Die Gartenlaube (1882)/Heft 29
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No. 29. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Bob Zellina.
Alma bat ihn, ihres früheren Zusammenseins auf diesem Balcon nicht zu gedenken.
„Ei, ei,“ sagte Bob neckend, „woran man nicht gerührt haben will, das pflegt noch eine Macht zu sein: vielleicht gar eine unüberwindliche?“
Er lachte übermüthig auf.
„Ein so liebenswürdiger Papa,“ begann er wieder ernster, „ist aber eine Macht; ich hatte das gar nicht geglaubt, und mußte es schwer empfinden lernen.“
„Schwer?“ versuchte auch Alma zu scherzen, da er schwieg, „die paar Tage –“
„O, nicht in Jahren,“ fiel er hastig ein, „habe ich so viel bange Stunden durchlebt, wie in den paar Tagen, wie Du lächelnd sagen darfst.“
„Wirklich lächelnd?“ dachte sie bei sich, „meine Stunden waren andere noch!“ Sie blickte in die Weite und sagte:
„Nun ist Alles lange überwunden.“
„Das war,“ versetzte Bob, aufmerksam geworden, „als hättest Du doch gelitten?“
Sie sah ihn still an.
„Es lag in der Betonung Deiner Worte,“ fuhr er, wie sich entschuldigend, fort. „Du dachtest dabei nur an mich – ich verstehe nun schon. Und aus ganzer Seele danke ich es Dir; denn die Schwäche muß ich gleich von Anfang eingestehen – ich bin eifersüchtig. Ich werde es bei Dir immer sein; das fühle ich mit wahrhaftem Entzücken, eifersüchtig auf jeden Deiner Gedanken, den geringsten Deiner lieben Blicke. Du erschrickst darüber?“
Alma schüttelte das Haupt.
„Nein, Du dürftest es auch nicht. Obgleich wir Zellinas aus dem Süden stammen und uns vielleicht noch Tropfen heißeren Blutes bewahrt haben – was man dem Worte nach eifersüchtig nennt, das bin ich nicht. Nichts vom armen Othello! Ich bin nur mit Eifersucht der Wahrheit ergeben: Gemachtes oder gar Erheucheltes vermöchte ich nicht zu ertragen. Und das war immer so. Darum bin ich selbst von meinem Berufe, wo ich überall Täuschungen und Härteres in den Kauf nehmen mußte, niemals voll befriedigt worden, und ich freue mich unaussprechlich unseres neuen Lebens. Verborgen auf dem Lande, nur mit Dir und der Natur vereint – Alma, mir ist, als gingen wir schon auf Erden aller Seligkeit entgegen. Schilt mich nicht Schwärmer! Warum hast Du mich trotz des Wehes dieser letzten Tage so wahrhaft beglückt? Sah ich, fühlte ich doch, daß mein gutes Glück mich nicht irre geführt; Du wie ich – wir sind ganz Wahrheit. Eine Andere hätte vielleicht mehr an Aeußeres gedacht, sich wohl gar gebunden, obgleich in ihr nichts für mich gesprochen hätte. Du überwandest vorher, was in Dir gegen mich gewesen, und erst, als Du fühltest, wie Du mich glücklich machen dürftest, da gönntest Du Dich mir. Ist es anders?“
Alma senkte den Kopf, daß ihre Locken über Bob’s Arm fielen. Ein Bitten kam aus ihrem Herzen heraus, seine Wahrheit mit der ihrigen zu lohnen, wirklich ganz das zu sein, was er zu finden wähnte, doch ein kluges Zögern flog einem Hauche gleich hinterher, und der Hauch siegte über das Schwere. Selbst hier – wozu ein solch Erörtern und Bekennen? So zart war Alles geblieben; darüber zu sprechen – das hätte nur wieder herbe oder traurig machen können. Und sie hatte ja mit dem Vergangenen gebrochen.
„Bin ich auch nicht, was Du mir zutraust,“ sagte sie, „– es werden zu wollen, darf ich Dir versprechen.“
„Alma! Meine Alma!“ rief Bob da mit einem Jubelton, daß selbst die Natur aufzuhorchen schien. Einen Augenblick verstummte alles Rauschen in den Ulmen; das Geschrei der Eulen brach plötzlich ab – und ein blasser Strahl des Mondes ruhte wie segnend auf den jungen Häuptern.
Der geheimnißvolle Kreislauf von Herbst und Winter, Frühling und Sommer hatte sich beinahe vier Mal wiederholt. Zwar stand jetzt das Getreide noch überall auf den Feldern, doch fielen bereits hier und da wieder früh ergilbte Blätter, und die natürliche, reifende Sommerhitze ging in die schwüle Gluth letzter Augustwochen über.
Für das Haus und die Familie Zellina hatten die vergangenen vier Jahre mancherlei Veränderungen gebracht. Schon im Frühjahr nach der Hochzeit Bob’s erlag der Geheimrath seinen nach und nach immer peinigender gewordenen Leiden. Da er sich in Folge des Steigerns derselben von seiner gewohnten Umgebung allzu schwer getrennt hätte, Frau von Lossen es auch wie eine Pflicht empfunden, treu bei ihm auszuharren, war deren Vermählung mit Ruland erst im Beginne des Herbstes nach des Geheimraths Hingange in aller Stille erfolgt.
Der Tod des Vaters hatte Bob genöthigt, längere Zeit hindurch in der Stadt zu wohnen, da er das väterliche Bankgeschäft, nachdem das Erbgut seiner einzigen Schwester herausgezahlt worden, sofort auflöste, um sich seinem Geschmacke nach fortan ganz auf’s Land zurückzuziehen.
[474] Alma hatte sich ohne ein Wort des Widerspruchs in diese Veränderung gefügt, obwohl sie es eigentlich lieber gesehen, daß der Modus des ersten Jahres ihrer Ehe, den Winter in der Stadt zuzubringen, beibehalten worden wäre. Doch machte ihr das große ländliche Hauswesen auch genügend Freude, um nicht zu viel zu vermissen, besonders da gerade von Sunditten aus ein reger Verkehr mit benachbarten Gutsbesitzer-Familien möglich war. Das Rege des Verkehrs wechselte allerdings: mitunter schienen sowohl Bob wie Alma desselben wahrhaft zu bedürfen, und man fuhr in der einen Woche mehrere Mal aus, um in der nächsten wieder ebenso oft Gäste zu empfangen, die mit einer gewissen Dringlichkeit eingeladen wurden. Es folgten aber auch Zeiten, wo ihm die geringste Veranlassung genügte, ganze Monate lang nicht das Haus zu verlassen: kaum daß die Stadt, wo Bob die Villa des Vaters als Absteigequartier behalten hatte, in Geschäften oder Alma’s Eltern wegen aufgesucht wurde. Und merkwürdiger Weise kamen sich die Eheleute in diesem Wechsel der Stimmungen stets entgegen.
Schon nach dergleichen Aeußerlichkeiten behauptete man übrigens ziemlich allgemein, daß die Ehe der Sunditter Gutsherrschaft eine glückliche wäre – und etwaige vereinzelte Zweiflerstimmen wurden immer bald zum Schweigen gebracht.
Aber selbst, wenn es Jemand gewagt haben würde, Alma persönlich über ihre Gefühle auszuforschen, so hätte sie einen Zweifel an der Vollkommenheit ihrer Ehe wahrscheinlich nur für etwas Kurzsichtiges oder gar Böswilliges angesehen. Was Bob bestimmte, war ihr genehm; was sie anordnete oder für nöthig fand, hieß er gut – es war in Wahrheit ein kaum anderes, nur weit vielseitigeres Leben, als das, in welchem sie sich einst an der Seite ihres Vaters so wohl befunden hatte. Freilich war es zu dieser Höhe ihres Glückes eigentlich erst im letzten Jahre gekommen, seit Bob so viel stiller und dadurch dem Vater – während der liebenswürdigen Zeiten desselben – gleichsam ähnlicher geworden war: in den früheren Jahren hätte sie sich wohl über allerlei Nervositäten ihres Mannes, zuweilen sogar gewaltsame Ausbrüche von Heftigkeit beklagen können. Daß ihr Kinder versagt worden, blieb allerdings ein leiser Schatten – dieses immer ungetrübtere Zusammenleben mit ihrem Gatten ließ aber ja selbst dieses Entbehren kaum recht empfinden.
Ob der Gatte gleichfalls so freundliche Antwort auf irgend eine thörichte Frage nach seinem Glücke gegeben hätte? Wie gern nähme man es an! Wer Bob jedoch früher gekannt, vor Allem in seiner letzten Wiener Zeit, wäre schon durch sein zerstreutes und abgespanntes Wesen – was Alma „still“ nannte – kaum darauf gekommen, daß es derselbe Mann sei, der damals so viel Leben sprühte und in seinen Kreisen wegen des weltmännisch Feinen seines ganzen Auftretens und einer dabei gleichsam unberührten Reinheit des Herzens eine gewisse Aufmerksamkeit erregt hatte.
