuta natura verum superata misceret, quae dissociabilia persaepe inveniuntur, fortitudinem sibi fidentis, demissionem a Deo pendentis animi, acerrimos sensus atque mitissimos, opinionem de humana sapientia non exiguam, de divina summam. Tam potentem salutaremque in se ipse religionem expertus, ut integram castamque pueris traderet, ingenti studio enitebatur, infensus iis, qui cuncta ad intelligentiam trahendo dubitationem mature movent. Ille ante omnia reverentiam erga res divinas infinitam teneras in mentes imprimendam censebat; qui tanquam purissimus validissimusque sonus impleret animi recessus, quateretque horrore quodam simul et amore, quovis tumultu superior.“ R. hat hiemit ebenso wie mit der treffenden Beurtheilung Johann v. Müllers: „Ein treuer Bekenner des Christenthumes, dessen Geheimnisse ihn nicht beunruhigten; voll Ehrfurcht gegen die heilige Schrift, jedoch die Weisen unter den Heiden nach Verdienst ehrend; tief erkennend die ursprüngliche Einfalt der göttlichen Lehre, doch die späteren Entwickelungen und Zubildungen nicht allzumal verwerfend; sah er und verehrte diese Offenbarung im Zusammenhange mit dem vorangegangenen und nachfolgenden, in ihrem Ursprunge und in ihren Wirkungen, vornehmlich in ihrer wohlthätigen Verbindung mit dem Staate, theils der sichtbaren, vermittelst der Kirche, theils der unsichtbaren, durch Muth und Trost, Erhebung und Ergebung, welche aus ihr auch auf die bürgerliche Tugend kommen“, unwillkürlich sein eigen Bild gezeichnet. Er rühmt Müller auch nach, daß er den Glauben, dessen Verbannung selbst zur Glaubenslehre geworden war, in die Geschichtsforschung wieder eingeführt und ihm sein Gebiet neben dem Zweifel angewiesen habe; wie auch, daß er das verkannte, ja verhöhnte Mittelalter, ohne seine Fehler zu verbergen, in all seiner Herrlichkeit, er der erste, dargestellt habe. Das Christenthum hat, meint R. bei Schilderung der Völkerwanderung, ernster und milder, höher und herablassender, gebietender und einladender als alle Weisheit der Heiden durch Einheit des Glaubens nicht der Herrschaft die Völker verbunden. Nicht zufällig erscheint es, daß Luther und Hamann eine so bedeutende Anziehungskraft auf ihn geübt. Das specifische Wesen, der Grundcharakter der deutschen Reformation, in den auch Hamann tief eingetaucht war, muthete ihn vor allem an, so fern er von jeder confessionellen Engherzigkeit war. Ungemein treffend hat R. an dessen Grabe der geistvolle und zugleich sehr nüchterne Burger, damals Decan, später Oberconsistorialrath in München, mit den Worten beurtheilt: „Zwei Mächte waren es, die gegenseitig sich aufwiegend und ergänzend seine ganze Bildung durchdrangen und bestimmten: die ruhige Klarheit und sichere Würde des classischen Alterthums, mit dessen besten Gaben er seinen Geist erfüllet hatte von Kind auf, und das als treuer Begleiter und vertrauter Freund seine Muße kürzte bis zum Ende; – und die geheimnißvolle Majestät des Wortes und der Kirche Jesu Christi, der [331] er diente mit seiner besten Kraft und welche den Kranz dankbarer Erinnerung auf seinen Sarg legt für alles, was ihr durch ihn geworden ist, was nur ein Mann von seiner Festigkeit, seiner unerschütterlichen Glaubenstreue und rücksichtlosen Entschlossenheit in einer Zeit vielfacher Schwankungen und großer Gährung ihr gewähren konnte. Er hat seine Kirche geliebt als ein dankbarer treuer Sohn, und sie hat ihn geziert mit dem Schmucke ihrer tiefsinnigen Einfalt und lichtvollen Klarheit; alle Gaben der Erkenntniß und Zucht und Frömmigkeit, in deren Ausstattung sie einst aufgetreten ist und ihren Segen ausgegossen hat auf die Welt, ob auch unähnliche Nachkommen ihn verachten, die waren seinem Geiste eingeprägt und werth von Jugend auf und gingen von ihm über auf die Seinen. Er sprach nicht viel von Christenthum und Religion. Er achtete es männlicher dafür zu handeln, darnach zu thun; auch ohne Worte wußte Jedermann, wes er in dieser Hinsicht zu ihm sich versehen durfte; denn das Christenthum war der Grundton des Charakters bei ihm, der verbirgt sich Niemand.“
