Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Aus den Erinnerungen meiner Mutter

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Vorwort Edith Stein
Aus dem Leben einer jüdischen Familie
Aus der Welt der beiden Jüngsten »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[5]
I
Aus den Erinnerungen meiner Mutter


1.

Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist i. J. 1815 geboren. Wo seine Familie herstammt, daran erinnert sich meine Mutter nicht mehr; sie meint, von der französischen Grenze[1]. Später wohnten seine Eltern in Peiskretscham O.S. Er war Seifensieder und „Lichtzieher“. Auf seinen Wanderungen kam er ins Haus meiner Urgroßeltern in Lublinitz O.S. Er sah meine Großmutter, die damals 12 Jahre alt war, und sie gefiel ihm gleich. Von da an kam er jedes Jahr. Als sie 17 Jahre alt war, wurden sie verlobt, und im Jahr darauf war die Hochzeit. Das war das Jahr 1842.

Der Urgroßvater, Joseph Burchard, stammte aus der Provinz Posen, ebenso seine Frau, Ernestine geb. Prager. Im ersten Jahr ihrer Ehe lebten sie in Hundsfeld i.Sch. Als ihr Häuschen dort niederbrannte, gingen sie nach Lublinitz. Der Urgroßvater war viele Jahre Kantor und Vorbeter. Als er diesen Posten aufgeben mußte, richtete er eine Wattefabrik ein. Er hatte einen Beetsaal im eigenen Hause. Dort kamen an den hohen Festtagen alle Schwiegersöhne zum Beten zusammen. Er war ein sehr strenger Vater und Lehrer. Die Enkelsöhne mußten zu ihm kommen, um beten zu lernen. Er schalt viel, schlug aber nie. Und nie ging ein Kind ohne ein Geschenk aus dem Hause. Die Urgroßeltern hatten 11 Kinder, 4 Söhne und 7 Töchter. Vom 70. an wurden die Geburtstage als große Feste gefeiert, zu denen sich möglichst alle Kinder und Enkel einfanden. In einem Tafellied, das ihr Sohn Emanuel zu einer solchen Gelegenheit dichtete, hieß es: „Selten gab’s wohl einen Vater, der seiner Kinder so bedacht, anscheinend rauh und doch voll zarter Sorge über sie gewacht. In den 78 Jahren,/ die Dir heut verflossen sind,/ hast Du Gottes Huld erfahren,/ der Dir gnädig stets gesinnt./ Immer treu steht Dir zur Seite / Großmama in Freud’ und Leide./ Sie schützt Dich und ist auch uns allen so gut,/ vor Unglück und Kummer hält sie uns in Hut“. Dies hat ein Enkelsohn, Jakob Radlauer, [6] gedichtet, der Sohn der ältesten Tochter Johanna, der Liebling der ganzen Familie. Er lebte als hochangesehener Kaufmann in Breslau und starb vor einigen Jahren als Greis von 85 Jahren, nachdem er seine beiden Söhne im Weltkrieg verloren hatte. (Der ältere, Ernst Radlauer, stand bei Ausbruch des Weltkrieges als Jurist im Verwaltungsdienst in Ostafrika. Es gelang ihm, in abenteuerlicher Verkleidung nach Deutschland zurückzukehren, um wichtige Papiere zu retten und ins Heer einzutreten). Die Urgroßeltern lebten als alte Leute in großer Armut, aber sie wußten immer noch etwas für Ärmere zu ersparen. Wenn die Urgroßmutter Kaffee kochte – damals noch eine Kostbarkeit – legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule gearbeitet.

In den letzten Lebensjahren führten die Urgroßeltern keinen Haushalt mehr. Das Essen wurde ihnen von den Großeltern gebracht. Das ganze Leben hindurch hatte der Urgroßvater seine Frau zärtlich geliebt, nie geduldet, daß sie eine grobe Arbeit anrührte. In seiner letzten Krankheit wurde er von der Wahnidee geplagt und faßte Verdacht gegen sie, so daß man sie schließlich aus dem Haus nehmen mußte. Er starb mit 89 Jahren. Seitdem lebte die Urgroßmutter bei ihrer Tochter Adelheid Courant, meiner Großmutter. Sie war schon leidend, als sie herüberzog und ist viele Jahre von ihrem Schwiegersohn und den Enkelinnen mit der größten Liebe und Sorgfalt gepflegt worden – ihre Tochter hat sie lange überlebt. Bis zuletzt war sie geistig völlig rege, sie ließ sich gerne vorlesen – dazu wurden noch die Urenkelinnen angestellt, die am Ort lebten oder zu den Ferien kamen – und folgte mit dem größten Interesse. Sie wurde 93 Jahre alt; sie mußte körperlich sehr viel leiden und fühlte sich auch sehr bedrückt durch die viele Mühe, die sie verursachte. Meine Mutter hat sie immer eine „wahrhaft fromme Frau“ genannt. In der Synagoge und auf dem Friedhof betete sie mit der größten Sammlung und Innigkeit, ebenso am Freitagabend, wenn sie die Sabbatlichter anzündete und die dazugehörigen Gebete sprach. Am Schluß pflegte sie hinzuzufügen: „Herr, schicke uns nicht so viel, wie wir ertragen können“.

[7] Meine Großmutter, Adelheid Burchard, war von Kindheit an gewöhnt, viel zu arbeiten. Sie und ihre Schwester Johanna mußten die jüngeren Geschwister hüten. Und weil das kleine Gehalt, das ihr Vater als Kantor hatte, für den Unterhalt der großen Familie nicht ausreichte, mußten sie sehr zeitig aufstehen, um in den frühen Morgenstunden feine Handarbeiten zu machen und dadurch etwas zu verdienen.

Als die Großeltern heirateten, eröffneten sie eine kleine Kolonialwarenhandlung. Nach der Anschaffung der Waren blieben ihnen als „Barvermögen“ 25 Pfennige. Das Geschäft richtete sich durch den Fleiß und die Tüchtigkeit beider in kürzester Zeit sehr gut ein. Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam, die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt; ohne sie zu befragen, hätte der Großvater nichts unternommen. Als das Geschäft sich vergrößerte, wurden die jüngeren Geschwister Burchard zur Hilfe herangezogen und arbeiteten unter der Leitung ihrer Schwester. Fast jedes Jahr kam ein Kind zur Welt. Das älteste starb als Säugling, die andern 15 sind alle herangewachsen, und die meisten haben ein hohes Alter erreicht. Von diesen 15 Kindern war meine Mutter das vierte.

Wie die Großmutter ihre eigenen Eltern hoch in Ehren gehalten und ihnen alle Liebe erwiesen hatte, so erntete sie von ihren Kindern die größte Verehrung und Liebe. Alle Töchter wurden vom Alter von 4 Jahren an zur Arbeit angehalten, zur Hilfe im Geschäft, das sich von Jahr zu Jahr vergrößerte, zum Haushalt, den sie später abwechselnd führten, und zu Handarbeiten. Den Anfangsunterricht erhielten die älteren Geschwister in der öffentlichen Schule (meine Mutter von 5 Jahren an in einer katholischen Volksschule). Später begründete mein Großvater für seine vier Ältesten und die Kinder von noch drei andern jüdischen Familien eine Privatschule.

Meine Mutter wurde schon mit 12 Jahren aus der Schule genommen, um zu Hause zu helfen. Sie bekam aber einige Privatstunden in Deutsch und Französisch. Alle Söhne wurden nach außerhalb, schließlich alle nach Breslau, aufs Gymnasium geschickt; fünf wurden Kaufleute, zwei Akademiker (Apotheker und Chemiker).

Der Religionsunterricht wurde von dem jüdischen Lehrer in der Schule erteilt. Es wurde etwas Hebräisch gelernt, aber zu wenig, um später selbständig übersetzen und mit Verständnis beten zu können. Die Gebote wurden gelernt, Teile aus der Hl. Schrift gelesen, manche Psalmen (deutsch) auswendig gelernt. Meine Mutter sagt, daß sie mit der größten Begeisterung diesem Unterricht beigewohnt habe. Es sei ihnen immer eingeprägt worden, daß sie jede Religion achten, niemals gegen eine fremde etwas sagen sollten. Die Knaben wurden, [8] wie schon früher erwähnt, vom Großvater in den vorgeschriebenen Gebeten unterrichtet. Am Sonnabend nachmittag nahmen beide Eltern alle Kinder, die zu Hause waren, zusammen, um mit ihnen Vesper- und Abendgebet zu beten und es ihnen zu erklären. Das tägliche Schrift- und Talmudstudium, wie es in früheren Jahrhunderten als Pflicht jedes jüdischen Mannes galt und bei Ostjuden auch heute noch häufig gepflegt wird, war im Hause meiner Großeltern nicht mehr üblich. Aber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs strengste beobachtet.

(Ich lasse nun folgen, was mir aus früheren Erzählungen meiner Mutter und meiner Geschwister in Erinnerung geblieben ist und was ich selbst miterlebt habe).

Über dem Sofa in unserm Wohnzimmer hängen die Bilder meiner Großeltern. Das feine, zarte Gesicht meiner Großmutter, von einem weißen Häubchen umrahmt, ist sehr ernst und spricht von viel Leiden. Sie starb lange vor meiner Geburt; was ich von ihr weiß, stammt also nur aus Erzählungen. Aber ich glaube, sie innerlich zu kennen und herauszufühlen, welche ihrer Töchter und Enkelinnen ihr besonders gleichen und was vielleicht in mir selbst von ihr herstammen mag. Noch heute klingt ehrfürchtige Scheu aus der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihr spricht. Die Kinder liefen mit ihren kleinen Nöten eher zum Vater als zu ihr. Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Freunde. Adlige Damen von den großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.

Mein Großvater guckt munter und humorvoll auf den Beschauer herab. An ihn habe ich noch eigene Erinnerungen. Er starb, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein kleiner, lebhafter Mann. Wenn er uns in Breslau besuchte, zog er aus seinen Taschen für jedes Kind eine Tafel Schokolade. Aber auch die fremden Kinder auf der Straße wußten, daß er immer etwas für sie bei sich hatte. Wenn bei großen Familienfesten Torten mit schönen Verzierungen bereitstanden, holte er die kandierten Früchte herunter und steckte sie uns in den Mund. Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im Erzählen von Witzen. Als hervorragend tüchtiger Kaufmann hatte er sich aus den kleinsten Anfängen heraufgearbeitet, hatte 15 Kinder großgezogen und immer noch für andere, besonders für arme Verwandte, etwas übrig gehabt. Er lebte im eigenen, geräumigen Hause, umgeben von Kindern und Enkeln, und übte eine unbegrenzte Gastfreundschaft. Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das [9] größte Vertrauen genoß er bei den Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einmal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der Großvater nahm es und sagte: „Wart, ich will dir einen Schuldschein dafür geben“. Er brachte den Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: „Heben Sie mir den mit auf“. Die Erinnerung an den alten Herrn Courant ist heute noch bei denen lebendig, die ihn kannten. Vor zwei Jahren besuchte mich öfters eine Dozentin von der pädagogischen Akademie in Beuthen. Als ich meiner Mutter ihren Namen nannte, meinte sie, die Familie stamme sicher aus Lublinitz. Wir stellten fest, daß ihr Vater tatsächlich dort aufgewachsen, aber schon mit 16 Jahren fortgezogen war. Als ich sie einmal zu einem Spaziergang abholte, kam er herein, um mich als Sprößling der Familie Courant zu begrüßen; das sei ja eine der angesehensten Familien der Stadt gewesen, er könne sich gut an den alten Herrn erinnern.