Heute schien jenes reiche innere Leben einer Art von Gleichgültigkeit gegen Alles gewichen zu sein. Höchstens bemerkte man ein Bemühen – und selbst das mehr äußerlich – der Gattin nachzueifern und, wie diese, nur in dem neuen Berufe aufzugehen. Da keine Kunst, selbst Musik nicht, die Bob in Wien gleichsam mit zur Lebensluft geworden, ein tieferes Bedürfniß für Alma war, vernachlässigte auch er nach und nach, wie selbstverständlich, sein früher so bewundertes Clavierspiel, ja regte nach einigen Absagen, welche er sich von Alma aus den nichtigsten Gründen geholt hatte, nicht einmal mehr zu Fahrten nach der Stadt an, wo ein reges Musikleben herrschte und darum gediegene musikalische Genüsse nicht zu den Seltenheiten gehörten.
Für jeden tiefer Blickenden, als Alma, für jede wahrhaft liebende Frau hätte ein solches Aufhören von Gewohnheiten, die mit dem ganzen Menschen verwachsen sein mußten, etwas Beunruhigendes gehabt – sie empfand es aber eher angenehm, daß in all solchen Beziehungen keinerlei Ansprüche mehr an sie gemacht wurden, und nahm es nur leichthin als eine jener freundlichen Rücksichten Bob’s, an welche sie sich längst gewöhnt hatte – die sie nun beinahe schon als ihr einfaches Recht ansah.
Da die Gatten außerdem in getrennten Flügeln des Schlosses wohnten – was man aus dem Stadtaufenthalt (wo eine bauliche Veränderung dazu gezwungen) mit nach Sunditten hinübergenommen hatte – so sahen sie sich oft Tage hinter einander nur während der Mahlzeiten. Bei diesen gab es aber, in der Regel von Alma angeregt, so viel Wirthschaftliches zu besprechen, daß das innere Leben der beiden Gatten überhaupt wenig oder gar nicht hervortrat. Mindestens bei Alma nicht; in Bob rang sich wohl bei der geringsten Veranlassung immer noch die Hoffnung empor, daß ihm für sein aufopferndes Dienen endlich der Lohn würde, der einzige, den er ersehnte: Alma ihren unerschütterlichen Gleichmuth verlieren, in ihren Augen wieder den Goldglanz von ehemals aufleuchten zu sehen; sie ergab sich ja in Alles, was er verlangen mochte – mit einem Lächeln konnte sie gewähren – aber Liebe, Liebe mußte anders geben.
Dieses Bewußtsein, nicht geliebt zu werden, war ihm eben vom Beginn seiner Ehe an unerbittlich aufgegangen, und er fühlte es noch heute in demselben, eher geschärften Maße in sich. Wie oft hatte er sich gefragt, ob Alma überhaupt anders könne, ob es nicht Naturen gäbe, die, gleichsam den Blattgewächsen ähnelnd, nie eine Blüthe trieben? Was bedeutete dann sein Ringen – er konnte davon nicht lassen. In noch schwereren Stunden flüsterte es ihm sogar zu: nur dich kann sie nicht lieben; du allein vermagst in ihr nichts zu wecken; Andere vermögen es. Und er beobachtete sie dann im gesellschaftlichen Verkehr, in Freundeskreisen und bei Festen – in stiller Qual, halb fürchtend, halb hoffend; doch blieb sie sich in jeder Umgebung unverändert gleich – selbst im wildesten Tanze ganz Ruhe. Sah sie dabei aber einmal zufällig nach der Richtung, wo er stand, oder nickte ihm gar beim Vorübertanzen zu, so bat er ihr wohl heimlich Alles ab und verurtheilte sich ob seines Kleinmuthes. War sie doch, was er einst von ihr gefordert hatte: in jedem Zuge wahr und nichts erheuchelnd. Durfte er ihr also um ihrer Eigenart willen zürnen?
Es nahm nur von dem vielen Traurigen nichts. Auf Ganzes hatte er gehofft und bloßes Stückwerk höhnte ihm überall entgegen. Wie verachtenswerth wollte ihm in solchen Stunden das Menschsein vorkommen! Doch mußte es getragen werden; denn trotz Allem wußte er es immer klar, daß selbst dieses Leben noch ein gewisses Glück in sich schloß – besaß er die Eine doch, die ihm Alles war. Und konnte nicht in jedem Augenblick die Liebe über sie kommen? War das noch nie dagewesen? O gewiß! Darum warten – geduldig warten! Müde durfte das mit der Zeit machen, doch nur müde.
Schon im Frühjahr war in der ganzen Gegend davon die Rede gewesen, daß ein Theil des großen Generalstabs eine Neuaufnahme der Küste veranstalten würde. Wegen anderweiter Aufgaben war es wohl damals nicht dazu gekommen; jetzt im Spätsommer, kurz vor den Manövers, trafen aber plötzlich noch Generalstabs-Officiere zu diesem Zwecke ein und wurden in Sunditten wie verschiedenen benachbarten Gütern einquartiert.
Alma, welche an jeder militärischen Einquartierung eine ganz besondere Freude hatte – da sie auch ein Militärkind sei, wie sie gern behauptete (ihre Mutter war die Tochter eines Majors gewesen) – nahm die Herren mit gewohnter Auszeichnung auf. Bob erschienen Gäste, da die Ernte beginnen sollte, jetzt weniger bequem. Dennoch widmete er sich denselben in ihren unbeschäftigten Stunden auf’s Zuvorkommendste, ging und ritt mit ihnen aus oder begleitete sie auf Besuchen in der Nachbarschaft, welche auch Alma mitzumachen pflegte.
So hatte er heute die Einladung seines nächsten Nachbarn, eines Herrn von Grumbach, zum Beginn der Ernte desselben angenommen und fuhr nun mit seinen Gästen und Alma schon am frühen Nachmittag von Hause fort. Als sie kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, kam ihnen eine Cavalcade von Damen, Officieren und anderen Herren entgegen gesprengt, um ihnen das Geleite nach Krackow, der Besitzung Herrn von Grumbach’s, zu geben.
Nach der Vorstellung der Officiere und einem lebhaften Hin und Her von Begrüßungen setzte sich der ganze Zug wieder in Bewegung und langte schließlich unter lautem Lachen und Scherzen in Krackow an. Alma vorzugsweise schien sich in wahrhafter Aufregung zu befinden: das Blut kam und ging in ihren Wangen, und sie hatte sich mit fieberischer Lebendigkeit an der Unterhaltung betheiligt, welche auf ihrer Seite, dem Gatten abgewendet, geführt worden. Es war nämlich vorher, beim Begrüßen der Officiere unter einander, ein Name gefallen – als der eines noch nachträglich in [475] Krackow Angelangten – welcher sie im ersten Augenblick vollständig fassungslos gemacht hatte. Und doch dankte sie dem günstigen Zufall, der sie auf das Bevorstehende gleichsam vorbereitet; immerhin war es nun ein Gerüstetsein, jedes Verbergen so viel leichter.
Trotzdem überflogen ihre Blicke bei der Einfahrt in den Hof mit Bangen – und zugleich unbewußt mit heller Freude die Gesichter der auf der Rampe Stehenden. Er schien nicht darunter zu sein. Sie streifte nochmals Kopf bei Kopf – da ganz im Hintergrunde traf sie auf ein Augenpaar, wie es für sie nur ein einziges auf der ganzen Welt gab. Und die Blicke dieser Augen suchten noch die ihrigen, hatten also nichts vergessen, wie sie nichts vergessen hatte: Alles noch wie damals, als geschieden werden mußte! So sollte das wehe Ende wirklich noch einmal neuem Anfang weichen?
Zusammenschauernd besann sich Alma, und ihre fliegende Röthe erblich.
Da hielt der Wagen auch, und die fünf Grumbach’schen Kinder – alle vier Mädchen und der süße blonde Junge drängten sich lärmend an die Tante heran. Alma küßte sie, nahm Liddy an die eine, Mäxchen an die andere Hand und verbeugte sich gleich darauf trotz einer zum Herzen stürzenden Blutwelle, die sie zu ersticken drohte – auf’s graziöseste, als Frau von Grumbach ihrem Gatten und ihr den Lieutenant Freiherrn von Hollfeld vorstellte. Bob erinnerte sich auf die Frage des Officiers nicht, ihm jemals im Casino der Stadt begegnet zu sein; Alma, von ihren kleinen Begleitern vorwärts gezogen, schritt weiter und verschwand mit den übrigen Damen in den Zimmern der Frau vom Hause.
