Am Lethestrom
Ein wunderholder Maitag in den fünfziger Jahren war’s. Tiefblau spannte sich der Himmel wie mit nie von ihm versagter Huld über die blüthengesegneten Ufer der Elbe. Es war die Zeit, wo in einem gewissen Orte, zu Leipzig im Sachsenlande, der Sturm nur allzugewaltig in Blüthenhoffnungen Jahr ein Jahr aus einzubrechen pflegt, während dagegen andere kräftig aufgehen und allerdings wohlschmeckende Früchte bringen: Die Buchhändler zogen zur Leipziger Messe. Aber viele vergaßen manche trübe Erwartung, die ihrer am Abrechnungstische harrte, und Einer der Trefflichsten, die je einen Autor mit den Worten: „Ich bin gern bereit –“ beglückt haben, der frühgeschiedene Eduard Trewendt von Breslau, besuchte mich, froher Erwartung voll, mit dem mir schon aus früheren Zeiten bekannten Jugendschriftsteller Franz Hoffmann. Sie luden mich zu einem Abendimbiß, vielleicht auf der Brühl’schen Terrasse oder im Hôtel, ein. Die Bestimmung des Ortes wurde noch offen gelassen. Gustav Nieritz würde der Vierte im Bunde sein.
Den allbeliebten Jugendfreund, dessen Wirkungen ich selbst als Familienhaupt täglich erproben konnte, wenn mich gute Laune nach Hause kommen ließ mit einigen im Buchladen mitgenommenen Bändchen „Nieritz’scher Erzählungen“ (die sofortige Lectüre unterdrückte fast den Ausdruck des vollen Jubels) – diesen Zauberer von Seligkeiten der Unterhaltung, ich hatte ihn persönlich noch nicht gesehen. Und wir wohnten doch in einer und derselben Stadt! Aber die Dresdener Elbbrücke ist das, was nach den Franzosen der Rhein sein soll, eine Scheidewand zwischen Nord und Süd wie der Rhein zwischen West und Ost. Der freundliche Schlenderweg, von dem aus man sich in die schönsten Fernsichten verlieren kann, auf die stumpfen Basaltkegel der sächsischen Schweiz hier, auf die freundlichen Meißner Weinberge dort, ist diese Brücke nicht immer. Viel öfter noch schrecken Sturm und Regen ab, sie zu betreten. Und wer möchte auch einen Schulmann aus seinem stillen Gärtneramte abrufen, ihn stören, wenn er gerade das aufgeschlagene Lesebuch, seinen Spaten, in der Hand hält und mitten im Verlesen des geistigen Unkrauts auf seinen Beeten begriffen ist! Sonntags fesselt dann den Verwalter einer kleinen Schule in der Dresdener Neustadt seine Muse oder sie lockt ihn hinaus in eine schöne Gegend, die duftigen Waldgründe am „weißen Hirsch“, auf die von Lerchenwirbeln umschwirrten Höhen, mit denen die Natur Dresdens Umgebung geschmückt hat.
Ein solennes Mahl erwartete uns. Da es Champagner geben sollte, wurde die Scene nicht in die Oeffentlichkeit, sondern in ein Hôtel verlegt. Ein besonderes Zimmer bot da die sicherste Traulichkeit und die Abwesenheit aller Kritik für einen unter dem Disciplinargesetz stehenden Beamten. Nieritz erschien, schon von den Spuren des Alters gezeichnet, von den Zeichen der Mühe seines Schulamts, gefurchten Antlitzes. Aber sein Geist war frisch und rege. Der anwesende süddeutsche Mitarbeiter im gleichen Fache, Franz Hoffmann störte ihn nicht. Sie waren freundschaftlich verbunden. Hoffmann’s Weise war eine andere. Dieser wirkte mehr auf die Einbildungskraft der Kinder, jener auf das Gemüth.
Ein Gespräch zwischen Schriftstellern und einem unternehmungsfreudigen gebildeten Verleger, wie Trewendt war, konnte sich zumeist nur auf die Aeußerlichkeiten des literarischen Wirkens ausdehnen. Zwischen dem köstlichen Lachs, den Hühnern, dem Rehbraten – (die Küche des Monats Mai ist bekanntlich die Sorge aller Speisezettelerfinder; der Mai ist der unergiebigste Proviantmeister der Natur) zwischen Rheinwein und dem unerläßlichen Wein des Victoriaschießens (eben Trewendt hatte ja gute Treffer mit seinen beiden Kinderpoeten gemacht) gab es fast nur die Erörterung der literarischen Chronik des Tages. Nieritz fand mich heimisch in seinen ersten Anfängen. Ich wußte, wie seine kleinen Geschichten erst in der Berliner Kochstraße, im „Gesellschafter“, in der Vereinsbuchhandlung des Professor Gubitz erschienen, wie er jede seiner Geschichten um „ein Ei und ein Butterbrod“, wie man in Hamburg sagt, hingab, bis sich der mir wohlbekannte Professor der Holzschneidekunst, Redacteur, Dichter, Recensent, Buchhändler, ein sächsischer, nach Berlin verpflanzter Landsmann Gustav Nieritz’s, entschloß, für eine zehn Druckbogen füllende Erzählung ein für allemal hundert Thaler zu geben. Erst spätere Anknüpfungen erlösten den wackeren Mann aus diesem Plantagenverhältnisse. – Ab und zu erhob sich denn doch der Thatsachen- und Gedankenaustausch in idealere Regionen. Es galt dann Betrachtungen über die Fassungskraft der Kinder, über den Geschmack der Jugend, der meist so grundverschieden von dem der Alten sei, über die Geheimnisse der Erzählungskunst. Aus diesem Bereiche unserer Gespräche will ich eine Aeußerung des ehrwürdigen Kinderfreundes, der vor Kurzem die Augen geschlossen hat, wie eine in den Strom der Vergessenheit gefallene Blüthe zu retten suchen. Ich will fast wortgetreu wiedergeben, was damals Nieritz über die Wahl seiner Stoffe sagte.
