Die Gartenlaube (1860)/Heft 29
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No. 29. | 1860. |
Während Clas draußen auf die arme Robbe losschalt, griff seine Mutter drinnen den Fischer an dem Arm, schob ihren Xopf dicht an sein Gesicht und murmelte ihm zu: „Damit, Gullik: so lange Du Thorkel’s Seehund im Hause hast, hat Dich das Unglück. Wirf ihn in’s tiefe Wasser, gib ihn Clas, der soll thun, was ich sage. Dann ist Clas mit Dir, und Thorkel bist Du los. Jetzt hilf ihm.“
Gullik machte die Thür auf. Der Seehund lag davor und hielt Clas mit grimmigem Zahnfletschen von sich ab. Der Fischer gab dem Thiere einen Stoß, der es seitwärts warf, darauf ging er zurück, ohne ein Wort zu sagen, und setzte sich wieder an seinen Platz. Clas kam nach, aber seine Mutter winkte ihm zu, daß er schweigen sollte; so setzte er sich auch an’s Feuer und betrachtete Beide. Grete rauchte, legte ein paar Holzstücke auf die Flamme, daß sie hell aufloderte. Sie hielt die kurze Pfeife zwischen ihren breiten Lippen, der Dampf zog über ihr Gesicht, ihre Augen funkelten daraus hervor. Ihre Ellenbogen stemmte sie auf die Beine, legte ihr dickes Gesicht in beide Hände und hockte so vor dem Heerde. „Besser wird’s nicht, Gullik,“ begann sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen, „Du wirst es inne werden. Dein Kind wird nicht eher wieder aufstehen, guter Fang wird nicht kommen, Du wirst Unglück haben, Unglück überall, bis der böse Aand aus Deinem Hause ist. Ja, ja, Gullik, es ist ein Bann, ich sag’s Dir, ich seh’s in Deinem Feuer.“
Der Fischer blickte stier ihren Blicken nach. Es war ein Grausen in seinem Kopf, das ihm die Haut zusammen zog. Er dachte daran, wie Thorkel gesagt hatte: „Mag es Dich nicht gereuen!“ dachte an den Schimpf, den er ihm angethan.
„Wirst morgen auch nichts fangen,“ sagte Grete, „der Busemand hält Wache, läßt nichts in Deine Netze. Schickt gräulich Wetter, reißt Dich nieder, legt sich auf Anders mit seinen Plagen.“
„Was soll ich thun, Grete?“ murmelte der geängstigte Mann.
Sie beugte sich zu ihm und sprach: „Du wirst es sehen, Gullik, es wird morgen sein, wie heute, dann eile Dich. Der Hund muß in den Langfjord; wenn es Nacht ist, gib ihn an Clas –“
In dem Augenblick sah Clas auf, und da er nach seiner Mutter blickte, sah er noch etwas an dem kleinen Fenster hinter ihr an der Hüttenwand. Es war ein Gesicht oder ein Schatten, der schnell verschwand, aber er glaubte ihn doch erkannt zu haben, und ohne etwas zu sagen, stand er auf, ließ seine Mutter bei Gullik sitzen und ging hinaus. Als er draußen anlangte, sah er sich um und horchte. Die Sterne standen am Himmel, der Wind schwieg, sehen konnte er nichts, denn es war sehr dunkel, aber von den Steinplatten her, auf denen des Pfarrers Garten lag, hörte er ein Geräusch, und den steilen Hang herunter kollerte ein Stein. Es stieg Einer dort hinauf, hatte auf den Stein getreten und ihn zum Fallen gebracht. Clas besann sich nicht lange, folgte ihm leise nach, und da es ihm Wenige gleich thaten an Kraft und Behendigkeit, war er schnell oben, und so behutsam still, daß nicht der mindeste Lärm entstand. An dem Gitter duckte er sich dicht nieder und lag am Boden, bis er sich aufrichtete und in den Garten spähte. Es kam ihm vor, als regte sich etwas nicht weit von ihm unter einem Apfelbaum, der sein breites Geäst über den Weg ausstreckte, und plötzlich hörte er auch ein Geräusch in dem Gange, der vom Pfarrhause herführte. Es kam ein Anderer von dorther, und nun trat der unter dem Baume hervor und ging ihm entgegen.
Sobald dies geschah, stieg Clas über das Gitter, und wenige Augenblicke vergingen, so befand er sich unter dem Apfelbaume. Der Stamm war dick, und ein paar Fuß über dem Boden theilte er sich in eine Gabel; zwischen dem starken Geäst konnte ein Mann gut stehen, sich anlehnen und sich verbergen. Und hier stand Clas Gorud fest angeklammert und hörte mit gespannten Ohren; es dauerte jedoch einige Zeit, ehe er etwas vernehmen konnte. Denn die beiden Personen blieben fern in dem Gange, er hörte kaum, daß sie zusammen sprachen. Bald jedoch kamen sie näher, Clas hatte dies wohl erwartet, denn der große Baum gab ihnen den besten Schutz für ihre Heimlichkeiten. Und nun wußte er auch, wer Beide waren: Jungfrau Else und Thorkel, sie wurden schnell von ihm erkannt.
„Es geht ihm also gut, sagst Du?“ fragte des Pfarrers Tochter.
„Ich denke,“ antwortete Thorkel, „es soll ihm bald noch besser gehen.“
„Wie meinst Du das?“ fuhr sie fort.
„Ich meine, er wird nicht unterliegen. Wird einmal wieder in Meldalsgaard wohnen und seinen Namen zu Ehren bringen.“
„Hat er Dir nichts aufgetragen an – an mich? Keinen Gruß?“
„Nein, nein!“ sagte Thorkel. „Er war fort, als ich ging. Es kam schnell, daß ich entlassen wurde.“
„Du weißt auch nicht, wo er ist?“
„Ich kann’s nicht sagen,“ antwortete Thorkel. „Es möchte falsch sein.“
[450] Es verging eine Minute, dann begann Jungfrau Else wieder zu sprechen, aber ihre Stimme war schwach und wie von Furcht gebrochen. „Höre mich an, Thorkel,“ sagte sie, „willst Du mir antworten?“
„Gewiß will ich das,“ versetzte er.
„Und willst nur die reine Wahrheit sagen?“
„Darauf kannst Du Dich verlassen, Jungfrau.“
„Man hat mir mitgetheilt, daß Erik ein schlechtes, wüstes Leben führt – ich will nicht sagen, von wem ich es hörte, aber –“
„Ich kann’s denken,“ fiel Thorkel ein, „es gibt welche, die solche Sachen Dir gern erzählen.“
„Daß er seine Schulden leichtsinnig vermehrt, und daß er auch Dich verlockt hat, so daß Du das Geld von Deinem armen Vater fordern und ihm geben mußtest,“ fuhr Else fort.
„Ja,“ sagte Thorkel, „das Geld habe ich ihm gegeben.“
„Ist das wahr?!“ rief sie schmerzlich erschrocken.
„Wahr und gewiß,“ sagte Thorkel, „aber fürchte Dich nicht davor. Er hat mich nicht verlockt, ich gab es ihm, ohne daß er es forderte. Er wußte es nicht eher, daß ich an meinen Vater geschrieben, bis ich das Geld hatte.“
„Was hat er damit gemacht?“ fragte sie.
„Das ist seine Sache, nicht meine,“ antwortete Thorkel, „doch glaube Gutes von ihm, Jungfrau Else, er verdient es.“
„Sagst Du es!“ versetzte sie aufgeregt, „wie soll ich es glauben?“
„Weil es eine richtige Sache ist,“ erwiderte er mit fester Stimme.
„Und was ist richtig?“ fuhr Else fort. „Daß er – einem Mädchen nachgereist ist?“
Da fing Thorkel an zu lachen, ganz lustig und laut, als sei er davon besonders erfreut. „Höre an, Jungfrau Else,“ fuhr er dann heraus, „laß Dich davon nicht bange machen. Einem Mädchen ist er nach, aber heirathen wird er es nimmer, Du kannst es glauben. Das geschieht so wenig, wie der täppische Lümmel Clas mein lieb Sigrid heirathen wird, so wenig, wie König Olafs Hochzeitszug je von den hohen Romsdalsfjellen niedersteigt, und die Heidenpriester wieder lebendig werden, die er in Stein verwandelt hat, und die dort stehn bis in Ewigkeit. Und nun gib Dich zufrieden, Jungfrau Else, ich sage Dir, es ist Alles Lug und wird sich erweisen.“
„Erik ist nicht in Schande und Sünde?“ fragte sie mit neuem Glauben.
„Es ist kein Falsch an ihm, Du sollst es erfahren.“
„Er hofft zu uns zurückzukehren?“
„Das denkt er sicherlich.“
„Und denkt – denkt auch an mich?“
„Ja, ja!“ rief Thorkel, „es ist kein Tag vergangen, wo er nicht von Dir gesprochen hätte und alter Zeiten gedacht. Und was jetzt“ – er hielt inne und fuhr dann fort: „Warte nur noch kurze Zeit, Nachricht muß von ihm kommen, und was ich erfahre, sollst Du sogleich wissen. Du hast an mir einen guten Freund, Jungfrau Else, das glaube immer.“
„O, guter Thorkel, ich glaube es gern!“ sagte das Fräulein mit zitternder Stimme.
„Ja, ja!“ fuhr er fort, „es ist sowohl um Erik’s wegen, wie deinetwegen und um Sigrid, und weil es mir geht wie Dir und ihm. Aber Du mußt muthig sein. Laß Dich nicht beschwatzen von dem hohlbäckigen Kerl in Molde; mit all seinem Gelde ist er doch nichts werth.“
„Ach! lieber Thorkel,“ seufzte sie leise, „mein Vater!“
„Ei, so sprich mit ihm und sage. Du willst den reichen Schiemann nicht haben.“
„Bin ich nicht meines Vaters Kind?“ versetzte sie. „Kann Sigrid ihrem Vater ungehorsam sein, wenn er ihr befiehlt, zu gehorchen?“
Er schwieg und besann sich. „Das geht freilich nicht an,“ sprach er darauf, „obwohl es hart ist, aber Vaters Wille muß Recht bleiben. Nun, so mache es also, wie Sigrid, mache ein froh Gesicht: laß Dir nicht merken, wie es in Deinem Herzen steht, und suche es klug zu wenden.“
„Wie soll ich es wenden, lieber Thorkel?“ fragte sie betrübt.
„Höre,“ versetzte er. „Es ist ein altes richtiges Wort für jeden Menschen, der in Noth ist, daß, wer Zeit gewinnt, viel gewinnt, oft Alles. Wenn der Sturm unser Boot faßt, suchen wir es von den Klippen abzuhalten, in’s offene Wasser, unter Gottes Schirm. So thue Du es, und halt aus; wer weiß, wie bald sich Wind und Wetter ändern. Verschieb’s bis zum Herbst, sage: ich will’s bedenken! Ich meine, Sigrid wird’s auch so machen, wenn Clas ihr zu nahe kommt. Sei gutes Muthes, Jungfrau Else, wir wollen mit ihnen schon fertig werden.“
Ein Geräusch entstand am Pfarrhause. Die Hausthür wurde zugeschlagen. „Das ist mein Vater,“ flüsterte das Fräulein, „ich will ihm entgegen gehen, eile Du davon. Doch habe Dank, lieber Thorkel, und wenn Du mich sehen willst, wenn Du mir etwas zu sagen hast –“
„Dann sage ich es Sigrid und komme zu Dir hierher,“ fiel er ein.
„So geh – geh. Gott behüte Dich und behüt’ Sigrid!“
„Vor dem Schlingel dem Clas,“ lachte Thorkel hinter ihr her. „Ei ja, den soll der Seehund verschlingen, oder ich thu’s selbst.“
Mit einem Sprunge war er über das Gitter und verschwunden. Nachdem aber Alles still blieb, glitt Clas an dem Stamme nieder und ballte seine Faust hinter ihm her. „Warte, Du Schuft,“ sagte er, „Du sollst den Clas Gorud kennen lernen. Du und das nichtswürdige Vieh, ich zertret’ Euch Beide!“
Am nächsten Morgen befolgte Thorkel das Gebot des Herrn Schiemann. Er fuhr in seiner Jolle nach Molde hinüber, obwohl das Wetter noch schlechter war, als gestern, und eine schäumende Fluth durch den Canal von Otteröe in den Fjord drang. Da er an das Haus des Kaufmanns kam, saß Clas auf der Bank und mit ihm noch zwei andere Männer, handfeste Burschen, die in dem Speicher arbeiteten. Ihre Zwillichjacken hatten sie aufgestreift und ihre Lederschürzen, die ein breiter Schnallenriemen um den Leib befestigte, abgelegt. Als sie ihn kommen sahen, steckten sie die Köpfe zusammen und betrachteten ihn dann von oben bis unten. Thorkel ging vorüber und kehrte sich nicht daran, sagte guten Tag und blickte Clas an, der ihn ebenfalls anschaute und gleichgültig dankte, aber in seinen Augen lag nichts Gutes.
„Geh nur hinein,“ sagte er. „Herr Schiemann wartet auf Dich. Er hat längst nach Dir ausgeschaut.“
Thorkel besann sich einen Augenblick, steckte seine Hand in seine Tasche, als suche er dort etwas, ging aber dann weiter. Der Kaufmann saß an seinem Schreibspind und blickte nicht auf.
„Wer ist da?“ fragte er, während er weiter schrieb.
„Ich bin’s, Herr!“ antwortete Thorkel. „Gottes Gruß in Dein Haus.“
„O, Du also!“ sagte Schiemaun. „Was willst Du?“
„Du hast mich herbestellt, so bin ich gekommen.“
„Du warst also bei dem Pfarrer, hast meinen Brief bestellt?“
„Das that ich, Herr.“
„Und sagtest Jöns Bille die volle Wahrheit?“
„Ja, Herr.“
„Dankte er Dir nicht?“
„Das that er.“
„Er wollte Dich schützen vor Allen, die Dir schaden würden?“
„So sprach er, Herr.“
„Und gab er Dir nicht einen Auftrag?“
„Ein Auftrag war’s eben nicht, aber er hieß es gut, zu thun, was ich ihm vertraute.“
„Was war’s?“
„Nun, Herr, ich sollte der Jungfrau Else die Wahrheit sagen. Sollte getreulich antworten, was sie fragte.“
„Und das thatest Du?“
„Ja, Herr.“
„Hast ihr das schlechte Leben Erik Meldals geschildert?“
„Ich hab’s geschildert wie es ist.“
Herr Schiemann legte die Feder hin, las den Brief durch, den er geschrieben, und streute Sand darauf, dann drehte er sich um, und seine grauen scharfen Augen hefteten sich auf Thorkel.
„Gut,“ sagte er, „und jetzt kommst Du zu mir und willst Deinen Lohn haben?“
„Lohn nicht, Herr, doch fragen möcht’ ich, ob Du mir die Stelle nicht herausgeben willst. Du kannst Deine Bedingungen machen.“
[451] Ein Lachen flog über das harte Gesicht des Kaufmanns. „Nein,“ sagte er, „die Stelle bekömmst Du nicht, die habe ich Clas Gorud versprochen, aber Dein Lohn soll Dir nicht fehlen. Sieh, hier habe ich soeben Deinetwegen an den Voigt Hegborg geschrieben und Dich ihm dringend empfohlen; das will ich Dir vorlesen, damit Du siehst, daß ich dankbar bin.“ Er nahm dabei das Blatt auf und las laut:
- „Mein lieber Freund Hegborg! Seit drei Tagen ist der Thorkel Ingolf wieder hier, auf den ich Dich aufmerksam mache, als auf einen Burschen, um dessen Versorgung ich Dich dringend bitte. Ich habe mich seiner annehmen, habe ihm Arbeit geben wollen und hatte beschlossen ihm beizustehen, wenn er es verdiente, ebenso hat dies der gute Herr Jöns Bille gethan. Er hat es aber vorgezogen, uns auf’s Schändlichste zu belügen und zu betrügen, und da er sich obdachlos umhertreibt, alle ehrliche Leute ihn von sich weisen, auch Niemand ihm Arbeit geben wird, ein solcher Vagabund aber nur der Gemeinde gefährlich werden kann, so schaffe uns Ruhe vor ihm und gib ihm Beschäftigung im Spinnhause.“
„So,“ sagte Herr Schiemann, „jetzt weißt Du, wie ich Dich empfohlen habe und was Dir bevorsteht.“
Thorkel hatte, ohne eine Miene zu verziehen, zugehört. Endlich fragte er gelassen: „Warum hast Du das gethan, Herr?“
„Du frecher Kerl fragst noch danach!“ schrie der reiche Kaufmann. „Willst Du es leugnen, daß Du mein und Herrn Jöns Bille’s Vertrauen auf’s Schändlichste gemißbraucht hast?“
„Du hast Dich selbst betrogen, Herr,“ sagte Thorkel. „Es hat Einer, wie ich merke, gehört, was ich am Abend in des Pfarrers Garten sprach, und das scheint Dir nicht zu gefallen. Aber Du fordertest mich auf, die Wahrheit zu sagen, der Pfarrer auch. Ich habe richtig gethan, was ihr Beide begehrtet; was scheltet ihr mich? Wolltet ihr Einen haben, der Euch zur Liebe lügen und verleumden sollte, dann seid ihr an den Unrechten gekommen.“
„Du Lump Du!“ sagte Herr Schiemann wüthend und ballte die Faust. „Aus meinem Hause mit Dir! Doch erst warte noch.“ Er riß an der Klingel, und durch die eine Thür traten Clas und die beiden Arbeiter herein, durch die andere Thür der Buchhalter.