In den letzten Jahren war mein Großvater halsleidend (ein Blasenleiden) und suchte öfters das Bad Salzbrunn auf. Ich erinnere mich, daß wir ihn dort besucht haben. Auch an seinen 80. Geburtstag erinnere ich mich, zu dem meine Mutter meine Schwester Erna und mich mitnahm. Es war eins jener großen Feste, wie sie in unserer Familie als Ausdruck kindlicher Liebe und verwandtschaftlicher Zusammengehörichkeit üblich sind; das erste, an dem ich teilnehmen durfte. Im Jahr darauf starb mein Großvater. Er wurde 83 Jahre und war nur wenige Wochen wirklich krank.[2]


2.

Haus und Geschäft wurden von seinem jüngsten Sohn und zwei unverheirateten Töchtern übernommen und in seinem Sinn weitergeführt. Das Haus blieb der Mittelpunkt der weitverzweigten und weit verstreuten Familie. „Ich fahre nach Hause“, sagte meine Mutter noch als alte Frau, wenn sie in ihre Heimat fuhr. Und für uns Kinder war es die größte Ferienfreude, wenn wir zu den Verwandten nach Lublinitz fahren durften. Der Direktor, der den Geographieunterricht in unserer Schule gab, erkundigte sich jedesmal nach den großen Ferien, was für Reisen man gemacht hätte, und quittierte mit ironischem Lächeln, wenn man nicht weiter als [10] bis Lublinitz gekommen war. Aber das störte uns nicht. In dem kleinen Städtchen hatten wir die größte Freiheit. Wir wurden nicht viel beaufsichtigt, wir sollten es nur gut haben und vergnügt sein. Schon in dem großen Haus konnte man sich ganz anders bewegen als in der engen Mietwohnung, die wir in unsern Kinderjahren in Breslau hatten. Jeder Winkel war einem schon vertraut und mit jedem feierte man Wiedersehen. Da war der große Laden mit den verlockenden Bonbonkrausen, den Schokoladenvorräten und den Schubladen, in denen Mandeln und Rosinen zu finden waren. Es stand uns alles offen; wir waren aber von zu Hause streng gewöhnt und es bedurfte erst wiederholten Zuredens, bis wir uns trauten, selbst etwas zu nehmen. Daneben war das Eisengeschäft, das hauptsächlich das Reich meines Onkels war. Auch da gab es verlockende Dinge, von denen wir gewöhnlich etwas zum Abschied geschenkt bekamen: Taschenmesser, Scheren u.dgl. Am Wochenmarkt, wenn die Bauern hereinströmten und gar nicht genug Hände da sein konnten, durften wir später auch etwas helfen. Wie stolz war man, wenn man ein paar Brocken Wasserpolnisch aufgeschnappt hatte, um sich mit den Bauern zu verständigen, oder gar, wenn einem die Bedienung der Kasse anvertraut wurde! Abends saß man plaudernd auf den Stufen der Ladentür oder ging um den „Ring“ spazieren[3]: dort saßen auf den Bänken vor den Häusern alte Bekannte, und in der Mitte stand zwischen hohen Bäumen der hl. Johannes. Am Sonnabend wurden wir manchmal in die Synagoge mitgenommen.

Mitunter wurde ein Spaziergang in den Wald gemacht und ein Besuch auf dem schönen Friedhof am Walde, wo unsere Großeltern begraben liegen und in kleinen Kindergräbern Geschwister, die lange vor unserer Geburt gestorben sind. Den Höhepunkt der Ferienfreuden bedeutete eine Wagenfahrt zu Verwandten in einer andern oberschlesischen Kleinstadt. Am meisten zog uns aber doch in die Heimat unserer Mutter die Liebe zu ihren Geschwistern. Der Onkel war etwas kurz angebunden, aber immer gut und freundlich. Seine Frau und die jüngere unserer beiden Tanten standen den getrennten Haushalten vor. Sie überboten sich an jugendlichem Übermut, an Witzen und Neckereien; mit ihnen konnten wir Kinder wie mit unseresgleichen verkehren. Dagegen schauten wir mit Ehrfurcht zu unserer Tante Mika (Friederike) auf; sie nahm den Platz im Hause ein, den einst die Großmutter innehatte, führte die Bücher, war die Beraterin des Onkels in allen geschäftlichen Angelegenheiten und die Vertraute aller ihrer Geschwister, der älteren wie der jüngeren, und später auch ihrer Neffen und Nichten. Wir besitzen ein Jugendbild [11] von ihr, das von einer wunderbaren Anmut, mädchenhaften Reinheit und tiefem Ernst ist. Sie war die Einzige im Hause, die den Glauben der Eltern bewahrt hatte und für die Erhaltung der Tradition sorgte, während bei den andern der Zusammenhang mit dem Judentum von der religiösen Grundlage losgelöst war. Sie stand einsam in ihrer andersgearteten Umgebung, und ihr Geist sehnte sich hinaus über die engen Schranken der häuslichen und geschäftlichen Angelegenheiten und des Kleinstadtlebens. Sie las gern, machte zu den Familienfesten – gemeinsam mit einer andern Schwester – kleine Theaterstückchen, in denen die Personen mit scharfem Blick und liebevollem Humor gezeichnet waren, besuchte bei Aufenthalten in Breslau oder andern größeren Städten gern das Theater. Einer ihrer Brüder, der wie sie unverheiratet geblieben war, pflegte sie auf seinen Sommerreisen mitzunehmen. Als wir heranwuchsen, wurden auch unsere Besuche für sie bedeutungsvoll. Sie ließ sich gern von unsern Studien erzählen, forschte nach unsern Ansichten über dies und jenes und ließ es, wo es ihr nötig schien, auch an Ermahnungen und Tadel nicht fehlen. Übrigens waren wir etwas zu ernst und zu wenig weltfreudig. Sie hatte, wohl als Gegengewicht gegen ihre eigene Schwere, heitere und lebenslustige Menschen gern, hätte uns wohl auch ein sonnigeres Leben, als das ihre es war, gegönnt. Das Ende ihres Lebens hängt aufs engste zusammen mit dem Verlust der oberschlesischen Heimat. Lublinitz liegt nicht weit von der polnischen Grenze. Den ganzen Krieg hindurch kamen Truppentransporte hindurch und meine Tanten betätigten sich eifrig bei der Verpflegung der Soldaten. Manche Nacht haben sie damals auf dem Bahnhof verbracht. Mein Onkel war Vertrauensmann der deutschen Behörden bei der Verteilung der Lebensmittel. Die ganze Familie zog sich durch ihr entschiedenes Eintreten für die deutsche Sache den Haß der Polen zu. Während der Abstimmungszeit wurden alle Kräfte aufgeboten, um ein (im deutschen Sinne) günstiges Ergebnis zu erzielen. Über 50 Abkömmlinge der Familie Courant, die in Lublinitz geboren waren, kamen zur Abstimmung hin. So viel wie möglich wurden im eigenen Hause untergebracht; die übrigen wurden anderswo einquartiert, aber alle täglich am eigenen Tisch aufs beste verpflegt. Das traurige Ergebnis war nach solchen Anstrengungen umso schmerzlicher: Lublinitz wurde polnisch (in der Stadt überwogen die deutschen Stimmen, aber da die Stimmen von Stadt- und Landkreis zusammengezogen wurden, konnte eine polnische Mehrheit errechnet werden), meine Verwandten konnten und wollten nicht daran denken, dort zu bleiben, sie verkauften das Stammhaus unserer Familie und verließen die Heimat.

Mein Onkel zog mit Frau und Kindern nach Oppeln, in den [12] deutschgebliebenen Teil von Oberschlesien, die beiden Tanten gingen nach Berlin, um dort mit ihrem unverheirateten Bruder einen gemeinsamen Haushalt zu begründen. Es war in der Zeit der größten Wohnungsnot. Um ein Unterkommen zu finden, kauften sie selbst ein Haus, konnten aber keine Wohnung darin frei bekommen. Sie hatten ihre Möbel auf dem Speicher stehen und wohnten im eigenen Haus in zwei möblierten Zimmern, die sie ihren eigenen Mietern teuer bezahlen mußten. Die übermäßigen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Jahre, der Verlust der Heimat, das Aufhören der gewohnten Arbeit, der Mangel einer geregelten und gemütlichen Häuslichkeit – das alles zehrte die Kräfte meiner Tante auf. Gelegentlich einer Reise nach Schlesien erlitt sie in Breslau einen schweren Schlaganfall. Es dauerte lange, ehe sie wieder zum Bewußtsein kam. Die ganze Familie zitterte um ihr Leben, obgleich die Ärzte sagten, man könne es ihr nicht wünschen, wieder zu erwachen. Nach anfänglicher Lähmung erlangte sie zunächst Sprach- und Sehfähigkeit wieder. Dann kam ein allmählicher Rückgang aller Fähigkeiten. Sie war nacheinander in verschiedenen verwandten Familien zur Pflege, bis schließlich die meisten ihrer Geschwister zu der Überzeugung kamen, daß die Überführung in ein Krankenhaus nötig sei. Dagegen setzte sich meine Mutter entschieden zur Wehr, und ihre Kinder unterstützten sie darin. Wir sahen, wie sehr die Kranke darunter leiden würde, wenn sie in einer fremden Umgebung leben müßte. Die große Liebe zu ihren Angehörigen, die sie früher in so vielen Wohltaten betätigt hatte, war unvermindert geblieben. Der einzige Dank, der in Betracht kam, war, daß man ihr den Trost ließ, unter vertrauten Menschen zu sein. So nahm meine Mutter sie mit ihrer Schwester Clara, die immer mit ihr zusammengelebt hatte, in unser Haus. Sie hat noch zwei Jahre bei uns gelebt, und meine Mutter hat das langsame Sterben dieser geliebten Schwester, die 10 Jahre jünger war als sie selbst, mit ansehen müssen. Hand und Fuß waren gelähmt, die Sprachfähigkeit nahm mehr und mehr ab; es blieben schließlich nur wenige Worte, die mechanisch wiederholt wurden oder auch beschwörend, weil sie einen Sinn kundgeben sollten, für den kein angemessener Ausdruck gefunden werden konnte. Allmählich versagte nicht nur die Ausdrucksfähigkeit, sondern auch das Verständnis. Es war schließlich sehr schwer zu beurteilen, was überhaupt noch aufgefaßt wurde. Eine beständige Unruhe war in ihr. Man konnte sie nicht mehr ohne Aufsicht lassen, weil sie versuchte aufzustehen und fortzugehen. Offenbar hatte sie das Gefühl, in einer fremden Umgebung zu sein, und wollte nach Hause. Aber der Verfall aller geistigen Fähigkeiten konnte den Kern der Persönlichkeit nicht zerstören. Sie blieb gut und liebevoll, [13] rührend dankbar für jeden kleinen Liebesdienst. Als sie keine Worte mehr fand, dankte sie mit Liebkosungen; in gesunden Tagen war sie damit zurückhaltend gewesen. Sie war 67 Jahre alt, als sie starb. Ich war damals nicht zu Hause. Aber meine Mutter und meine Schwester Rosa sind in der letzten Stunde bei ihr gewesen. Es war eine der großen schmerzlichen Erfahrungen in ihrem langen, leidensreichen Leben.