Nach einer Weile kehrten die Damen in den Gartensaal zurück, und nachdem eine Erfrischung herumgereicht worden, begab sich die ganze Gesellschaft nach dem nächst gelegenen Roggenfelde, das gleich an der einen Seite des Parks begann und auf welchem deshalb mit der Ernte angefangen worden.
Alma ging am Arme ihres Gatten. Sie wurde wie gewöhnlich von den Kindern umschwärmt, welche ihr nach einander und stets mit derselben Wichtigkeit mittheilten, wie auch jedes von ihnen einen „ganzen Nickel“ bekommen hätte – und daß sie die Hulda binden würde.
Bob hatte, obwohl er mit andern Gutsbesitzern in ein Gespräch verwickelt war, gleich vorher bei Alma’s Wiedereintritt die Veränderung in ihrem Wesen und ihr besonderes Aussehen mit höchster Ueberraschung bemerkt. Und dabei schien sie ihn zu suchen: nicht nur wiederholt mit Blicken – sie war schon ein zweites Mal plötzlich an seiner Seite gewesen und hatte seinen Arm genommen. Es war ihm erschienen, als verlange sie nach Schutz. Aber weshalb? Hier in der großen Gesellschaft, von beinahe lauter Bekannten umgeben?
Er wollte sie schon fragen, sie necken – davor warnte ihn aber etwas: warum den Zauber stören? War das nicht beinahe schon, was er geträumt, so heiß ersehnt hatte? Jetzt glänzte ihr Auge; jetzt schien es von innerem Glück zu glühen – und ihm – ihm galt das! Doch nur einen einzigen Grund dafür? Warum gerade jetzt?
Er zermarterte sich das Gedächtniß: seit Wochen, seit Monaten war nie ein Anlaß gewesen, über sich oder sein Fühlen zu sprechen. Was war vorgegangen? Einer der Officiere hatte Mittags in so feiner Weise auf Alma und das Glück solchen Besitzes getoastet. Bob hatte sie dabei angesehen: mochte in seinen Augen Anderes gestanden haben, und hatte sie das endlich gerührt? Wollte sie endlich versuchen, ihm gerechter zu werden? Aus solchem Kleinen könnte so unsagbar Großes hervorgehen? Aber Nichts mehr von kaltem Sinnen! Hinnehmen – wie alles Höchste geschenkt hingenommen werden muß. Erdient in den langen Jahren war ja doch Alles.
Und so ruhten auf dem schönen Paar, das dem größeren Theil der Gesellschaft ein wenig voranschritt und, umflattert von all den holden Kinderengeln, wie vom Glücke selbst geleitet schien – viel bewundernde Augen.
Es war ein ziemlich schmaler Rain, einen Graben voll Brombeergesträuch und Gaisblatt entlang, auf welchem man der Stelle zuschritt, wo der Haupttheil der Schnitter Garben band oder dieselben in Wiepen zusammenstellte. Sobald man diesem Platze näher gekommen war, flogen die Kinder in einem wahren Wettlauf auf ein jugendliches Mädchen zu, welches durch sein grellrothes Mieder vor allen Anderen hervorleuchtete. Gleich einem Völkchen Repphühner blieben sie um ihre Hulda stehen und ließen sich, Jedes unter dem Jubel der Uebrigen, ein Sprüchlein sagen und einige Roggenhalme um den Arm binden, worauf halb stolz, halb zögernd der „ganze Nickel“ in die offene Hand der Binderin fiel.
Als sich nun auch Zellinas näherten, verließ ein hübsches, kräftiges Mädchen mit solchem Garbenbande in der Hand die Reihe der Schnitter und trat mit niedergeschlagenen Augen und brennender Röthe aus den Wangen, aber in natürlich sicherer Weise an sie heran.
Während Liddy rief: „Ach, die Auguste!“ schlang diese ihre Wiede um die vereinten Hände der Gatten und sagte ohne zu stocken:
„Ich hab’ es vernommen,
Daß der gnädige Herr
Und die gnädige Frau
Sind gekommen.
Ich will sie bestricken
Mit lieblichen Blicken,
Mit lieblichen Sachen.
Viel Complimente
Kann ich nicht machen.
Ist mein Band auch schlecht,
Ist mein Wunsch doch recht.
Es ist kein Band aus Disteln und Dorn’;
Es ist aus reinem Roggenkorn.
Auch bind’ ich’s nicht zu los und nicht zu fest,
Daß es sich wieder lösen läßt.“
Alma fühlte, daß bei dem letzten Verse ihres Gatten Arm zuckte, und sah erschrocken, wie er finster und völlig geistesabwesend vor sich hinstarrte. Die übrige Gesellschaft war zum Theil herangetreten und stand plaudernd im Kreise umher; Auguste ging nach einem schüchternen Aufblick seitwärts fort.
Bob schien nichts von Allem zu bemerken. Verlegen suchte Alma ihre Hand frei zu machen: da sah er sie aber mit einem so entsetzten Blicke an, daß sie wie vor etwas Unerträglichem die Augen schloß. Das gab ihm die Besinnung wieder, und er vermochte sich sogar zu den gleichfalls gebundenen Grumbach’s mit dem Scherze zu wenden:
„Nicht wahr, solche neu getrauten Paare dürfen mindestens den Tag nicht wieder aus einander gehen?“
Der joviale Grumbach stimmte lebhaft zu und schloß, wie zur Bekräftigung, seine Gemahlin in die Arme und küßte sie herzlich.
Das that Bob nicht, doch ließ er Alma’s Arm nicht los und ging mit ihr auf Auguste zu. Während er derselben sein großes Lösegeld in die Hand drückte, sagte er:
„Ihr müßt aber die letzten Verse ändern. Da sollte gerade etwas von niemals Lösen vorkommen. Wie lauten sie doch?“
Auguste wiederholte nach kurzem Besinnen:
„Es ist kein Band aus Disteln und Dorn’;
Es ist aus reinem Roggenkorn.
Auch bind’ ich’s nicht zu los und nicht zu fest,
Daß es sich wieder lösen läßt.“
„Euer Band,“ fuhr Bob fort, „soll doch Segen, dauernden Segen bedeuten?“
„Das wohl!“ erwiderte Auguste.
„Nun so müßt Ihr künftig etwa sagen:
‚Drum bind’ ich’s nicht zu los – ich bind’ es fest,
Daß es sich nimmer lösen lässt.‘“
„Ja – aber?“
Auguste stockte, erröthete wieder bis in die Schläfen hinauf, streckte jedoch die Hand mit dem Gelde ein wenig vor.
„Wie wird es dann mit dem Auslösen, meinst Du?“
Sie nickte.
Bob sah Alma an, welche lächelte. So lachte er auch und meinte, indem er sich abwandte:
„Da wird es freilich wohl beim Alten bleiben müssen.“
Die Damenwelt mit den Kindern und einigen der Officiere trat den Rückweg an: die übrigen Herren gedachten noch ein Stück weiter in die Felder zu gehen, wo ihnen Grumbach besonders gut stehenden Weizen zeigen wollte. Bob hatte Alma zum Abschiede zwar nur stumm die Hand gedrückt, sah ihr aber noch eine ganze Weile nach, während ihm einer der Gutsbesitzer den Körnerertrag des diesjährigen Weizens pries. Die Wiede behielt er um seinen Arm geschlungen.
[476] Als die Herren wieder den Park betraten, blieb Bob hinter ihnen zurück und schlug einen Nebenweg ein, der, wie er wußte, in einer geschorenen Buchenhecke dicht am Hause endete. Es verlangte ihn darnach, noch einige Augenblicke mit sich allein zu sein; denn wenn das Große, was gewesen, die Fluth seiner Gedanken, auch längst wieder stillem Besinnen Platz gemacht hatte – ein Hauch davon war noch immer um ihn, und schon dieser Hauch schien so köstlich, daß er beachtet sein, genossen werden mußte.
Wenn ein lieber Zufall sie doch auch ihn suchen ließe, er sie gerade auf diesem Wege fände!
Seine Phantasie stellte ihm Alma so treu vor; er sehnte sie herbei, daß es ihm war, als dürfe er nur noch jene Biegung erreichen – da werde sie stehen in all ihrer Schöne. Wie möchte das von der untergehenden Sonne erglühende Laub da hineinstimmen! Es wäre, als stiege sie aus dem Himmel zu ihm hernieder.
Doch er kam an die Biegung und an noch eine – Niemand, so weit er sehen konnte; nur Sonnenfunken tanzten am Boden vor ihm hin, und der Abendwind raschelte in den Blättern.