„Nehmt dem Kerl das Zeug vom Leibe!“ schrie ihnen Schiemann zu. „Alles, was er trägt, ist mein Eigenthum; dann werft ihn hinaus auf die Straße, zu Spott und Schande!“
„Herr,“ sagte Thorkel, „Du thust als gäbe es keine Gesetze in Norwegen, als könntest Du mit mir verfahren, wie es Dir beliebt. Du belügst den Voigt. Niemand hat noch von mir Leid oder Schaden erfahren; Deine Falschheit wird an den Tag kommen.“
„Mach keine Umstände, Junge!“ rief Clas und packte ihn beim Kragen. „Faßt ihn an und hinaus mit ihm!“
Mit einer blitzschnellen Wendung drehte sich Thorkel um, und ehe die beiden Arbeiter zuspringen konnten, bekam Clas einen Schlag an den Kopf, daß er gegen die Thür flog. In demselben Augenblick war Thorkels Hand auch in seiner Tasche, und ein breites scharfes Messer, wie Bauern und Fischer es in einer Lederscheide tragen, blitzte den Männern entgegen, die es nicht wagten, näher zu kommen.
„Wahrt euer Leben,“ sagte Thorkel, „ich rathe es euch. Du aber. Du schlechter Mann, wisse, daß Deine Falschheit Dir nichts helfen soll, Du wirst daran zu Schanden werden. Was ich an Kleidern trage, habe ich von Dir gekauft, auf Deinen Rath, und da wir es zusammenrechneten, betrüg meine Schuld acht Thaler. Ich kam Dir diese zu bringen, denn ich mag nicht in Deinem Schuldbuche stehen. Hier ist Dein Geld, und jetzt macht Platz, ihr dort, und schämt euch Alle eurer schlechten Handlungen wegen.“
Er legte acht Thaler auf den Tisch, die Herr Schiemann mit Verwunderung ansah. Nicht acht Groschen hatte er bei dem Burschen vermuthet und er wollte schon fragen, wo dieser das Geld gestohlen habe, aber Thorkel sah nicht aus, als ob er sich noch mehr gefallen ließe. Er hielt das Messer noch immer fest, und seine Augen hatten einen röthlichen Glanz, sie flogen wie Falkenaugen umher. Den starken Clas hatte er mit dem einen Schlag von sich geworfen, daß er noch immer wie betäubt stand; einem solchen verwegenen Kerl war leicht noch Schlimmeres zuzutrauen. Herr Schiemann schwieg daher, obwohl er voller Aerger war, denn Thorkel halte die Rache, die er ihm zugedacht, vereitelt. Nackt und bloß sollte er aus dem Hause gejagt und dabei ordentlich durchgewalkt werden. Die beiden Arbeiter hielten dazu schon die Schnallenriemen ihrer Lederschürzen bereit; jetzt ging der freche Kerl davon, ohne daß ihm ein Finger weh that. Es konnte ihn Niemand halten.
„Hinaus mit Dir!“ rief daher der reiche Kaufmann, „Du sollst bald finden, was Du verdienst von Voigt und Gericht.“
„Ich fürchte mich nicht vor Dir,“ antwortete Thorkel lachend. „Du wirst es schon lassen, mich anzuklagen, denn Du hast ohne alles Recht mich angegriffen, und Deine schlechten Handlungen würden an den Tag kommen. Sei also froh, wenn ich schweige, und nimm Dich wohl in Acht vor den Steinen, die auf Deinem Wege liegen.“
Damit ging er stolz auftretend hinaus, und Niemand rührte sich, um ihn anzutasten; als er aber fort war, schleuderte Herr Schiemann den Brief an den Voigt in eine Ecke des Schreibtisches, denn er dachte nicht mehr daran ihn abzuschicken, hatte auch überhaupt wohl nur Thorkel damit schrecken und einschüchtern wollen. Verdrießlich zog er die Stirn zusammen und schwieg eine Minute lang; darauf sagte er zu den Arbeitern: „Ihr mögt gehen, doch sagt es allen Anderen, daß keiner sich untersteht, mit diesem Vagabund Gemeinschaft zu halten. Arbeit soll er in Molde nicht finden, dafür werde ich sorgen, und jeder Mann am Fjord, der sich mit ihm einläßt, soll keinen Fisch hier verkaufen, so wahr ich Schiemann heiße!“
Das war ein schweres Wort von dem Heren und hatte Gewicht. Die Kaufleute hielten zusammen in allen Dingen, daher besaßen sie große Macht und Gewalt. Wo ein Fischer widerspenstig war, die Preise nicht annehmen wollte, die einer der Herren ihm bot, oder sich grob und aufsässig zeigte, nahm ihm keiner mehr seine Waare ab, auch wenn er sie halb so billig lassen wollte. Das ist so üblich an diesen Küsten, darum sind die Fischer ganz in den Händen der Kaufleute, und diese Acht war nun über Thorkel ausgesprochen, der eilen mochte, daß er wo anders hinging, um sein Leben zu fristen.
Die Arbeiter gingen erschrocken fort, Clas jedoch blieb noch stehen, und zu ihm wandte sich Herr Schiemann, halb ärgerlich, halb hämisch, indem er ihn von der Seite ansah. „Er hat Dir wohl den Kopf eingeschlagen, Clas,“ fragte er, „daß er Dir so wackelt?“
„Beinahe,“ sagte Clas, die eine Kopfseite haltend, „aber noch nicht.“
„Warum wehrtest Du Dich nicht besser?“
„Ein ander Mal soll’s geschehen. Ich versah’s mir nicht,“ murmelte Clas grimmig.
„Die Stelle bekommst Du,“ sagte Schiemann, „aber ich schenke Dir ein sechsrudrig neues Boot obenein, wenn Du es dem Hallunken für immer eintränkst.“
„Es wird sich schon finden, wo ich es kann,“ versetzte Clas und verzerrte sein Gesicht.
„So thu’s,“ antwortete Schiemann. „Bring ihn fort von hier auf irgend eine Weise, sonst macht er uns noch mehr Aerger und Scham. Er soll nicht wieder in des Pfarrers Garten, laure ihm auf und vertreibe es ihm. Geschieht es nicht, so wird er Dir auch die Sigrid stehlen.“
„Bei Gott,“ sagte Clas und ballte seine Fäuste, „er soll nicht weit mehr kommen. Der Schlag an meinem Kopf soll ihm vergolten werden, mag’s Blut und Leben kosten.“
„Schweig still, Du Narr!“ sagte Herr Schiemann und lachte dabei, „solche Worte muß man nicht aussprechen. Es ist an dem schlechten Buben wahrlich nichts gelegen, und Niemand würde sich viel um ihn kümmern, aber wenn ihm etwas zustieße, könnte man meinen, Du seist Schuld daran. Geh und mache Dir einen Umschlag, Deine Backe schwillt an; heil’s aber auch von innen mit einem vollen Glase auf meine Kosten.“
So ging Clas und er hatte sich Alles, was Herr Schiemann gesagt, gut gemerkt, denn als er darauf mit seinen Cameraden beisammen saß, schimpfte und fluchte er nicht über Thorkel, sondern sprach von ihm weit mehr mit Bedauern über die Bosheit, mit welcher er alle Güte des Herrn Schiemann vergolten und so ihm selbst, der es gut mit ihm gemeint, dafür aber geschlagen worden sei. Das aber möchte vergeben und vergessen bleiben alle Zeit. Als es zu dunkeln begann, begab sich Clas nach Hause und hielt dort mit seiner Mutter Rath, die soeben von Gullik Hansen gekommen war. Sie sagte ihm mancherlei gute Nachrichten, welche Clas mit Wohlgefallen anhörte. „Gut, Mutter, gut!“ sprach er endlich, „es soll Alles so geschehen, wie Gullik es anordnet, gleich will ich zu ihm hin und es ausführen. Ehe der Morgen kommt, bin ich wieder da.“
[452] Er stülpte seinen Hut auf, und Grete streichelte ihn und sagte kichernd: „Alles ist Dein, Clas, Alles was Gullik hat. Denn der Junge wird nicht groß, der muß sterben, und wie Sigrid ist keine Andere weit umher. Mach’s also klug; wenn Du sie hast, soll sie schon gehorchen.“
„Das soll sie, Mutter,“ antwortete Clas, „ich will ihr die falschen Gedanken austreiben. Jetzt geh ich hin, mit dem einen Racker fertig zu werden, die anderen sollen ihm nachfolgen.“
„Mach’s klug, Clas, mach’s klug!“ schrie die weise Grete ihm nach, „thue Alles was er Dir sagt!“
Clas lachte wild auf, ging hinaus und kam nach einer Weile zu Gullik Hansen in die Stube. Der Fischer saß wiederum an seinem Heerd und sah noch finsterer aus als am Tage zuvor. Clas wußte schon warum. Der Fang war wiederum schlecht gewesen, und in der Kammer lag das Kind, kränker noch als er es verlassen.
„Guten Abend, Gullik,“ sagte Clas.
Gullik öffnete kaum die Lippen, sah in’s Feuer.
„Wo ist Sigrid?“ fragte Clas.
Gullik deutete auf die Kammerthür.
„Nun! nun!“ sprach Clas leise, „es thut mir weh. Du hast den Teufel im Hause, der muß fort.“
„Komm heraus,“ sagte Gullik und stand auf.
Sie standen Beide unter dem Vorbau. Der Wind trieb die Wolken von Westen her, auf dem Fjord lag Nebel, dann und wann blitzte ein flimmernd Leuchten über den Himmel.
„Willst Du es thun?“ fragte Gullik.
„Ja, gerne,“ antwortete Clas. „Alles was Du sagst.“
Der Fischer schwieg eine Weile, sah über das Wasser hinaus ostwärts hin und fuhr dann fort: „Du kannst in drei Stunden in den Langfjord sein, kannst auch ein Segel brauchen; der Nebel wird weichen, dann kommt der Mond.“
„Ich richt’s getreulich aus,“ sagte Clas, „Du weißt, ich kenne jeden Stein. Wo ist der Teufelshund?“
„Ich habe ihn in einen Sack gesteckt,“ murmelte Gullik „zugebunden und in die Jolle gelegt.“
„So leb wohl,“ sprach Clas, „ich will ihn versorgen.“
Der Fischer hielt ihn bei der Hand fest. „Höre, Clas,“ begann er, „Anders hat das Thier lieb, Sigrid auch, Uebles soll ihm nicht geschehen. Du sollst mir geloben, dem Hund nichts zu Leide zu thun, sollst ihn in’s Wasser werfen unter den hohen Felsen von Roe, von dort hat ihn“ – er sprach den Namen nicht aus, der ihm auf die Lippen kam – „von dort ist er hergekommen,“ verbesserte er sich.
„Ich gelob’s sicherlich; bring ihn lebend und gesund bei Roe in’s Wasser,“ sagte Clas.
„So fahr mit Gott!“ sprach Gullik, ließ ihn los und ging in’s Haus zurück.
Clas ging hinunter, wo an den Steinen die Jolle des Fischers lag. Die Ruder in den Bändern, ein leichtes Segel über dem Stern, unter der Stange aber ein Sack, aus welchem ein grimmiges Geknurr kam, als er seine Hand darauf legte. „Wart, du sollst schon ruhig werden,“ murmelte Clas, und im nächsten Augenblick schwamm die Jolle unter dem Ufer hin. Er warf sich auf die Ducht, faßte die beiden Riemen und arbeitete mit Kraft und Geschick. Die Fluth drang eben in den Fjord und half ihm, das leichte scharfe Boot schoß pfeilschnell unter Kirche und Pfarrhans fort, quer über den Torsfjord, dann über die tiefe Bucht des Romsdalsfjord, gerade auf den Langfjord los. Die dichten Nebelschichten auf dem Wasser hielten den starken Ruderer nicht auf, er sah sich kaum einmal um nach den Felsen und Klippen, die an manchen Stellen aus der Tiefe auftauchten und mit ihren schwarzen Massen die Finsterniß vermehrten. Clas leitete sein kleines Fahrzeug mit festen Schlägen an mancher Kante vorbei, wo die Fluthwelle aufschlug und mit weißem Gischt hoch aufspritzte. Er ermüdete nicht, und seine Kraft ließ nicht nach. Daher trieb schon, noch ehe die dritte Stunde um war, die Jolle in den schmalen Wasserspalt, der Langfjord genannt, dessen hohe Uferwände dann immer mehr aufstiegen und die dunkelste Nacht umher verbreiteten. Hier lag der Nebel so fest und schwer, daß vom Himmel gar nichts zu sehen war. Wehte schon draußen kaum dann und wann ein Windhauch, so ließ sich hier gar nichts davon spüren, aber das phosphorische Zucken, das zuweilen wie Blitzgezitter durch das Dunkel drang und bald nach dieser, bald nach jener Seite hin über das Boot forthuschte, wurde ab und zu heller und beleuchtete auf Augenblicke ein paar Schritte weit den Nebel und das Wasser. Wenn Clas hinauf sah, war es, als schwebe ein riesiges Gespenst, ein fahles Licht in seiner nassen Riesenhand, über dem Fahrzeug und folge ihm nach. Dann und wann hielt er die Ruder an, blickte nach dem Geflacker und horchte in den Nebel hinein. Es kam ihm vor, als sei nicht weit von ihm ein Geräusch entstanden, aber er konnte doch nichts sehen, auch nichts hören. Er legte sich hart in die Riemen und holte so fest aus, daß sie sich bogen und die Jolle schäumend durch das Wasser schnitt.
Es that es ihm Keiner darin gleich; wer hinter ihm war, mußte zurückbleiben. Doch nach einer halben Stunde war’s wieder so, als ob ein Ruderschlag vor ihm her geschah. Er sah sich um, da blieb es still. „Es wird ein Lachs sein, der aufspringt,“ sagte Clas, „weiter ist es nichts. Allem Trollenspuk hier umher hat der heilige Olaf ein Ende gemacht. Der hat all das wüste Hexenvolk in die Klüfte der Romsdalsfjellen gestürzt und zu Stein verwandelt. Ich bin nicht so dumm, mich davor zu fürchten,“ lachte er auf, „nicht so dumm, wie Gullik Hansen.“ – Er schwieg still, es rauschte in dem dichten Nebel zur Seite. In der Ferne klang’s, als schlüge eine Kirchenuhr; es mußte Mitternacht sein, und wie er horchte, fuhr plötzlich ein scharfer Windstrom durch die schmale Felsengasse. „Heida!“ rief er, „der Wind setzt um. Da drüben liegt Besdals Kirche, hier fangen die hohen Klippen von Roe an, jetzt will ich nicht weiter. Komm her, du Satansvieh, wir haben ein Wort zusammen zu sprechen. Lebendig bist du, gesund bist du auch, ich hab’s an Gullik so gelobt und getreu gehalten. Habe ihm zugesagt, dich hier in’s Wasser zu werfen, aber nicht versprochen, dich aus dem Sack zu thun. Mußt also zusehen, wie es sich da drinnen leben läßt, ob die Fische zu dir hinein kommen oder du zu ihnen hinaus, wenn der Neck dir hilft oder –“
„Ich!“ sprach eine Stimme im Nebel neben dem Boote, und Clas fiel beinahe zu Boden. Er hatte die Schalten eingezogen und stand neben dem Sack am Stern, als ein harter Stoß die Jolle erschütterte. In dem Augenblick flammte ein helles Leuchten auf, und Clas sah dicht an seinem Bord eine andere Jolle, und vorn in der Spitze, keinen Fuß weit von ihm, stand Thorkel. Er sah ihn genau stehen, erkannte jeden Zug in seinem Gesicht, sah, daß er im Begriff war, hinüber zu springen. Da raffte sich Clas auf, und sein Arm fuhr durch die wiedergekehrte Finsterniß. Ein schwerer Körper schlug rückwärts über ins Wasser und versank darin, der Sack mit dem Hund flog hinter ihm her.
„Jetzt freßt Euch Beide!“ schrie Clas, sprang an die Sitzbank und griff nach einem seiner Schalten. Mit beiden Händen das schwere Holz schwingend, suchten seine Augen den Punkt, wo Thorkel auftauchen sollte, und dort rauschte es im Wasser, ein gurgelnder Ton, wie ein erstickter Schrei, drang heraus. Mit furchtbarer Gewalt sauste das Ruder nieder, darauf kein Laut mehr. Der Nordlichtschein huschte über die Fläche hin, nichts als Blasen waren zu sehen und ein langer schaumiger Streifen. Noch stand Clas in grimmiger Siegesfreude, erbarmungslos lauernd; da öffnete sich der Himmel über ihm, und wie von einer blutigen Sonne beleuchtet, lagen Wasser und Nebel in Blut verwandelt. Es dauerte nur einen Augenblick, aber ein Grausen überkam den grimmigen Mann. Die Jolle, von welcher er Thorkel herabgestürzt, lag noch dicht neben ihm; er ergriff sie bei der Kette, hakte sie an sein eigen Boot, und dann ruderte er mit aller Macht, daß er in wenigen Minuten weit von dem Schauplatz seiner That sich befand.