3.

Meine Mutter war, wie ich schon sagte, das 4. der 15 Geschwister Courant. (Wir haben als Kinder die Namen dieser 15 Geschwister rhythmisch auswendig gelernt wie in der Religionsstunde die Namen der 12 Söhne Jakobs: Bianca, Cilla, Jakob, Gustel,/ Selma, Siege, Berthold, Malchen,/ David, Mika, Eugen, Emil,/ Alfred, Clara, Emma). Von früher Jugend an war sie an unermüdliche Arbeit gewöhnt. Vom 6. Jahr an strickte sie mit ihrer Schwester Selma um die Wette. Der Strickstrumpf gehört bis heute notwendig zu ihr. Wenn sie keine dringendere geschäftliche oder häusliche Arbeit hat, strickt sie und liest dabei. Das war aber zeit ihres Lebens nur eine Erholung. Ich erwähnte schon, daß sie abwechselnd mit ihren Schwestern den großen Haushalt führte und im Geschäft tätig war. Schon mit 8 Jahren war sie so tüchtig, daß die Eltern sie auswärtigen Verwandten im Notfall zur Hilfe schickten. Es war ihr die härteste Arbeit nicht zu schwer, und man schätzte sie so, daß der sonst geizige Onkel ihr zum Dank teure Geschenke machte, z.B. einen Hut, der für eine Dame gepaßt hätte. Mitten im Winter ging sie mit ihm zum Markt und kassierte das Geld ein, während er verkaufte. Es ist sehr charakteristisch, wie dieser Aufenthalt endete: der Onkel ließ sich im Ärger hinreißen, in häßlichen Ausdrücken von ihren Eltern zu sprechen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie lief heimlich davon und ließ sich von einem Lastwagen nach Hause mitnehmen.

Wenn große Wäsche im Haus war, standen die Mägde schon in der Nacht auf. Als meine Mutter 10 Jahre war, wollte sie waschen lernen. Obgleich man sie auslachte, stand sie nachts mit auf und ging mit an die Arbeit. Weil sie sich noch nicht darauf verstand, rieb sie sich die Finger wund, und die beißende Seifenlauge verursachte heftige Schmerzen; aber sie biß die Zähne zusammen und hielt aus, und das nächste Mal war sie wieder mit dabei.

Wenn neue Angestellte (oft männliche Verwandte) im Geschäft anzulernen waren, wurden sie meiner Mutter anvertraut. In dem arbeits- und kinderreichen Hause ging es sehr fröhlich zu. Es wurde [14] gescherzt, gelacht und gesungen. Besonders, wenn die studierenden Brüder und Vettern zu den Ferien nach Hause kamen, und bei den großen Familienfesten, Geburtstagen und Hochzeiten, war bewegtes, lustiges Leben. Meine Mutter hat als Kind etwas Klavierspielen gelernt; später war keine Zeit mehr dazu, aber ein paar Takte des Straußschen Walzers „Wein, Weib, Gesang“ kann sie noch heute auswendig spielen. An ihrem 70. Geburtstag hat sie noch mit ihrem ältesten Enkelsohn, und das Jahr darauf bei der Hochzeit meiner Schwester Erna mit dem Bräutigam Walzer getanzt.

Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte, war sie 9 Jahre alt. Aus dieser Zeit stammt auch der älteste Brief von ihm. Er und seine Schwestern haben die briefliche Verbindung aufrecht erhalten. In den Briefen der späteren Jahre tauchen allmählich Anspielungen auf, die zeigen, wie sehr sie eine Verlobung wünschten. Die Familie meines Vaters hat auch nach seinem Tode stets eine große Verehrung und Anhänglichkeit für meine Mutter bewahrt. Sie war 21 Jahre, als sie heiratete. Mein Vater war damals in der Holzhandlung S. Steins Witwe in Gleiwitz tätig. Inhaberin der Firma war meine Großmutter Johanna Stein geb. Cohn. Sie war eine ebenso strenge wie zärtliche Mutter. Keins ihrer Kinder wagte ihr zu widersprechen, selbst wenn sie offenkundig irrte. Meine Mutter wurde von ihr sehr geschätzt und durfte es am ehesten wagen, einmal eine abweichende Überzeugung zu äußern. So nahm sie sich um ihren jungen Schwager Leo an, als er der Mutter die „Schande“ antun wollte, Schauspieler zu werden. Sie nahm ihn bei sich auf, als seine Mutter ihn nicht mehr im Hause dulden wollte; und da sie ihn nachts aufstehen und seine Rollen deklamieren hörte, überzeugte sie sich von der Echtheit seines Berufs und suchte zwischen ihm und der Großmutter zu vermitteln. (Er ist später als Lustspieldichter und Bühnenleiter unter dem Namen Leo Walter Stein bekannt geworden... Einige seiner Bühnenwerke – „Die Ballerina des Königs“, „Liselotte von der Pfalz“ – sind sogar ihres nationalen Gehalts wegen für würdig befunden worden, auf den deutschen Bühnen des dritten Reichs aufgeführt zu werden). Meine Großmutter war keine Geschäftsfrau, wie es meine Mutter war. Sie verließ sich auf einen Geschäftsführer, der sie betrog, und ließ sich durch niemanden überzeugen, daß er ihr Vertrauen nicht verdiente. Das bewog meine Eltern schließlich, die geschäftliche Verbindung zu lösen und Gleiwitz zu verlassen. Sie gingen in die Heimat meiner Mutter, um mit der Unterstützung ihrer Eltern ein eigenes Geschäft zu beginnen.

Es war schon eine sechsköpfige Familie, die nach Lublinitz [15] übersiedelte[4]. Meine Mutter hat 11 Kinder geboren, von denen 4 im Kindesalter starben. Zu den traurigen Erinnerungen, von denen meine Mutter immer wieder sprach, gehörte eine Scharlachepidemie in Gleiwitz. (Solche Epidemien sind in Oberschlesien häufig). Die kleine Hedwig, ein besonders liebes Kind, das schon anfing, der Mutter etwas zu helfen, starb daran. Mein ältester Bruder Paul überstand die Krankheit, aber meine Mutter meint, daß er seitdem verändert war. Er war ein bildschönes, hochbegabtes und lebhaftes Kind. Später wurde er ein stiller, schüchterner, verschlossener Mensch, der sich und seine Gaben nie zur Geltung zu bringen vermochte.

Die Jahre in Lublinitz waren ein beständiger Kampf mit wirtschaftlicher Not. Für meine stolze Mutter ist es sicher eine harte Demütigung gewesen, daß sie immer wieder die Hilfe ihrer Eltern in Anspruch nehmen mußte. Auch ein Kind, an dem sie mit besonderer Liebe hing, den kleinen Ernst, hat sie hier wieder hergeben müssen. (Die andern beiden Kinder, die ihr starben, waren so klein, daß der Schmerz des Verlustes noch nicht so groß war wie bei den schon etwas herangewachsenen).

Meine Eltern wohnten in der sogenannten „Villa“, einem netten kleinen Haus mit großem Garten, das den Großeltern gehörte. Es machte meiner Mutter große Freude, selbst Gemüse und Obst zu bauen, und sie hatte dabei eine glückliche Hand. Sie hat damals eine Reihe von Apfelbäumchen gepflanzt, hat aber nicht mehr selbst die Früchte ernten können. Haus und Garten gingen später in den Besitz einer befreundeten Familie über. Als Feriengäste durften wir darin spielen und uns soviel Äpfel holen, wie wir wollten. Meine Mutter erzählte oft eine nette kleine Geschichte aus jener Zeit. Eine meiner Cousinen, damals ein Kind von etwa 3 oder 4 Jahren, besuchte sie, als gerade die Gurken reif waren. Sie schenkte ihr ein paar und legte sie ihr in die Schürze. Das Kind lief voller Freude nach Hause, hielt die Schürzenzipfel fest und rief schon von weitem aufgeregt: „Die Tante Gustel läßt die Gurken wachsen“. Dann breitete sie die Schürze aus und blieb entsetzt stehen: sie hatte alle Gurken unterwegs verloren.

Bis heute macht es meiner Mutter die größte Freude, selbst zu säen und zu ernten und von der Ernte reichlich andern zu schenken. Sie hält dabei an der alten jüdischen Sitte fest, daß man die ersten Früchte von jeder Sorte nicht selbst ißt, sondern verschenkt. (Allerdings [16] kann sie sich nicht immer entschließen, sie an wirkliche Arme zu geben, wie es eigentlich sein sollte, weil sie dabei mit der großen Liebe zu ihren Blutsverwandten, besonders zu ihren Geschwistern, in Konflikt kommt).

In jenen Jahren starb meine Großmutter. Meine Schwester Rosa, die damals gerade geboren war, bekam ihren Namen – Adelheid – noch nachträglich hinzu. (Es ist bei Juden nicht üblich, die Kinder nach noch lebenden Angehörigen zu nennen). Drei Cousinen, die im Jahr darauf zur Welt kamen, erhielten ihn als Rufnamen.