Er war rasch zugegangen. Diese Eile, sein ganzes Gebahren erschien ihm plötzlich ein wenig lächerlich. Hatte er nicht überhaupt zu viel gesehen? Oder sein heißes Wollen nur vergrößert, was irgend ein Ungefähr heraufbeschworen hatte? In Gegenwart von Kindern war sie stets eine Andere. Aber nein! Diesmal war es mehr gewesen – viel mehr. Darum war an seinem Treiben auch nichts lächerlich, sonst wäre alles Empfinden lächerlich. Und daß der Gatte endlich die Gattin finden sollte – gab es Höheres? Entschuldigte diese Hoffnung, die Möglichkeit solchen Erringens nicht jedes Thun? Was bedeutete es also, sich wie ein Liebender anstellen zu müssen, nicht wie ein Ehemann von Jahren? War er nicht noch ein Liebender? Ist der etwas Anderes als ein Werbender? Und warb er nicht heute noch?
Während er sich so beschwichtigte und die dunkle Empfindung, er sei dennoch zu weit gegangen, zum Schweigen bringen wollte, war er an die letzte Biegung des Heckenweges gekommen und stand nun dem Hause gegenüber. In dem Ausgange der Hecke, wie in einem Rahmen gefaßt, lag eines der breiten Fenster des Gartensaals vor ihm. Der eine Fensterflügel stand offen, und an demselben lehnte der Officier, welcher vorher behauptet hatte, ihm bereits einmal vorgestellt worden zu sein. Die ernste Würde seines Kopfes fiel jetzt besonders auf: Das Profil schien von classischer Reinheit, und der dunkle, kurze Vollbart gab dem Ganzen etwas kraftvoll Männliches. Er mußte eindringlich sprechen; sein Mienenspiel war so erregt. Unwillkürlich schritt Bob mehr nach links hinüber, um zu sehen, mit wem er spräche. Solch ein blaßblaues Kleid, die vielen Spitzen trug nur Eine. Noch aber konnte er das Gesicht nicht sehen. Da – als vermöchte sein Wünschen doch in die Ferne zu dringen, bog sich Alma mehr vor und stand, die Hände leicht vor sich hin geschlossen, in einer Haltung vor dem Officier, welche Bob athemlos an der Stelle haften ließ. Wie unaussprechlich reizend sie war! Diese holde Jungfräulichkeit! Doch der Kopf – so demuthsvoll gesenkt? Ihr ganzes Sein wie völlig an den Fremden hingegeben? Er mußte sich täuschen. Nun sah sie aber auf. Zu dem Officier auf. Dieser nicht endende Blick!
Bob’s Rechte krampfte sich zusammen; seine andere Hand faßte nach den Buchenzweigen. Und in heiserem Flüstern kam es über seine Lippen:
„Der also war es? Nichts weiter? Und dennoch! Nichts ist’s – blankes Nichts! Wie könnte Eine so jungfräulich rein aussehen und Gedanken im Herzen tragen – Gedanken! Nein – nein! In solchem kleinen Nachmittage kommt Keine so weit, die immer ehrbar gewesen. Da ist es auch fort – das Bild! Der Officier stand wieder allein am Fenster. War er vielleicht vorhin auch allein gewesen? Hatte nur das überhitzte Blut – –? Nicht – nicht doch! Da gestanden hatte auch sie.“
Bob kehrte sich jäh um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Erst nachdem man Licht angezündet und die älteren Herren sich zum Spiel niedergesetzt hatten, stand er plötzlich an einem der Spieltische.
„So!“ rief der Regierungsrath Ruland, indem er die Kellerschlüssel wieder an ihr Brett hing und eine mit Spinnweben und Staub bedeckte Flasche auf den Tisch stellte. „Jetzt ist meine Alte“ – er duckte sich, wie über sich selbst erschrocken, „verrathe mich nicht! – auf den Trab gebracht, und ich habe uns ein Fläschchen vom väterlichen Steinberger – beinahe glaube ich, es ist Vierunddreißiger! – heraufgeholt. Nun wollen wir uns hier in aller Gemüthlichkeit etabliren! Vor zwei Stunden kehrt meine Frau von der Oberräthin nie zurück, und mehr Zeit werden Deine Eröffnungen wohl nicht beanspruchen.“ Er setzte auch Gläser auf und schenkte dieselben, nachdem er die Flasche behutsam entkorkt hatte, voll. „Also Bobchen – ein pereat jeder Kopfhängerei!“
Während die Gläser zusammenklangen und der Rath behaglich seinen Feuerwein schlürfte, sagte Bob, der nur am Glase genippt hatte:
„Ich hänge nicht den Kopf.“
„Qui s’excuse und so weiter!“ lachte der Rath, indem er sich gleichfalls auf’s Sopha setzte. „Und im Grunde bist Du noch nicht einmal direct angegriffen worden. Doch nun los die Klage! Ich bin wirklich sehr neugierig, da Du so dringend auf dieser Unterredung bestanden hast.“
„Es ist eigentlich blos eine Frage –“
„Schade, daß es nicht zehn sind! Der alte Junge hier“ – Ruland goß sich von Neuem ein – „löst jede Zunge, und wenn Du ein Stündchen Geduld hast, kannst Du nicht mehr als Alles von mir herausbekommen.“
„Du würdest mich verbinden, wenn Du Dich ein wenig ernster stimmen könntest.“
Der Rath sah den Schwiegersohn groß an.
„Versteht sich nun von selbst!“ Eine Falte leichten Mißvergnügens vertiefte sich dabei zusehends auf seiner Stirn.
Bob zögerte einen Augenblick, dann fragte er kurz:
„Hat Baron Hollfeld meiner Frau einmal näher gestanden?“
„Wie kommst Du auf dergleichen? Näher gestanden!“ erwiderte Ruland langsam und so voll Beherrschung, daß sich nur sein Blick ein wenig verschärfte. Er wollte durch die Gegenfrage wohl Zeit zum Ueberlegen gewinnen, oder sich doch, bevor er eine Antwort gab, möglichst darüber zu orientiren suchen, was Bob wüßte oder erfahren hätte.
„Habe ich nicht deutlich genug gefragt?“ versetzte dieser erregter. „Du thust eine Frage dagegen; das ist keine Beantwortung der meinigen. Und ich dächte, gerade mir könnte Niemand das Recht bestreiten, eine Antwort selbst zu erzwingen.“
„Ueber Dein Recht dazu will ich nicht streiten“ loderte auch der Rath auf, „doch über Deine Art – den Ton vor Allem! – Ich muß aber wohl annehmen,“ fuhr er gelassener fort, „daß etwas passirt ist, was Dir unerklärlich vorgekommen, oder gar ein falsches Licht irgend worauf geworfen hat. Darum vor allen Dingen – was ist geschehen?“
„Die Möglichkeit, daß Etwas geschähe,“ rief Bob aufspringend, „war also vorhanden? Damit wäre meine Frage ja beantwortet.“
„Ein seltsamer Schluß!“ entgegnete der Rath, die Brauen noch mehr zusammen ziehend. „Willst Du übrigens, daß wir unseren interessanten speech fortsetzen, oder wenigstens, daß ich Dir die Antwort gebe, welche Du erzwingen zu können meinst, so muß ich um größere Ruhe bitten. Ich pflege einem Menschen nie Rede zu stehen, der nicht in der Verfassung scheint, meine Argumente als das nehmen zu können, was sie sind.“
Lippspringe und seine Umgebung.
Wer von der Weser her, da wo die alte Benedictinerabtei Corvey neben dem Städtchen Höxter aus den dunklen Bäumen hervorschaut, auf dem westwärts führenden Schienenwege dem Rhein zueilt, der erblickt, nachdem der Zug die Höhen des Osning und die mächtigen Viaducte von Altenbecken und Neuenbecken überschritten hat, sehr bald das altehrwürdige Paderborn. Das Gebiet, welches sich um diesen Ort ausdehnt und in mächtigem Bogen dort von dem Teutoburger Walde, hier von den letzten Abhängen
[477][478] des Sauerländischen Gebirges umzogen wird, bildet das große Reservoir, aus welchem die westfälische Ebene durch die Gewässer der Lippe und der Ems gespeist wird. Auf einer Entfernung von nur wenigen Stunden entspringen hier die zahllosen Quellen, deren Rinnsale sich zu den gedachten Flüssen vereinen.