[316] „Wenn ich mich wohl rühmen kann,“ sprach der allbeliebte Erzähler im Tone der Bescheidenheit, „daß ich die Art getroffen habe, die den Kindern wohlthut, so will ich auch sagen, wie ich meine Stoffe finde. Ich nehme nicht das erste Beste und mache den Kindern auf Gerathewohl eine Geschichte vor. Ich muß schon vorher einen Prüfstein der Wirkung haben. Diesen finde ich bei meiner Lectüre. Ich lese Geschichtswerke, Reisebeschreibungen, Biographieen; ich lese aufmerksam täglich die Zeitung. Begegnet mir da etwas, was mich anzieht, so lese ich langsamer, und rührt mich dann etwas, so halte ich inne. Hat mich etwas gerührt, hat mir etwas die Thräne in’s Auge gelockt, da weiß ich sogleich, es strömt meine Quelle. Beziehungen auf Umstände, die diese Wirkungen hervorgebracht haben, sind dann leicht erfunden; ich habe einen Kern, und nun suche ich die passende Schale dazu; die wird manchmal ganz anders, als der Anlaß gewesen, der mich gerührt hatte, z. B. bei einem unerwarteten Edelmuthe, einem nie gehofften Wiedersehen. Aber die Factoren des psychologischen Momentes, diese müssen wieder ganz so herauskommen, daß sie dasselbe Seelische erzeugen, das sich mir aus einer ähnlich vor sich gegangenen Geschichte ergeben hatte.“
Franz Hoffmann ist noch, wie ich an jedem Weihnachtstische der Buchhändler sehe, am Leben. Vielleicht ist sein Gedächtniß stark genug, mir die Wahrheit dieses Einblickes in das Gemüth eines echten Schulmannes und die schriftstellerische Technik eines berufenen Jugendschriftstellers zu bestätigen.
Die Kindesseele! Das Urgeheimniß im Menschen! Das Paradiesesheiligthum des keimenden geistigen Anfangs! Das war in den fünfziger Jahren fast eine Literaturparole geworden. Alles schrieb Jugenderinnerungen. War doch ein Mann aufgestanden, der geradezu erklärt hatte, die Gottheit ruhe im still bei seinem Spiele träumenden Kinde. Das „Buch der Kindheit“ von Bogumil Goltz führte vom rauschenden Gewühle des Tages, von den erbitterten Kämpfen der Parteien und Meinungen in eine uns umgebende, unmittelbar uns umrankende Märchenwelt zurück. Das Paradies sollte nach ihm in uns selbst liegen, wenn wir nur lauschen wollten auf diese wunderbaren Klänge, die aus der Jugendzeit zu uns herübertönten, sie nur sehen wollten, diese blitzenden Edelsteine einer geistigen Schatzkammer Aladdin’s in uns selbst. Sogar Rückert sollte in seinem Preise der Jugend noch nicht alle Siegel gelöst haben, die auf dem Evangelium der reinen Kindesseele ruhten.
Diesen Prediger der Kindesseele, Bogumil Goltz, hat kürzlich Robert Hamerling in Lindau’s „Gegenwart“ als einen Vertreter des „Pessimismus im Stadium der Tobsucht“ geschildert. Und seine Schilderung ist – wahr, vollkommen zutreffend; nur fehlen noch einige nähere Bezeichnungen, einige tieferliegende Erklärungen.
Es war Märzzeit. Sonnenschein und Hagelschauer wechselten noch. Heute herrschte Zephyr, morgen Boreas unter den Linden von Berlin. Ich wohnte im „Hôtel de Rome“, als ich eines Morgens durch ein heftiges Pochen an meiner Thür aus einer trüben hinbrütenden Stimmung geweckt wurde. Ich hatte gegen ein nicht enden wollendes Sausen im Ohre, das die Hörkraft zu vermindern drohte, die Hülfe des damals berühmten, später von den alle Tage auf neue Systeme kommenden Medicinern bei Seite geschobenen Kramer in Anspruch genommen. Sein Verfahren, eine complicirte Maschine durch die Nase bis nahe an die Hirnhöhlen zu führen und dann einen Aetherdampf operiren zu lassen bis an den Herd des Bewußtseins und das so einige Monate durchgeführt, wie er wollte – es war so abschreckend, daß ich nach sieben- bis achtmaliger Marterprocedur abzureisen beschloß.
Bei diesen Erwägungen mußte ich von dem heftigen Eintreten, der schnarrendscharfen Anrede im ost- oder richtiger westpreußischen Dialekt in allen Nerven erschüttert werden.
„Ich heiße Goltz, bin Gutsbesitzer und möchte Schriftsteller werden. Was rathen Sie? Wie fange ich das an?“
„Wenn Sie etwas Ordentliches geschrieben haben, suchen Sie einen Verleger!“ war meine Antwort. Ich erhob mich und machte ihm Platz, sich an meiner Seite niederzulassen.