Das Nordlicht aber schlug immer wieder seine rothen Augen auf, leuchtete ihn an und zeigte ihm zu beiden Seiten des Fjord die glatten steilen Felsenwände, welche unersteigbar in das düstere Becken sanken. Kein Mensch konnte sich hier vom Tode retten, er konnte sich nicht anklammern, nicht halten, nicht aufsteigen. Da war kein Busch, kein Strauch; nichts als lange Seetanghalme, die auf- und niederwogten; viele Faden tief kein Grund. Wie Clas das dachte, und daß auf eine Meile weit kein Platz sei für eines Menschen Fuß, ruderte er mit größerer Macht; doch immer wieder huschte das blutige Licht über ihn hin, und in der Dunkelheit rauschte es und begann zu winseln. Es war ihm, als höre er ein Geschrei, Thorkel’s Stimme, die ihm nachrufe: „Halt, Du Mörder, halt!“
Er sprang auf, riß die Kette der Jolle von der Ducht los, wo er sie festgemacht, und fuhr dann eilig weiter. „Der Teufel
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hat Dich hergeführt, der Teufel mag Dir beistehen!“ schrie er wild lachend. „Da ist Dein Boot, er mag es Dir bringen!“
Eben befand er sich am Ausgange des schmalen Felsenspalts, und vor ihm lag wieder das breite Wasser. Jetzt sprang der Wind auf und er wehte nördlich. Clas stellte sein Segel, das kleine Fahrzeug flog rasch dahin, dann kam der Mond durch Wolken und Nebel und leuchtete ihm. Er wischte den Schweiß vom Gesicht, es wurde ihm leichter. Niemand wußte, was er gethan, und es ward ihm immer gewisser, es sei recht und sollte so sein. Wie kam der elende Tagedieb ihm nach? Hatte er ihm aufgelauert, war er ihm nachgeschlichen, der verdammte Spion? Oder war es doch Alles ein Hexenspuk, war’s ein Gespenst, das ihn so genarrt? – „Nein, nein!“ sagte Clas, „er war’s, und dies ist meine Hand, die ihn niedergestürzt, dies ist der Sprung im Ruder, als ich ihn auf den Kopf schlug. Recht ist Dir geschehen. Du schlechter Kerl. Jetzt sind wir sie Beide los, den Teufelshund und ihn. Mag man ihn finden, wenn er nicht unten bleiben will bei den Riesen und Trollen, was geht es mich an? Wer wird sich um ihn kümmern? Herr Schiemann sagt’s auch; jedermann wird froh sein, und jetzt ist Keiner da, der mir die Stelle und Sigrid nehmen soll!“
Mit solchen Tröstungen beendete Clas seine nächtliche Fahrt, langte wohlbehalten zu Hause an und schlief zufrieden ein.
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Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
Es war im Jahre 1770, als Heinrich Christian Boie, ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, mit gleichgesinnten Männern in Verbindung trat, um nach dem Vorbilde des mit großem Beifall aufgenommenen Pariser „Almanac des Muses“ von Göttingen aus einen „Deutschen Musenalmanach“ erscheinen zu lassen, der die Liebe und Achtung für die heimathliche Dichtkunst in immer weitere Meise des Volkes hinaustragen sollte. Obschon selbst ohne große poetische Begabung, glückte es dem jungen Manne, alsbald einen Dichterkreis um sich zu sammeln, welcher dem kleinen Göttingen für alle Zeiten einen Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen Nationalliteratur sichert und erst nach Jahrzehnten von dem Sternenkranze verdunkelt ward, der von Jena und Weimar aus seine leuchtenden Strahlen über Deutschland und Europa warf. Im Verein mit Gottfried August Bürger, dem Dichter der deutschen Volksballade, und bald darauf mit Johann Martin Miller mit dem Hannoveraner Wehrs, der gleich Boie kein großes poetisches Talent, aber ein feinfühlendes Urtheil für alles Schöne und Edle besaß, mit dem trefflichen Ludwig Heinrich Christoph Hölty, der jedoch schon sechs Jahre später ein Opfer der Schwindsucht wurde, mit Johann Heinrich Voß, dem Dichter der „Louise“ und Uebersetzer der Odyssee, welcher zu dieser Zeit nach Göttingen kam und den deutschen Musenalmanach mit fleißiger Hand unterstützte, knüpfte Boie einen Freundschaftsbund, der sich bald zu einer poetischen Genossenschaft mit ganz entschiedenem Charakter entwickelte. Alle waren von dem gewaltigen Eindruck erfüllt, welchen Lessings kürzlich erschienene Emilie Galotti und Klopstock’s David hervorgerufen, und begeisterten sich im Glauben an ihren eigenen Dichterberuf. Auch Karl Friedrich Cramer, der Sohn des Kopenhagener Hofpredigers, Gottlieb Dietrich Miller, ein Vetter Johann Martins, Esmarch aus Angeln, Meyer aus Harburg, Hahn aus Zweibrücken, Johann Anton Leisewitz aus Celle, die Gothaer Ewald und Seebach schlossen sich neben manchen Anderen jenem Sängerkreise als Mitwirkende oder Mitempfindende an.
Schon im Sommer 1772 begannen die Genannten sich unter Boie’s Vorsitz, der bei diesen Zusammenkünften den bedeutendsten Einfluß übte und als Herausgeber des Musenalmanachs seinem gereiften Urtheile eine praktische Bedeutung unterlegen konnte, regelmäßig an jedem Sonntage, später am Sonnabend Nachmittags zu versammeln, um bei Kaffee und Tabak Klopstock’s und Rammler’s Gedichte zu lesen, sodann die Producte der Genossen anzuhören und gegenseitig zu beurtheilen. Der Tabak spielte hierbei eine Hauptrolle. Voß hatte ihm seine „Ode an den Pfeifenkopf“ gewidmet, Hölty die „Tabakspfeife“ gesungen und Ewald in einem Liede den Apoll sogar zum „Tabaksgott“ erhoben, der dieses edle Kraut wachsen ließ, um durch das „Käuen und Lecken“ desselben die Sterblichen von der Pest zu befreien.
Bald nahm das Dichterkränzchen eine bestimmtere Form an. Voß, einer der Hauptstifter des kurz darauf mit dem Namen des Hainbundes bezeichneten Vereins, berichtet über seine Gründung an seinen Freund Brückner: „Ach, den 12. September (1772), da hätten Sie hier sein sollen! Die beiden Miller’s, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem nahegelegenen Dorfe (Wehnde bei Göttingen). Der Abend war außerordentlich heiter, und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch und begaben uns darauf in’s freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns Allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns Alte bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum - riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an und versprachen uns eine ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die größte Aufrichtigkeit in unseren Urtheilen gegen einander zu beobachten und zu diesem Endzwecke die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feierlicher zu halten. Ich ward durch’s Loos zum Aeltesten erwählt. Jeder soll Gedichte auf diesen Abend machen und ihn jährlich begehen.“
Sehr wahr bemerkt R. E. Prutz in seiner Schrift über den „Göttinger Dichterbund“: „In Voß’s vertraulicher Schilderung haben wir die Grundelemente des Bundes vollständig beisammen: den Freundschaftsenthusiasmus, die abstracte Freiheitsliebe und das Bardenwesen (woher der Hut und die Eiche), und als Rahmen gleichsam des Ganzen die Kleist’sche Naturschwärmerei, die in sentimentalem Aufschwung schon hier, wie ein Vorbote des Siegwart, den Mond zum Zeugen anruft.“
Der Hainbund gewann jedoch bald eine entschiedene Richtung, die in Klopstock ihren Ausgangs- und Mittelpunkt hatte. Hierzu trugen namentlich Cramer, der die persönliche Bekanntschaft des gefeierten Dichters im Hause seines Vaters gemacht hatte, Hahn, dessen feurige Natur in Klopstock’s Oden den höchsten Ausdruck dichterischer und vaterländischer Begeisterung fand, und endlich Voß bei, der nach Durchlesung des „Messias“ über den Dichter schreibt: „O welch ein Mann ist Klopstock; ein Prophet, ein Engel Gottes kann nicht mehr die Seele durchbohren, als unser Klopstock!“ Noch inniger wurde das Verhältniß des Hainbundes zu Klopstock, als im Herbst desselben Jahres die beiden Grafen Christian und Friedrich Leopold von Stolberg nach Göttingen kamen und die Verehrung für den gefeierten Meister auf’s Höchste steigerten. In ihm erblickte der Bund den großen deutschen Sänger, dessen wieder von Freiheit, Vaterland und deutscher Heldentugend wiedertönten, während den „Galliern“, namentlich Voltaire, um die Wette Tod und Verderben geschworen wurde; dagegen galt Wieland, der Dichter des „Oberon“, den Verbündeten als Sittenverderber und Verräther. Das Bundesgelübde bestand in dem Schwur: „Religion, Tugend, Empfindung und reinen unschuldigen Witz zu verbreiten“. – Gern ergriffen sie daher jede Gelegenheit, ihre Begeisterung für den Dichter der Messiade laut und stürmisch an den Tag zu legen, wie ihren Haß gegen Wieland in zürnender Weise kund zu geben. Hierzu fand sich bald eine willkommene Gelegenheit.
Der zweite Juli des nächsten Jahres, Klopstock’s 49. Geburtstag, sollte mit großer Feierlichkeit von dem Hainbunde begangen werden. In festlichen Kleidern versammelten sich an dem genannten Tage die Bündner auf Hahn’s Zimmer, in welchem eine lange Tafel gedeckt und mit Blumen geschmückt war. Am obern Ende stand ein Lehnstuhl ledig für Klopstock, mit Rosen und Levkoyen bestreut, und auf ihm Klopstock’s sämmtliche Werke. Unter dem Stuhle lag Wieland’s „Idris“ zerrissen. Jetzt las Cramer aus den Triumphgesängen und Hahn etliche sich auf Deutschland beziehende Oden von Klopstock vor. Darauf wurde tapfer Kaffee getrunken und die Pfeifen angezündet, wozu man die Fidibus aus Wielands Schriften benutzte. Boie, der einzige Nichtraucher in der Gesellschaft, mußte doch auch einen Fidibus anzünden und mit den Füßen auf den zerrissenen Idris stampfen. Alsbald wurde die Tafel mit Flaschen voll Rheinwein besetzt. Mit Ernst und Würde trank man im funkelnden Rebengolde Klopstock’s Gesundheit, dem sich bald Toast an Toast auf Luthers Andenken, auf Hermann’s Gedächtniß, auf des Bundes, Ebert’s, Goethe’s, Herder’s Gesundheit anschloß. Der begeisterte Hahn verlas Klopstock’s Ode an den Rheinwein, andere folgten nach. Das Gespräch wurde wärmer und wärmer. Die Hüte auf dem Kopfe stieß man an auf Freiheit und deutsches Vaterland, aus Tugend und Männerwürde. Da brachte einer der Freunde Wieland’s komische Erzählungen herbei. „Verbrannt, verbrannt!“ erscholl es in der Runde, und sogleich loderte die Flamme auf! „Hier auch,“ rief ein Anderer, „das Fratzengesicht aus dem Taschenbuch!“ und unter schallendem Jubel riß man das Titelbild Wieland’s, das dem Leipziger „Almanach der deutschen Musen“ vorgedruckt war, aus dem herbeigeholten Buche und weihte es ebenfalls den Flammen, die in ihrer Gluth das arme Bild dreimal in die Höhe führten, bevor sie es verzehrten.
Diese Klopstocksfeier, „das Wartburgfest der Göttinger Freunde“, erschien den Anwesenden als eine wichtige Demonstration, die sie mit sorglicher Eile in’s Publicum berichteten. Der Bund an der Leine mit seinem literarischen Vehmgericht wurde dadurch noch bekannter in Deutschland und fand daselbst ebenso eifrige Freunde, wie verdächtigende Gegner, bis er nach wenigen Jahren (1778) durch Zerstreuung seiner Mitglieder nach den verschiedensten Gauen des Vaterlands sich trennte.
[455] So ehrlich es einige Mitglieder auch mit dem Vaterlande und ihrem Patriotismus meinten, konnte mit dieser Art Freiheitsliebe doch der guten Sache wenig genutzt werden. Es waren eben unpraktische Gefühlsmenschen und Schwärmer, die mit einigen Phrasen und Gedichten die Sache abgemacht glaubten. Der hohe Schwung eines Schiller, der die Begeisterung für alles Große, Hohe und Edle im Menschen so mächtig zu wecken wußte, ging ihnen vollständig ab. Selbst die Bedeutendsten darunter bewegten sich in kindischen und nahezu lächerlichen Dingen. „Wir drei (Voß, Stolberg und Hahn),“ erzählt Voß, gingen bis Mitternacht in meiner Stube ohne Licht herum und sprachen von Deutschland, Klopstock, Freiheit, großen Thaten und von Rache gegen Wieland, der das Gefühl der Unschuld nicht achtet. Es stand eben ein Gewitter am Himmel, und Blitz und Donner machten unser ohnedies schon heftiges Gespräch so wüthend, daß wir in dem Augenblick ich weiß nicht welcher großen Handlung fähig gewesen wären!“ – In diesen sentimentalen Gefühlsscenen suchten sie die Höhe ihrer Vaterlandsliebe, von praktischen Bestrebungen war keine Rede. Die Poesie war ihnen schon eine That. Trotz alledem müssen wir das, wenn auch unklare Streben dieser idealen Fahnenträger als ein achtungswerthes bezeichnen. In ihren Gedichten lag zweifellos die Absicht vor, zur Wiedergeburt des Vaterlandes, zur Verjüngung der Herzen, zur Erfrischung und Reinigung der Sitten zu wirken und so den Strom des Lasters und der Sclaverei aufzuhalten. In vielen Herzen haben ihre Gesänge auch wirklich eine heilige Flamme angezündet.
Bedeutende Sonnenfinsternisse sind Erscheinungen, welche von jeher, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, die höchste Aufmerksamkeit erregt haben, sowohl bei dem stumpfsinnigsten Beschauer derselben, welcher, überrascht durch das plötzliche Verschwinden der Sonne, in abergläubische Furcht oder wenigstens in ein banges Staunen versetzt wird, sobald die strahlende Sonnenscheibe sich nach Verlauf weniger Minuten wieder in dem früheren Glanze zeigt, – als auch bei dem Astronomen von Fach, welcher Ursache und Wirkung bei dem Vorgänge kennt und sich die kleinsten Einzelnheiten der Erscheinung vollkommen zu erklären weiß.
Wenn auch die Sonne bei uns in Deutschland in den ersten Nachmittagsstunden des 18. Juli nicht vollständig durch den Neumond bedeckt wird, wenn vielmehr von ihr noch eine nach den beiden Enden hin schmaler werdende Sichel übrig bleibt, deren größte Breite 1/4 bis 1/3 des ganzen scheinbaren Sonnendurchmessers beträgt, so ist die bevorstehende Sonnenfinsterniß auch für unsere Gegenden eine immerhin beachtenswerthe Himmelserscheinung, zumal sie von Jedem, ohne Anwendung eines Fernrohres oder anderweitiger großer Hülfsmittel außer einem geschwärzten Uhrglase, beobachtet und in ihrem ganzen Verlaufe verfolgt werben kann. Größeres Interesse erregt sie natürlich in denjenigen Gegenden, wo die Sonne gänzlich von dem Monde bedeckt wird, oder wo die Sonnenfinsterniß total ist. Dies findet in Europa nur in dem nordöstlichen Theile von Spanien statt, vom biscayischen Meerbusen an bis zum mittelländischen Meere zwischen Cap Tortosa und Cap la Nao, sodann auf den Balearen und Pityusen. Die Zone oder der Erdstrich der totalen Finsterniß[1] geht sodann nach Afrika hinüber, wo man die Sonne in Algier und Constantine wird total verfinstert sehen, und endet in dem rothen Meere bei 16° nördl. Br.; der Anfang dieser Zone ist an der Westküste von Nordamerika, ungefähr bei dem Ausflusse des Oregon- oder Columbiaflusses zu suchen bei 46° nördl. Br., wo sie das britische Nordamerika bis zum atlantischen Ocean bei 60° nördl. Br. in einer nach N.-O. aufsteigenden Curve durchschneidet, die alsdann sich nach S.-O. bis zum biscayischen Meerbusen senkt und in Europa eintritt. Partial wird man die Sonne verfinstert sehen in ganz Nordamerika, Europa, dem größten Theile von Afrika und dem westlichen Theile von Asien. Für Leipzig (resp. für das mittlere Deutschland) wird die erste Berührung des westlichen Randes der Sonne durch den östlichen Rand des in der Richtung von Westen nach Osten vor die Sonne rückenden Mondes 21/4 Uhr Nachmittags stattfinden, und zwei Stunden später wird der Westrand des Mondes wieder gänzlich aus der Sonne heraustreten, so daß ungefähr um 31/4 Uhr die Mitte der Finsterniß und die Zeit ist, wo für den betreffenden Ort der Mond den größten Theil der Sonne verdeckt. Diejenigen Orte, welche westlich von Leipzig liegen, werden die Verfinsterung zeitiger beginnen und enden sehen, dagegen die östlich gelegenen später, wie die Leser dieser Zeilen aus ihren betreffenden Kalendern leicht ersehen werden.
Für wichtige und allgemein interessante Beobachtungen eignet sich aber nur die Zone der totalen Finsterniß, welche, wie oben erwähnt, in Europa nur einen sehr beschränkten Raum in Spanien einnimmt. Dagegen sind die Erwartungen der astronomischen Welt, welche man von der möglichst vielseitigen Beobachtung der diesmaligen totalen Sonnenfinsterniß in Spanien durch die bewährtesten Astronomen hegt, sehr groß; hoffentlich werden sie durch die Gunst des Wetters und die Geschicklichkeit der Beobachter erfüllt werden, und dadurch manche Probleme und Fragen der heutigen Astronomie ihrer Lösung nahe kommen.
Man wird wohl einsehen, daß die Astronomen nicht nur über die allmähliche Verdunkelung der Sonnenscheibe etc. etc. Beobachtungen anstellen, sondern daß sie bei Beobachtungen von Sonnenfinsternissen die Lösung anderer und wichtigerer Aufgaben im Auge haben, welche es wohl verdienen, daß man ihretwegen keine noch so weite Reise scheut, selbst auf die Gefahr hin, daß die Ungunst des Wetters jede andere Beobachtung vereitelt. Durch die vereinten Anstrengungen der berechnenden und der beobachtenden Astronomie werden allein die schönen Resultate erzielt, die man von der Beobachtung einer totalen Sonnenfinsterniß jetzt zu erwarten hat.
Zunächst kann man die Zeit und den Ort des Ein- und Austrittes der dunkeln Mondscheibe in und aus der Sonnenscheibe und der sogenannten inneren Berührungen der Ränder der Sonne und des Mondes genau bestimmen, hiernach die Beobachtung mit der Berechnung vergleichen und hierdurch die sogen. Sonnen- und Mondtafeln rectificiren, welche die Oerter der Sonne und des Mondes für eine gegebene Zeit am Himmel bestimmen; die Beobachtung der Sonnenfinsternisse verschafft uns also ein Mittel, die so sehr verwickelte Bahn des Mondes immer genauer zu bestimmen, und auf diese Weise alle späteren Vorausberechnungen von Himmelserscheinungen, bei denen der Mond eine Rolle spielt, immer genauer anzustellen. Schon dies ist ein großer Gewinn für die Wissenschaft, aber von Interesse fast allein nur für den Astronomen von Fach, aber auch in gewisser Beziehung für jeden Menschen, insofern man aus der Vergleichung alter und neuer Beobachtungen von Sonnenfinsternissen gefunden haben will, daß der Mond im Laufe der Zeiten sich rascher um die Erde bewege, als früher, daß also eine einstige Vereinigung des Mondes mit der Erde in Aussicht stehe. Soweit wird es indeß wohl nicht kommen; es sind noch andere Kräfte vorhanden, die den Mond in respectabler Entfernung von der Erde halten!