Unser Besuch in diesem Quelllande soll zunächst nicht der alten Paderstadt, sondern dem eine Meile weiter nordwärts um die Hauptquellen der Lippe gelegenen Städtchen Lippspringe gelten, das sich durch seine vor nunmehr fünfzig Jahren entdeckte segenbringende Heilquelle einen bis in die weiteste Ferne reichenden Ruhm errungen hat. Die Bescheidenheit seiner Lage inmitten einer mit wenigen landschaftlichen Reizen ausgestatteten Gegend kam der Entwickelung des Lippspringer Curortes nicht sonderlich fördernd entgegen, allein der hohe Werth seiner Warmquelle ersetzte manche Vorzüge anderer bewährter Bäder, und so zog der kleine anspruchslose Ort von Jahr zu Jahr eine größere Zahl von Leidenden herbei, die hier Genesung suchten; zur Zeit mag die Zahl der Curgäste, die hier jährlich verweilen, annähernd 3000 betragen.
Die Quelle, welche diese wachsende Anziehungskraft ausgeübt und schon manchem ihrer Besucher Heilung oder doch Linderung seiner Leiden gebracht hat, wurde im Jahre 1832 zufällig bei der Vertiefung eines Abzugsgrabens der Lippe entdeckt und sehr bald wegen ihrer verhältnißmäßig hohen Temperatur und des röthlichen Niederschlages ihres Wassers als Mineralquelle erkannt. Bald wandte sich die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden, wie der Männer der Wissenschaft der entdeckten Quelle zu, und da die Ergebnisse der von beiden Seiten veranstalteten Untersuchungen sich günstig erwiesen, so wurden die für einen Bade-Ort erforderlichen Einrichtungen getroffen. Das Bad ist indessen von Anfang an bis heute in Privatbesitz geblieben und seit 1844 das Eigenthum der Erben der Herren Risse und Hesse in Paderborn.
Zur Erinnerung an den Befreier Deutschlands von römischer Fremdherrschaft ward der Therme von ihren Entdeckern der Name Arminius-Quelle beigelegt, Sie besitzt stets die Wärme von 17° Réaumur und hat eine Ergiebigkeit, die sich nach den bei ihrer letzten Fassung im Jahre 1869 angestellten Messungen auf 500 Liter in der Minute beläuft. Das Wasser ist von krystallhellem Aussehen, ohne jeglichen Geruch und zeigt frisch aufgefangen eine mäßige Gasentwickelung. Ihre Bedeutung und Heilwirkung wurde zum ersten Male in eingehenderer wissenschaftlicher Weise durch den Kreisphysicus Dr. Piper in einer im Jahre 1841 erschienenen Brunnenschrift dargelegt.
Seitdem haben weitere Forschungen und analytische Untersuchungen, sowie die im Laufe der Jahre gesammelten praktischen Erfahrungen dargethan, daß man zwar im Anfange die Heilkraft der Quelle einigermaßen überschätzt hatte, indem man glaubte, sie gegen alle möglichen Krankheiten in Anwendung bringen zu können, daß sie aber in ihrer Zusammensetzung, die sie kurz als eine stickstoffreiche Kalktherme mit mäßigem Glaubersalz- und schwachem Eisengehalt qualificirt, für manche Krankheiten der Athmungsorgane von unschätzbarem Heilwerthe ist. Die günstigen klimatischen Verhältnisse des Curortes, die verhältnißmäßig geringen Schwankungen der Temperatur während der Sommermonate, die reine, milde und feuchtwarme Luft, welche der Ort dem großen Wasserreichthum der Gegend verdankt, treten den Wirkungen der Therme fördernd zur Seite und machen Lippspringe zugleich zu einem wohlthuenden Aufenthalte für Brustkranke. Wer sich im Uebrigen genauer über die Heilmittel und Heilwirkungen des Bades unterrichten will, dem empfehlen wir die Schriftchen, welche in den letzten Jahren von den Brunnenärzten Dr. Dammann und Dr. Rhoden veröffentlicht wurden.
Die Einrichtungen und Umgebungen des Bades haben im Laufe der Jahre eine Ausstattung und Ausdehnung erfahren, wie sie der Zunahme seiner Gäste entsprach, sodaß Lippspringe heute mit jedem anderen Curorte von ähnlichem Umfange den Vergleich aushalten kann. Die geschmackvollen Anlagen des Curgartens, die frischen Rasenplätze mit ihren freundlichen Blumenbeeten und dunklen Baumgruppen, durch welche sich die kalkweißlichen Pfade nach allen Seiten hindurchschlängeln, die Menge lauschiger, zum Sitzen einladender Plätze, die hellen Gewässer der Lippe und des Jordan, welche den Park auf seiner nordwestlichen Seite durchrieseln, die Stimmen der zahlreichen Singvögel, welche sich an warmen Sommertagen aus Strauch und Baum vernehmen lassen – Alles das muthet in seiner idyllischen Einfachheit den Besucher heimisch an und trägt nicht wenig dazu bei, den Aufenthalt der Gäste zu einem behaglichen zu machen.
Rings um den Park erheben sich die den Curzwecken dienenden Gebäulichkeiten: auf der Westseite, da, wo sich der Garten nach der Lippe und ihrem Zufluß, dem Jordan zu absenkt, die Brunnenhalle nebst der Colonnade, die Inhalatorien zum Einathmen des Stickgases, die Douche mit ihren Cabinets, die Badehäuser, die Musikhalle, auf der Anhöhe in entgegengesetzter Richtung das ältere und das neuere Curhaus, auf der Südseite endlich verschiedene Wirthschaftsgebäude und die Ueberreste der alten Tempelherrenburg. Seit einigen Jahren ist auch die mit zierlichen Grotten eingefaßte Jordanquelle in den Bereich der Anlagen hineingezogen worden; es eröffnet sich von diesem Theile des Parkes aus ein freier Rundblick auf die umliegende Landschaft und die den Horizont begrenzenden Höhen des Teutoburger Waldes.
Im Uebrigen sucht man das, was dem Leben in anderen Bädern seinen eigenthümlichen Charakter aufzuprägen pflegt, wenn man von den täglichen Concerten der Cur-Capelle absieht, in Lippspringe vergebens; auf Unterhaltungen, wie Theater, größere musikalische Aufführungen, öffentliche Vorträge, muß der Lippspringer Badegast von vornherein verzichten und seine Erholung in der Stille und Ruhe suchen, wie sie eben nur ein einfacher ländlicher Aufenthalt gewähren kann und wie sie sich schließlich auch für die an unserer Quelle Genesung Suchenden am zweckmäßigsten und wohlthuendsten erweisen dürfte. Auch der Ort, welcher das Bad umgiebt, obgleich er bereits seit dem Jahre 1400 durch das ihm von dem Paderborner Bischof ertheilte Privilegium die Rechte einer Stadt genießt und obgleich er in den letzten fünfzig Jahren ein überaus freundliches Aussehen gewonnen hat, bietet doch noch heute im Allgemeinen eher das Bild eines größeren Dorfes, als das eines ansehnlichen städtischen Gemeinwesens.
Eine andere Physiognomie zeigt uns freilich die Landschaft, wenn wir uns in die weitere Umgebung Lippspringes begeben: es fehlt alsdann nicht an zahlreichen Punkten, die mit allen Reizen der Natur ausgestattet sind, und an viele dieser Punkte knüpfen sich Erinnerungen von mancherlei Art an eine bedeutsame Vergangenheit. Dieses ganze Gebiet, das Quellland der Lippe und der Ems mit den Höhen, welche es in vielen Bogen umziehen, ist für die Geschichte Deutschlands ein wahrhaft classischer Boden, wie wenige andere Gaue unseres Vaterlandes; denn zweimal im Laufe der Jahrhunderte wurde auf ihm über das Geschick unseres Volkes auf lange Zeit hinaus entschieden: das eine Mal im Anfang unserer Zeitrechnung, als der Sieg des Arminius und seiner tapferen Cheruskerschaaren unsere Nation vor dem Schicksale bewahrte, gleich den Galliern und anderen Völkern Europas romanisirt zu werden, das andere Mal – acht Jahrhunderte später — als das Land zwischen Rhein und Weser der fränkischen Herrschaft unterworfen und das Sachsenvolk von den Siegern zur Annahme des christlichen Glaubens gezwungen wurde.
Schon vor der Niederlage des Varus im Teutoburger Walde hatte Drusus und nach ihm sein Bruder Tiberius den Versuch gemacht, das Land in römische Gewalt zu bringen. „An den Quellen der Lippe“ hatten sie ein festes Castell, Aliso genannt, gebaut, wahrscheinlich an Stelle des heutigen Dörfchens Elsen, wo Pader und Lippe sich vereinen. Aehnlichen Versuchen wurde mit der Heldenthat Hermann’s ein für alle Mal ein Ende gemacht. Die germanischen Völkerstämme gingen seitdem von der Abwehr zum Angriffe über, bis das römische Weltreich unter ihren Streichen in Trümmern zusammensank.