„Ich stehe lieber,“ antwortete der schon bejahrte, grauschwarzhaarige Mann, dessen gebräunter Teint einem Südländer hätte angehören können. „Ich muß mich bewegen; das Leben ist mein Tummelplatz. In meiner Jugend war ich in Warschau, in den polnischen Wäldern, im Kriegsgetümmel. Da verschlug mich das Schicksal auf ein Gut, das ich ererbte, das ich selbst verwalten mußte, um es zu retten, mir es zu erhalten. Es liegt bei Thorn in Westpreußen. Lange, lange Jahre habe ich da zugebracht, unter dem Miste, unter Polaken, unter halbem Vieh. Aber im Winter, da schrieb ich. Der ganze Boden in meinem Hause liegt voller Manuscripte. Und nun müssen die endlich heraus. Ich bin bald fünfzig Jahre. Es ist die höchste Zeit.“
„Ihre Landsleute nehmen sich Zeit,“ sagte ich, der mir wahrscheinlichen Verblendung eines Autodidakten ausweichend; „auch Kant war, als er seine Kritik der Urtheilskraft herausgab, schon in den Fünfzigen.“ – – Man hat als Schriftsteller von einiger Stellung Gelegenheit genug, die Narrheit unentdeckter Genies, den Wahn angehender Schriftsteller kennen zu lernen. Noch hielt ich den Mann für überspannt und in einem traurigen Wahne begriffen; denn für jede Gattung Literatur, nach deren etwaiger Cultivirung ich ihn fragte, hatte er auf seinem westpreußischen Hausboden ein Belegstück, ob Komödie oder Tragödie, Roman oder Novelle, gleichviel; sein Lager bewies, er hatte sich in Allem versucht.
Inzwischen, wie Canarienvögel durch lautes Sprechen zum Singen gereizt werden, mußte nun auch ich aufstehen und suchen mit dem heftig auf- und niederschreitenden Manne, der jetzt anfing, Alles, was in der Literatur galt, für durch die Bank miserabel zu erklären, in eine bessere Fühlung zu kommen.
„Eines,“ rief ich ihm zu, als er eine lange Rede zu Ende gesprochen hatte, „Eines steht mir schon fest. Sie sind entweder zu einem katholischen Prälaten oder zu einem Schauspieler geboren.“
„Ich bin lutherisch,“ antwortete der Besuch mit dem Ausdrucke des Erstaunens und stillstehend. „Aber Schauspieler?“ meinte er erröthend. „Ich soll Iffland ähnlich sehen –“
„Diese markanten Züge!“ fuhr ich fort. „Diese plastische Form der Stirn, der Nase, das hervorstehende kraftvolle Kinn! Die umbuschten dunkeln Augen –!“
So zergliederte ich einzeln den Beruf der Natur zur Menschendarstellung, den ich hier antraf, kam aber bei den Augen und einem gewissen unheimlichen Feuer, das aus ihnen blitzte, auf den geborenen Domdechanten, den Inhaber einer Pfründe von zehntausend Thalern, wieder zurück. Der scharfe Königsberger Ei-Laut im Sprechen hatte mir auch die Vorstellung des Mönches Zacharias Werner vor die Sinne gebracht. Ich sah den Verfasser der „Weihe der Kraft“, wie ich mir diesen immer vorgestellt hatte, als derselbe, ein Landsmann von Goltz, eben noch von Iffland, ja von Goethe als möglicher Ersatz für Schiller gefeiert wurde und plötzlich auf die Kanzel der Augustinerkirche in Wien entfloh.
Nach einigen Erzählungen seiner Leistungen als Schauspieler bei Liebhabertheatern lenkte die wundersame Beredsamkeit meines Besuches, sein sprühendes, aber unheimliches, ja unwahres Auge, sein staunenswerthes Talent der Reproduction, des Anschaulichmachens seiner apartesten Stimmungen (in Allem sah ich, auch in der stattlichen Figur, dann wieder einen zweiten Schröder, einen Eckhoff, Iffland, leider mit dem Königsberger Ei!) allmählich wieder ausschließlich in die Jugendsphäre ein. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen vor Jammer, was von ihm über dieses Thema allein auf jenem Boden an der Weichsel läge. Die Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel war nichts dagegen.
„Ueber meine Jugend habe ich Bände geschrieben, Herr! Shakespeare kann von mir lernen. Affen sind’s, wenn die Menschen von Kindern sprechen. Jugendzeit – ha, das ist leicht gesagt, lieber Rückert. Aber sie empfunden haben bis auf das Rasseln der Nüsse im Sacke zu Weihnachten, bis auf den Duft der Aepfel, die auf den Teller unter dem Tannenbaum kommen sollen, ja, den Duft des Tannenbaumes noch jetzt einathmen mit Kindernasen- und ‑seelennerven! Herr Gott im Himmel, wo liegt denn all’ unser Ende im Leben anders als im Anfang! ‚Werdet doch wie die Kinder!‘ hat ja [317] schon Jesus gesagt. ‚Und so ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in’s Himmelreich kommen!‘“
Ich trommelte gedankenvoll auf den Fensterscheiben. Das Zimmer ging auf die Charlottenstraße. Gerade gegenüber lag das große Gebäude, wo ich selbst geboren bin, die Akademie. Jeder Fleck ringsum, vom jetzigen Wohnhause des Kaisers an bis zu Professor Hofmann’s chemischem Laboratorium, bis zur Universität und der Hegel-Büste, bezeichnete Spuren dieses Paradieses, das allerdings auch in mir lebendig geblieben war und das mich durch die beredte Schilderung und durch den Gegensatz zu späteren Zeiten nur rühren konnte.