Ferner kann man die Sonnenfinsternisse benutzen zu Längenbestimmungen der Orte, wo die Sonnenfinsterniß beobachtet worden ist, also zu einer besseren Kenntniß der geographischen Lage einiger Orte der Erde. Die heutige Wissenschaft hat aber hierzu weit bessere Mittel, und die obenerwähnten Bestimmungen der Fehler unserer Sonnen- und Mondtafeln kann man ebenso gut an allen ständigen Sternwarten wahrnehmen, für welche die Finsterniß überhaupt sichtbar ist, so daß man zur Erreichung dieser Zwecke allein nicht nöthig hat, weite und vielleicht durch trübes Wetter fruchtlos gewordene Reisen zur Beobachtung einer totalen Sonnenfinsterniß zu unternehmen. Dagegen gibt es gewisse Erscheinungen, welche nur bei totalen Sonnenfinsternissen eintreten, und die von der höchsten Wichtigkeit für die Kenntniß der physischen Beschaffenheit
- ↑ D. h. das Stück der Erdoberfläche, welches durch die Achsendrehung der Erde während der Dauer der Finsterniß in einer gewissen Breitenausdehnung unter dem Mondschatten hindurch geführt wird.
[456] unserer Sonne sind. Diese Erscheinungen, auf welche die astronomische Welt erst seit der großen Sonnenfinsterniß vom 8. Juli 1842 aufmerksam geworden ist, sind: die Lichtkrone (Corona, Glorie), mit welcher der dunkle Mond während der totalen Sonnenfinsterniß umgeben ist, und die bergähnlichen Erhebungen (Protuberanzen oder Prominenzen), welche, ähnlich den in rosa- oder pfirsichblüthfarbenem Lichte erglühenden Alpenhörnern, bald nach Eintritt der totalen Verdunkelung der Sonnenscheibe sich zeigen.
Die Erklärung dieser interessanten Erscheinungen gehört zu den „brennenden Fragen“ der Astronomie; vielleicht wird sie durch die vereinte Anstrengung und Bemühung des diesjährigen astronomischen Congresses in Spanien zur Zufriedenheit aller Betheiligten gelöst werden. Die zur Beobachtung nöthigen Hülfsmittel sind verhältnismäßig sehr gering und der Art, daß nicht blos „gelernte“ Astronomen sich ihrer bedienen können; es sind dies nämlich: eine zuverlässige, Secunden zeigende Taschenuhr, ein mäßig großes Fernrohr von drei Zoll Oeffnung (des Objectivglases) nebst einem Blendglase und einem Positionsmikrometer, einer Vorrichtung zur Messung der Lage und Größe aller Erscheinungen an den Rändern der beiden Himmelskörper, endlich ein zweckmäßig eingerichteter Polarisationsapparat, um die Natur des Lichtes der Corona zu untersuchen. Diese einfachen Hülfsmittel genügen vollkommen zu der nur durch möglichst genaue und sorgfältige Beobachtung zu erreichenden Entscheidung der Frage, ob die Sonne in der That eine durchsichtige dritte Atmosphäre hat, die man bei dem hellen Lichte der Sonne sonst nicht wahrnehmen kann.
Vornehmlich zu diesem Zwecke begeben sich in diesem Sommer aus allen Theilen Enropa’s, ja sogar aus Amerika, Astronomen nach Spanien und der Nordküste von Afrika; die Resultate der vereinten Beobachtungen werden gewiß bald bekannt werden. Es dürfte daher vielleicht von Interesse sein, den Kernpunkt der ganzen Frage über die drei Atmosphären der Sonne in Kurzem darzulegen. Bekanntlich zeigt die Sonne, durch ein Fernrohr betrachtet, nicht das gleichmäßig glänzende Aussehen, wie man eigentlich erwarten könnte; vielmehr zeigen sich auf ihrer Oberfläche einzelne dunkle, fast schwarze Flecken, gewöhnlich umgeben von einer grauen Einfassung, Perumbra oder Hof genannt; neben diesen dunkeln Flecken sieht man aber auch solche Stellen, die heller leuchten, als die übrigen Theile der Sonnenoberfläche; man nennt sie Fackeln. Außerdem ist die ganze Sonnenscheibe noch bedeckt mit zahlreichen hellglänzenden Punkten und dazwischenliegenden Furchen, so daß der ältere Herschel die Oberfläche der Sonne nicht unpassend mit dem Anblick einer Pomeranzenschale verglichen hat.
Die gegenwärtig von den Astronomen allgemein angenommene Ansicht über die Ursache dieser Erscheinungen und über die physische Beschaffenheit der Sonne ist folgende. Die Sonne ist an sich ein dunkler Körper von kugelförmiger Gestalt, rings umgeben von zwei über einander gelagerten Umhüllungen oder Atmosphären. Die den dunklen Sonnenkörper unmittelbar einschließende Umhüllung ist eine unserer Atmosphäre analoge, aber aus einer zusammenhängenden Wolkenschicht bestehende Dunsthülle von großer Dichtigkeit, wenig oder gar nicht selbstleuchtend, wohl aber das Licht reflectirend. Ueber ihr dehnt sich die leuchtende Hülle, die Photosphäre der Sonne aus; Arago hat durch seine schönen Polarisationsversuche gezeigt, daß das Licht derselben von einem brennenden Gase herrührt, welches in sich feste glühende Theile enthält, wie die selbstleuchtenden Flammen unserer Kerzen oder des Leuchtgases, und daß es sich wesentlich unterscheidet von dem Lichte, welches ein glühender fester oder flüssiger Körper entsendet. Die Erscheinungen der dunklen und hellen Flecken der Sonne erklären sich nun sehr gut durch diese beiden Umhüllungen der Sonne. Man darf nämlich nur annehmen, daß zu gewissen Zeiten von dem Sonnenkörper beträchtliche Gasmassen aufsteigen, ähnlich unserem courant ascendant der Tropengegenden. Diese in die Sonnenatmosphäre sich erhebenden Gasmassen bahnen sich einen Weg durch die Wolkenschichten der beiden Umhüllungen und verursachen so dem betreffenden Theile des Sonnenkörpers eine kürzere oder längere Aufheiterung des sonst durch die dichte, zusammenhängende Dunsthülle ewig verschleierten Himmels; wir sehen durch die so entstandenen trichterförmigen Vertiefungen Theile des dunklen Sonnenkörpers als schwarze Flecken.
Die Wolkenschichten der Photosphäre werden durch das ausströmende Gas auf die Seite gedrängt, und da dasselbe in größerer Höhe nach Maßgabe des geringeren Druckes sich immer mehr ausdehnt, so werden die oberen Oeffnungen der Photosphäre größer sein, als die unteren der Dunsthülle; man erblickt daher um die schwarzen Sonnenflecken noch die durch Reflexion des Lichtes der Photosphäre matt erleuchtete Dunsthülle als den Hof oder die Perumbra. Die durch die aufsteigende Bewegung des Gases zurückgedrängten Lichtwolken der Photosphäre werden sich rings um die von dem Gase verursachten Oeffnungen anhäufen und die Lichtfackeln verursachen. Diese aufsteigenden Gasausströmungen scheinen sich übrigens auf eine gewisse Zone der Sonne zu beschränken. Denn die Sonnenflecken zeigen sich nicht an allen Theilen der Sonnenoberfläche; man sieht sie mit wenigen Ausnahmen nur in einer Zone, die sich zu beiden Seiten des Sonnenäquators, ungefähr 30 Grad, erstreckt.
Diese zwei Atmosphären der Sonne, die Dunsthülle und die Photosphäre, sind also hinreichend zur Erklärung der Sonnenflecken und Fackeln, aber die äußerste Grenze der Photosphäre ist noch nicht die äußerste Grenze der Sonnenatmosphäre überhaupt; nur können wir dieselbe erst dann wahrnehmen, wenn das strahlende Licht der Photosphäre durch einen vor dieselbe tretenden dunklen Körper für uns einige Zeit hindurch verdeckt wird, gleichwohl aber im Stande ist, eine sie umgebende durchsichtige, an sich aber dunkle, dritte Umhüllung der Sonne zu erleuchten. Diese günstigen Umstände der Wahrnehmbarkeit derselben für unsere Augen treten aber nur bei totalen Sonnenfinsternissen ein; daher ist es für die Frage, ob die Sonne wirklich eine dritte Atmosphäre habe, von der höchsten Wichtigkeit, alle Erscheinungen, die sich nur bei einer totalen Sonnenfinsterniß an den Rändern der Sonne und des Mondes zeigen, sorgfältig zu beobachten. Die diesmaligen Beobachtungen am 18. Juli werden um so entscheidender sein, insofern man jetzt genau weiß, was und wie man bei diesen Erscheinungen beobachten muß. Daß man dies nicht schon früher gewußt hat, rührt davon her, daß man diese Erscheinungen erst seit der großen Sonnenfinsterniß vom 8. Juli 1842 in ihrer vollen Tragweite für die Kenntniß der physischen Beschaffenheit der Sonne erkannt hat. Allerdings hat man schon früher bei totalen Sonnenfinsternissen um den die Sonne verdeckenden Mond einen hellen, in weißem Lichte glänzenden Schein wahrgenommen, die Lichtkrone oder der Heiligenschein (Gloria) genannt, so z. B. 1706, 1715, 1724, 1778, 1806. Man hielt aber diese Erscheinung nur für eine Wirkung der Beugung der Sonnenstrahlen, welche diese an dem Rande jedes zwischen sie und unser Auge gestellten dunkeln Körpers erfahren; erst Arago machte 1842 darauf aufmerksam, daß man durch positive oder negative Beobachtungen von Polarisations-Erscheinungen an dieser Lichtkrone zu einem entscheidenden Resultate gelangen könne. Zeigt nämlich das weißliche Licht der Krone deutliche Spuren von Polarisation, dann kann es nicht von einer Beugung der Sonnenstrahlen herrühren; denn diese selbst zeigen keine Spur von Polarisation; man muß alsdann dieses Licht als ein reflectirtes betrachten, das uns von der durchsichtigen, durch die Photosphäre der Sonne erleuchteten dritten Atmosphäre der Sonne zugesendet wird.
Schon 1842 haben Arago und Mauvais und 1851 d’Abbadie und Edland in Schweden deutliche Polarisations-Erscheinungen an der Corona beobachtet, und die diesmaligen Beobachtungen werden dieselben hoffentlich für immer genau feststellen. Für die dritte Sonnenatmosphäre sprechen noch überdies die von Secchi, Director des Collegio Romano, im Jahre 1852 gemachten Wahrnehmungen, zufolge deren die Sonnenscheibe in der Mitte mehr Wärme ausstrahle, als von Punkten näher an dem Rande, woraus man schon a priori die Folgerung ziehen kann, daß die Photosphäre der Sonne von einem Wärme absorbirenden Mittel umgeben sein müsse.
Endlich lassen sich die obenerwähnten röthlichen, bergähnlichen Erhebungen (Protuberanzen) an dem Mondesrande auf keine Weise besser erklären, als durch die Annahme einer dritten Umhüllung der Sonne, insofern nämlich diese Protuberanzen Aufwallungen in der untersten Schicht der dritten Atmosphäre seien, vielleicht Wolkenmassen, die von der Photosphäre erleuchtet und gefärbt werden. Es ist hierbei sehr stark zu vermuthen, daß diese Erscheinungen mit der Bildung von Sonnenflecken in Verbindung stehen, sodaß sie die letzten Spuren der von dem Sonnenkörper aufsteigenden Gasausströmungen sind. Die bisherigen Beobachtungen dieser Erscheinungen bei den Sonnenfinsternissen vom 8. Juli 1842. 28. Juli 1851 und 7. September 1858 (in Brasilien) haben bereits festgestellt, daß diese Protuberanzen am westlichen Rande von Beginn der totalen Finsterniß an bis zum Ende derselben an Dimension [457] zugenommen haben, während die Protuberanzen an dem östlichen Rande in demselben Zeitraum an Größe abnahmen. Hiernach scheint der Mond bei seiner Bewegung von West nach Ost über die Sonnenscheibe die östlich von ihm gelegenen Theile der dritten Sonnenatmosphäre immer mehr und mehr zu bedecken, dagegen die westlich gelegenen frei und sichtbar zu lassen. Ja, man hat sogar 1842 und 1858 die westlichen Protuberanzen noch einige Secunden nach dem Wiedererscheinen der Sonne gesehen, sodaß man sie keineswegs als eine bloße Spiegelung ansehen kann, wie einige Astronomen allerdings wollten. Auch haben alle Beobachter an verschiedenen Orten dieselben Protuberanzen in derselben Gestalt und an denselben physischen (nicht scheinbaren) Punkten der Sonnenscheibe gesehen. Hiernach kann man diese Erscheinungen wohl kaum noch für Mondberge oder für Spiegelungen und Beugungen des Sonnenlichtes halten, sondern nur für hellerleuchtete Wolken der dritten Atmosphäre der Sonne. Die Entscheidung hierüber wird in wenigen Tagen, am 18. Juli in Spanien, stattfinden.
Aber noch eine andere für die Kenntniß unseres Planetensystemes wichtige Streitfrage wird an diesem Tage entschieden werden, nämlich die über die Existenz eines oder mehrerer kleiner Planeten ganz in der Nähe der Sonne, die man nach des berühmten französischen Astonomen Leverrier Angaben als kleine helle Punkte dicht neben der total verfinsterten Sonne auffinden könnte. Im vorigen Jahre hat bekanntlich Leverrier, gestützt auf seine Untersuchungen der Bewegung des Mercur und der bisher noch nicht völlig erklärten Störungen desselben, die Vermuthung ausgesprochen, daß zwischen Mercur und der Sonne noch eine Anzahl kleiner Planeten rotiren, deren Zusammenwirken die Störungen des Mercur in seiner Bahn sehr gut erkläre. Bald darauf erhielt er vielfache Berichte über vermeintliche Entdeckungen dieser kleinen Planeten, denen allen er keinen Glauben schenkte, bis auf den eines Landarztes Lescarbault in Orgères (Departement Eure et Loire), wonach derselbe am 26. März 1859 auf der Sonnenscheibe einen kleinen schwarzen Körper entdeckt haben wollte, der sich durch sein schnelles Fortrücken von den gewöhnlichen Sonnenflecken merklich unterschied und nach Lescarbault’s Berechnung eine Umlaufszeit von nur 19 Tagen 17 Stunden haben soll. Leverrier überzeugte sich zunächst durch eigene Anschauung der Lescarbault’schen Instrumente und Beobachtungsmethode von der Richtigkeit der Entdeckung und forderte demgemäß allen Ernstes die Astronomen auf, bei der diesmaligen totalen Sonnenfinsterniß in Spanien nach diesen sonnennächsten Planeten zu forschen. Bei eintretender totaler Verfinsterung der Sonne kann man mit bloßem Auge nur die hellen Planeten und Sterne sehen, weil man bis zum letzten Sonnenblicke noch von dem strahlenden Sonnenlichte geblendet ist. Deshalb schlug Leverrier vor, daß sich ein Beobachter bis zum Eintritt der totalen Finsterniß in einem dunkeln Zimmer aufhalten solle, damit er noch Sterne von minder hellem Lichtglanze zu erblicken vermöge, und alsdann mit einem Planetensucher alle Gegenden des Himmels in unmittelbarer Nähe der Corona durchforsche und jedes aufleuchtende Pünktchen aufzeichne.
Eman. Liais, Director der brasilianischen Küstenvermessung, schreibt dagegen, er habe nicht nur an demselben 26. März 1859 die Sonne sorgfältig beobachtet und keinen solchen Fleck, wie Herr Lescarbault, gefunden, sondern weist auch verschiedene große Widersprüche zwischen der vermeintlichen Beobachtung Lescarbault’s und den von Leverrier daraus gezogenen Resultaten nach; ferner legt er aus optischen Gründen dar, daß gerade ein sonnennaher Planet besser dicht bei der Sonne durch Fernröhre wahrgenommen werden könne, als ein sonnenferner, namentlich bald nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang; aber seinen aufmerksamen Nachforschungen sei es bei diesen Beobachtungen bei Gelegenheit der totalen Sonnenfinsterniß vom 7. September 1858 nicht geglückt, in unmittelbarer Nähe der Sonne irgend eine Spur von einem der fraglichen kleinen Planeten zu entdecken.
Hiermit scheint die vermeintliche Entdeckung kleiner Planeten zwischen Mercur und Sonne sich in Nichts aufzulösen, wenn nicht, was höchst unwahrscheinlich ist, die diesmalige totale Sonnenfinsterniß in Spanien Gelegenheit zur wirklichen Entdeckung eines oder des anderen planetarischen Körpers bei der Sonne geben sollte. – Schließlich will ich noch erwähnen, daß für irgend eine einzelne Gegend totale Sonnenfinsternisse sehr selten sind; Paris hat z. B. von 1771 bis 1900 59 sichtbare Sonnenfinsternisse, darunter aber keine einzige totale, und für Berlin ist am 19. August 1887 die einzige totale Sonnenfinsterniß des 18. und 19. Jahrhunderts. Merkwürdig ist noch eine Sonnenfinsterniß im künftigen Jahre, 1861 am 31. December, dadurch, daß fast ganz Europa am letzten Tage des Jahres die Sonne verfinstert untergehen sieht, indem bei dem Ende der Finsterniß die Sonne schon unter unserm Horizonte ist. Total ist diese Finsterniß für Afrika vom Senegal bis Tripolis und für Europa auf der Südspitze von Morea und in Arkadien.