Weil es in Lublinitz nicht möglich war, wirtschaftlich hochzukommen, beschlossen meine Eltern, nach Breslau überzusiedeln. Es geschah wohl auch der Kinder wegen, die man sonst aus dem Hause geben mußte, um sie höhere Schulen besuchen zu lassen. Mein Bruder hatte schon in Oppeln und Kreuzberg das Gymnasium besucht und unter unverständiger Behandlung durch die Verwandten, bei denen er untergebracht war, viel gelitten. Von meinen sechs älteren Geschwistern sind drei in Gleiwitz und drei in Lublinitz geboren. Meine Schwester Erna war bei der Übersiedlung nach Breslau sechs Wochen alt (Ostern 1890). Meine Eltern bezogen eine kleine Mietwohnung in der Kohlenstraße. Das kleine Häuschen, in dem ich geboren wurde, ist jetzt längst abgerissen und ein großes, neues an seiner Stelle erbaut. Ganz in der Nähe wurde ein Lagerplatz gemietet, um ein neues Holzgeschäft zu eröffnen. Die Hauswirtin war ein zänkisches, altes Weib, das sich alle Mühe gab, meiner Mutter das Leben schwer zu machen. Schwere Nahrungssorgen kamen hinzu; das neue Geschäft war mit Schulden belastet und richtete sich nicht so schnell ein. Daß meine Mutter auch in ihrem Eheleben Schweres zu ertragen hatte, darüber hat sie nie ein Wort gesagt. Sie hat immer nur im Ton herzlicher Liebe von meinem Vater gesprochen, und wenn sie heute, nach so vielen Jahrzehnten, an seinem Grab steht, sieht man, daß der Schmerz um ihn nicht erloschen ist. Sie hat nach seinem Tode immer schwarze Kleider getragen.

Mein Vater starb auf einer Geschäftsreise am Hitzschlage. Er hatte an einem heißen Julitage einen Wald zu besichtigen und mußte eine größere Strecke zu Fuß gehen. Ein Briefträger, der über Land ging, sah ihn von weitem liegen, nahm aber an, daß er sich zum Ausruhen hingelegt habe, und kümmerte sich nicht weiter darum. Erst als er ihn nach Stunden auf dem Rückweg noch an derselben Stelle sah, ging er hin und fand ihn tot. Meine Mutter wurde benachrichtigt und holte die Leiche nach Breslau. Der Ort, wo mein Vater starb, liegt zwischen Frauenwaldau und Goschütz. Nahe dabei ist eine Holzschneidemühle, in der oft die frisch geschlagenen Stämme für [17] uns geschnitten wurden. Die braven Müllersleute haben in jenen schweren Tagen meiner Mutter beigestanden, und sie hat es ihnen nie vergessen. Wenn sie später selbst in dieser Gegend Wälder einkaufte und schlagen ließ, holte Herr Ludwig sie mit seinem Bauernwägelchen an der Bahnstation ab und begleitete sie oft auf ihren Wegen. Wenn unterwegs ein Wasser zu durchwaten war, trug er sie auf den Armen hinüber. Und seine gute Frau stärkte sie an heißen Sommertagen mit kühler Buttermilch und in bitterer Winterkälte mit heißem Kaffee. So ist eine Freundschaft fürs ganze Leben erwachsen. Meine Mutter schickte für die vielköpfige Familie Kleider und Kolonialwaren aus der Stadt. Dafür brachten Ludwigs, wenn sie nach Breslau kamen, Landbrot und Butter, frischen Weißkäse und manchmal einen Karpfen oder ein paar Schleien. Als die älteste Tochter heiratete, mußte unsere Familie bei der großen Bauernhochzeit vertreten sein. Besonders geehrt fühlten sie sich, als meine Mutter ihnen meine Schwester Erna und mich einmal für die ganzen Sommerferien anvertraute. Wir wurden in der „guten Stube“ unter gebracht, wo die sauber gescheuerten Dielen mit weißem Sand bestreut waren, bekamen wie Herrschaften serviert, während die andern in der Küche alle aus einer Schüssel aßen, und genossen alle unbekannten Freuden des Landlebens: Kühe hüten, Garben binden, lebendige Fische mit der Hand aus dem klaren Bach holen. Es waren die schönsten Ferien während unserer ganzen Schulzeit.


4.

Zur Beerdigung meines Vaters kamen die Verwandten und berieten hinterher, was meine Mutter mit ihren sieben Kindern ohne alle Mittel nun anfangen sollte: natürlich das verschuldete Geschäft verkaufen, vielleicht eine größere Wohnung nehmen und möblierte Zimmer vermieten; was fehlte, würden die Brüder beisteuern. Meine Mutter schwieg zu allem und warf nur ihrer ältesten Tochter, die damals 17 J. alt war, einen vielsagenden Blick zu. Ihr Entschluß war gefaßt. Sie wollte sich selbst durchschlagen und von niemandem eine Unterstützung annehmen. Freilich verstand sie noch nicht viel vom Holzhandel, weil die vielen Kinder ihre ganze Zeit ausgefüllt hatten. Aber sie war eine Kaufmannstochter und besaß von Natur aus die spezifisch kaufmännische Begabung: sie konnte ausgezeichnet rechnen, sie besaß den richtigen Blick dafür, was ein „Geschäft“ ist, Mut und Entschlossenheit, um im rechten Augenblick zuzugreifen, und doch genügend Vorsicht, um nicht zu viel zu wagen; vor allem im höchsten Maß die Gabe, mit Menschen umzugehen. [18] Materialkenntnis und das besondere Verfahren der Holzrechnung machte sie sich schnell zu eigen. Und ganz allmählich, Schritt für Schritt, gelang es ihr, sich emporzuarbeiten. Es war schon nicht einfach, sieben Kinder satt zu bekommen und zu bekleiden. Wir haben nie gehungert, aber an größte Einfachheit und Sparsamkeit sind wir gewöhnt worden, und etwas davon ist uns bis heute geblieben. Ich bin in den Kreisen, in denen ich später verkehrte, immer wieder durch wenig standesgemäßes Auftreten aufgefallen; und obwohl mir dies, wie jedes Aufsehen, peinlich war, ist es mir doch nie gelungen, mich wesentlich zu bessern.

Es genügte meiner Mutter nicht, das Nötigste für den täglichen Bedarf zu beschaffen. Zunächst hatte sie sich eine große Aufgabe gestellt: niemand sollte meinem toten Vater nachsagen, daß er seine Schulden nicht gezahlt hätte; sie wurden nach und nach bis zum letzten Pfennig abgetragen. Dann galt es, den Kindern eine gute Ausbildung zu geben. Mein Bruder Paul war 21 Jahre alt, als mein Vater starb. Er hatte das Gymnasium bis Prima besucht, aber zum Universitätsstudium langten die Mittel nicht. Vielleicht hätte man doch einen Weg gefunden, wenn er darauf bestanden hätte. Aber es war nicht seine Art, „sich durchzusetzen“. Weil er ein leidenschaftlicher Bücherwurm war, gab man ihn als Lehrling in eine Buchhandlung. Aber er ist nicht dabei geblieben. Meine Mutter mußte darauf hinarbeiten, Hilfe ins Geschäft zu bekommen. Es ist mir immer als sehr charakteristisch erschienen, daß sie niemals Buchführung erlernt und ihre Bücher geführt hat. Sie verhandelte mit Kunden: meist Tischlern, Stellmachern, Holzbildhauern, Bauunternehmungen, und mit Lieferanten: Großhändlern, Großgrundbesitzern, polnischen Juden, die als Zwischenhändler kamen; sie maß und verrechnete Bretter, und wenn eine Wagenladung schnell abgeladen werden mußte, so kletterte sie gern auf den Wagen und schob mit den Arbeitern um die Wette schwere Bohlen hinunter.

Aber die trockene Büroarbeit lag ihr nicht. (Auch mir hat sie immer widerstanden, wie keine andere Beschäftigung). Längere Zeit hat ihr Schwager und Onkel Jakob Burchard für sie die Bücher geführt. (Er war der Bruder meiner Großmutter und hatte seine Nichte Cilla geheiratet). Dann tat es mein Bruder Paul, bis er seinem jüngeren Bruder Platz machte. Er selbst fand Unterkunft in einem Bankgeschäft; er ist jahrzehntelang Bankbeamter gewesen und hat seinen Posten mit übergroßer Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit ausgefüllt, ohne je die verdiente Anerkennung zu finden. Für die wenig befriedigende Berufsarbeit entschädigte er sich in seinen nur zu knappen freien Stunden durch Bücher, Musik und Wanderungen. Seit einigen Jahren ist er mit einem bescheidenen Ruhegehalt pensioniert, [19] und ich habe den Eindruck, daß er sich dabei wohler fühlt als je in seinem Leben. (Wenn ich auf diesen Blättern manches niederschreiben muß, was meinen lieben Geschwistern als Kritik ihrer Schwächen erscheinen mag, so werden sie mir das verzeihen. Man kann das Leben einer Mutter nicht schildern, ohne auf das einzugehen, was sie mit ihren Kindern erlebt und durch sie gelitten hat. Wenn ich schließlich selbst an die Reihe komme, werde ich mit mir nicht glimpflicher verfahren als mit den andern).

Meine Schwester Else hätte die Stütze meiner Mutter sein und ihr den Haushalt abnehmen sollen. Sie war aber sehr gut begabt und hatte beschlossen, Lehrerin zu werden (der einzige höhere Bildungsweg, der damals für Mädchen offen stand). Meine Mutter gab ihr schließlich die Erlaubnis, das Seminar zu besuchen. Trotzdem mußte sie sich um die Wirtschaft und die kleinen Geschwister kümmern, bis die jüngeren Schwestern so weit waren, die Pflichten zu übernehmen. Sie führte das häusliche Regiment mit großer Strenge und äußerster Sparsamkeit, so daß alle etwas unter diesem Joch seufzten. Nur ich machte eine Ausnahme, weil ich, als ein kleines Kind, noch mit Kosenamen und Zärtlichkeiten verwöhnt wurde; auf diese Auszeichnung war ich sehr stolz und hing mit großer Liebe an meiner schönen Schwester. Meine Mutter hat manchmal gesagt, jedes ihrer Kinder gebe ihr besondere Rätsel auf. Ihre Älteste war als ein ungewöhnlich schönes, begabtes und vielseitig interessiertes Mädchen stets umschwärmt von Verehrern beiderlei Geschlechts.