„In seine Jugend soll man zurückkehren, wenn man im Alter den Weg verloren hat,“ fuhr Goltz fort. „Aus der Erinnerung an unsere Kindheit strömt uns Kraft zu, immer Mann zu sein. Als Kinder waren wir Riesen im Bergeversetzen, Feldherren im Schlachtenliefern, unerschrocken, muthig, warm und edel in der Freundschaft, treu in der Liebe.“
„Wir müssen Brockhaus in’s Interesse ziehen,“ riß ich mich von den Bildern meiner eigenen Jugendzeit los, von den Flotten, die mir da drüben ein Spahn auf einer wassergefüllten „Löschtiene“, von den Schlachten, die mir eine Knabenbalgerei in der Charlottenstraße vorstellte. Was mich erschütterte, erfuhr Goltz nicht. Interesse für Andere, das bemerkte ich sogleich, fehlte ihm gänzlich. Ob er nun mich anredete oder Theodor Mundt vor sich gehabt hätte oder Berthold Auerbach, es wäre ihm ganz einerlei gewesen. Er sah Jeden nur darauf an, ob er etwa der Colporteur seiner Interessen sein konnte.
Bogumil Goltzens dann erfolgtes literarisches Auftreten ist bekannt. Nach einer kurzen, höchst wohlthuend auf die der Erquickung so bedürftige pädagogische Welt, besonders der Volksschullehrer, wirkenden Periode brachte ihn Berlins wunderliches Treiben und Drängen erst zu einer Reise nach Aegypten, dann auf Vorlesungen über Allerlei, woraus sich ein reisendes Virtuosenthum als „Lecturer“ à la Boz und Thackeray entwickelte. Diese „Lebensart“ (eines seiner am häufigsten gebrauchten Wörter) brachte ihm keine Schätze ein. Dem Deutschen rollt das Blut nicht sensationell durch die Adern. Vorreiter und Zukunftsmusiktrompeter gab es auch anfangs bei ihm. Dann aber wurde alles stiller, bis ihm Friedrich Wilhelm der Vierte die noch auf der Kante eines Stolzenfels’schen Kamins liegen gebliebenen Freiligrath’schen dreihundert Thaler als Pension gab, die er einige Jahre lang genoß. Eine andre aus der Schillerstiftung kam hinzu.
„Der Pessimismus im Stadium der Tobsucht?“ – Allerdings! In der That konnte Goltz so rasen und Schiller und Goethe und Gott und alle Welt herunterhunzen, wie Hamerling beschreibt. Aber Hamerling hätte hinzufügen müssen: Es war alles das bewußte Schauspielerei. Es war ein Virtuosenkunststück durch und durch. Ein aufgezogenes Musikstück in einer Schweizer Kunstuhr! Bogumil Goltz war nur der Matador seiner selbst. Sein Ich war ihm die Welt. Er hatte das tiefste Gemüth für seine eigenen Zustände, aber nicht die Spur für fremde. Das war das Unheimliche, Zacharias Werner’sche, der Jesuit in seinem Auge. Er spielte nur Komödie und wiederholte hundert Mal dasselbe.
Auf jener Brühl’schen Terrasse, in jenem angenehmen Oval des Belvedere, wo sich so traulich mit Freunden beim Mahle plaudern läßt, wo man durch die rauschende Musik im unteren Geschoß nicht gestört und nur von dem Gefühl belebt wird, daß es noch eine heitere Welt giebt, saßen wir unser zehn bis zwölf von „auf Bogumil Goltz“ Zusammengetrommelten beisammen. Natürlich führte er allein das Wort und war ein Brillantfeuer an Laune und komischen Behauptungen. Immer höher gipfelten sich die Raketen, die er steigen ließ. Auf Champagner hatte ihn Niemand von uns setzen wollen. Er bestellte sich ihn selbst und rief dadurch den Wetteifer der Portemonnaies hervor. Das ging so eine Weile fort. Der Mond draußen leuchtete wunderbar. Die Sterne spiegelten sich in der sanft dahin rollenden Elbfluth. Die Musik hatte schon aufgehört. Auf dem Rundbogen, der sich um den Terrassensaal zieht, saßen noch fröhliche Gesellschaften, hier und da vereinzelte liebende Paare. Schon schlug es elf. Goltz war ein vollständiger Tänzer auf dem Seile der Dialektik. Er bewies, daß das Wirkliche Täuschung und die Täuschung das Wirkliche sei, daß die größten Männer zu früh der Zuchtruthe ihrer Lehrer entlaufen gewesen, daß die Menschheit nur ein Gesammtgehirn, wie ein Ameisenhaufen, hätte, dessen einzelne Bestandtheile er analysirte. Das ging so fort. Alles staunte, Alles horchte, bis er plötzlich – sozusagen vom Seil fiel und das Bein brach. Er konnte nicht weiter. Der Moment war geradezu für den, der ihn verstand, schreckhaft. Man fühlte das Stocken der geistigen Maschine. Sie hatte plötzlich Schaden gelitten. Ein Rad war gebrochen. Sie arbeitete nicht mehr. Der Unsinn schien vor sich selbst zu erröthen. Er blieb ihm wie ein unvollendeter Satz auf der Zunge liegen. Eine spätere Sammlung, gleichsam ein Zusammenbinden des vielleicht nur gerissenen Seiles schien von keiner Seite mehr möglich. Er selbst warf einen langen vielsagenden Blick auf meine Person. Es war der der äußersten Beschämung und Verlegenheit. Ich mußte an die erste Begegnung, an Shakespeare’s bekanntes Wort vom Schauspieler, der sein Stündlein abgespielt hat und still nach Hause schleicht, denken. Den unsrigen hatte vollends noch sein geheimer Souffleur heute im Stiche gelassen. Welche Stimmung – –! Seitdem habe ich den bei alledem originellen Mann nicht wiedergesehen.