Die Provinz Oran, die westlichste der drei algierischen Provinzen, ist in militairischer und administrativer Beziehung in fünf Districte (Subdivisionen) eingetheilt, von denen die Subdivision Sidi-bel-Abbès die an Umfang bedeutendste ist. An ihrer südlichsten Grenze, unmittelbar am Anfang der sich hier am weitesten nach Norden zu ausdehnenden großen Sahara, liegt Deya, ein befestigter Punkt, bestehend aus einem starken Fort, welches Casernen, Munitions- und Lebensmittel-Magazine einschließt, und einigen Dutzend europäischer Wohnungen, die außerhalb der Mauern des Forts um die Anhöhe gruppirt liegen. Deya befindet sich in schlechter Nachbarschaft: die wildesten und den Franzosen feindlichsten Stämme der Provinz Oran hausen in seinen Umgebungen und machen eine fortwährend starke und äußerst wachsame Garnison daselbst nörhig.
Es war im Monat Jannar 1858, als das erste Bataillon des zweiten Regiments der Fremdenlegion, zu welchem meine Compagnie gehörte, in das Fort Deya einrückte. Drei Tage zuvor hatten wir Sidi-bel-Abbès verlassen, in Folge einer Ordre des commandirenden Generals der Provinz, um die im Fort liegende Garnison zu verstärken. Die dringenden Vorstellungen der arabischen Bureaux, sowie die Rapporte verschiedener der französischen Regierung sehr ergebener Chefs hatten diese militairische Maßregel bewirkt, indem sie bewiesen, daß sich untrügliche Anzeichen einer bald zum Ausbruch kommenden Empörung verschiedener in den Anfängen der Sahara campirender Stämme gezeigt hatten. Derartige Revolten sind in Algerien nichts Seltenes. Obgleich der entschieden größte und einflußreichste Theil der Eingeborenen immer mehr die wohlthuenden Folgen einer civilisirten Regierung erkennt und demzufolge treu an dem bestehenden Gouvernement hält, so tauchen doch noch von Zeit zu Zeit hie und da Unzufriedene auf, welche das frühere Kopfabschlagungs-System der Dey’s der wirklich milden und wohlwollenden französischen Herrschaft vorziehen. Diese Aufwiegler sind in der Regel aus der Kaste der Scheriff’s, d. h. in directer Linie Nachkommen Mohammed’s, deren religiöser Fanatismus durch den Anblick der christlichen Kirchen gereizt wird, oder welche aus bloßem Ehrgeiz, nicht selten auch aus Habsucht, sich an die Spitze einer stets fruchtlosen Bewegung stellen.
Ein solcher Fanatiker war unter Andern auch Ben-Djorra. Sein Renommée als ergrimmter Feind und Widersacher jeder nicht mohammedanischen Herrschaft stand fest, er war den französischen Behörden bekannt und signalisirt; allein man konnte seiner, der eifrigsten Bemühungen ungeachtet, nicht habhaft werden, da er sich abwechselnd nur in den Stämmen aufhielt, welche er als seinen Principien zugethan kannte und unter denen er Verrath nicht zu fürchten hatte. Sein Aufenthalt in der Nähe von Deya war in den letzten Tagen des Januar dem arabischen Bureau daselbst bekannt geworden, und auf dessen Vorstellung hatte der General beschlossen, Alles aufzubieten, um für diesmal den verwegenen und listigen Aufrührer aufzuheben und damit für immer unschädlich zu machen.
[458] Die in Deya zu diesem Zweck zusammengezogenen Truppen – etwa 1800 Mann, worunter 400 Spahis und reitende Jäger – waren zur Disposition des Oberstlieutenant Séroka gestellt, welcher Chef des Districts und des arabischen Bureaus war. Dieser hatte ein ganzes Heer von Spionen auf Ben-Djorra’s Fährte ausgesandt und erwartete von Stunde zu Stunde eine sichere Nachricht über seinen Schlupfwinkel. In Erwartung dieser gewissen Kunde lagen wir im Fort auf der Bärenhaut und vertrieben uns die Zeit mit Rauchen, Trinken, Spielen und allen den sonstigen zeittödtenden Beschäftigungen, deren der müßige Soldat ein so reiches Repertoir, und vorzugsweise in Afrika, aufzuweisen hat. Wenn ich Eingangs dieser Erzählung von Casernen gesprochen habe, welche sich innerhalb der Mauern des Forts befinden sollten, so möge man dies nicht nach dem Buchstaben nehmen: wir lagen in Barracken von Holz, in denen wir vor schlechter Witterung leidlich geschützt waren und welche außerdem für uns Officiere recht hübsch eingerichtete Zimmer enthielten.
In einem dieser Zimmer saßen wir am späten Abend des 30. Januar 1858 in gemüthlicher Unterhaltung beisammen. Sämmtliche Officiere der Garnison waren anwesend. Es wurde viel gescherzt und gelacht, die Unterhaltung drehte sich größtenteils um den Mann des Augenblicks, Ben-Djorra. Ein Capitain der Turcos (leichte, aus Eingeborenen bestehende Infanterie in orientalischem Costüm, deren Officiere zu drei Viertheilen Franzosen sind) hatte ihn früher gesehen und gekannt, als der Scheriff noch nicht erklärter Gegner des Gouvernements war und häufig in der Stadt Maskara sich aufhielt. Er schilderte uns denselben als den pfiffigsten und verwegensten Menschen, dessen Ehrgeiz ebenso unersättlich, als seine Geldgier, und der bei seinem großen Anhang gerade in dieser Gegend ein für uns durchaus gefährlicher und keineswegs zu verachtender Gegner sei. Alle waren begierig, ihn bald von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Unter dieser Hoffnung hatten wir das Gespräch abgebrochen und waren soeben im Begriff, uns an die Abendtafel zu setzen, als die Thür sich öffnete und Sidi-Soliman-ben-Abdallah, Aga der Sahara in der Provinz Oran, hereintrat. Dieser arabische Fürst war Commandeur des Ordens der Ehrenlegion, persönlicher Freund des General-Gouverneurs von Algerien, und stand im Range eines Divisions-Generals. Wir erhoben uns daher sämmtlich, ihm die gebührende Ehre zu erweisen, worauf er mit artigem Gegengruß erwiderte und uns dann in gutem Französisch den wohlgemeinten Rath gab, die Abendtafel zu beschleunigen, indem die Nachrichten, welche er mitbrächte, nicht der Art seien, uns lange Zeit zum Souper zu lassen. Sich darauf an den Oberstlieutenant Séroka wendend, sagte er: „Ich komme soeben, nur von vier Spahis begleitet, aus Sidi-bel-Abbès zurück; zwei Stunden von hier, in dem Stamme der Beni-Saffar, habe ich mit Bestimmtheit in Erfahrung gebracht, daß Ben-Djorra sich augenblicklich in der drei Stunden von hier entfernten Oasis El Haddin befindet und daselbst um 11 Uhr in der Nacht die Anführer derjenigen Stämme erwartet, welche sich seinen Plänen angeschlossen haben und die Fahne des Aufruhrs unter seiner Führung erheben wollen. Ich habe sofort die Pferde ausgreifen lassen und, trotz des grundlosen Weges, nur wenige Minuten gebraucht, um hierher zu kommen und Dir diese Mittheilung zu machen. Halt Deine Truppen bereit, eine bessere Gelegenheit, den Ruhestörer zu fangen, dürfte sich nicht finden. Ich werde Dich begleiten.“
Man wird begreifen, daß unter solchen Umständen ein Jeder in größter Eile nur die unentbehrlichste Speise zu sich nahm und sich dann sofort für die nächtliche Expedition vorbereitete. Es war halb zehn Uhr; schnell wurden die Truppen in aller Stille unter die Waffen gerufen, weder Horn noch Trommel wurden gehört, und als es zehn schlug, hatte die etwa 1500 Mann starke Colonne schon Deya einige hundert Schritte im Rücken. In südwestlicher Richtung ging’s unaufhaltsam vorwärts. Ein Detachement Spahis, jedes Weges, jedes Schlupfwinkels kundig, diente uns als Avantgarde. Abdallah ritt zur Rechten des Oberstlieutenants in seiner vollen orientalischen Kriegsrüstung, das breite rothe Band der Ehrenlegion mit dem daran befindlichen Commandeurkreuz um den Hals, auf einem herrlichen arabischen Grauschimmel. Das Wetter war unserem Streifzug günstig, nur die in Folge des lange Zeit stattgehabten Regens grundlosen Wege erschwerten bedeutend das Fortkommen, so daß die Mehrzahl der Leute ermüdet war, als wir nach dreistündigem, angestrengtem Marsche inmitten einer weiten, mit Zwergpalmen bedeckten Ebene Halt machten.
Die Oasis El Haddin lag in einer Entfernung von etwa 2000 Schritten vor uns, trotz der Nacht durch ihre riesigen Palmen erkennbar, welche sich an dem vom Vollmond beleuchteten, sternenbesäeten Firmament scharf markirten. Die Bevölkerung der Oasis El-Haddin mochte sich auf nahe an 2000 Seelen belaufen, und wohnte in mit Palmenblättern gedeckten Erdhütten. Die Anwesenheit Ben-Djorra’s in einer dieser Hütten war außer Zweifel; allein in welcher derselben befand er sich? Dies zu erforschen sandte Abdallah seine Kundschafter aus, Araber befreundeter Stämme, welche er zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Es lag in der Absicht des Gouvernements, die Gefangennehmung Ben-Djorra’s, wenn irgend möglich, ohne Blutvergießen in’s Werk zu setzen. Nur im äußersten Nothfall und bei ernster, zahlreicher Gegenwehr sollte von den Waffen Gebrauch gemacht und selbst dann noch die Person des Agitators so viel als möglich geschont werden; der General wollte eine Unterredung mit dem gefangenen Ben-Djorra haben. Mochte er nun hoffen, ihn zu einem Freunde der französischen Occupation zu machen, oder glaubte er ihm Geständnisse zu entlocken oder von ihm zu erzwingen, genug, es galt, ihn lebendig nach Oran zu schaffen.
Gegen zwei Uhr Morgens kehrten die Kundschafter des Aga zurück und hatten in Beisein unseres Commandeurs und des Dolmetschers eine ziemlich lange Unterredung mit Abdallah, deren Resultat war, daß wir in aller Stille vorrückten, um alle Ausgänge der Oasis zu besetzen. Gegen drei Uhr Morgens war diese Maßregel in Ausführung gebracht. Hierauf nahm sich der Oberstlieutenant eine Escorte von zwei Compagnien Infanterie und einem Peloton reitender Jäger und drang unter Führung der Kundschafter und gefolgt von Abdallah und den Officieren des arabischen Bureau’s in’s Innere der Oasis ein. Ich befand mich mit meiner Compagnie in der Escorte und wurde somit Augenzeuge aller der Vorgänge, welche uns erwarteten. Zehn Minuten lang hatten wir unsern Weg zwischen hohen Palmen und üppigem Graswuchs fortgesetzt, als wir die ersten Hütten erblickten. Die uns als Führer dienenden Araber ließen diese ersten Wohnungen links liegen, und wir gelangten bald an den Mittelpunkt der Oasis, einen ungefähr hundert Schritte im Durchmesser haltenden freien Raum, um welchen herum gigantische Cacteen, Stachelfeigenbüsche und Aloes eine undurchdringliche Hecke bildeten; diese Umzäunung hatte zwei Eingänge, den einen nach Norden, den andern nach Süden zu gelegen.
Wir waren nur noch wenige Schritte von der nördlichen Oeffnung entfernt, als wüthendes Hundegebell unsere Ankunft signalisirte. Sofort wurden Tirailleure um die ganze Umzäunung herum aufgestellt, und wir drangen in’s Innere derselben ein. Hier zeigte sich uns eine große Hütte inmitten des freien Platzes; das anhaltende Gebell der zahlreichen und an Wachsamkeit unübertrefflichen arabischen Hunde hatte die in derselben befindlichen Araber belehrt, daß etwas Ungewöhnliches draußen vorgehe. Allein Ben-Djorra war so weit entfernt, an eine Ueberrumpelung zu glauben, und hielt sich für so sicher in seinem Versteck, daß er anfänglich dem Lärmen der Hunde wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte und es uns somit möglich geworden war, uns der großen Hütte unbemerkt und ohne Widerstand zu nähern. Hier sollte jedoch die Scene wechseln. Selten, selbst wenn der Araber sich vollständig eingeschlossen, jedes Mittel zum Entkommen abgeschnitten oder verbarricadirt sieht und einem überlegenen Feinde sich gegenüber befindet, ergibt er sich ohne Kampf. Es befanden sich gegen sechszig Araber, Ben-Djorra unter ihnen, im Innern der Hütte. Sobald sie uns bemerkt und sich umzingelt gesehen hatten, wurden wir mit Flintenschüssen begrüßt. Die Mehrzahl der Meuterer hatte sich durch alle Oeffnungen des Hauses in’s Freie geworfen, wo ein Kampf, Mann gegen Mann, begann. Allein ihr verzweifelter Widerstand war bald gebrochen. Wir erzwangen den Eingang. Der Oberstlieutenant Séroka, den Säbel in der rechten, eine Pistole in der linken Hand, gefolgt von Abdallah, drang zuerst in die Hütte ein. Ben-Djorra, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt, war im Begriff sein langes Gewehr zu laden, sieben oder acht kräftige Beduinengestalten hatten sich vor ihn gruppirt und schienen entschlossen, sich und ihren Häuptling bis auf den letzten Blutstropfen zu vertheidigen; im Augenblick, wo die Officiere in der Hütte erschienen, krachten ihre Schüsse, und keiner der zuerst [459] Eingedrungenen blieb unverwundet. Ein Sergeant der reitenden Jäger stürzte, durch die Brust geschossen, lautlos nieder. Unserm Commandeur verwundete eine Kugel die linke Schulter, und noch zwei andere Officiere hatten ebenfalls mehr oder minder erhebliche Verwundungen erhalten. Im Nu füllte sich die Hütte mit unsern Soldaten, und ehe noch die Gegner Zeit hatten, auf’s Neue ihre Flinten zu laden, waren sie entweder niedergestoßen oder geknebelt.
Ben-Djorra stand allein; mit gekreuzten Armen und verächtlichem Blick sah er auf seine Feinde. Abdallah ging auf ihn zu und forderte ihn auf, sich zu übergeben und seine Waffen von sich zu werfen. Einen vernichtenden Blick warf er auf den Aga. „Verräther!“ war die einzige Antwort, welche er ihm zurückgab. Dann, schnell wie der Blitz, und noch bevor irgend Jemand seine Absicht ahnen oder deren Ausführung hindern konnte, riß er seinen breiten Yatagan aus der Scheide und stieß ihn dem Aga tief in die Brust. Darauf, mit sichtbarer Genugthuung einen Schritt gegen den Oberstlieutenant thuend, warf er seine blutige Waffe zu Boden und sagte, ihm seine beiden Hände entgegenhaltend:
„Jetzt kannst Du mich binden; gegen die Uebermacht ist kein Kampf. Es war Allah’s Wille!“
„Du weißt, Ben-Djorra,“ erwiderte ihm der Commandeur, „daß jetzt Dein Leben verwirkt ist; ohne diesen Mord hättest Du es Dir, aller Deiner Vergehungen ungeachtet, erhalten.“
„Ich weiß,“ sagte er, „Allah will es, Allah ist groß, sein Name sei gelobt!“
Es wurden ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und er einem besondern Detachement Cavallerie übergeben, das ihn auf ein Pferd festband und in seine Mitte nahm. Die übrigen Gefangenen, sämmtlich solide gefesselt, wurden zwischen Infanterie und Cavallerie-Bedeckung placirt. Abdallah war nicht todt, die beiden die Expedition begleitenden Wundärzte erklärten, daß sein Zustand allerdings gefährlich, indeß nicht hoffnungslos sei. Da an einen Transport des Aga nicht zu denken war, so ließ der Oberstlieutenant 200 Mann unter dem Commando eines Capitains zu seiner Bedeckung zurück, einer der Aerzte blieb ebenfalls bei ihm, und die Colonne selbst trat ihren Rückweg nach Deya an, wo wir um 10 Uhr Morgens eintrafen. Hier wurden sofort alle nöthigen Anstalten getroffen, um dem verwundeten Aga und seinem Arzte es an nichts fehlen zu lassen. Ein Detachement vom Train brachte noch am nämlichen Tage Medicamente, Lebensmittel und Haus- und Lager-Utensilien in die große Hütte der Oasis El-Haddin.
Die glückliche Gefangennehmung Ben-Djorra’s war sogleich durch den optischen Telegraphen nach Oran in’s Hauptquartier berichtet worden, und es langte in Folge dessen von dort der Befehl an, denselben unter starker Bedeckung und in möglichster Schnelligkeit dahin zu schicken. Am nächsten Morgen schon verließ Ben-Djorra, von zwei Schwadronen Cavallerie escortirt, Deya, um zunächst nach Sidi-bel-Abbès und von da zu Wagen nach Oran transportirt zu werden. Sidi-Soliman-ben-Abdallah genas langsam. Vierzehn Tage nach obigem Vorfall hatte der Arzt ihn außer Gefahr erklärt, und er konnte in seine Wohnung transportirt und der Pflege seiner Frauen übergeben werden. Zu Anfang des Sommers war er vollständig hergestellt und konnte sich nach Oran begeben, um den bis zu seiner Genesung ausgesetzten Verhören Ben-Djorra’s beizuwohnen. Dieser – bis dahin verschlossen wie das Grab und keine Kenntniß habend, daß der Aga gerettet sei – gerieth bei dessen unerwartetem Anblick in einen Anfall wahnsinniger Wuth und konnte nur mit Mühe durch seine Wachen abgehalten werden, sich von Neuem auf seinen Feind zu stürzen. Das Kriegsgericht verurtheilte Ben-Djorra zum Tode, und dieses Urtheil wurde durch Erschießen in der Nähe von Oran vollzogen, obgleich Abdallah sich alle Mühe gegeben hatte, seine Begnadigung zu erwirken.