So kam sie dazu, sich für etwas Besseres zu halten als ihre Umgebung, sah auf die Geschwister als auf minder ausgezeichnete Menschen etwas herab[5] und war zu Hause niemals zufrieden. Sie war oft lange Zeit als Gast bei auswärtigen Verwandten – manchmal zur Pflege von Kranken, denn sobald irgendwo in der weitverzweigten Verwandtschaft eine Hilfe nötig war, schickte meine Mutter eine ihrer Töchter hin; manchmal auch nur zur Abwechslung. Einigemale nahm sie auch Erzieherinnenstellen in der Provinz an. Aber sobald sie fern von der Familie war, sehnte sie sich noch viel mehr zurück als sie sich vorher fortgesehnt hatte. Diese Unruhe hat sie niemals verlassen, auch nicht, seit sie eigene Familie hat; beinahe hätte ihre Ehe daran Schiffbruch gelitten. Schon bald nach der Hochzeit begann der Jammer darüber, daß sie von den Ihren getrennt sei; am liebsten hätte sie immer jemanden von den Geschwistern bei sich gehabt. Auch jeder entfernte Verwandte, ja jeder Fremde der nur irgendwelche Beziehungen zur Heimat hat, ist ihr ein hochwillkommener [20] Gast. Die Mutter bedeutet für sie das höchste Ideal und sie hat auch ihren Kindern eine herzliche Liebe zur Großmutter und allen Angehörigen eingepflanzt. Sie spart das ganze Jahr, um eine Reise „nach Hause“ zu ermöglichen. Und dann leiden beide Teile darunter, daß kein harmonisches Zusammensein möglich ist.

Mein Bruder Arno besuchte eine Realschule in Breslau. Nach der Einjährigenprüfung gab ihn meine Mutter nach außerhalb, um den Holzhandel zu erlernen. Nach Ablauf seiner Lehrzeit kam er noch zu gründlicher kaufmännischer Ausbildung in eine Breslauer Ölfabrik. Dann nahm ihn meine Mutter als Mitarbeiter ins Geschäft. Er war erst „Junger Mann“, dann Prokurist, bis ihm meine Mutter vor einigen Jahren die Stelle des „Chefs“ abtrat. Sie arbeitet noch heute an seiner Seite und ist ihm unentbehrlich. Meine beiden Brüder ehren sie als das Haupt der Familie und fragen in allen Dingen um ihren Rat. Trotzdem hat meine Mutter in der jahrzehntelangen täglichen Zusammenarbeit manches zu leiden gehabt.

Mein Bruder ist sehr heftig und verliert im Zorn die Herrschaft über sich selbst. Wenn das bei einer Meinungsverschiedenheit mit meiner Mutter geschieht, geht sie still hinaus, „damit er sich nicht versündige“. Aber seine Heftigkeit macht ihn auch ungeeignet zum Verkehr mit den Kindern, so daß sie oft vermitteln muß. Ein weiterer Kummer war es meiner Mutter, daß ihr Sohn nicht wie sie seine ganze Kraft dem Geschäft widmete, sondern sich durch eine vielfältige Vereinstätigkeit und Übernahme immer neuer Ehrenämter zersplitterte. Am meisten Sorge aber haben meine Brüder der Mutter durch die Wahl ihrer Ehefrauen gemacht. Mein Bruder Paul war sehr jung, als er sich heimlich verlobte. Er hat den Verkehr mit seiner Braut jahrelang gegen den Willen meiner Mutter fortgesetzt, und schließlich, weil er ihre Einwilligung zur Verlobung nicht erlangen konnte, heimlich das Haus verlassen. Meine Schwester Erna und ich waren damals noch Kinder. Wir wachten eines Abends auf und sahen unsere Mutter weinen. Wir liefen zu ihr hin, kletterten auf ihren Schoß und suchten sie zu trösten. Erst nach Jahren haben wir erfahren, daß an jenem Abend unser ältester Bruder vermißt wurde und daß unsere andern Geschwister ihn suchten. Er war seiner Braut nach Berlin nachgereist und meldete sich erst schriftlich von dort. Die Ehe wurde geschlossen, die Hochzeit als Familienfest von uns gefeiert, das junge Paar in allen Notfällen selbstverständlich unterstützt, das älteste Enkelkind mit der zärtlichsten Liebe umgeben – aber ein herzliches Verhältnis zur Schwiegertochter hat sich niemals hergestellt, obgleich meine Schwägerin Trude sich immer wieder darum bemühte.

Mein Bruder Arno hat seine Braut im Einverständnis mit meiner [T1] STAMMBAUM [T2] FRIEDERIKE COURANT [21] Mutter und uns allen gewählt. Sie war eine alte Freundin unserer Familie, eine Klassengefährtin meiner Schwester Else vom Seminar her. Sie war sehr jung mit ihren Angehörigen nach Amerika gegangen, hatte dort geheiratet, aber die Ehe später wieder gelöst. Sie verdiente sich selbst ihren Unterhalt und verwandte ihre Ersparnisse zu Reisen nach Deutschland, um meine Schwester in Hamburg und uns in Breslau zu besuchen. Sie war sehr lustig, laut und lebhaft und brachte immer viel Leben in unser ruhiges Haus. Sie hatte wohl längst die Heirat mit meinem Bruder ins Auge gefaßt, ehe er selbst auf den Gedanken kam. Sie war überglücklich, als ihr Wunsch in Erfüllung ging, und wurde mit Freuden in die Familie aufgenommen. Das junge Ehepaar zog sogar in unser eigenes Haus, das wir kurz zuvor gekauft hatten; ja, anfangs versuchte man sogar einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Aber auch hier war kein harmonisches Zusammenleben möglich. Was meine Mutter an meinen beiden Schwägerinnen beständig kränkt, ist, daß sie beide nicht gelernt haben, einen geordneten Haushalt zu führen. Die eine ist musikalisch begabt und hat immer viel Zeit zum Stundennehmen und Stundengeben gebraucht. Die andere liebt es, Einkäufe und Besuche zu machen und immer neue Anregungen außerhalb des Hauses zu suchen. Und beide sind meiner Mutter durchaus wesensfremd. So gütig und hilfsbereit meine Mutter sonst allen Menschen gegenüber ist, gegen gewisse Charakterfehler ist sie durchaus unduldsam: das sind vor allem Unwahrhaftigkeit, Unpünktlichkeit und ein übersteigertes Selbstbewußtsein. Leute, die am liebsten von sich selbst sprechen und ihre eigenen Leistungen nicht genug rühmen können, sind ihr unerträglich, und sie gibt ihrem Mißfallen auch unverhohlen Ausdruck. Sie war immer sehr unglücklich, wenn wir ihr – halb im Scherz, halb im Ernst – manchmal sagten, daß sie eine schlechte Schwiegermutter sei. Es ist aber die stark ausgeprägte Familieneigenart ein großes Hemmnis für die Aufnahme fremder Elemente. Das Urteil: „Die sind ganz anders als wir“ bedeutete im Munde meiner Mutter und meiner Schwestern Frieda und Rosa immer einen entschiedenen Trennungsstrich. Meine Brüder sind dadurch in eine schwierige Lage gekommen, und nur eine große Herzensgüte und Treue machte es ihnen möglich, einen Bruch zu vermeiden. Beide leben glücklich mit ihren Frauen und stehen in andern Dingen stark unter ihrem Einfluß. Aber meine Schwägerinnen wissen, daß sie an das Verhältnis zur Mutter nicht rühren dürfen; die Anhänglichkeit an sie ist unvermindert geblieben. Mein Bruder Paul kommt die ganzen Jahrzehnte hindurch, seit er verheiratet ist, am Freitagabend in das Haus seiner Mutter, um den Sabbatbeginn zu feiern. In den ersten Jahren kam meine Schwägerin [22] mit. Da sie es aber nie fertig brachte, pünktlich zu erscheinen, sich oft eine Stunde und mehr verspätete und dadurch immer wieder Ärger erregte, blieb sie schließlich zu Hause und ließ ihn allein gehen. Das andere Paar nimmt das Abendessen mit seinen vier Kindern zu Hause und kommt erst hinterher zu uns. Sobald meine Schwägerin Martha im Zimmer ist, braucht niemand mehr für Unterhaltung zu sorgen. Sie hat immer einen ganzen Vorrat von lustigen Geschichten auf Lager und vergnügt sich damit, alle Anwesenden zu necken. Es ist der Ton, in dem sie mit ihrer Mutter und Schwester zu verkehren gewöhnt war, und es ist ihr nicht leicht gewesen, sich bei so ernsthaften Menschen einzuleben. In einem ausgebreiteten Freundes- und Bekanntenkreis findet sie die Resonanz, die in der Familie fehlt. Meine Mutter ärgerte sich immer, wenn Martha nicht genug von Amerika schwärmen konnte. Sie selbst ist immer eine deutsche Patriotin gewesen. Sie hat i.J. 1871 geheiratet, und das Hochzeitslied ist auf die Melodie: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ gedichtet worden. Darum kann sie auch heute gar nicht darüber hinwegkommen, daß man ihr ihr Deutschtum abstreiten will.

Neben meinem Bruder Arno wirkt seit Jahrzehnten als treue Stütze unserer Mutter im Geschäft meine Schwester Frieda. Unser Ältester hat uns als Kindern allen Spitznamen gegeben. Frieda war der „Frosch“. Von den andern Geschwistern unterschied sie sich durch ein ausgesprochenes Phlegma. Sie hat wohl am wenigsten theoretische Begabung mitbekommen und mußte sich in der Schule sehr plagen. Sie brauchte lange Zeit, um sich etwas einzuprägen, dann saß es aber sehr fest. Es machte ihr Freude, die Gedichte, die sie für die Schule auswendig lernen mußte, immer wieder laut herzusagen. Dadurch habe ich schon als kleines Kind Schillers und Uhlands Balladen kennen gelernt und mit fünf Jahren „Bertran de Born“ auswendig deklamieren können. Durch ihren großen Fleiß gelang es ihr, den Klassenanforderungen zu genügen und die höhere Mädchenschule (wir haben alle die Viktoriaschule besucht) ohne Anstoß zu absolvieren. Dann erlernte sie den Haushalt und auf einer Handelsschule Buchführung. Von ihrer Einführung in die häuslichen Geschäfte hat sich mir ein Bild unauslöschlich eingeprägt: sie sollte die Küche scheuern; dazu nahm sie in der Mitte der Küche auf einem Stuhl Platz und begann mit der Scheuerbürste den Fußboden um sich herum zu bearbeiten. Das laute Gelächter der Zuschauer brachte sie schnell auf die Beine. Schwere körperliche Arbeit hat ihr nie gelegen, nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern weil sie sehr klein und schwächlich war. Dagegen hatte sie Talent, einen Haushalt einzurichten und zu leiten. Es machte ihr große Freude, [23] Pläne für die Einrichtung einer Wohnung zu entwerfen. Und seit wir im eigenen Hause wohnen, liebt sie es, von Zeit zu Zeit eine Umorganisation vorzunehmen. Ebensogern entwirft sie Lebenspläne für sich und andere. Sie hat auch Geschick und Liebe zu Handarbeiten; ihre Aufgabe ist es, die Wäsche in Ordnung zu halten und auch neue für die ganze Familie zu nähen; in den letzten Jahren, seit es im Geschäftsbetrieb sehr still geworden ist, hat sie sich eine große Fertigkeit im Stricken von Wollsachen erworben, um damit alle Angehörigen zu versorgen. Im Geschäft führt sie die Bücher und versieht die Kasse. Sie ist nicht so großzügig wie meine Mutter, wirkt aber sehr nützlich als hemmendes Element, das vor gewagten Unternehmungen warnt, vor allem wenn die andern sich überreden lassen wollen, unsicheren Kunden auf „Pump“ zu geben.