Als kürzlich die Scheffel-Feier durch Deutschland brauste, trat an die Mitbewohner des deutschen Parnaß eine eigenthümliche Aufgabe heran. War ein Poet gleicher Meinung über den Gefeierten, wie die akademische und polytechnische Jugend, und stimmte doch nicht hörbar in den Chorus mit ein, so hatte die Conjecturalkritik Gelegenheit, auf Neid zu forschen. Dachte aber der Nichtgefeierte geringer von den Leistungen, die so enthusiastisch gepriesen wurden, so sagte ihm Gracian’s „Handorakel“ (bekanntlich die Moral der an der Tagesordnung befindlichen Schopenhauer’schen Philosophie): Zügle dein Urtheil! Es ist nicht immer an der Zeit, es auszusprechen.
Wie dem sei, ich erzähle ein Nonplusultra, wie sich Dichter geberden können, wenn andere Lieblinge Apoll’s, und noch dazu todte, gepriesen werden.
Friedrich Hebbel, der geistreiche, scharf combinirende Poet, der markige Dichter einer Epoche, die leider in der Poesie durchaus nur das Süßliche und Gemachte begünstigen zu wollen schien, war ein geborener Dithmarsche. Somit gehörte er einem Staate an, der von je Dichter geehrt hat, einem Staate, der in die deutsche Literatur, in Klopstock’s, Schiller’s Leben mit überraschenden Spenden eingriff, einem Staate, der auch noch jetzt Reisestipendien an hervorragende Talente austheilt und, wenn diese zurückkehren, für ihre weitere Versorgung und Auszeichnung sorgt, worunter allerdings der alte Zopf der Adelserhebung fehlt, denn das gemeinte Land hat keinen Adel. Es ist also nicht Deutschland, nicht Preußen oder Bayern, sondern Dänemark.
„Ich mußte selbst nach Kopenhagen,“ erzählte mir einst der bald im guten Bunde, bald auf der Mensur mit mir stehende Hebbel, „um mir auf drei Jahre die für literarische Ermunterungen üblichen sechshundert Reichsthaler zu erobern. Am Sund hatte man mich angeschwärzt. Der Director des Kopenhagener Hoftheaters war selbst Dichter, Professor Heiberg. Seiner Frau, einer unvergleichlichen Schauspielerin lag ganz Dänemark zu Füßen. ‚Emiliens Herzklopfen‘ ist ja auch bis zu uns gedrungen. Es war meinen Gegnern geglückt, mich mit meiner ‚Judith‘ den maßgebenden dänischen Potenzen als einen unbedeutenden Aufdringling darzustellen. Wenigstens schilderten sie mich so bei denen, wo die Entscheidung lag.“
Ich kannte Hebbel’s Fehde mit Heiberg. Er hatte in einer kleinen Schrift „Mein Wort über das Drama“ den Mund etwas zu voll genommen. Aber die Weise der Dänen war ja damit nur nachgeahmt. Denn wir Alle wissen, die neuen dänischen Skalden leisten im Erkennen der Schönheiten, die Gott ihrem Geiste verliehen haben soll, das Unglaubliche. Giebt es nicht zwei ganz verschiedene Lesarten selbst über den guten Christian Andersen, den kürzlich die Norne dahinraffte? Eine, der zufolge die kindliche, aus dem Reich der Elfen und Märchen stammende Natur des Dichters ganz so genommen wird, wie sich diese gegeben haben wollte, und eine andere, die nur einen mit Orden behangenen, von Fürstenhof zu Fürstenhof reisenden, eitlen, sich selbst überschätzenden Mann gesehen hat, einen Schwächling, dem nur unter Damen wohl war, die ihn wie ein Lämmlein [318] behandelten, ihn von Schooß zu Schooß gaben, der nur in Kreisen leben zu können schien, wo er zum tausendsten Male sein „Putt! Putt!“ vorlas und entfloh, wenn sich in seiner Gegenwart ein überlegener Geist über Dinge aussprach, die ihn nicht persönlich betrafen?!
Doch siegte Hebbel. Der wohlwollende Sinn des deutschen Königs Christian des Achten lehnte alle Verhetzungen ab. Der hoffnungsvolle Dichter konnte auf drei Jahre Frankreich und Italien besuchen.