Nach der religiösen Seite war R. viel durch den Präsidenten der k. Akademie der Wissenschaften, Friedrich Heinrich v. Jacobi, angeregt und gefördert worden, ungeachtet der edle Greis es selbst beklagte, daß er sich das Positivste im Christenthum nicht aneignen könne. R. war Jacobi bis zu dessen Tode mit der Pietät und Hingebung eines Sohnes zugethan; auch mit Breyer, Schelling, Thiersch stand R. in lebhaftem Verkehr. R. zog sich übrigens schon früh ganz auf sein Haus zurück; nur zur königlichen Tafel ließ er sich laden. Sein eigenes Haus war aber ein Mittelpunkt edelster Geselligkeit; seine nächsten Hausfreunde waren Heinrich Schubert, Niethammer, später auch Dollmann. Die Geistlichen und Candidaten Münchens gingen im Roth’schen Hause aus und ein; ein oder der andere unter den letzteren speiste etwa täglich bei ihm; auch fremde Gelehrte fanden stets willigste Aufnahme; so manchem unvergeßlich sind die bei R. zugebrachten Abende. Er waltete hier wie ein Patriarch voll Herzlichkeit und Ungezwungenheit, aber auch voll Würde und Gewicht, altes und neues aus dem ungeheuren Schatze seines Wissens darbietend, mit feinem Urtheil, mit attischem Salz die Unterhaltung würzend. Als Leopold Ranke einen Abend bei R. in ausgewähltem Kreis zugebracht, soll er bewundernd ausgerufen haben: Das ist der bedeutendste Mann in München. Sein Tisch war ohne Prunk wie alles in seinem Haushalt, seinen Weinen wendete er jedoch fast ein Studium zu und lud seine Gäste ein, an demselben theilzunehmen.
Von Natur heftig und zufahrend, arbeitete er in der Weise an sich selbst, daß er mit den Jahren immer schonender und milder wurde. Auf Geschäftsformen legte er den ihnen gebührenden Werth. Als bei Bewilligung eines von ihm erbetenen Urlaubs in der Ausfertigung das Prädicat Herr weggelassen war, schrieb er sofort unter das Rescript: zuerst an die Ministerialkanzlei zurückzugeben, damit das fehlende Prädicat Herr gehörig beigesetzt werde, was dann auch geschah. Die Ueberlegenheit seines Geistes, die Hoheit seines Wesens hatte für viele etwas Fernendes; wer ihm aber näher treten durfte, gegen den konnte er eine Liebe, Innigkeit, Hingebung, ja Zärtlichkeit entfalten, die mit Zügen tiefster Dankbarkeit sich in die Herzen senkten. Der ernste Mann, der wohl auch catonische Strenge üben konnte, hatte ein tiefes, reiches, herrliches Gemüth.
In edelster Weise offenbarte dies R. in dem schönen Familienkreis, der ihn umgab. R. war seit 1809 mit Katharina Merkel, Tochter des Marktvorstehers Paul Wolfgang Merkel zu Nürnberg, verheirathet; 33 Jahre lang lebte er mit ihr in solcher Herzensvereinigung, daß sie ihm nach seinem eigenen Ausdrucke pars animae wurde. Von seinen sechs Kindern überlebten ihn vier; sein ältester Sohn, bekannt durch seine Reisen im Orient, wurde zu Hasbeia am Fuße des [332] Antilibanon von einem hitzigen Fieber weggerafft; der zweite ist der noch lebende berühmte Rechtslehrer an der Universität zu München. Eine Tochter von hoher Begabung und Geistesbildung, dem Vater besonders wahlverwandt, starb als Witwe des Professor Dollmann, die ältere, unverheirathet gebliebene Tochter lebte von Liebe und Wohlthun und starb in fröhlichster Bereitschaft für die himmlische Heimath.
Eigenthümliche Abgeschlossenheit, eine unwillkürliche Neigung, die breite Heerstraße in Sitte und Brauch zu meiden, ist ein Grundzug im Charakter Roth’s. R. ist nach seinem Aufenthalt zu Paris im J. 1804 niemals im Theater gewesen; erst in seinen letzten Jahren konnte er sich entschließen, die Eisenbahn für die Reise nach einer kleinen Besitzung, zwischen Nürnberg, Fürth und Erlangen gelegen, zu benützen; er wußte der dortigen Gegend Reize abzugewinnen, welche ihn auf den Aufenthalt in dem nahen Gebirge verzichten ließen. In München selbst erholte er sich nur in seinem Garten. R. verstand es aber auch, die stille Welt, in der sein äußeres Leben sich bewegte, nach seinem Geschmack zu gestalten und seinem Bedürfniß zu assimiliren. Eine liebende Achtsamkeit auch auf das Kleine im Leben und in der Natur zeichnete ihn aus; er erfreute sich am Gesang der Vögel, an dem Blühen und Reifen des Weinstockes und anderem. Man hat von süddeutschen Originalien gesprochen, R. war durchaus ein Original; eine seltene Geisteskraft und Gemüthstiefe, ein hoher Adel der Gesinnung war von charaktervollster Eigenart getragen; so manches, selbst der nie ganz verleugnete Dialect erinnerte an seine schwäbische Heimath, obwol er seinem engeren baierischen Vaterland mit ausnehmender Liebe und Treue ergeben war. Es ist nicht zu leugnen, daß Roth’s weitgehende Absonderung von Leben und Gewohnheit der Zeitgenossen, der immer stärkere Rückzug auf sich selbst und den häuslichen Kreis ihm zumal in spätern Jahren Verhältnisse und Persönlichkeiten nicht immer im richtigen Lichte erscheinen ließen. Er fühlte das selbst und wendete öfters das Wort des 120. Psalms auf sich an: „Wehe mir, daß ich ein Fremdling bin unter Mesech; ich muß wohnen unter den Hütten Kedars.“ Andererseits konnte es auch nicht fehlen, daß er um dieser Eigenschaften willen je länger je mehr von manchen Seiten mißkannt wurde.