Nach dem Tode dieses Fanatikers hörten die meuterischen Bewegungen unter den Wüstenstämmen der Provinz Oran auf, die Contributionen gingen ohne Rückhalt ein und die nach Dcya gezogenen Verstärkungen kehrten in ihre Standquartiere zurück.
Menageriebilder.
In Herrn Jamrach, dem Besitzer einer Menagerie in London, der aber zugleich auch mit den Bestien handelte, lernte ich, wie es schon halb und halb sein Name ahnen ließ, einen biedern Deutschen kennen, und zwar einen Mann von so herkulischen Dimensionen, daß freilich jeder vorsichtige Löwe oder Tiger eine thätliche Erörterung mit ihm abgelehnt haben würde, besonders wenn er seine Beweisgründe noch mit einer Brechstange unterstützte, die überhaupt, wie ich später erfuhr, das entscheidende argumentum ad bestias in der Abrichtung seiner Eleven bildet. Als ich ihm den Zweck meines Besuches zu erklären versuchte, lachte er – und ich lachte mit; denn jetzt erst fiel mir auf, daß ich eigentlich auf nichts Geringeres ausgegangen war, als ihm so nebenbei im Handumdrehen den ganzen, durch lange Jahre und saure Mühe erworbenen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen abzunehmen. Ich wäre nämlich gerne, wie Faust’s Schüler, in kürzester Frist und auf die bequemste Weise so recht grundgelehrt geworden in allen Eigenschaften wilder Thiere und der zweckmäßigsten Behandlung eines jeden. Indessen, ein herzliches Lachen stimmt Jedermann wohlwollend, und Herr Jamrach bestätigte die Regel. „Hier habe ich nur kleines Zeug,“ sagte er, „meist Vögel, wie Sie sehen; kommen Sie aber mit mir ein Stück Weges die Straße hinunter, dort werde ich Ihnen meine größern Schüler präsentiren. ’S ist nur ein hundert Schritt von hier.“
In einen Hof tretend, stand ich zwischen zwei Reihen Käfigen, von denen zufällig jedoch nur wenige bewohnt waren. Ein Condor der Anden, der höchst verdrossen und gelangweilt in seinem Käfig schmollte, hatte fast die eine Seite des Hofes für sich allein. Weiter hin kam ich an eine Leiter, die zu einer Art Dachluke führte. Da müsse ich hinauf, sagte Herr Jamrach, was mir die verwunderte Frage entlockte, ob er denn das Rhinoceros etwa schon so weit gebracht, daß es Leitern hinaufklettere. „Es ist nicht da oben,“ erklärte cr, „sondern unten in einem Stalle; aber durch ein Loch in dem Boden oben werden Sie es bequem sehen können.“
So schaute ich denn hinunter durch das Loch, und richtig, da stand das vorsündfluthliche Ungeheuer und labte sich behaglich an Heu. Herr Jamrach wurde jetzt abgerufen und übertrug meinen weitern Unterricht seinem Thierwärter. Dieser Mann war körperlich der vollendete Gegensatz seines Herrn, ebenso klein und anscheinend schwach, als jener groß und stark war, und dennoch kam ihm die Ehre zu, eine entflohene Tigerin besiegt und heimgebracht zu haben. Er war voller Anekdoten und höchst mittheilsam, sodaß meine Lernbegier auf’s Neue erwachte und ich die Gelegenheit eifrigst benutzte, mich in alle Geheimnisse seines Faches einweihen zu lassen. Pflichtschuldigst erkundigte ich mich zuerst um den König der Thiere. Es sei leichter, meinte er, das Vertrauen eines Löwen, als eines Tigers zu gewinnen; doch aber benähmen sich Tiger und Tigerinnen zuweilen recht liebenswürdig. „Die Tigerin, die damals ausgebrochen ist,“ sagte er, „kannte mich ganz gut und schien mich recht lieb zu haben. Gar oft, wenn ich an ihrem Käfig vorüberging, streckte sie beide Tatzen zwischen den Gittern heraus und winkte mich zu sich.“
„Sie lehnten natürlich eine so bedenkliche Einladung freundlich ab?“ frug ich.
„Warum denn? So oft ich Zeit hatte, ging ich zu ihr, und da legte sie mir ihre Tatzen auf beide Backen und streichelte mich ganz liebevoll. Ueberhaupt sind Tiger und Löwen in ihrem Käfig meist ganz sanft; wenn es ihnen aber gelingt, loszubrechen, dann kehrt ihre angeborne Wildheit auch zurück. Sie vergessen dann alle frühere Freundschaft, und man darf ihnen weder Gnade noch Barmherzigkeit zeigen. In solchen Fällen gibt’s nur ein Mittel, das hilft.“
„Und welches ist das?“
„Man muß sie gleich vor den Kopf schlagen, sie betäuben. So habe ich die Tigerin bedient. Ich schlug sie mit einer Brechstange nieder. Eine Weile lag sie wie todt, und als sie wieder zu sich kam, hatten wir einen schönen Tanz. Sie zeigte mir ihr [460] Gebiß und zerrte dorthin, ich zeigte ihr meine Brechstange und zerrte daher. Das Nachhausegehen wollte ihr gar nicht behagen, aber ich und meine Stange, wir haben sie doch dazu überredet.“
„Und hat sie Ihnen je vergeben?“ fragte ich. „Ich sollte meinen, daß ihr freundliches Winken und Streicheln jetzt ein Ende hatte.“
„Durchaus nicht. Nach ein paar Tagen waren wir so gute Freunde, wie je.“
„Ihr Gedächtniß war wohl nicht sonderlich?“ meinte ich; „sie hat die Sache wahrscheinlich wieder vergessen?“
Der Wärter schüttelte lächelnd den Kopf. „Löwen und Tiger haben ein ganz vortreffliches Gedächtniß,“ sagte er; „ich will Ihnen einen Beweis dafür geben. Schauen Sie mal diese Käfige an. Sie werden bemerken, daß wir sie mit einem eisernen Rechen durch eine schmale Oeffnung unten im Gitter reinigen müssen. Nun ist es ein gewöhnlicher Witz der frisch angekommenen Tiger und Löwen, den Rechen zu packen, zu beißen und zu zerbrechen. Diese Unsitte muß ihnen abgewöhnt werden, und unser Mittel ist einfach: wir machen den Rechen brennend heiß, und kein Löwe oder Tiger beißt ihn zum zweiten Mal.“
In diesem Augenblick veranlaßte uns ein kurzes, beistimmendes Grunzen des gefangenen Rhinoceros, durch das Loch hinabzuschauen. Aber die Dame hatte sich unsichtbar gemacht. Das neugierige Angaffen eines Fremden schien ihr Zartgefühl beleidigt zu haben, sodaß sie sich nach der andern Ecke ihres Stalles zurückgezogen, wohin ihr meine Blicke nicht folgen konnten. Der Wächter war entrüstet. Was fiel ihr ein, so spröde zu thun gegenüber einem in bester Form vorgestellten Herrn?
„Ho ho, Mauta!“ sagte er, sie bei ihrem indischen Namen rufend, denn sie war eine Bewohnerin des Ganges – „ich will Dich bessere Manieren lehren – Warten Sie nur ein bischen,“ setzte er, zu mir gewendet, hinzu, „ich will hinunter und sie aufstacheln; ich werde sie schon vorbringen.“
Ich bat ihn, es zu lassen, denn es schien mir geradezu Tollkühnheit. Lächelnd hieß er mich, keine Sorge zu haben. Wie der Schulmeister das spanische Röhrchen ergreift, so packte er jetzt mit starker Faust ein mörderisch aussehendes Instrument, das nichts Geringeres war als eine altdeutsche Streitaxt mit einer scharfen Spitze oben und am Rücken, und schwang sich durch das Loch hinunter. Bumm! ging die Axt rechts und links, und unter Grunzen und Schnaufen kam das so freundlich persuadirte Rhinoceros wieder hervor in das Licht. Unsere schönen Leserinnen mögen sich jedoch über dies nur grausam scheinende Verfahren beruhigen. Da das Rhinoceros mit einer Haut gesegnet ist, durch welche selbst eine Flintenkugel nicht dringt, so mochten ihm die wuchtigen Hiebe der Streitaxt vermuthlich nur den Eindruck eines scherzhaften Streichelns oder Kitzelns machen. Jetzt erst bemerkte ich, daß das Horn auf der Nase, dem der Name dieses Thieres entnommen ist, beinahe verschwunden war – die unausbleibliche Folge der Gefangenschaft, wie ich erfuhr. Diese Thiere haben es nämlich in der Art, die Spitze des Horns schneller an der harten Wand ihres Stalles abzureiben, als es an der Wurzel nachwachsen kann, und so wird es immer kleiner.
Uns von hier weiterwendend, kam ich an einer Reihe Käfige vorbei, in denen kleine Thiere waren, und fühlte plötzlich eine sammtartige Berührung auf dem Rücken meiner Hand. Mich umsehend, gewahrte ich ein Thierchen, das zwar nicht ganz ein Affe schien, sich aber doch der Gattung näherte. Ich irrte nicht in der Vermuthung, daß es dem auf Madagaskar hausenden Lemurengeschlecht angehören möge. Das arme Ding bettelte um etwas zu fressen. Die Lemuren sind, wie die Affen, sehr starke Esser. Das Erziehungsinstitut des Herrn Jamrach bot eine reiche Auswahl jeder Art. Da saßen sie, schnatternd, grinsend und Gesichter schneidend. Zum ersten Male entdeckte ich, wo alle die Affen herkommen, die in den Straßen Londons ihre Kunststücke produciren. Ich bekenne mich zu einer gewissen Sympathie für diese kleinen Waldmenschen und hatte oft die Absicht, meine Familie um einen derselben zu vergrößern. Unbekannt jedoch mit dem wahren Affenmarkt, wendete ich mich wiederholt um Aufschluß an die Orgelmänner und Savoyarden auf der Straße, die aber den ganzen Affenhandel so geschickt in ein unentwirrbares Geheimniß zu hüllen verstanden, daß ich endlich daran verzweifelte, den Meinen die Gelegenheit zu verschaffen, sich in dieser Carricatur der Menschheit zu bespiegeln. Der Preis für Affen ist gar nicht so übermäßig, wenn man an die rechte Quelle geht. Haltung und Benehmen werden höher angeschlagen als das bloße Aussehen, und Damen gelten, wie billig, für kostbarer als Herren. Die langschwänzigen Affen, vulgo Meerkatzen, vertragen das Klima besser als andere.
In einer Situation kann man, wo Affen zu sehen sind, einige gewiß antreffen, das ist die, wenn sie sich gegenseitig die lebenden [461] Bewohner ihres Felles absuchen und die gefundenen schleunigst verzehren, welche Umschreibung man auch kürzer mit einem einzigen Zeitwort ersetzen kann. Da sie aber die erhaschten Unglücklichen fressen, so könnte man eigentlich ungewiß sein, ob dieser materielle Trieb oder das höhere Interesse der Reinlichkeit und öffentlichen Wohlfahrt sie zu der ganzen Thätigkeit veranlaßt; jedenfalls muß der Grund ein sehr wichtiger sein, denn in der That ist der Ernst nicht zu übertreffen, womit der Eine dasitzt und mit den Fingern der einen Hand das Kopfhaar seines Freundes auseinander biegt, um mit der andern die Schmarotzer ohne Gnade zu fassen und zu vertilgen, während dieser mit der Seelenruhe des Gerechten dasitzt, wohl wissend, daß neben dem angenehmen Gefühl des Krauens ihm auch eine hohe Wohlthat erzeigt wird. Ist ein Dritter dabei, so hilft dieser entweder mit, indem er sich auf Schultern, Armen oder Beinen ein anderes Feld seiner Thätigkeit aussucht, oder er hält wenigstens den Abzusuchenden, oder auch er beobachtet genau das Verfahren der Andern, um es sich selbst gehörig einzuprägen. Paviane mit ihren schwarzen larvenartigen Gesichtern nehmen sich in dieser Thätigkeit immer am drolligsten aus, denn ihre hellen obern Augenlider erhöhen den wichtig-komischen Ausdruck ihres Gesichts ungemein.
Auch dem Menschen erzeigen die Affen gern diese Wohlthat, und wenn Jemand seinen Kopf nicht darbieten will, um bei seinen Nebenmenschen nicht in den Verdacht der dazu treibenden Nothwendigkeit zu kommen, so genügt ihnen auch ein etwas behaarter Arm oder Hand, um sofort eine Suche anzustellen, die, wenn auch fruchtlos, sie nicht leicht ermüdet.
„Sie müssen doch im Ganzen ein etwas gefährdetes Leben führen?“ bemerkte ich. als wir wieder zu dem Rhinoceros zurückkamen. „Fürchten Sie sich nicht zuweilen?“
Er lächelte. „Nicht vor Thieren und Vögeln, aber die Schlangen, die gefallen mir allerdings nicht sonderlich.“
„Handeln Sie auch mit Schlangen?“
„Von jeder Art und Größe. Ich bin so ziemlich vertraut mit ihrer Art und Weise, doch aber kommen zuweilen unbekannte Gattungen, mit denen ich mich nicht gut zurechtfinden kann. Vor kurzem kamen erst wieder vierzig Blasennattern, die giftigsten und bissigsten von allen Schlangen, an, und ich mußte sie alle, eine nach der andern, aus der Kiste nehmen, um sie extra einzeln zu verpacken und weiterzuschicken. Ich muß gestehen, daß mir diese Arbeit nicht sehr behagen wollte.“
„Packen Sie diese Thiere mit Zangen?“
„Wir haben nicht eine einige Zange im Hause,“ erwiderte er.
„Nun, wie greifen Sie die glatten Geschöpfe?“
„Ich fasse sie mit dem Zeigefinger und Daumen dicht hinter dem Kopf und halte sie fest. Das ist die einzige Art, mit ihnen fertig zu werden.“
„Tragen Sie dabei Handschuhe?“
„Ja, aber sehr dünne, denn dicke Handschuhe würden meine Finger an der freien Bewegung hindern. Eine Schlange würde leicht eine Menge solcher Handschuhe, wie ich trage, durchbeißen; aber ich denke, das Leder fängt doch immer etwas von dem Gifte auf, wenn es auch dünn ist, – was freilich, wie die Gelehrten behaupten, nur eine Einbildung sein mag. Eine Blasennatter ist die häßlichste Schlange, die ich kenne. Ihre Manieren sind so abscheulich, wie ihr Aussehen. Mit der Klapperschlange komme ich sehr gut aus: die ist ein Gentleman, und verfährt offen und ehrlich. Ehe sie beißt, rasselt sie zur Warnung zweimal mit der Klapper. Nach einmaligem Rasseln kann man sie noch mit voller Sicherheit anfassen; sobald sie aber zum zweiten Male geklappert hat, heißt’s zurücktreten, oder es kostet das Leben.“
Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es unter solchen Umständen doch wohl gerathener sei, die Blasennattern, Klapperschlangen, Cobra’s und das ganze Giftgezüchte ungestört in ihren heimathlichen Schlupflöchern zu lassen, denn die Befriedigung der Neugier durch ihren nicht einmal schönen Anblick wiegt doch sicher die damit verbundene Lebensgefahr ihrer Wärter nicht auf. Indessen ergab sich im Verlauf des Gesprächs, daß selbst der Handel mit diesen Productionen einer üblen Naturlaune seiner wirklichen Nützlichkeit halber noch eine Rechtfertigung zuläßt. Diese Geschöpfe werden nämlich an Physiologen und andere Forscher vertheilt, um die Wirkungen des Giftes zu ermitteln. So hatte dieser Wärter selbst viele von den genannten Blasennattern zu diesem Zweck nach Deutschland gebracht, worüber sich unsere armen Katzen und Kaninchen, an denen meist experimentirt wird, sicher wenig gefreut haben werden.
Eben kam Jamrach zurück, und ich fragte ihn unter Anderem, ob er auch einen Riesen-Salamander besitze, den ich bisher nur ein einziges Mal in der Menagerie von Amsterdam gesehen hatte.