„Mich drängte es doch,“ erzählte er, „da ich einmal in Kopenhagen war, den alten Adam Oehlenschläger zu besuchen. Er lebte noch, war Conferenzrath und hochbetagt. Die deutsche Sprache war ihm von je geläufig. Da ihm die neuere dänische Literatur ein Gräuel geworden war, so hatte ich einen Verbündeten in ihm. Ich erzählte ihm meinen Bildungsgang. Er nahm den lebhaftesten Antheil. Allmählich kam ich durch Zufall auch auf Shakespeare. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich in eine lange bewundernde Charakteristik desselben hineinredete. Oehlenschläger wurde einsilbiger. Ich brach immer mehr in Begeisterung aus, pries Shakespeare’s Kenntniß der menschlichen Seele, seine Macht des natürlichen Ausdrucks, seinen Bilderreichthum. Oehlenschläger wird völlig stumm und hört nur noch zu. Ich komme auf einzelne Charaktere, auf den Othello und die Eifersucht, auf den Macbeth und den Ehrgeiz – plötzlich springt mein Alter mit den langen weißen Haaren vom Sopha, stellt sich mit seinen weit aufgerissenen blauen nordischen Augen vor mich hin und schreit mich wie ein Wilder an: ‚Herr, jetzt hören Sie auf! Andere Leute haben auch etwas geleistet.‘ Ich konnte nichts Besseres thun, als eiligst meinen Hut suchen, um mich vor dem alten Berserker in Sicherheit zu bringen.“
Man sieht, die moralische Prüfung verwandter Genien ist beim allzu zärtlichen Geliebkostwerden des einen für den anderen nicht eben gering.
Und noch ein Zeichen von Selbstbewußtsein der Dichter, das mir der wackere Veteran Eduard Genast in Weimar erzählte.
Zu den Vielen, die, wenn sie einmal in Weimar gewesen, den Versuch machten, die Excellenz Goethe zu sehen und zu sprechen, gehörte eines Tages auch Ernst Raupach.
Der Verfasser der vergessenen „Schleichhändler“ hatte erst in späteren Jahren angefangen, der Muse zu huldigen. Das Schicksal hatte ihn früh von Schlesien nach Petersburg verschlagen. Er wurde Lehrer der Geschichte an der Petersburger Universität, bekleidete demnach einen schweren Posten in den trübsten Zeiten der neuern Geschichte, wo ohne Zweifel seine Collegienhefte nicht selten durchgesehen, mancher seiner Vorträge von einem prüfenden Officier in Epauletten oder einem Chef der obersten Censurbehörde assistirt wurde. Raupach brachte vielleicht in Folge dessen nach Deutschland jenen von ihm bekannten brummischen kurzangebundenen Charakter wieder zurück, der indessen eine vortreffliche Zugabe zu dem Berufe wurde, den er von jetzt an wählte. Denn Grobheit am Dramatiker wird gefürchtet und beachtet. Man gewährte wenigstens in Berlin dem von obenher Protegirten, was er wollte.
Raupach hatte erst einige Trauerspiele, „Die Fürsten Chawansky“, „Die Erdennacht“, geschrieben. Der Verkehr zwischen Petersburg und Weimar war der lebhafteste, und Raupach kam auch nach Weimar mit den glänzendsten Empfehlungen. Im Jahre 1823 hatte man in Weimar „Die Erdennacht“ aufgeführt. Eckermann berichtet Goethe’n darüber und schreibt, Excellenz hätten geäußert, das von ihm gelesene Stück behandle den Gegensatz zwischen Adel und Volk, „woraus sich“ – merkt auf, Ihr Hunderte von Leipziger Genossenschaftsmitgliedern! – „woraus sich,“ so urtheilte Goethe, „kein allgemein menschliches Interesse ergäbe.“ „Coriolan“ also, wo dieser Gegensatz ebenfalls dargestellt ist, gehört nach dieser Aeußerung nicht zu Shakespeare’s populären Stücken und die Bearbeitung des Herrn Commerzienraths Oechelhäuser scheint demnach unschuldig zu sein, wenn man diesen „Gegensatz zwischen Adel und Volk“ nach drei Vorstellungen in Berlin wieder zu den Acten gelegt hat.
Goethe schien sich eine Redensart angewöhnt zu haben, die seinen Jahren entsprach. Wer im Jahre 1749 geboren wurde, hatte wohl ein Recht, von den Nachgeborenen, wenn diese nicht an der Krücke gingen, als wie von „Kindern“ zu sprechen. „Ihr junges Volk“ oder „Ihr jungen Leutchen“ – das hätte er selbst zu Uhland und Rückert gesagt. Fürst Bismarck hatte früher auch so eine seltsame Angewöhnung. Noch aus seiner Junkerzeit übertrug er den Ausdruck „die Herren“ in seinen Reden auf seine liberalen Gegner, und das noch in Zeiten, wo man längst voraussetzte, der Geist besserer Erkenntniß sei über ihn gekommen. „Die Herren“ – es klang im Reichstage immer, wie das geringschätzende „die Herrschaften da drüben“.
Als Goethe, die Hände auf dem Rücken, auf- und niedergehend und sich wahrscheinlich auf den Tadel besinnend, der bei Eckermann verzeichnet steht, zu dem Professor Raupach mit den ungefähren Worten sich herabzulassen begann: „Ja, mein Lieber, wenn Ihr jungen Leute doch nur – das allgemein Menschliche festhalten wolltet! Aber das junge Volk denkt immer, wenn es nur einen Stoff theatralisch zurechtstutzen kann, dann sei es schon getroffen –“ da soll der damals fast schon fünfzigjährige Raupach – die Erzählung versicherte es – ebenfalls den Hut ergriffen und sich sofort mit den Worten empfohlen haben: „Excellenz, aus den Kinderschuhen bin ich herausgewachsen.“
Die Erinnerung an die Feier eines Weinsängers und ein Moment aus dem Leben eines Dichters für die Bühne ruft aus vergangenen Tagen mir ein Bild zurück, das zu meinen schönsten auf der geheimnißvoll präparirten Silberplatte des Gedächtnisses gehört, mich an die Ufer des Rheines versetzt und an dessen schönsten, lieblichsten Theil, wo sich, zwischen Drachenfels und Rolandseck, Erhabenheit und Anmuth paaren. Worte, im Gedächtniß behaltene, der Aufzeichnung werthe, sind dabei gewiß gesprochen worden. Aber die Fülle war zu groß, sie kann nicht wiedergegeben werden. Nur die Situation als solche verdient nicht ausgelöscht zu sein. Hält doch der Maler einen einfachen Abend in der Laube an einem Felsenabhange auf der Leinwand fest, ein Gelag unter einem Rebendach am Drachenfels, lachende Gesichter, Umarmungen der Alten und Jungen, die funkelnden Gläser, der Mond, unten im Fluß sich spiegelnd und all sein goldnes Licht durch die Zweige, durch die beglückten Mienen der Menschen zerstreuend – doch es war ein ganzer Tag voll echter Rheinlust, der mir so in der Erinnerung lebt.