Die Bewegung des Jahres 1848 hat R. von der Stelle gerückt, die er zum unverkennbarsten Segen für Kirche und Staat zwanzig Jahre innegehabt. Am 20. März d. Js. hatte König Ludwig I. die Regierung niedergelegt. Schon am 1. April wurde R. unter dem Ministerium Beisler „mit Rücksicht auf sein hohes Lebensalter unter wohlgefälliger Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste“ in den Ruhestand versetzt. R. war damals, obwohl schon 68 Jahre alt, noch bei ungeschwächter Kraft. Nach vorliegendem glaubwürdigen Bericht sagte König Ludwig laut, so daß manche Anwesende es hörten: „Das hätte ich nicht gethan.“ R. ertrug den harten Schlag mit christlichem Gleichmuth. Erst sieben Monate später ergriff ihn Unwille und Entrüstung, als der schriftliche Antrag zufällig in seine Hände gerieth, durch welchen der edle König Max II. zu dem Schritte der Ruheversetzung gebracht worden war. Nach wenig Wochen schon berief ihn der König jedoch in seinen Staatsrath, ohne die versuchte Weigerung anzunehmen. Nachdem aber R. sein 50. Dienstjahr erfüllt hatte, begehrte er den Ruhestand und erhielt ihn, wenn auch ungern, vom König Maximilian II. bewilligt, jedoch mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß der König nach wie vor sich seines Rathes in wichtigen Geschäften bedienen werde, was auch geschehen ist, bis er am 21. Januar 1852 nach fast vollendetem 72. Lebensjahre infolge einer an sich leichten Krankheit durch rasch hinzugekommene Abnahme der Kräfte starb.
An Auszeichnungen hat es R. nicht gefehlt; schon im J. 1831 war er [333] Staatsrath im außerordentlichen Dienst geworden, 1822 Ritter des Civilverdienstordens der baierischen Krone, 1837 Comthur des Civilordens, 1840 Großkreuz des Verdienstordens vom heiligen Michael.
Im ganzen und großen wurde R. jedoch während seines Lebens und Wirkens nicht nach Gebühr gewürdiget; auch bei seinem Tode entsprach die kundgewordene Theilnahme, selbst innerhalb der kirchlichen Kreise, nicht seinem hohen Verdienst. Mehr und mehr bricht sich jedoch eine gerechtere Würdigung Bahn. Wird die großartige Vielseitigkeit Roth’s ins Auge gefaßt, seine ausnehmende Tüchtigkeit auf den verschiedensten, sonst getrennten Gebieten, seine seltene, gelehrte Vertrautheit mit Alterthum und Geschichte, die ihm zur andern Natur gewordene harmonische Verbindung antiker und christlicher Anschauung, die vollendete Form seiner schriftstellerischen Leistungen, so wird das Urtheil nicht fehl greifen, daß Süddeutschland unter den Männern des öffentlichen, des staatlich kirchlichen Lebens wenige seinesgleichen in diesem Jahrhundert aufzuweisen hat.
- Friedrich v. Thiersch’s Rede zur 93jährigen Stiftungsfeier der k. Akademie der Wissenschaften vom 27. März 1852 (Biographische Nachrichten über die Akademiker von Reichenbach, von Fraunhofer und von R.), München 1852. – Zur Erinnerung an Karl Johann Friedrich R. u. s. w.; ein Vortrag zur Eröffnung der 16. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner im Saale des Ständehauses zu Stuttgart am 23. September 1856, gehalten von Karl Ludwig R., Th. Dr., Oberstudienrath, Gymn.-Rektor, Stuttgart 1856. – Der Artikel über R. in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, erste Auflage XX, Gotha 1866, S. 618–627; zweite Auflage XIII, Leipzig 1884, S. 71–79, vom Oberconsistorialrath D. v. Burger. – Thomasius, Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns, ein Stück süddeutscher Kirchengeschichte, Erlangen 1867.