Bekanntlich ist es noch nicht möglich gewesen, auf Grund der Angaben der römischen Schriftsteller den Ort mit unanfechtbarer Bestimmtheit zu bezeichnen, „wo Hermann den Varus schlug“, obgleich ganze Bibliotheken über diese Frage zusammengeschrieben worden sind. Das Schlachtfeld ist von den Alterthumsforschern, wie ein neuerer Geschichtsschreiber bezeichnend bemerkt, von einem Ende Westfalens bis zum andern hin und her gezerrt worden. Heute hat man sich indeß dahin geeinigt, den Schauplatz der bedeutungsvollen Katastrophe zwei Meilen nördlich von Lippspringe in den Schluchten des Gebirges zu suchen, und so hat auch der Bildhauer Bandel dem Riesenstandbilde des Befreiers Germaniens, an welchem er nahezu vier Jahrzehnte sich abmühte, bis es im Jahre 1875 vollendet und feierlich eingeweiht wurde, oberhalb jener Schluchten auf der Grotenburg seine Stelle gegeben, da, wo sich über die [479] dunklen Waldungen an den Bergabhängen eine weite, großartige Fernsicht über die Ebene der rothen Erde eröffnet.
Näher bei Lippspringe und auch mitten im Osning an der von Paderborn nach Detmold führenden Landstraße, erhebt sich eine unter dem Namen der „Externsteine“ (vergl. Jahrgang 1862, Seite 380 und 1877, Seite 552) bekannte Gruppe von wundersam aufragenden Felsmassen, die, gleich dem Hermanns-Denkmal, gern von Nah und Fern aufgesucht werden. Bis in das sechszehnte Jahrhundert waren die Steine im Besitze des Benedictinerklosters Abdinghof in Paderborn, dessen Mönche in den Aushöhlungen der Felsen verschiedene Vorkehrungen zur Abhaltung des Gottesdienstes trafen. „Bey solchen hohen Steinen seindt,“ wie eine Lippesche Chronik berichtet, „bey alten Zeiten viel Zeichen undt Wunder geschehen, die einen grossen Concursum (Zusammenlauf) vieler bekannten und unbekannten Leuthe daselbsten zusammengebracht haben.“
An der nordöstlichen Seite eines der Felsen befindet sich ein großes Sculpturwerk, welches schon die Aufmerksamkeit Goethe’s auf sich zog und ihn zu einer eingehenden Untersuchung über die Entstehung der bildlichen Darstellungen und ihres Zusammenhanges mit der christlichen Kunst der Byzantiner veranlaßte. Das Hauptbild stellt die Abnahme Christi vom Kreuze in Lebensgröße, halb erhaben, dar. „Die Composition des Bildes,“ bemerkt Goethe, „hat wegen Einfalt und Adel wirkliche Vorzüge. Vorzüglich loben wir den Gedanken, daß der Kopf des herabsinkenden Heilandes an das Antlitz der zur Rechten stehenden Mutter sich lehnt, ja durch ihre Hand sanft angedrückt wird – ein schönes, würdiges Zusammentreffen, das wir nirgends wieder gefunden haben, ob es gleich der Größe einer so erhabenen Mutter zukommt.“ Ueber der rechten Seite des Kreuzes ist Gott Vater dargestellt als der „Alte der Tage“, mit Bart und herabwallendem Haupthaar; zur Rechten und zur Linken erscheinen personificirt Sonne und Mond, beide weinend und Thränentücher haltend, als ob sie damit ihr Gesicht verhüllen wollten, um nicht die Uebel zu sehen, die mit dem Bau der Welt verknüpft sind.
Das zweite Gruppenbild, welches unter dem ersten sich befindet, hat einen Mann und eine Frau, wohl Adam und Eva, zum Gegenstande, die von einem löwenklauigen Schlangendrachen, dem Princip des Bösen, umschlungen sind und die, da die beiden Hauptweltmächte einander das Gleichgewicht halten, nach Goethe’s Ansicht durch das obere große Opfer kaum zu retten sein möchten.
Wir wenden uns nach dieser Abschweifung in die Schluchten des Osning wieder der Ebene zu und statten zuletzt derjenigen Stätte unseren Besuch ab, von welcher aus die Bevölkerung des umliegenden Gebietes für den christlichen Glauben gewonnen wurde. Rings um die Quellen der Lippe und der Pader wählte wiederum, wie es acht Jahrhunderte früher von den Römern geschehen war, der mächtige Frankenkönig Karl der Große sein Standquartier, um das widerspenstige Sachsenvolk, das inzwischen seit der römischen Invasion in das Land eingewandert war, zur Unterwerfung und zur Abschwörung seines heidnischen Glaubens zu zwingen. An den Quellen der Lippe wurden bei seiner ersten Anwesenheit im Jahre 775 Tausende zwangsweise getauft, und zur Erinnerung an diese Begebenheit erhielt der Jordan seinen Namen.
Zwei Jahre später wurde dann an den Paderquellen der erste große Reichstag auf sächsischem Boden abgehalten, welcher Anlaß zu dem Zuge geben sollte, der später von Karl nach Italien unternommen wurde und ihm die römische Kaiserkrone einbrachte. Bei „Padresbrunnen“, da wo die Pader in nicht weniger als 198 Quellen mit einer Wassermasse von 200 Cubikfuß in der Minute aus dem Boden emporspringt, wurde dann 795 eine Kirche „von wunderbarer Größe“ erbaut und das Bisthum Paderborn gegründet, welches fortan den Mittelpunkt der geistlichen und bald auch der weltlichen Macht für das umliegende Gebiet abgeben sollte.
Seit den Tagen Wittekind’s hört unsere Landschaft auf, der Schauplatz hervorragender politischer Ereignisse zu sein. Ihre Schicksale bewegen sich in dem engen Rahmen eines wenig ausgedehnten Bischofssprengels. Lange Jahre führte die Stiftung Karl’s ein bescheidenes Dasein, und erst zu Anfang des elften Jahrhunderts war es der kluge, energische, vor keinen Hindernissen zurückschreckende und in der Wahl seiner Mittel nicht verlegene Bischof Meinwerk, der mit Hülfe seiner Anverwandten, der Kaiser Heinrich des Zweiten und Conrad des Zweiten, das Paderborner Hochstift zu größerem Ansehen und Besitz emporhob. Er unterzog während seiner Regierungszeit nicht nur den Dom und andere kirchliche Gebäude einem Umbau, sondern er fügte denselben auch das Kloster und die Kirche von Abdinghof, die Busdorfskirche und die Bartholomäus-Capelle hinzu und gab durch diese umfassenden Bauten der Stadt die ansehnliche äußere Physiognomie, welche sie bis dahin im Allgemeinen bewahrt hat. Die in der Nähe des Nordportales des Domes gelegene Bartholomäus-Capelle gilt für eines der interessantesten Baudenkmäler Westfalens.
Kräftig und fröhlich blühte in den folgenden Jahrhunderten, namentlich in den Zeiten der Hanse, auch die Stadt in Handel und Wandel empor, bis der Gegensatz, der sich hier, wie in vielen anderen Bischofsstädten, schon früh zwischen der Bürgerschaft und dem geistlichen Oberherrn entwickelte, den Anlaß zu ihrem Niedergange gab. Wiederholte Gewaltthätigkeiten nöthigten die Bischöfe zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, ihren Wohnsitz aus der Stadt nach dem festen Schlosse Neuhaus zu verlegen.
Die durch die Reformation hervorgerufenen Gährungen führten in Paderborn zwar nicht zu so blutigen Episoden, wie in dem Zion der Wiedertäufer, in Münster, aber die Erschütterungen, welche die Stadt Jahrzehnte hindurch erlitt, waren hinreichend, um sie der äußersten Armuth preiszugeben. Im Kampfe um bürgerliche und religiöse Unabhängigkeit entwickelten die Paderborner einen Muth, eine Ausdauer, die den Vergleich mit anderen Ruhmesthaten des deutschen Bürgerthums aushält.
Die Entscheidung des Kampfes fällt in die Wende des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts. Auf der einen Seite stand der Bischof Dietrich von Fürstenberg, ein alter, berechnender, vor keinem Gewaltschritte zurückschreckender, von Fanatismus erfüllter Mann, und der Orden der Jesuiten, den er zu seiner Hülfe herbeigeholt hatte, auf der anderen der Bürgermeister Borius Wichart, der unermüdliche, unerschrockene Vorkämpfer für die althergebrachten Rechte der Stadt und für Glaubensfreiheit. Lange wogte der Streit unentschieden hin und her; endlich entschied sich das Kriegsglück für den Bischof und seine Jesuiten. Wichart wurde gefangen genommen und unter den entsetzlichsten Martern vor den Augen des Bischofs geviertheilt. Eine ergreifende Schilderung dieses Trauerspiels, in dessen letztem Acte Alles zu Grunde ging, was die Stadt belebte, Recht und Freiheit, Bürgerstolz und evangelischer Glaube, hat uns unlängst Franz von Löher[WS 1] in seinem Werke „Geschichte des Kampfes um Paderborn 1597 bis 1604“ gegeben, das jeder nur mit tiefer Bewegung lesen wird.