„Nein,“ erwiderte Herr Jamrach, „das wäre zu kostspielig und gewagt. Doch da Sie den in Amsterdam kennen, will ich Ihnen auch erzählen, wie er nach Europa kam. Die Salamander dieser Art finden sich nur in Japan und sind auch dort selten. Nichts destoweniger gelang es einem holländischen Arzt, der sich längere Zeit in Nangasaki, oder vielmehr in der holländischen Factorei von Decima bei dieser Stadt, aufhielt, deren acht zu sammeln, was ein kleines Vermögen war, wenn es ihm gelang, sie lebend nach Europa zu bringen. Mit reisenden Salamandern, wie mit marschirenden Heeren, bildet die Proviantirung die Hauptschwierigkeit. Sie leben nur von frischen Süßwasserfischen, und nun können Sie sich selbst die Aufgabe vorstellen, diese wählerischen Thiere auf dem ganzen sechsmonatlichen Seeweg von Japan nach Europa zu beköstigen, zumal sie sich eines sehr gesegneten Appetits erfreuen und die Fahrt überdies nicht selten noch ein paar Monate länger währt. Für die täglichen Mahlzeiten eines Tigers von Bengalen aus zu sorgen, ist eine Kleinigkeit gegen das, was der Doctor unternommen hatte. Endlich schiffte er sich ein mit seinen Salamandern, den lebenden Süßwasserfischen in großen Fässern und dem Futter für die Fische, die ja auch beköstigt sein wollten und die für gewöhnliche Matrosenkost von Salzfleisch und dürren Erbsen gar wenig Neigung verrathen. Ich weiß nun nicht, dauerte die Reise länger als gewöhnlich, oder hatte der Doctor den durch die Seeluft vielleicht noch geschärften Appetit seiner Pfleglinge zu gering angeschlagen, kurz, die Fische verschwanden einer nach dem andern bis zum letzten, und die Salamander machten Zeichen nach mehr. Was war zu thun? Nur eins, und ich bedauere, es erzählen zu müssen. Man entschloß sich endlich zu salamandrinischem Cannibalismus. Salamander Nummer Eins fiel unter dem Messer des Proviantmeisters und wurde, unparteiisch vertheilt, von seinen Brüdern verschmaußt. Dem armen Doctor mußte das Herz geblutet haben, als er ihnen diese kostbare Speise, den achten Theil seines geträumten Vermögens, auftischte! Aber dabei verblieb es nicht. Salamander Nummer Zwei folgte dem ersten, diesem der dritte, und so ging es fort, bis auch die zwei letzten das Loos geworfen hatten, und endlich dem Allerletzten nichts mehr übrig blieb, als sich selbst zu fressen. Da aber zeigte sich in der höchsten Noth das Land, frische Fische waren bald verschafft, und Salamander Nummer Acht, das lebenee Grab seiner sämmtlichen Cameraden, ziert jetzt das Museum von Amsterdam. Doch kann ich Ihnen mittheilen, daß er kürzlich durch einen Landsmann erfreut wurde, der extra von Japan kam, um ihm Gesellschaft zu leisten.“
Ich mußte dieser Plauderei ein Ende machen, und will nur noch hinzufügen, daß, wenn es einer unserer Leserinnen vielleicht nach einem Schooß-Rhinoceroschen gelüsten sollte, sie diese Liebhaberei um drei bis viertehalbtausend Thaler befriedigen kann. Sollte sie einen Tiger vorziehen, so genügen, wenn der Markt gerade überfüllt ist, wohl sechs- bis siebenhundert Thaler, in gewöhnlichen Zeiten hält sich der Preis jedoch gegen zweitausend. Löwen sind etwas wohlfeiler. Die Hauptbedingung ist jederzeit baar Geld, Credit wird nicht gegeben, ebenso wenig gehandelt, dagegen aber für’s Beißen garantirt.
Die Phantasie, die Zeitungen, die Herzen und Gespräche Europa’s beschäftigen sich Monate lang mit den Thaten, Leiden und Schicksalen Siciliens, das am südlichen Ende Europa’s mit seinen Palmen und Felsen, Olivenhainen und Korngefilden wie ein nördlicher Vorposten der Tropen aus den blauen Wassern des mittelländischen Meeres hervorragt. Von diesem aus gesehen
[462] ist es eine ungeheuere Masse wildzerrissener, phantastischer Felsengebilde, deren Spitzen weit hinauf steigen in den blauen, sonnigen Himmel.
Es ist von außen schwer, sich zu denken, daß diese starren Felsenzacken die fruchtbarsten Thäler und Ebenen verbergen, reich an Getreide, Oel und Wein, reicher an unsäglichem Fluche, an Gefängnissen voller Gerippe neben Sterbenden, in deren Fleisch sich schwere Ketten tief hinein gedrückt, an Verhungerten, Verhungernden und lebendig halb Verwesten. Aber so fanden Schaaren Garibaldi’s, als sie solche Gefängnisse brachen, das Innere derselben. Der Befreier ist gekommen, aber nicht für die unzähligen Tausende, die bereits einem Moloch geopfert wurden, wie wir ihn wohl kaum je in der Weltgeschichte von Menschenopfern zehren sahen. –
Doch wir können wenig oder nichts von den Schauplätzen der letzten Befreiungskämpfe mittheilen, da nur verworrene und widersprechende Nachrichten an die sonnige Küste drangen, deren Bewohner ihr jährliches Mordfest feierten, um wieder ein Jahr leben zu können. Die „Kornkammer Rom’s,“ wie das alte Sicilien oder Trinacria hieß und war, kann jetzt nicht halb so viel Menschen nähren, als vor einem Jahrtausend. Und diese Hälfte würde vielleicht auch jetzt verkommen, wenn nicht die jährliche Ernte aus dem Meere ersetzte, was bourbonische Herrschaft, Polizei und Priester bis tief in den Boden unfruchtbar gemacht, mit Fluch, Furcht, Thatenlosigkeit, Aberglauben, Intrigue, Spionage und Verwahrlosung aller Art bedeckt haben.
Wo die tropische Sonne noch fruchtbar wirkt auf Sicilien, da blühen und fruchten das ganze Jahr hindurch Haine und Grotten voller Orangen und Oliven, und Feigenbäume und Reben bedecken die Abhänge oft bis zum Meere herab. Zwischen den Weinbergen wächst Getreide, das sein gutes Brod, aber nicht mehr hinreichend liefert. Felsenrücken und weite Wildnisse von Steingeröllen sind bedeckt mit indischen Feigen, einer phantastischen, gigantischen Art Cactus, dessen massive Blätter aus einander herauswachsen und pfirsichartige Früchte treiben, von denen die ärmeren Sicilianer oft Monate lang im Jahre leben müssen, da sie Brod nur als Delicatessc dazu essen können. Diese Cactuswände und Labyrinthe mit fächerartig auf- und übereinander ausschießenden, bis 14 Zoll langen Blättern charakterisiren fast alle landschaftlichen Gebilde Siciliens. Für Vieh wächst nichts, höchstens suchen kletternde Ziegen kärgliche Nahrung aus den Felsenklüften zusammen und liefern die nöthigste Milch. Rindvieh wird größtentheils von getrockneten Blättern der indischen Feige und türkischen Weizens gefüttert und gibt nur den Reichen mageres, erbärmliches Fleisch. Auf dem Fleischmarkte von Palermo kaufen sich die Leute ganze Haufen von gewöhnlichen Gartenschnecken oder ein Stückchen Polype (Sternfisch). Bohnen werden roh gegessen. Im Winter kommt theueres Kalbfleisch von Neapel. Aermere Leute müssen sich Jahr aus, Jahr ein mit Früchten des Cactus, Maccaroni, rohen Bohnen und verschiedenen Wurzeln behelfen. Fleisch können sie selten bezahlen, höchstens Fisch.
Haupt-Ernte unter den Bewohnern der ehemaligen „Kornkammer Roms“, wenigstens für die Küstenbewohner, ist daher die Fischerei. Und hier gibts nichts Charakteristischeres und Ergiebigeres als das jährliche Mordfest, zu welchem der Thun- oder Thunfischfang Veranlassung gibt. Der Thun[1], wie wir ihn der Kürze wegen nennen wollen, ist ein in Heerden ziehender Raub- und Wanderfisch und erreicht oft eine Größe von 5 – 7 Fuß in der Länge bei ziemlich derselben Breite. Vom April an Kommen sie in Zügen von verschiedener Zahl aus dem großen Ocean durch die Meerenge von Gibraltar und ziehen an den Küsten hin, wo sie Sardinen, Anchovis und Meergewächse für ihre Nahrung finden und unterwegs, an den sardinischen und ligurischen Gestaden, gelegentlich gefangen werden, bis sie, in der Straße von Messina von der Scylla und Charybdis, den Gegenströmungen aus dem adriatischen Meere, beunruhigt, um die Küste von Sicilien herum in ruhigerem Wasser, das sie lieben, den Weg nach ihren Sommerwohnungen im schwarzen Meere verfolgen. Auf diesem Umwege nun gerathen sie in die „Gemächer des Todes“, die man ihnen gebaut hat, um unter den Stichen und Stößen jauchzender, bluttriefender, fanatischer Menschen zu verenden und die Sicilianer mit ihrem substantiellen, kalbsartigen Fleische zu ernähren.
Schon Monate vorher waren Hunderte von Menschen eifrig beschäftigt, um die „Gemächer des Todes“ mit den gehörigen Vorzimmern bereit zu machen. Sie bestehen aus ungeheuren Netzen, die sich wirklich zu vier Wänden zusammenschließen und selbst einen Boden haben. Diese Netze werden von den Bewohnern selbst aus sparto, spanischem Seegras, und neapolitanischem Hanf bis zu 1500 Fuß Länge, 500 Weite und 50 bis 100 Tiefe verfertigt, und zwar zunächst die Fäden oder Taue dazu in Palermo, die in Solanto zu den verschiedenen Arten und Graden des Netzwerks verwebt werden. Solanto ist eine mit Fischerhütten bedeckte, felsig vorspringende Landzunge mit einem normännischen Schlosse in der Mitte, dem Wohnsitze des jetzigen Eigenthümers der Tonnara oder Thunfischerei. Es erhebt sich auf einem vorspringenden Felsen so weit über’s Meer, daß man von den Balcons die Fische in dem klaren Wasser schwimmen und in der klaren Luft Siciliens bis zu den liparischen Inseln sehen kann.
Vom März bis Juli ist hier Alles in vollster Thätigkeit. Die Arbeiter erhalten ihren bestimmten Tagelohn und bestimmte Profite von der Ernte, für deren Gelingen sie demnach alle ihre Kräfte aufbieten. Mit eintretendem warmen Wetter, das bald zur Hitze wird, schlafen sie offen und oft halb nackt auf dem Sande der Meeresküste, von den weichen Lüften wärmer zugedeckt, als wir von unsern Federbetten, neben welchen keine friedlichen Meereswogen murmeln und plätschern.
Anfangs April sind die Netze fertig und werden in großen Booten mit einer gehörigen Menge großer Steine und Korkstücken bereit gehalten, bis das Wasser still und klar ist. Namentlich muß das Meer von den häufig vorkommenden rema’s oder Unterströmungen frei sein, weil sonst die Netze nicht, wie erforderlich, senkrecht wie Wände eingesenkt werden könnten. Wächter müssen ununterbrochen in Booten auf dem Meere, auf dem Bauche liegend, dessen untere und innere Bewegungen beobachten, bis sie es still finden. Jetzt ruft ein Zeichen alle harrenden Boote herbei, die etwa 1/4 Meile vom Gestade die Netze senken und zu verschiedenen geschlossenen Gemächern vereinigen. Oeffnungen, die aus einem in das andere führen, können durch heraufgezogenes Netzwerk von oben her geschlossen werden. Dies geschieht, um die Fische aus einem in das andere ziehen zu lassen, hinter ihnen zu schließen und die ersteren für neue Ankömmlinge wieder zu öffnen. Sind eine gehörige Anzahl endlich im „Leva“, dem letzten der „Gemächer des Todes“ versammelt, so wird der unter demselben angebrachte starke Netzboden heraufgezogen und die Gefangenen mit ihm.
Doch so weit sind wir noch nicht. Wenn die Netze in gehöriger Ordnung gesenkt, gefächert und geschlossen sind, wird erst der heilige Antonius, als specieller Schutzheiliger der Fischer der einmal vergebens den Heiden predigte, so daß er die Fische im Meere anrief, die dann auch zu ihm auf’s Land kamen, ihm andächtig zuhörten und sehr erbaut wieder in’s Wasser gingen) angerufen und der Segen der Kirche über die Netze gesprochen. Ein in der Kirche geweihter, riesiger Olivenzweig wird in der Mitte der Tonnara oder des Netzwerkes befestigt und ein Geistlicher im Boote von einem Werke zum andern gefahren, um den Segen zu sprechen. Jetzt gilt es, zu warten und zu wachen. Ueber dem offenen Eingange zu dem ersten Netz-Zimmer liegen die Wächter in ihren Booten unter einer schattenden Leinwanddecke auf ihren Bäuchen, zuweilen Oel auf die Oberfläche gießend, um sie blank und ruhig zu halten und die blaue Tiefe zu durchschauen, bis sie Gefangene anmelden, den ersten Eingang schließen und die Beute von einem Gemache zum andern verleiten können. Doch werden sie oft lange, manchmal mehrere Tage hinter einander, alle drei Stunden abgelöst, ehe das „Zimmer des Todes“ befriedigend gefüllt ist. Dann aber wird’s nach langer Ruhe desto lebendiger und dramatischer. Ein Signal von den Wächtern her wird der ganzen Volksmasse, die sich weit umher im Kreise auf lustigen Booten, Gondeln und Schiffen aller Art eingefunden, durch eine rothe Flagge auf der Thurmspitze des Schlosses zutelegraphirt.
„Bandiera a Solanto!“ (Flagge auf Solanto) schreit und jubelt es nun weit hin über das sonnige Meer und an den Gestaden entlang bis in die höchsten Felsen hinauf.„Bandiera a Solanto!“
Die Fischer oder Schlächter, die bisher in der Ferne warteten, schießen mit fanatischem Geschrei heran. Ihre Spieße oder Harpunen blitzen mit ihren Augen in den braunen Gesichtern um die Wette in der Sonne. Die Boote, Schiffe, Gondeln von Palermo und den Küstenörtern drängen sich zu einem engen Kreise [463] ringsum. Man scherzt und lacht und neckt sich und klettert von Boot zu Boot. Alles ist Leidenschaft und Leben, Aufregung und Feuer. „Tonnara“ ist den Sicilianern, was den Spaniern die Stiergefechte, den Engländern der „Derby-Tag“, den Deutschen eine – Parade.
Der bewegliche Netzboden im „Gemache des Todes“ wird immer höher und höher gezogen. Die halbnackten, braunen, sehnigen „Schlächter“ stehen oben in ihren Booten und kreischen und schwingen ihre Harpunen wie Besessene. Sie stieren hinunter und sehen ihre Opfer in Verzweiflung klatschen und platschen und immer höher kommen. Zunächst springen in der Regel einige fliegende Fische heraus und suchen durch die Luft zu entkommen, werden aber von dem großen schwimmenden Amphitheater der Zuschauer gefangen. Der Netzboden wird endlich 6–8 Fuß unter der Oberfläche befestigt. Das Wasser darüber bedeckt sich mit weißem Schaum, so furchtbar klatschen und peitschen die Gefangenen. Der weiße Schaum färbt sich blutroth. Das klare, blaue Meer umher wird weiter und weiter wie ein Blutmeer. Alles brüllt, schreit, jauchzt, schwingt Mützen, Hüte, Tücher, Flaggen. Wie gräuliche Unholde stechen und stoßen die Fischer in den Booten blindlings auf ihre Opfer unten, und werden manchmal von der verzweifelten Kraft der starken Fische in’s Wasser gezogen, bis zwei oder drei Mann sich je eines bemächtigt haben, um ihn herauszuziehen. Die Thune sind furchtbar stark im Wasser, besonders in ihren Todeszuckungen, die Wasser und Blut weit und hoch umherspritzen. An die Luft, in’s Boot geworfen, sterben sie nach einigen gefährlichen Schlägen sehr bald, aber nicht, ohne ihre Mörder vorher mit Blut überspitzt zu haben. mit Blut, das den schreienden, stoßenden, ausweichenden, zuspringenden Harpunieren unter dem klarsten, blauen Himmel im hellen, stechenden Sonnenschein aus Gesicht und Haar an den braunen Leibern herunterströmt. Das Blutvergießen und der fanatische Kampf in der Mitte ist von einem fanatischen Kreise jauchzender Zuschauer eingerahmt. Ein furchtbares, eigenthümliches Jagdbild, das Augen, die nicht daran gewöhnt sind, nicht so leicht wieder verwischen können!
Der erste Fang dieses Jahres – bestehend aus 16 Fischen, wurde in Palermo mit mehr als 450 Thalern bezahlt. Aber bis zum 29sten Juni wird ziemlich alle Tage ein neuer Fang gemacht, und nicht blos vor Solanto (allerdings dem Hauptplatze wegen des Golfs und der Nähe Palermo’s), sondern von unzähligen Küstenorten aus, so daß die armen Leute das Pfund Thunfisch nicht selten für 3 oder 4 Pfennige kaufen können. Schwertfische, die sich zuweilen mit einfinden, werden an Harpunen im Wasser bis an’s Land gezogen. Ihr Fleisch ist eine Delicatesse, besonders der Rogen.
Der St. Peter-Pauls-Tag, 29. Juni, ist der letzte Tag der sicilianischen Thunfisch-Ernte.
Bei Carl Vogt. Wenn man Genf den Rücken wendet mit seinem bunten, lebendigen Treiben, seinen prächtigen, großartigen Läden und seinem Schwindel à la parisienne, und schreitet am neuen Museum vorüber der schlammigen Arve zu, so erinnern den Wanderer bald schattige Baumgruppen und ländliche, zierliche Behausungen daran, daß sich hier, fern von dem geschäftlichen, wie politischen Getümmel, der Genfer Gemüthlichkeit ihre Wohnstätten erbaut hat. Verfolgen wir unsern Pfad, bis uns durch die Bäume die ersten Häuser des freundlichen Carouge entgegen schimmern, so liegt uns zur Rechten ein kleines Landgut, ja der kleinsten und unscheinbarsten eines, die wir auf unserm Wege getroffen; aber doch sind wir am Ziele: es ist Plainpalais, hier wohnt Carl Vogt.
Ich kannte Carl Vogt schon jahrelang. Ich hatte ihn gehört im deutschen Parlament, hatte ihn später oft gehört in der schweizerischen Bundesversammlung, kannte seine wissenschaftlichen Werke, die meisten seiner Broschüren, sowohl naturwissenschaftlichen wie politischen Inhalts. In allen diesen Richtungen war er mir stets als ein starrer, gewaltiger, ich möchte fast sagen, schonungsloser Vorkämpfer seiner Principien erschienen, als ein Mann, der nicht selten mit seinen glänzenden Geisteswaffen seine Gegner zerschmetterte oder, wie er selbst sagt, „seine Stacheln gegen die Giftmichel emporrichtete“, wenn sie seine Persönlichkeit anzutasten gewagt hatten. Ebenso hatte ich häufig seinen schlagenden Witz, sein heiteres geselliges Talent bewundert. Aber heute sah ich ihn zum ersten Mal in seiner Familie, zum ersten Mal die Seite seines Charakters, welche nur wenige seiner Freunde, seine Feinde aber gar nicht kennen – weil er sie oft absichtlich verhüllt: seine herzliche Gemüthlichkeit.