Meiner Mutter ist sie immer eine gehorsame Tochter gewesen und ist noch heute gewöhnt, sich wie ein Kind befehlen zu lassen. Ihre eigene erwachsene Tochter protestiert jetzt häufig und nennt die Großmutter einen „Diktator“, wenn sie sie mit dem Kommando „Frieda, hopp!“ dahin oder dorthin schickt. Ihre beiden jüngsten Schwestern sind von ihr mit erzogen worden; wir haben mit großer Liebe und zugleich mit Respekt an ihr gehangen. Sie teilte alle unsere Schulfreuden und -leiden, war für uns überaus ehrgeizig und nur mit den besten Noten zufrieden, immer hilfsbereit – mir hat sie meine Schulaufsätze aus dem Konzept in die Reinschrift diktiert und später meine großen Arbeiten getippt – und wußte sehr schön mit uns zu spielen. Aber sie ließ keine kindliche Unart durchgehen, und wenn wir ungezogen waren, mußten wir sie abbitten, ehe sie wieder mit uns sprach. Wie sie äußerlich auf sich hielt, ihre Kleider sorgfältig schonte und immer in Ordnung hatte, so war sie streng auf moralische Sauberkeit bedacht. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Tugendstreben einen Anstrich von Selbstgerechtigkeit hatte und daß sie zu scharfen Urteilen über andere neigte. Als Einzige aus der Familie hat sie ein Tagebuch geführt. Ihr stilles und gleichförmiges Leben hat eine kurze, an harten Erfahrungen reiche Unterbrechung gefunden, als sie sich entschloß zu heiraten.

Meine Schwestern Frieda und Rosa kamen wenig mit Menschen außerhalb des Verwandtenkreises zusammen. Da Frieda sich nach einer eigenen Häuslichkeit sehnte, ließ sie sich zu einer „vermittelten Partie“ bestimmen. Ich war damals noch Gymnasiastin. Aber nach dem ersten Besuch des Bewerbers wandte ich meine ganze Beredsamkeit auf, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Auch unsere Verwandten rieten entschieden ab. Aber meine Schwester war nicht mehr umzustimmen, und selbst meine kluge Mutter ließ damals den klaren Blick durch ihre Wünsche trüben. Der Bräutigam war [24] Witwer und hatte zwei schon ziemlich große Kinder. Meine Schwester freute sich darauf, ihnen Mutter zu sein, und auch sie kamen ihr freundlich entgegen. Den Anlaß zur Trennung gaben die wirtschaftlichen Verhältnisse. Frieda erkannte sehr bald, nachdem sie die Führung des Haushalts übernommen hatte, daß er auf unsolider Basis stand. Sie wollte gern mitarbeiten und mit der bescheidensten Lebenshaltung zufrieden sein; aber von fremdem Geld zu leben, wie ihr Mann und seine Kinder es gewohnt waren, darein konnte sie sich nicht finden, und so verlor sie alles Vertrauen zu ihm. Mit ihrem sechs Monate alten Kinde kehrte sie in unser Haus zurück und mußte noch einen überaus peinlichen Scheidungsprozeß durchmachen, ehe sie frei war. Nach den strengen Anschauungen, in denen wir erzogen waren, empfanden wir eine Scheidung als Schande. Aber meine Mutter ließ meine Schwester nichts davon spüren. Sie nahm sie auf, wie eine Henne ein verirrtes Küchlein wieder unter ihre Flügel nimmt, und suchte ihr durch verdoppelte Liebe über die schwere Zeit hinwegzuhelfen. Die kleine Erika, die zu früh geboren und sehr schwächlich war, begann sich in der großmütterlichen Pflege bald gut zu entwickeln. Sie ist heute ein kräftiges Mädchen, das uns allen über den Kopf gewachsen ist.

Meine Schwester Rosa ist nur 2 Jahre und 2 Tage jünger als Frieda. Die beiden wurden wie ein Zwillingspaar behandelt. So bildeten wir Geschwister drei Paare: „die Jungen“, „die Mädel“ und „die Kinder“; nur Else stand allein. Es waren sehr ungleiche Paare.

Rosa hieß mit ihrem Spitznamen „der Leu“. Das kam von dem lauten Wutgebrüll, das sie anstimmte, wenn sie gereizt wurde. Sie war am schwersten von allen Kindern zu erziehen. Obgleich sie durchaus nicht schlecht begabt war, war sie immer eine schlechte Schülerin. Die ungezogensten Jungen aus dem Haus und der Nachbarschaft waren ihre besten Freunde. Mit ihnen zog sie durch die Straßen, riß an allen Doktorklingeln und verübte ähnliche Bubenstreiche. Es gab immer jemanden, an dem sie mit leidenschaftlicher Schwärmerei hing. Als Backfisch stellte sie einmal selbst eine lange Liste von „Flammen“ auf, für die sie zu gleicher Zeit schwärmte: Lehrerinnen, Schauspielerinnen, Verwandte. Später war es immer nur eine Person, die ihr Herz ausfüllte. Der Gegenstand ihrer Verehrung erschien ihr als vollkommenes Ideal, als Inbegriff alles Guten; sie konnte sich nicht genug tun in Liebesbeweisen und vernachlässigte darüber die andern Menschen. Dabei waren es meist Menschen mit recht handgreiflichen Schwächen, die von dem Ideal weit entfernt waren und sich auch in einer solchen Rolle sehr merkwürdig vorkamen. Riß dann der rosige Schleier, so war die [25] Ernüchterung umso größer, und die Entthronten mußten sich nun eine umso schärfere Kritik gefallen lassen[6].

Da Rosa keine besondere Neigung zu einem Beruf zeigte, wurde beschlossen, daß sie gründlich die Hausarbeit erlernen sollte, um später den mütterlichen Haushalt zu führen. Zur Ausbildung wurde sie zu den Tanten nach Lublinitz geschickt, um dort in einem musterhaft geleiteten Hause in alle Arbeiten eingeführt zu werden. Das Jahr, das sie dort zubrachte, ist ein sehr glückliches für sie gewesen, und sie hat es immer in dankbarer Erinnerung behalten. In der lustigen Gesellschaft der beiden Hausfrauen, unserer Tante Clara und ihrer Schwägerin Else, fühlte sie sich so wohl wie früher beim Spiel mit den Gassenjungen. Sie schloß sich aber auch an die ernste Tante Mika an und nahm erzieherische Anregungen von ihr dankbar und leichter als zu Hause an. Als sie dann unsern Haushalt übernahm, bekam er einen andern Zuschnitt als früher. Rein äußerlich wurde das dadurch ermöglicht, daß unsere wirtschaftliche Lage sich wesentlich gebessert hatte. Es entsprach aber auch ihrer Natur. Während die beiden älteren Schwestern immer mit äußerster Sparsamkeit wirtschafteten, war es ihr ein Bedürfnis, reichlicher zu geben. Sie selbst hatte als Kind gern genascht und war als junges Mädchen übermäßig stark; später war sie für ihre Person mehr als genügsam, und von der früheren Fülle blieb keine Spur übrig. Es freute sie, wenn es uns schmeckte, und sie dachte sich gern von Zeit zu Zeit neue Leckerbissen aus. Ihre selbstgebackenen Kuchen sind allmählich in der ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft berühmt geworden.

Weil ich immer etwas blaß und blutarm war, wurde ich mit besonderer Fürsorge betreut. Wenn ich mit ihr in die Stadt ging, um Besorgungen zu machen, unterließ sie es selten, mit mir in eine kleine Konditorei zu gehen und mir ein Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne geben zu lassen, oder im Sommer ein Glas Eis mit Schlagsahne. Ich bat nie darum; aber wenn wir in die Nähe unseres Stammlokals kamen (die Konditorei von Illgen in der Schmiedebrücke, wo es solche Herrlichkeiten für 15 Pfg. gab), schielte ich unwillkürlich etwas nach dem Schaufenster hin, und dann wandte sie sich wortlos dem Eingang zu. Eine besondere Liebe hatte sie zu kleinen Kindern; viele kleine Vettern und Cousinen, später Neffen [26] und Nichten, sind in den ersten Lebenswochen und -jahren von ihr mit betreut worden. Mit größeren Kindern verstand sie es weniger gut. Sie redete dann zu viel über alle kleinen Unarten; das kühlte die kindliche Liebe ab, ohne ihr den nötigen Respekt zu verschaffen. Sie hat dadurch viel weniger Dank geerntet als sie wirklich verdiente.

In den letzten Jahren hat sie mit Freude Abendkurse der Volkshochschule, literarische und kunstgeschichtliche, besucht und mit großem Eifer darin mitgearbeitet. Sie hat allmählich auch einen Kreis von Menschen gefunden, mit denen sie freundschaftlich verkehrt und die sie hochschätzen. Vor allem aber hat ihre religiöse Entwicklung ihr eine Welt erschlossen, die es ihr ermöglicht, auf alle äußere Befriedigung zu verzichten und still an ihrem Platz auszuharren. Darüber werde ich später noch mehr sagen müssen.


5.