Bis zum Tode erschöpft ging Paderborn aus dem Bürgerkriege hervor, aber das Ende seiner Leiden war noch lange nicht gekommen; denn nun brausten auch noch die Stürme des großen deutschen Krieges dreißig Jahre hindurch über die arme Stadt und ihre Umgebung dahin. Wie der Herzog Christian von Braunschweig – „den tollen Christian“ nennen ihn die Bauern des Landes bis heute – in dem Bisthum hauste, ist weltbekannt. Keine andere Stadt, sagt Löher[WS 1], wurde so oft belagert, erstürmt, ausgeplündert. Zu Anfang des Krieges hatte Paderborn noch 1200 geschworene Bürger, ohne die vielen Insassen, am Ende des Krieges nur 500. Die besseren Familien waren sammt und sonders gestorben und verdorben; ganze Häuserreihen lagen in Trümmern. Das arme elende Volk hatte weder in Rechts- noch in Religionssachen einen anderen Willen mehr, als den seines fürstlichen Beherrschers. Die Jesuiten hatten vollständig gesiegt. Paderborns Ruhm bestand fürderhin darin, als das westfälische Ingolstadt zu gelten.
Die neuere Zeit hat auch Paderborn allmählich die Wunden geheilt, die ihm die Erschütterungen früherer Jahrhunderte geschlagen. Wenn es sich auch nicht so rasch wieder emporgeschwungen hat, wie manche seiner westfälischen Schwesterstädte, so bildet es doch, reich an alterthümlichen und interessanten Bauten, unter denen wir nur das Rathhaus, das Domportal, den Gauthurm und die Mariensäule besonders hervorheben, einen der anziehendsten Punkte der rothen Erde.
Lippspringe theilte die Schicksale seines mächtigen Vororts. Seine zum Schutze der Ansiedelungen errichtete Burg wurde, als ihr ursprünglicher Zweck hinfällig geworden, an verschiedene Grafen und Herren verpachtet und sank während des Dreißigjährigen Krieges mit einem Theile des Städtchens in Trümmer.
Mit der Entdeckung der Arminins-Quellen ist die Stadt zu neuem Leben erwacht. Heute, wo sie auf eine fünfzigjährige Vergangenheit ihres Bades zurückblicken kann, wollen wir die Hoffnung aussprechen, daß der kleine Curort auch in dem zweiten halben Jahrhundert, in welches er nunmehr eintritt, seinen alten Ruf in Ehren aufrecht erhalten möge.
[480]Johann Heinrich Voß in Eutin.
„Das Oertchen ist freundlich, ohne Wall und Mauer. Jeder Garten grenzt mit See oder Feld, und rings herum ist Gottes schöne Welt einem nahe.“ So schildert Nicolovius das Städtchen Eutin, das in anspruchsloser Einfachheit, ein Bild des Stilllebens und der friedlichsten Ruhe gewährend, so ganz verborgen und abseits von dem lauten Geräusch und Treiben der Welt im Osten von Holstein, mitten in seinem prächtigen Schmuck vollwuchsigen Buchenwaldes, grüner Auen, goldener Kornfelder und zwischen zahlreichen wie Augensterne aus Flur und Baum herausblickenden tiefdunklen Seespiegeln liegt.
Vor hundert Jahren um unsere Zeit war es, als in das Städtchen ein Mann aus Otterndorf im Lande Hadeln seinen Einzug hielt, der sich kurz zuvor durch ein unsterbliches Denkmal deutschen Geistes und deutscher Fähigkeit einen hochgefeierten Namen erworben hatte. Das war Johann Heinrich Voß, der Dichter und große Verdeutscher der classischen Dichtkunst Griechenlands und Roms, der bescheidene Rector von Otterndorf, der seinen häuslichen Herd hierher verlegte, um das Rectorat der Eutiner Schule an Stelle des als Professor nach Kiel berufenen Jakob Christoph Rudolf Eckermann[WS 2] zu übernehmen.
Johann Heinrich Voß stand damals in der Blüthe seines Mannesalters und schaute auf ein bewegtes, nicht freudenreiches Leben zurück. Nach dunklen Jugendjahren voll Kälte und Druck hatte er den Frühling seines Lebens an der Georgia Augusta in Göttingen, dieser damaligen Fürstin unter den deutschen Hochschulen, verlebt und hier während eines dreijährigen Studiums das Gepräge für Leben, Dichtung und Wissenschaft erhalten, welches ihm wie ein unzerstörbarer Charakter sein Leben lang eigen blieb. Herausgetreten aus dem Kreise seiner Studiengenossen und dem Bunde seiner engeren Freunde,[1] die das gemeinsame Band des lauten Bekenntnisses zu Klopstock umschloß, hatte er einen dreijährigen Aufenthalt in Wandsbeck genommen und hier in ländlicher Stille der heiteren Muse, ernsten Forschungen auf den Gebieten der Alterthumswissenschaften und den Sorgen um seinen „Musenalmanach“ gelebt.
Die Wandsbecker Studirstube wurde zur Geburtsstätte seines epochemachenden Werkes, der Odyssee-Uebersetzung, und Wandsbeck die Wiege seiner zweiten Idyllenpoesie; denn in der Vermählung mit Ernestine Boie, der Schwester seines väterlichen Freundes, fand er einen festen, seinem ferneren Leben und Dichten neues Licht und Wärme gewährenden Mittelpunkt. Er hatte das Mädchen allein auf die vierhundert Thaler Erträgniß seines Musenalmanachs hin heimgeführt. Glückselige Zeiten! Die Wohnung des jungen Paares war klein; nur eine Kammer und „ein bretternes Lusthaus im Garten am Bach“ thaten sich den Anfängen ihrer Wirthschaft auf, aber dieses Heim faßte die ganze Liebe und den ganzen Homer, einen doppelten Himmel in sich. Und als erst dem häuslichen Glück die Wiege des Erstgeborenen erstand, da war die Freude groß im Voß’schen Hause, und noch nach zwanzig Jahren preist der Dichter jene Tage, „da er zugleich wiegte und an der Odyssee arbeitete, als unbeschreiblich sorglose und glückliche“.
Mit der Uebersiedelung nach Otterndorf in den hadelnschen Marschen kam einige Störung in sein stilles emsiges Schaffen; die schönste Zeit homerischer Glückseligkeit war damit vorbei. In Otterndorf waltete er mit hingebender Berufstreue des Amtes eines Magisters an der Lateinschule und sah sich in seiner Muße für homerische und dichterische Studien durch vermehrte Arbeitslast sehr beschränkt. Desto mehr aber begründete und rundete sich hier, wo dem Haus das Amt zur Seite getreten war, sein Leben am häuslichen Herde ab. Das Glück des Zusammenlebens mit Weib und Kind erhielt hier die Bedeutung, welche ihn über manche innere Mängel seiner Weltabgeschiedenheit hinüberrettete und welche er in seinen Poesien als Dichter des deutschen Hauslebens gefeiert hat.
Von „Natur“ war in dem Lande der Nebel und Moore kaum die Rede, wenigstens so lange man sich nicht in die eigenthümlichen Reize einer solchen Gegend eingelauscht und eingelebt hatte. Dazu fand Voß aber keine Zeit, und deshalb tragen auch seine hier entstandenen Idyllen („Der siebenzigste Geburtstag“, „Die Kirschenpflückerin“) nicht die Localfarbe der Landschaft, sondern erzählen völlig selbsterlebte Zustände, die zwar auch auf dem freien und naturfrischen Boden des Landlebens sich bewegen, aber doch mehr der Welt des Geistes angehören. Voß sehnte sich nach einer Veränderung; denn er wünschte nicht länger, wie er sagte, „in diesem Marschwinkel sein Froschleben fortzusetzen“. „Den ganzen Tag im Karren und kein Salz auf dem Brode,“ klagte er. Die Liebe Ernestine’s und die Götter Homer’s vermochten ihn einzig mit seiner sauren Amtsarbeit auszusöhnen.