Noch könnte ein Lebender die Wahrheit meines Bildes bestreiten, Levin Schücking. Der allbeliebte Erzähler wird es nicht. Denn auch zu seinen „schöneren Stunden“ muß der herrliche Tag gehören; wir feierten ihn mit seiner leider zu früh dahingegangenen Gattin, der geist- und gemüthvollen Schriftstellerin Luise von Gall, und mit Roderich Benedix. Die Fahrt war von Köln bis Bonn mit Dampf gegangen, von dort nach Remagen im Zweigespann. Wir lohnten letzteres ab, um nach einem Mittagsmahl am Fuß der Apollinariscapelle zu Wasser nach Köln zurückzukehren. Die Sonne hatte sich jedes Wölkchen für diesen Tag verbeten. Der Rhein, hier in seiner Ausdehnung einem See gleichend, zeigte sich in seiner ganzen bekannten hierortigen Herrlichkeit.
Zwei Dramatiker, zwei Novellisten, alle vier zugleich, wenn sich Gelegenheit bot, auch wohl Kritiker und Feuilletonisten, lieferten Gegensätze, Stoff zur Debatte genug. Luise von Gall vermittelte nach Frauenart. Sie hatte die Welt, die Gesellschaft gesehen, kannte kleine Höfe und unterschied treffend die Verschiedenheit der Individualitäten. Ihr Gatte, dem der befreundete Freiligrath bekanntlich „Gespensteraugen“ angesungen hat, das heißt Augen, die im Stande sein sollen, Gespenster zu sehen, hatte nicht blos in das Reich der Ahnung, nicht blos in die alten Schlösser westfälischer Grafengeschlechter forschende und von viel Unheimlichem magnetisch angezogene Blicke geworfen, sondern kannte auch die Zeit und Menschen des hellen lichten Tages nach allen Richtungen hin aus freisinnigem Grunde. Benedix war in jenem Humor, der ihn am Ende seines zu früh geschlossenen Lebens ein Buch gegen Shakespeare schreiben ließ. Er beklagte sich über mangelnde literarische Anerkennung, obschon er dem ebenfalls am Steuerruder der schwankenden Bühne sitzenden Collegen selbst keinen Fetzen von ebensolcher Waare zukommen ließ und als späterer Frankfurter Intendant kaum noch seine [319] Collegen kannte. Meine Huldigung, die ich dem glücklichen Erfinder, dem oft so sinnigen und feinen Verknüpfer einer trefflich angelegten Intrigue, namentlich seinem technisch wahrhaft meisterlich aufgebauten „Vetter“ brachte, war durchaus aufrichtig gemeint und nur in dem einen Wort mag einige Ironie gelegen haben: „Sie müssen ja immer Glück haben mit Ihren Stücken; denn fast alle fangen sie mit einer Hôtelscene an, mit: Kellner, eine Flasche Wein! Da ist der Deutsche sogleich gewonnen.“
Der Wein spielte denn auch beim Mahle im Freien, im Wirthsgarten am Rhein, eine nicht unwesentliche Rolle. Sanft begleitete unser Gespräch die in den weichen Kiessand am Ufer sich verlaufende Welle. Kam ein Dampfer vorüber, so rauschte die Fluth. Zum Pessimismus wäre hier jetzt Niemand von uns geneigt gewesen. Bewußt oder unbewußt – unsere Lehre hieß nur: Pflücke den Tag und leg’ ihn wie eine Blume zum Trocknen in das Herbarium deiner Erinnerung! Nutze ihn aus als Etwas, das nicht an den ewigen „Kampf um’s Dasein“ erinnert, der leider keine Fabel ist! Denn nicht unmöglich, daß das Praktische im Schriftstellerleben, die Honorare der Bühnen, die Auflagen der Verleger die stärkste Partie unsrer Gespräche bildeten.
Das Mahl war vorüber. Eine kurze Rast wurde noch im Garten gehalten. Wir dachten an die Heimfahrt im Nachen. Plötzlich überfiel Benedix die Badelust. Die Sonne brannte. Der vom Weine glühende Mann, stark gebaut, gerötheten Antlitzes, hätte sich den Tod holen können. Wir redeten ihm ab, dem Gelüste zu folgen, aber nun kam sein Ehrgeiz mit in’s Spiel. Es war auf ein Kraftstück à la Ernst Mahner abgesehen, den damaligen „Gesundheitsapostel“, der sich sogar des Winters in die Rhein- und Mainfluthen stürzte. Ein besonderes Boot wurde von Benedix gedungen, noch eine volle Flasche Wein mitgenommen, und nun fuhr er hinaus, allen Dampfern, Schleppern, Flößen, allen ringsum aufgesteckten Wegzeichen zum Trotze; er gewann die Fahrstraße, die sonnenbeschienene wallende grüne Fluth. Uns blieb nichts übrig, als die Zeche abzumachen, rasch einen zweiten Kahn zu miethen und dem Wagemuthigen zu folgen.