Während die älteren .Geschwister ziemlich dicht aufeinander folgten, sind wir Jüngsten „nachgeboren“. Zwischen Rosa und Erna ist ein Abstand von 6 Jahren: wir beide sind nur um ein Jahr und 8 Monate auseinander. Wir sind in der Zeit des Aufstiegs unserer Familie herangewachsen. Es wurde in unsern Kinderjahren in Wohnung, Nahrung und Kleidung noch die größte Einfachheit gewahrt, aber wir hatten nicht das Gefühl, arm zu sein. Wir sahen, daß unsere Mutter von morgens bis abends schwer arbeitete, und darum war es uns selbstverständlich, keine unbescheidenen Wünsche zu äußern. Meine Mutter sorgte von selbst dafür, daß wir hinter andern Kindern nicht zurückstehen mußten. Wir sind zeitweise drei auf einmal in dieselbe Schule gegangen, und für das dritte Kind hätte kein Schulgeld gezahlt werden müssen. Aber das nahm meine Mutter nicht an. Es wäre ihr als „öffentliche Armenunterstützung“ erschienen, und davon wollte sie nichts wissen. Noch heute kann sie es sich nur mit einem Mangel an Ehrgefühl erklären, wenn Leute „stempeln gehen“. Wir durften uns nie von einem Schulausflug, nie von einer Sammlung ausschließen. Dagegen wurde an Schulbüchern gespart; wir bekamen sie zu unserm Leidwesen nur im äußersten Notfall neu gekauft, sonst mußten wir sie von älteren Vettern und Cousinen leihen. Meine Mutter duldete es nicht, wenn wir nach Schülerart in unehrerbietiger Weise von unsern Lehrern sprachen. Wir hatten Gesang- und Schönschreibunterricht – in den Vorschulklassen auch Rechnen und Naturkunde – bei einem alten Volksschullehrer, der zu allem andern als zum Erziehen geboren [27] war. In seiner Jugend mußte er ein schöner Mann gewesen sein, später war er unförmig dick. Er war sehr gutmütig, aber jähzornig. Während der Stunde regnete es Tadel und andere Strafen, aber sobald es zur Pause läutete, wurde alles wieder erlassen. In der Tasche hatte er immer eine Schnupftabakdose und eine Bonbontüte, die abwechselnd hervorgezogen und benützt wurden. Es gab für uns keinen größeren Schrecken, als wenn wir aus dieser Tüte zur Belohnung etwas geschenkt bekamen. Wenn wir zu Hause erzählen wollten, was „der Freier“ sich wieder geleistet hätte, unterbrach uns meine Mutter und verbesserte: „Der Herr Professor Dr. Freier“.

Sie ging fast nie in die Schule, um mit den Lehrern Rücksprache zu nehmen. Ein einzigesmal hat sie sich entschlossen, über eine Lehrerin Klage zu führen: die Zeichenlehrerin hatte meiner Schwester Erna vorgeworfen, sie hätte unerlaubterweise ein Lineal benützt und es dann abgeleugnet. Dem Kinde, das nicht begabt zum Zeichnen war, war eine Linie einmal ausnahmsweise geglückt, und das trug ihr diese Verdächtigung, einen Tadel und Anzeige beim Direktor ein. Den Vorwurf der Lüge wollte meine Mutter auf ihrem Kinde nicht sitzen lassen. Lehrer und Eltern von Mitschülerinnen, die meine Mutter niemals gesehen hatten, fragten uns oft nach ihr und versicherten uns, wir dürften stolz auf sie sein. Das war mir immer etwas peinlich. Es war für uns so selbstverständlich, daß sie war, wie sie war. Sommer und Winter stand sie in aller Morgenfrühe auf und ging auf den Holzplatz. Wohnung wie Lagerplatz waren viele Jahre hindurch gemietet, und sie hat viel von bösen Wirtsleuten leiden müssen. An die Wohnung in der Kohlenstraße, in der ich geboren wurde, habe ich nur eine einzige Erinnerung; es ist die früheste, die ich überhaupt habe. (Sie muß aus meinem 2. Lebensjahr stammen, denn bald nach dem Tode meines Vaters zogen wir um). Ich sehe mich schreiend vor einer hohen weißen Tür stehen und mit beiden Fäusten dagegen trommeln, weil meine ältere Schwester dahinter war und ich zu ihr wollte. Auch von der nächsten Wohnung, in der Scheßwerderstraße, wo auch unser erster Lagerplatz war, weiß ich nichts mehr. Sehr gut ist mir dagegen die Wohnung Jägerstr. 5 in Erinnerung; dort habe ich meinen 3. Geburtstag gefeiert, und wir haben viele Jahre darin gewohnt. Den Lagerplatz hatten wir damals in der Rosenstraße; er grenzte an den Hof unseres Wohnhauses. Um meiner Mutter den Weg abzukürzen, ließ der Hauswirt, Herr Böse, meiner Mutter ein Pförtchen in die Mauer machen. Das ging so lange, bis Herr Böse mit der Inhaberin des Lagerplatzes in Streit geriet. Frau Olschowka war eine leidenschaftliche Polin (Viktor, der zugehörige Ehegatte, spielte eine untergeordnete Rolle). Zum Zeichen, daß zwischen den feindlichen [28] Nachbarn jeder Verkehr abgebrochen sei, mußte das Pförtchen zugemauert werden. Die Leidtragende war meine Mutter: sie mußte nun einen ganzen Häuserblock herum von der Jägerstraße nach der parallelen Rosenstraße gehen. Aber bald verfiel Herr Böse auf einen Ausweg, um seiner Feindin ein Schnippchen zu schlagen: es wurde zu beiden Seiten eine Leiter an die Mauer gestellt, und nun kletterte meine Mutter oftmal am Tage hinüber und herüber.

Später brachte der findige Wirt noch eine Verbesserung an. Er ließ einen Ausschnitt in die Mauer machen – es könne ihm ja niemand vorschreiben, wie hoch sie sein müsse –, so daß nun eine Leiter mit wenigen Stufen genügte. Für uns Kinder war das Hinüberklettern natürlich ein Vergnügen. Aber für meine Mutter, die damals etwa 50 Jahre alt war, war es mühsam, besonders im Winter, wenn die Stufen glatt und vereist waren. Von den Fenstern unserer Wohnung konnte man auf den Holzplatz hinunterschauen. Ehe Erna und ich zur Schule gingen, waren wir oft stundenlang allein in der Wohnung. Wir hatten dann strenge Weisung, niemanden Fremden hereinzulassen. Wenn wir uns keinen Rat wußten, konnten wir vom Fenster aus die Mutter rufen. Wir waren sehr gewissenhaft und hätten eher noch in Gegenwart meiner Mutter als in ihrer Abwesenheit etwas Verbotenes getan. Manchmal war mein Bruder Arno vormittags zu Hause. Dann kochte er für Mama eine Mehlsuppe zum 2. Frühstück. An schönen Tagen durften wir auf dem Holzplatz spielen. Es war ein Paradies für Kinder, in den schulfreien Stunden waren nicht nur wir alle dort, sondern auch die Spielgefährten aus dem kinderreichen Haus, aus der Schule und aus der Verwandtschaft. Platz war für alle da. Meine Mutter gab die Parole aus: „Aufs Wort folgen und nicht stören! Sonst könnt ihr machen, was ihr wollt“. Das einfachste Vergnügen war, eine Wippe zu bauen. Es wurde ein Brett über einen Holzblock gelegt; je ein Kind setzte sich rittlings auf ein Ende, und dann schnellte man abwechselnd in die Höhe. Das konnte man stundenlang fortsetzen, ohne es satt zu bekommen. Herrlich konnte man Versteck spielen. Es gab viele Holzstöße, hohe und niedrige. Was unter der Witterung leiden konnte, war in Schuppen untergebracht. Manche waren mehrstöckig; es führten Treppen hinauf, und drinnen war es dämmerig, man konnte sich in einen heimlichen Winkel zurückziehen, träumen oder Geschichten erzählen. Wir durften auch Holz zusammentragen und Häuser bauen. Manchmal wurden wir auch zum Helfen angestellt, Waggons abzuladen oder Felgen und Speichen zu regelmäßig gebauten hohen Türmen aufeinanderzuschichten. Kinder, die sich zu beschäftigen wußten, hatte meine Mutter immer gern da. Störenfriede dagegen wurden fortgeschickt. Unnachsichtig war sie gegen [29] Angeberei. Wenn man zu ihr kam, um sich über ein anderes Kind zu beklagen, wurde einem sofort das Wort abgeschnitten: „Klatschen will ich nicht hören“. Oft wurde dann erzählt, wie es ihr Lehrer in solchen Fällen gehalten hatte. Er gab beiden Kindern eine Ohrfeige, dem einen für die Unart, dem andern fürs Klatschen.

Ein Liebling meiner Mutter und einer der treuesten Stammgäste auf dem Holzplatz war ihr Neffe Ernst Courant. Er war nur einige Wochen jünger als ich, wurde mir aber oft zur Beaufsichtigung anvertraut. In den Schulferien mochte er lieber zu uns kommen als verreisen. Er konnte mit uns oder auch allein stundenlang spielen. Wenn wir brav waren, bekamen wir manchmal ein paar Pfennige geschenkt und durften uns beim Bäcker nebenan „Dreierkuchen“ kaufen. Beim Umgehen mit dem ungehobelten Holz jagten wir uns oft einen Span in die Finger; dann sprangen wir zu einem unserer Arbeiter und ließen ihn mit dem Taschenmesser herausholen.

Das Verhältnis meiner Mutter zu ihren Arbeitern war ein durchaus patriarchalisches. Zu Weihnachten wurden sie mit Geld, Lebensmitteln und Kleidern für die Kinder beschenkt. Das Geld bekamen sie aber nicht bar in die Hand (damit es nicht vertrunken würde), es wurden Sparkassenbücher für sie angeschafft und die Geschenke regelmäßig eingezahlt. Jahrelang hatten wir einen jungen, besonders tüchtigen Arbeiter, den meine Mutter sehr gern leiden mochte. Er hatte schon vorher in andern Holzgeschäften gearbeitet, war den meisten Kunden bekannt und wurde von allen mit seinem Vornamen – Hermann – genannt. Er stand ganz allein und hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Auch er trank gern etwas zuviel und ging immer sehr zerlumpt und abgerissen herum. Meine Mutter gab sich große Mühe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Er war ein bildhübscher Bursch und sah blühend und kräftig aus, war aber lungenleidend. Schließlich mußte er ins Krankenhaus gehen; er hatte lange nicht daran glauben wollen und hoffte bis zuletzt, daß er bald wieder anfangen könnte zu arbeiten. Meine Mutter besuchte ihn jeden Sonntag und nahm ihm die besten Kräftigungsmittel mit. Sie betrauerte ihn sehr, als er starb.