Wir betraten bald die Höhle des „Reichsregenten“ und „Reichsverräthers“, das Innere der einstöckigen Villa, an die ein nicht allzugroßer Garten grenzt. Ueberall Bequemlichkeit, überall die größte Ordnung, nirgends der Luxus, von dem sich die Feinde Vogt’s den Verfasser des „Köhlerglaubens“ und der „Studien“ umgeben denken. Im Salon freilich hängt manches schöne Oelgemälde, alle Wände sind damit geziert. Aber Vogt selbst hat sie gemalt; alles sind sprechende Erinnerungen an seine Tage in Nizza, an manche Alpengegend, die er durchstreift, ehe er hier in Genf einen häuslichen Heerd gründen konnte. Ein Paar alte, verblichene Bilder rühren noch von der Hand seiner Großmutter her, und mit großer Behaglichkeit erzählte er mir, wie er zwei schöne deutsche Landschaftsgemälde von einer reichen Berner Patrizierin um einen Spottpreis gekauft, da diese durch das stete Sinken der österreichischen Staatspapiere im letzten Jahre recht herunter gekommen war. Am Interessantesten war mir aber Vogt’s Studirzimmer, denn hier zeigt er sich uns mit einem Blicke als Naturforscher, Politiker und Mensch. Man staunt über Vogt’s Productivität, wenn man die Resultate seiner mühevollen Forschungen bandweise nebeneinander aufgestellt sieht; man staunt aber noch mehr, wenn man die Stöße von Zeitungen durchblättert, in denen er seine Grundsätze und seine Vertheidigung gegen die Angriffe der Presse von halb Europa seit mehr als zehn Jahren niedergelegt hat. Und neben all diesen Erzeugnissen seines unablässigen Ringens für Wahrheit und Recht, zeigt uns eine noch unvollendete Staffelei im Hintergrunde des Zimmers, mit was Vogt in seinen Mußestunden die Feder vertauscht. Noch häufiger aber verbringt er diese kurzen Stunden im Schooße der Seinen.
Ich habe oft Leute gefunden, die mit ihren Gästen table d’hôte speisten oder ihnen zu Hause sybaritische Gastmähler gaben, um durch den Gläserklang die häuslichen Mißklänge zu übertönen; ich habe wieder andere gefunden, in deren Salon man des Gastes wegen süße Gesichter schnitt, sich gegenseitig viel vorschwatzte von Familienzärtlichkeit etc. Von dem Allen siehst Du bei Carl Vogt nichts! Man weicht Deinetwegen nicht ab von seiner gewöhnlichen Lebensweise, man gibt sich Dir, wie man einmal ist, vielleicht manchmal etwas eigenthümlich, etwas derb, aber gerade dadurch fühlt man sich so „heimelig“ bei Carl Vogt, als wäre man selbst ein Glied seiner Familie. Bei alledem habe ich wenig Häuser gefunden mit einem so innigen, traulichen Familienleben wie hier. Nichts trübt das Verhältniß der Ehegatten zu einander, nichts das der Eltern zu den Kindern. In seiner Familie ist Vogt ganz Vater und Gatte, so liebevoll und kindlich heiter, mit den Kindern ballspielend, lachend und schäkernd wie ein Kind.
Ich weiß, auch über seine Schwelle ist die Lüge und die Verleumdung geschritten. Nichts ist den „Giftmicheln“ in der Vogt’schen Familie heilig genug gewesen, das sie nicht besudelt hätten mit ihrem Hauche. Vogt ist ein Materialist, ein Republikaner, also Grund genug in ihren Augen, um ihn der Ueppigkeit, der Liederlichkeit und wer weiß, was Alles, zu beschuldigen. Alles erlogen! Man frage nur in Genf nach, frage Alle, die Vogt persönlich kennen, und man wird bald hören, daß trotz der wüthenden Verleumdungen und Schimpfereien gewisser deutscher Blätter der Ruf des einstmaligen „Reichsverwesers“ in seiner Heimath ein durchaus reiner und makelloser ist, den zu vertheidigen, eine Beleidigung für den wackern Mann wäre.
Palermitanisches Studentenleben. Zu dem bourbonischen System gehörte, wie man weiß, eine gänzliche Vernachlässigung des Unterrichts, verbunden mit der strengsten Beaufsichtigung aller derer, welche sich den Künsten und Wissenschaften widmeten. Wie sich das Leben der sicilianischen Studenten dadurch gestaltete, wollen wir, gestützt auf lauter Angaben aus amtlichen Regierungsschriften, Erlassen, Ordonnanzen etc., an dem Beispiel der Hochschule von Palermo zeigen. Der angehende Jurist oder Mediciner hatte im Jesuitencollegium der Stadt eine Vorbildung erhalten, die hinsichtlich der Fürsorge für sein Seelenheil nichts zu wünschen übrig ließ. Auf der Hochschule aufgenommen, genoß er einer verdoppelten geistlichen Berücksichtigung. Man gab ihm einen besonderen „Seelenmeister“ (Maestro di spirito) und stellte ihn unter die Aufsicht eines Präfecten, der in seiner Thätigkeit von dem Rector der Hochschule und von sämmtlichen Professoren unterstützt wurde. Die Vorträge der Professoren nachzuschreiben, war dem Studenten verboten, aber dafür mußte er an jedem Sonnabend vor einem Professor aufsagen, was er die Woche über gelernt hatte. An jedem Sonntag hatte er im Oratorium zu erscheinen, um die Messe zu hören und sich katechisiren zu lassen. Beim Herausgehen aus der Kirche erhielt er einen Schein über seine Anwesenheit ausgestellt, den sorgfältig zu bewahren sein Interesse war, denn man ließ ihn später zu keiner Prüfung, zu keinem Amt zu, wenn er nicht schwarz auf weiß beweisen konnte, daß er ein steter Besucher des Oratoriums gewesen sei. Der Rector, immer ein Theatinermönch, hatte das Recht, jeden Studenten auf die bloße Anklage eines Lehrers hin von der Hochschule auszuschließen. Der Fortgewiesene hatte dagegen kein Rechtsmittel, da die Deputation der Hochschule (der Großkanzler, der Rector und vier Professoren), der der Fall allerdings vorzutragen war, blos zu untersuchen hatte, ob die Ausschließung fortdauern oder eine härtere Strafe eintreten solle.
Von den ersten Tagen des Juni bis zum 5. November waren Ferien. In der Zeit der Vorlesungen gab es viele Feiertage, in der Regel mit Processionen verbunden, bei denen die Hochschule mit allen ihren Studenten paradirte. Die wichtigste Periode des Jahres war die Fastenzeit. In dieser hatte der Student unter der Aufsicht eines Geistlichen eine Woche lang [464] die ascetischen Uebungen des heiligen Ignatius durchzumachen. Die Regierung sah es sehr gern, wenn die jungen Leute dazu das Kloster Sexta Casa wählten, wo besondere Zimmer eingerichtet waren. In allen Fällen mußten die Uebungen bei möglichst verdunkelten Fenstern gemacht werden. Es war Vorschrift, daß der Student allein war und nach einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge bald saß, bald stand, bald sich auf den Rücken legte und Hände und Füße vor sich streckte. Er sollte sich der Beschaulichkeit überlassen und sich in seiner Phantasie die sämmtlichen christlichen Vorstellungen lebendig ausmalen, heute die Hölle, morgen die ewige Seligkeit, ein Mal die unbefleckte Empfängniß, ein anderes Mal den blutigen Schweiß des Erlösers. Wer sich dem Allen mit frommem Gefühl unterwarf, wurde für eine gute Anstellung vorgemerkt; wer sich lässig oder gar ungehorsam zeigte, wurde verdächtig, d. h. der Willkür des Polizeidirectors Maniscalco und seiner mehr als tausend öffentlichen und geheimen Sbirren preisgegeben. Für solche Verdächtige besaß das Gefängniß des Vicariats unterirdische Räume, in denen mancher Unschuldige bei Brod und Bohnensuppe Jahre lang saß. So war das Leben beschaffen, von dem Garibaldi mit seinen Alpenjägern die sicilianischen Studenten erlöst hat.
Schwerdgeburth in Weimar, der durch seine „Lutherbilder“ in ganz Europa bekannte und beliebte Kupferstecher, hat wieder ein Kunstblatt vollendet. Auch diesmal hat der geniale Künstler seinen Gegenstand der Geschichte entlehnt, einer Epoche aber, welcher dieser Nestor der deutschen Kupferstecher selbst mit angehörte: der Zeit Karl August’s und Goethe’s, zu welchen beiden er bekanntlich in einer ihm ehrenvollen Beziehung gestanden hat. Das betreffende Blatt veranschaulicht uns den großen Dichter und seinen fürstlichen Freund in dem historisch bekannten Zimmer, in welchem Goethe seinen vornehmeren Besuch zu empfangen pflegte, dem sogenannten „Urbinozimmer“. Alles bis auf die Tapetenkante ist getreues Portrait, links sieht man denselben Flügel, auf welchem gefeierte Künstler und Künstlerinnen durch ihr Talent manchen Winterabend Goethe und den geladenen Freunden herrlichen Genuß bereiteten; darüber Zelters Portrait; rechts das Sopha, worüber eine von Meyer für Goethe in Rom gefertigte Copie der aldobrandinischen Hochzeit hängt; in der Mitte endlich den Tisch, an dem die Freunde sitzen, zwischen ihnen die schwebende Figur einer Victoria in Gyps, von welcher Goethe in Briefen an Schiller und Meyer spricht. Die Kleidung ist die, in welcher beide bekannt sind: K. August in seinem polnischen Schnurenrock, neben ihm seine Jagdmütze; selbst der treue Gefährte, sein Hund „Neptun“, ist nicht vergessen. Was die Aehnlichkeit der Gestalten anlangt, so spricht dafür nicht nur daß der Künstler die beiden Männer kannte und oft zu sehen Gelegenheit hatte, sondern auch daß er sich Gesicht und Haltung der Beiden schon lange zum Studium gemacht hat, wie wir dieses aus früheren, sehr schätzenswerthen und allgemein beliebten Arbeiten des Herrn Schwerdgeburth wissen. Wenn wir den Moment berücksichtigen, worin die beiden Freunde aufgefaßt sind, so scheint es, als werde ein wichtiger Gegenstand besprochen; Karl August hat eben eine Bemerkung gemacht und ist gespannt auf Goethe’s Erwiderung, der nachdenkend in seiner imponirenden Würde dasitzt.
Was den Kupferstich (Preis 1 Thlr., chines. Druck 1½ Thlr.), vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, anlangt, so macht derselbe durch einen über das Ganze verbreiteten harmonischen Ton einen sehr angenehmen Eindruck. Daß er vortrefflich ausgeführt ist, bedarf bei dem Namen des Künstlers keiner besonderen Erwähnung.
Pariser Freunde schreiben uns aus der französischen Hauptstadt: „Haben Sie die neue Brochüre „L’Empire du Rhin“ schon gelesen? Göttliches Machwerk des kaiserlich französischen Uebermuthes! Inhalt folgender: Gründung eines großen Deutschlands mit Ausschluß von Preußen und Oesterreich, Wiederherstellung Polens, Ungarns, Irlands, eines lombardisch-venetianischen Königreichs (unter Herzog von Parma), – kurz, Oesterreich, Rußland, England, Preußen, Alles muß Haare lassen und sich den kaiserlichen Bestimmungen unterwerfen. Oesterreich empfängt jedoch die türkischen Fürstenthümer als Entschädigung, Preußen dagegen sinkt durch den Verlust der Rheinlande und des Großherzogthums Posen zu einer Macht von acht Millionen und seine Armee natürlich auf die bekannte „Potsdamer Wachtparade“ herab. Der Papst wird von dem zur Veränderung für den Katholicismus schwärmenden Verfasser nicht vergessen. Er erhält Alles wieder, was ihm Piemont genommen hat. Ebenso der gute König Bomba II. Die Türken haben per Ordre de Mufti Europa zu verlassen, ein großes Griechenland unter katholischen Fürsten entsteht, England verliert fast alle Inseln des Archipels und der übrigen Meere, und tritt sie theils an Frankreich, theils an Griechenland und Spanien ab. Mac Mahon wird zum künftigen König von Irland. Was wollen Sie mehr?
Noch mehr Unverschämtheit entwickeln aber die französischen Zeitungen bei Besprechung der Badener Conferenzen. Da sollen „die Deutschen das Haupt ehrfurchtsvoll vor dem Kaiser entblößt haben, weil sie“ – man höre und lache nicht – „weil sie in ihm den treuesten Freund, die einzige Stütze der deutschen Nationalbewegung, den Mann, der sich jeder guten Sache annehme, erkannt haben.“ Das können Sie wörtlich hier lesen. Dagegen darf ich Ihnen versichern, daß man hier recht wohl von dem Zischen der Badenser unterrichtet ist, und eifrige Bonapartisten wie die Rohrsperlinge auf die „groben, unwissenden Deutschen“ schimpfen.“
Die Schiller-Lotterie hat augenblicklich bereits 438,000 Loose abgesetzt, und noch immer laufen die Bestellungen in Masse ein. Die zahlreich angekauften und geschenkten Gewinn-Gegenstände sind sehr reichhaltig und werden ein schönes Bild deutscher Kunst und Gewerbsthätigkeit gewähren.
Lange schon und wiederholt war das Begehren an uns gestellt worden, dem edlen Spiele, dessen begeisterte Pflege auf der ganzen Erde treue Anhänger findet, auch in unserem weitgelesenen Blatte eine Stätte zu gönnen. Nach früher vereinzelten Versuchen, jener Bitte zu entsprechen, dürfen wir jetzt in der Verbindung mit einem angesehenen Schachmeister eine sichere Garantie für definitive und dauernde Erfüllung erblicken. Uns beseelt hierbei die frohe Zuversicht, als erheiternde und veredelnde Beschäftigung der Muße das sinnige Spiel in noch weiteren und zahlreicheren Kreisen, als es gelehrte eigentliche Schachzeitungen von Fach vermögen, heimisch zu machen. So soll denn auch dieser Abschnitt unseres Blattes dazu dienen, den gemüthlichen Genuß einer abendlichen oder sonntäglichen Mußestunde im Leben gebildeter und strebsamer Familien zu erhöhen. Wir werden deshalb abwechselnd eine interessante Partie wie eine anregende Aufgabe mittheilen, die man unter Beirath der schachkundigen Familienglieder am Sonntag Nachmittag auf dem Schachbret in der Laube des Gartens oder am Familientisch nachziehen und durchprüfen möge. Daneben gedenken wir von Zeit zu Zeit aus der sagenreichen Geschichte des Spieles oder auch im Zusammenhange mit der belletristischen Literatur kurze und anziehende Schilderungen zu bringen, sowie endlich durch Aufnahme leichterer Schachmaterien, die stufenmäßig vorschreiten, auch Anfänger wie schwächere Spieler allmählich zum Verständniß der Meisterwerke heranzubilden. Für heute nehmen wir zunächst die Aufmerksamkeit schon geübter Spieler für die Durchsicht nachfolgender Partie und Aufgabe in Anspruch.
(Gespielt zu Paris im April d. J.)
Hr. Prof. Anderssen aus Breslau. Weiß. |
Hr. M. Kolisch aus Warschau. Schwarz. |
1) e 2 – e 4 | 1) e 7 – e 5 |
2) S. g 1 – f 3 | 2) S. g 8 – f 6 |
3) S. f 3 – e 5 : | 3) D. d 8 – e 7 |
4) S. e 5 – f 3 | 4) D. e 7 – c 4 |
5) L. f 1 – e 2 | 5) L. f 8 – c 5 |
6) o – o | 6) o – o |
7) d 2 – d 4 | 7) L. c 5 – h 6 |
8) c 2 – c 4 | 8) c 7 – c 6 |
9) S. b 1 – c 3 | 9) D. e 4 - c 7 |
10) L. c l – g 5 | 10) h 7 - h 6 |
11) L. g 5 – h 4 | 11) g 7 - g 5 |
12) L. h 4 – g 3 | 12) d 7 - d 5 |
13) S. f 3 – e 5 | 13) S. h 8 - d 7 |
14) c 4 – d 5 | 14) S f 6 - d 5 |
15) S. c 3 – d 5 | 15) c 6 - d 5 : |
16) f 2 – f 4 | 16) g 5 - f 4 : |
17) S. e 5 – d 7 | 17) f 4 - g 3 : |
18) S. d 7 – f 6 † | 18) K. g 8 - g 7 |
19) D. d 1 – d 3 | 19) T. f 8 - h 8 |
20) L. e 2 – h 5 | 20) L. c 8 - e 6 |
21) D. d 3 – g 3 † | 21) K. g 7 - f 8 |
22) D. g 3 – e 5 | 22) D. e 7 - c 7 |
23) D. e 5 – e 3 | 23) D. c 7 - d 6 |
24) T. f 1 – f 4 | 24) T. a 8 - c 8 |
25) T. a 1 – f 1 | 25) T. c 8 - c 7 |
26) D. e 3 – g 3 | 26) T. c 7 - c 4 |
27) S. f 6 – h 7 † | 27) K. f 8 - e 8 |
28) D. g 3 – g 7 | 28) T. h 8 - h 7 : |
29) D. g 7 – h 7 | 29) T. c 4 - d 4 : |
30) L. h 5 – f 7 † | 30) L. e 6 - f 7 : |
31) D. h 7 – f 7 † | 31) K. e 8 - d 8 |
32) D. f 7 – g 8 † | 32) K. d 8 - c 7 |
33) T. f 4 – f 7 † | 33) K. c 7 - c 6 |
34) D. g 8 – e 8 † | 34) K. c 6 - c 5 |
35) K. g 1 – h 1 | 35) T. d 4 - h 4 |
36) T. f 1 – e 1 † | 36) T. h 4 - c 4 |
37) h 2 – h 4 † | 37) K. c 5 - b 4 |
38) T. e 1 – h 1 † | 38) K. b 4 – a 3 |
Von Herrn Kapellmeister Rudolph Willmers in Wien.