Um der Dame den Anblick des sich völlig bis zu adamitischer Nacktheit Entkleidenden zu entziehen, lenkten wir unser Fahrzeug in’s Schilf am Fuße der Capelle ein und streiften durch die verhüllenden grünen Vorhänge so lange hin, bis wir beim Einbiegen in die bewegtere Strömung den schon in die Fluthen gesprungenen kühnen Schwimmer mit Armen und Beinen rudern sahen. Dieser ersten Arbeit folgte dann bei ihm eine wohlige Ruhe, eine gleichmäßige Bewegung; der Strom oder unsichtbare Delphine schienen den Dichter sanft zu tragen. Das deutsche Lustspiel da so mitten in den grünen Wellen des Rheins! Jetzt wendete sich der kühne Schwimmer auf den Rücken und ließ sich nur vom Strome wiegen, und der Schiffer im Kahne, der ihm nahe blieb, mußte ihm die Flasche reichen. Das störte etwas das Bild. Es war nicht mehr der Meerkönig mit der Krone von Binsenkraut! Die Flasche wurde an den Mund gesetzt und dann auf den Bauch gestellt. Mein Idealismus murmelte: Doch Ernst Mahner! Aber es blieb doch der Eindruck: „Das bemooste Haupt“, „Doctor Wespe“, „Der Steckbrief“, „Der Vetter“ – schwimmen da mitten auf dem Rheine –! Im späteren Gedenken der uns nun entschwundenen unerschöpflichen Erfindungskraft, des zusammengebrochenen, zu Staub gewordenen, kraftvollen, breitschulterigen Mannes mit dem schöngepflegten Barte, des nur erfreulichen, wohlthuenden Bildes, das Roderich Benedix von seinem Leben und Schaffen hinterlassen hat, verwandelt sich dieser Zug kraftvollen Selbstgefühls und muthiger auf seine Muskelkraft vertrauender Entschlossenheit, besonders durch den Ort und die Zeit, und sagen wir selbst durch die applaudirende Zeugenschaft, zu einem Literaturbilde, das sich zum Glück ohne nachtheilige Folgen abschloß.
Es fand sich wieder ein Schilfgehege, das der Dame die Garderobe des aus dem Flusse Steigenden entzog; der zweite Kahn ruderte zu uns herüber und wurde abgelohnt. In Königswinter bestiegen wir das Dampfboot, das uns wohl und glücklicher Laune nach Köln zurückbrachte.
Täglich gehe ich jetzt an den Fenstern eines kleinen Universitätshörsaales vorüber, in welchem schon viel bedeutsame Worte gesprochen worden sind und noch jetzt gesprochen werden.
Einen Moment möchte ich festhalten, wo ich mich vor vielen Jahren zufällig veranlaßt fühlte, in dieses Auditorium der Heidelberger Universität einzutreten. Ich wollte mir ein Bild von Schlosser’s, des berühmten Historikers, Art und Weise im Vortrage, seinem wunderlichen friesischen Accent, seinem zerrissenen Satzbau und ähnlichen Eigenheiten verschaffen, die oft von seinen Hörern scherzweise nachgeahmt wurden, oft zum heitern Gelächter im Kreise alter Heidelberger Studiengenossen dienten.
Vor einer verhältnißmäßig ansehnlichen Zuhörerschaft behandelte Schlosser die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, bekanntlich das wahre Tummelfeld seines Ruhmes. Sein Vortrag führte ihn gerade an jenem Tage, wo ich hospitirte, auf die Lage Friedrich’s des Zweiten von Preußen im Jahre 1757, wo ihn die Umstände des Krieges zwangen, bald dahin, bald dorthin einen Streich zu versetzen, sich aber nicht zu weit vorzuwagen und bedeutende ausgreifende Unternehmungen zu vermeiden. Friedrich war damals bedrängt von allen Seiten. Schlosser schilderte das glänzende Ergebniß des Tages von Roßbach: dreiundsechszig Kanonen, zweiundzwanzig Fahnen, siebentausend Gefangene, worunter allein dreihundert Officiere. Als sein Vortrag auch den jähen Schrecken der Flucht erwähnte, das Entsetzen vor Seydlitzens Kürassieren, die Eile der verfolgenden Husaren, da brach über die Hasenfüßigkeit der von Madame de Pompadour ernannten pommadirten Generale im ganzen Auditorium ein jubelndes Gelächter aus. Der alte Schlosser hatte diese Wirkung seiner Erzählung nicht gewollt und stutzte. „Lachen Sie nicht, meine Herren!“ rief er mit erhöhter kräftiger Stimme. „Zu allen Zeiten sind die Franzosen tapfer gewesen. Von Julius Cäsar an bis jetzt ist es eine Nation voll Bravour. Sie waren nur schlecht commandirt.“
Ob wohl ein Geschichtsprofessor der Sorbonne oder sonstwo in Frankreich, wenn dieser die jähe Flucht der Erben des Lorbeers von Roßbach bei Jena im Jahre 1806 erzählt und die Zuhörer ebenfalls vor Jubel über den alten steifen General Möllendorf lachen, eine entsprechende Aeußerung thun würde über die Deutschen und unsern Ruhm der Tapferkeit von des Tacitus’ Zeiten an?