Ein anderer, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, blieb noch viele Jahre bei uns. Meißner war sehr unfreundlich und ließ sich wenig sagen. Aber er arbeitete tüchtig und meine Mutter hätte auf seine Ehrlichkeit geschworen. Darum behielt sie ihn immer wieder und war auch für ihn und seine vielen Kinder sehr besorgt. Sie ließ ihm regelmäßig durch einen Geschäftsfreund aus Polen ein besonderes Mittel gegen sein Asthma kommen. Seine erste Frau half öfters bei uns im Haushalt. Sie war sehr sauber und ordentlich, sehr auf ihre Kinder bedacht, aber nicht ganz ehrlich. Eines Tages [30] wurde bei uns ein Bügeleisen vermißt. Meine Mutter hatte keinen Zweifel, wo es steckte, und fing es sehr schlau an, es wiederzubekommen. Sie sagte zu dem Ehemann, seine Frau hätte sich unser Bügeleisen geborgt; er solle sie doch erinnern, daß sie es wiederbrächte. Daraufhin war es bald wieder zur Stelle. Für die Kinder war es ein großes Unglück, als sie diese Mutter verloren. Der Mann heiratete bald wieder, die zweite Frau behandelte seine Kinder unmenschlich, und er wußte sie nicht dagegen zu schützen. Ein kleines Mädchen hatten wir einmal ein paar Tage bei uns im Haus, weil es bei der Stiefmutter seines Lebens nicht mehr sicher war. Es wurde dann im Kinder-Obdach untergebracht. Seit der zweiten Verheiratung war der Mann auch im Geschäft nicht mehr zu brauchen. Sich alles Brennholz für den häuslichen Gebrauch mitzunehmen, hatte er immer als sein gutes Recht angesehen. Er hatte es offen getan und meine Mutter hatte es geschehen lassen. Als sie aber erfuhr, daß er heimlich vor und nach der Geschäftszeit für seine Rechnung aus unserm Lager Bretter verkaufte, mußte sie ihn entlassen.

Dagegen ist sein langjähriger Arbeitsgefährte Siedel bis zu seinem Tode bei uns gewesen. Er stammte aus dem schlesischen Gebirge; ein hagerer, langer Mensch, auch lungenschwach. Er war still, fleißig und solide; nur wenn seine Frau ihn von Zeit zu Zeit antrieb, Lohnaufbesserung zu verlangen, trank er sich erst etwas Mut an und verlangte dann barsch sein Buch (zur Entlassung); da man schon wußte, was das bedeutete, kam es immer schnell zu einer gütlichen Einigung. Als wir unser Wohnhaus kauften, zog er mit seiner Familie als Hausmeister in die Giebelwohnung ein. Die Frau war sehr tüchtig in aller Hausarbeit, ihren beiden Kindern eine sehr zärtliche Mutter und eifrig bemüht, etwas „Besseres“ aus ihnen zu machen; der übrigen Welt gegenüber nahm sie ihren Vorteil energisch wahr und verfügte dazu über eine scharfe und geschwinde Zunge. Der Mann ging still wie ein guter Geist im Hause umher, um überall nach dem Rechten zu sehen. Wenn er in aller Früh aufstand, ging er mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter (um niemanden, vor allem nicht seine Frau, im Schlaf zu stören) zur Heizung. Tagsüber arbeitete er wie früher auf dem Holzplatz. Er starb in unserm Hause. Die Frau rief uns zu Hilfe, als der Todeskampf kam. Mein Bruder Arno und ich gingen mit ihr (wir beide standen während des Krieges im Dienst des Roten Kreuzes); ich habe ihm die Augen zugedrückt.

Der Holzplatz war das Reich meiner Mutter. Bis der Achtstundentag gesetzlich eingeführt wurde, war das Geschäft geöffnet, solange es Tag war. Nur zu einer kurzen Mittagspause kam sie (und kommt [31] sie noch heute) nach Hause. Eine kleine Holzbude war, so lange das Lager auf der Rosenstraße war, das „Kontor“. Als er nach der Elbingstraße auch noch auf einen gemieteten Platz verlegt wurde, kaufte man ein etwas größeres, transportables Holzhäuschen. Schließlich konnte es meine Mutter wagen, einen großen eigenen Lagerplatz, der ihr angeboten wurde, zu kaufen. Dort wurde ein fester, gemauerter Schuppen und anschließend ein Kontor gebaut. Einen großen Teil des Tages war meine Mutter aber immer im Freien. Sie ging mit den Kunden umher, um die gewünschten Waren auszusuchen, vermaß und berechnete, was ausgesucht war; sie war zugegen und legte mit Hand an, wenn Wagen ausgeladen und die neuen Sendungen eingeräumt wurden; und wenn ein Handwagen mit Brettern – von einem Arbeiter und, in früheren Jahren, von einem großen Hund gezogen – hinausfuhr, half sie von hinten stoßen, bis er zum Tor hinaus war. Auf dem geräumigen, eigenen Grundstück konnte sie es sich auch gönnen, einen Teil für Gemüse- und Obstbau zu nehmen. Noch heute ist es ihre Freude, sich täglich von dem Wachstum zu überzeugen und Erdbeeren, Bohnen, Erbsen und Tomaten selbst zu pflücken. Gewiß hat der ständige Aufenthalt in frischer Luft dazu beigetragen, sie bis ins hohe Alter rüstig und frisch zu erhalten. Auch bei bitterer Winterkälte kam sie gewöhnlich mit warmen Händen nach Hause und konnte mir noch die meinen wärmen. Das ist mir immer ein Symbol dafür gewesen, daß alles Leben und alle Wärme im Hause von ihr kam. Aber rechtschaffen müde war sie, wenn sie abends heimkam. Zuerst mußten immer die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Zum Abendessen nahm sie am liebsten nur Tee und Butterbrot. Und wenn nichts Dringendes vorlag, ging sie dann bald zu Bett. Dabei sagte sie gewöhnlich mit großem Behagen: „Das Beste auf der Welt ist mein Bett“. Weil sie selbst die Ruhe so nötig hatte, war es ihr immer schrecklich, jemand anders zu wecken. Sie hat oft gesagt: „Es ist die größte Sünde, einen Menschen im Schlaf zu stören“. Das wirkt bei mir heute noch nach. Wenn ich früh den Kopf aus den Kissen hob, winkte sie mir gewöhnlich ab: „Bleib, bleib, es ist noch lange Zeit“.

Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt hatte, ließ sie sich sehr gern noch vorlesen. Mit der größten Freude besorgte das mein ältester Bruder, und er war mit solchem Eifer dabei, daß er von Zeit zu Zeit fragte: „Hörst du?“. Meine Mutter fuhr dann auf, sagte: „Ja, ja“ und schlief sofort wieder ein. Sie träumte sehr lebhaft und sprach oft laut aus dem Schlaf, manchmal so, daß man ganze Zwiegespräche verfolgen konnte. Bis zu meinem 6. Jahre schlief ich bei meiner Mutter; viele von den vorgelesenen Erzählungen, die sie verschlief, habe ich angehört, was natürlich keineswegs beabsichtigt [32] war. Das war noch in der Jägerstraße. Die Wohnung bestand dort aus drei großen Zimmern und einem „Kabinett“. Das „gute Zimmer“ bewohnte meine Schwester Else. Sie hatte einen Schreibtisch darin und arbeitete oft bis in die Nacht hinein; manchmal löschte ihr meine Mutter die Lampe aus. Ein zweites Zimmer hatten „die Jungen“. „Die Mädel“ mußten sich mit dem fensterlosen Kabinett begnügen, das nur von dem Schlafzimmer meiner Mutter Licht und Luft bekam. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie anfangs auch Erna noch bei sich gehabt. Später waren wir beide bei der Mutter untergebracht. In diesem Zimmer stand auch der große Eßtisch.

Zeitweise war das „gute Zimmer“ noch an einen Studenten vermietet. Einmal war es ein Jurist aus guter katholischer Familie. Es war fast unvermeidlich, daß er sich in meine schöne Schwester Else verliebte. Es kam auch zur Verlobung; sie wurde aber wieder gelöst, wohl weil beide Familien wegen der Glaubensverschiedenheit dagegen waren.

Zu den Abendgeschäften gehörte das „Kassemachen“. Die Losung des Tages mußte festgestellt und in ein Kassenbuch eingetragen werden. Es waren oft Geldrollen dabei, die aufgemacht und nachgezählt werden mußten. Mit solchen Rollen spielte ich gern. Einen Kunden gab es, der gewöhnlich mit Rollen von Geldstücken zahlte. Die gefielen mir besonders gut, und ich bat oft: „Gib mir doch eine Pukade“. (Das war der Name des Kunden). Überhaupt lernten wir unversehens die Kunden und den ganzen Geschäftsbetrieb kennen. Meist waren es Handwerker, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Sie kannte von jedem die ganze Familiengeschichte. Die erfuhr sie gewöhnlich, wenn die Leute Waren ohne Geld haben wollten oder die Wechsel, mit denen sie zahlten, nicht einlösen konnten. Meine Mutter ist immer wieder ihrem guten Herzen gefolgt; manchmal hat sie den „faulen Kunden“ noch Geld hinzugegeben, wenn sie in Not waren. Sie ist viel betrogen worden, und das Geschäft hat immer mit großen Verlusten gearbeitet. Trotzdem ging es voran. Meine Mutter hat das immer dem Segen von oben zugeschrieben. In späterer Zeit, als ich meinen Kinderglauben verloren hatte, sagte sie mir einmal, gleichsam als ihren Gottesbeweis: „Ich kann mir doch nicht einbilden, daß ich alles, was ich erreicht habe, meiner Kraft verdanke“. Das war gewiß richtig. Aber ihre natürlichen Gaben haben doch auch mitgewirkt. Eines Tages besuchte uns eine alte Freundin meiner Mutter und sagte: „Ich muß euch doch gleich erzählen, was ich eben in der Straßenbahn gehört habe. Ein paar Herren unterhielten sich vom Breslauer Holzhandel, und einer sagte: „Wissen Sie, wer hier der tüchtigste Kaufmann in der ganzen Branche ist? Das ist die Frau Stein ...“



  1. Das ist aber wohl nur eine Vermutung, die durch den französischen Namen nahegelegt wurde. Der kann aber ebensogut von der damals üblichen Münzbezeichnung „Preußisch Courant“ herrühren.
  2. Dieser Satz ist im Manuskript hinzugefügt. Das Schriftbild läßt erkennen, daß er von der Hand Rosa Steins ergänzt ist.
  3. So heißt in den schlesischen Städten der Marktplatz, um den sie gebaut sind.
  4. Wir lesen im Manuskript in Bleistift verbessert, wahrscheinlich von Rosa Steins Hand oder unter ihrem Einfluß: „Es war schon eine fünfköpfige Familie, die ...“
  5. Auch darin betrachtete sie mich als Ausnahme. Als ich anfing in die Schule zu gehen und die erste „Prämie“, ein schönes Märchenbuch, nach Hause brachte, sagte sie stolz: „Das ist meine Schwester“.
  6. Hier fehlt 1 Blatt (Blatt 75) im Manuskript. Diese bedauerliche Lücke gerade an dieser Stelle des Manuskripts ist nicht schwer zu erklären. Welch anderes überempfindliches Herz hätte der Versuchung widerstanden, Jugendschwächen vor dem grellen Licht der Geschichte zu verbergen? Welch hoher Grad von Selbstverleugnung spricht aus der Tatsache, daß hier nur ein einziges Blatt entwendet wurde.
« Vorwort Edith Stein
Aus dem Leben einer jüdischen Familie
Aus der Welt der beiden Jüngsten »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).