Nachdem im Herbste 1781 die mit Angst und Freude gezeitigte „Odyssee“, ein Werk wahrhaft herculischer Mühen, im Drucke erschienen war, bewarb er sich um das erledigte Rectorat am Gymnasium in Eutin, dem idyllischen Orte, vor dem er sehnend stehen geblieben war, als er einmal vor Ernestinen eine Landkarte ausgebreitet und nach Städten gesucht hatte, wo man Hütten bauen möchte. Durch Vermittelung seines berühmten Freundes, des Dichters Grafen Fr. Leopold Stolberg, erhielt er das Eutiner Amt und zog jetzt in das Städtchen und in die herrliche Landschaft Ostholsteins, deren Boden ihm zu einem zweiten heimathlichen werden sollte, für dessen Vorzüge er noch eine tiefwurzelnde Liebe bis in’s späteste Alter bewahrte, da das grelle Abendroth seines Lebens im deutschen Süden verblich.
Am 21. Juli 1782 hatte er das Rectorat übernommen, und als Wohnung wurde ihm das von seinem Vorgänger innegehabte Haus in der Wasserstraße angewiesen. Der Raum dieser neuen Heimstätte war aber sehr beschränkt und dazu die Gasse so einsam, „nur von schwerwandelndem Hornvieh,“ wie er, homerischer Erinnerungen voll, seinem Freunde Brückner schrieb, „belebt“, wenn dieses beim Frühroth auf die Trift und Abends heimgetrieben wurde. Selten daß einmal der Peitschenknall eines Fuhrmannes, noch seltener der Zauberschall eines Posthornes ihre Stille unterbrach. Nachdem er sich für einige Zeit in einem Stockwerke des Rathhauses mit seiner Häuslichkeit niedergelassen hatte, wurde für ihn am 1. Mai 1784 das Haus des zur Landvogtei nach Neuenburg bei Oldenburg berufenen Stolberg angekauft und eingerichtet.
Dieses Haus, das heute noch die Wohnung des Rectors vom Eutiner Gymnasium ist, wurde der Schauplatz eines fast achtzehnjährigen bedeutungsvollen Wirkens unseres Dichters. In Fachwerk erbaut, kehrt es im Schatten einer alten Linde seinen hohen Giebel der Straße zu; Emanuel Geibel schildert es in seinem Gedichte „Eutin“ mit den schlichten, aber schönen Worten:
„— Nah dem Thor, im Lindenschatten, winkt uns dort
Am Bug der Gasse still zu stehn ein ander Haus,
Bescheidnen Aussehns, aber gern von mir gegrüßt:
Das Haus, in dessen seebespültem Garten einst
Am Sommerabend, voll idyllischer Heiterkeit
Aus irdener Pfeife Wölkchen dampfend, Heinrich Voß
Im Schlafrock zwischen Fliederbüschen wandelte —“
[481] Sein Inneres hat bis heute noch das Aussehen aus des Dichters Zeit behalten. Da liegt unten zu ebener Erde rechts das große Wohnzimmer, wo Ernestine unter ihren vier Buben waltete und sie die Sagen Homer’s lehrte, das Gartenzimmer mit der herrlichen Aussicht auf den stillen, in eine lauschige Natur versenkten Eutiner See, darüber Voß’ Studirstüblein, in dessen Fenster hinein freundlich der breitzweigige Birnbaum grüßt; neben diesem der „weit schauende Saal“, wo sich noch oft der alte Göttinger Freundschaftsbund erneuerte, sich Klopstock, Gleim, Miller, Brückner, Claudius, Wilhelm von Humboldt und andere damalige Stimmen des deutschen Dichterwaldes zum frohen Austausch von Gedanken und Gesinnungen zusammengefunden hatten. Hinter dem Hause dehnt sich bis zum See der wohlgepflegte baumreiche Garten aus, mit der Lindenlaube und den vier Linden am Ufer, wo die „Agnesbank“ ein schattiges Plätzchen zur stillen, sinnigen Betrachtung der das Auge entzückenden Natur bot.
Und wie um das Haus herum, über See und Garten ein unnennbarer Zauber heiterster Anmuth ausgebreitet lag, so umschloß dieses Dichterheim auch im weitesten Umkreise eine Landschaft lieblichster Pracht, abwechselnd in lachenden Fluren, blitzenden Seen mit der überwältigenden Macht ungestörtester Waldeinsamkeit. Es ist erklärlich, daß unserem Dichter das weite Vaterland nirgends schöner gefallen wollte, als hier in diesem nordischen Heim; denn wo mochte der „niederdeutsche Theokrit“ auch ein sichereres Echo für seine Stimmungen finden, als in diesen abgerundeten, in sich befriedeten Formen des Wassers, in den grünen Hügelwellen und der Waldesstille, an den schilfbekränzten tief dunklen Seespiegeln, wo mehr Anregung zur stillen Einkehr in das eigene Selbst und zum ungestörten Aufblick nach dem Quell alles Trostes?
Wie sehr er die Schönheiten des eutiner Landes in sich aufgenommen, das zeigt uns am besten seine „Luise“, die unter den begeisterten Eindrücken der eutiner Landschaft empfangen und geboren ist. Ihr uns so lieblich anmuthender Hintergrund ist das getreue Conterfei der südwestlichen Umgebung des nahen Kellersees. Sie führt uns hier mit sinniger Treue in das malerisch an ihm belegene Dorf Malente – das Grünau der Dichtung – unter das Dach seines Pfarrhauses, aus dem uns ein Hauch des Friedens, fast der göttlichen Weihe entgegenweht, und wo wir in der „rosenwangigen Jungfer Luise“ des Dichters bräutliche Ernestine, in dem „ehrwürdigen Pfarrer von Grünau“ das Portrait seines Flensburger Schwiegervaters wiedererkennen.
Eutin wurde unstreitig zum Kern- und Höhepunkt auf der weiten ruhelosen Lebensfahrt des Dichters. Hier hat er zwanzig Jahre gelebt und sich unermüdlich der Erziehung seiner Knaben, seiner Muse und ernster Wissenschaft, sowie dem Verkehr mit zahlreichen Freunden gewidmet, unter welch letzteren der Dichter Graf Stolberg für ihn eine bedeutsame Stelle einnahm; an Harthörigkeit und allgemeiner Nervenreizbarkeit leidend und durch Stolberg’s Verlust im tiefsten Herzen verwundet, erbat sich Voß im Jahre 1802 Abschied und Pension.
Eutin war der Boden, auf welchem seine größten poetischen und wissenschaftlichen Werke erwuchsen, wo er den Homer vollendete, Virgil’s „Georgica“ übersetzte, wo überhaupt seine hervorragendsten wissenschaftlichen Arbeiten entstanden, die zum Theil bahnbrechend waren und von nachhaltiger Wirkung für die deutsche Sprache, Uebersetzungskunst und Poesie, für die bildende Kunst und Wissenschaft, und wo ferner seine ganze Lebensrichtung und Weltbetrachtung an den hereinbrechenden geistigen und politischen Stürmen der Zeit sich heranbildete.
Nur ungern sah man in Eutin den Mann scheiden, an dessen gefeierten Namen sich der Ruf des Städtchens und seines Gymnasiums knüpfte. Der Minister des Fürstbischofs von Eutin, Graf Holmer, schrieb ihm auf sein Abschiedsgesuch: „– meine eigene Empfindung werde ich dabei immer einer wichtigen Betrachtung aufopfern müssen; denn es wird mir unbeschreiblich wehe thun, dazu mitzuwirken, Sie von Eutin zu entfernen, dem es Vorzug war, Sie zu besitzen, und es mag im Wesentlichen noch so gut für die Eutiner Schule gesorgt werden, so steht derselben schon allein der Verlust nicht zu ersetzen, wenn sie Ihren Namen nicht mehr an der Spitze führen wird.“
[482] Voß hatte sich eine Pension von 600 Thalern erbeten, obwohl er nur einen Gehalt von 500 Thalern bezog. Der Fürstbischof bewilligte sie „ihm, der nur als ein Verreister anzusehen sei und der zu jeder Zeit die freundlichste Aufnahme zu gewärtigen habe“, und Voß versprach, wandle ihn einmal im Süden das Heimweh an, dann „wie ein treuer Storch“ seinen Sommerflug nach Eutin zurückzunehmen.
Der 3. September war der Scheidetag. Am Abend desselben sah sich der Dichter noch einmal im Kreise seiner Freunde Esmarch und Hensler[WS 3] aus Kiel, Boie aus Meldorf und Anderer. Unter allgemeiner Theilnahme und in eigener tiefinnerlicher Bewegung verließ er den mütterlichen Boden seines Dichterlebens, um sich in Jena anzusiedeln, dort mit Grießbach, Eichstädt und Thibaut im traulichen Verkehr, mit Goethe und Schiller in naher Verbindung zu leben und nur drei Jahre später sich zu einer regen Thätigkeit in Heidelberg niederzulassen, wo er als fünfundsiebenzigjähriger Greis starb. Mit Voß waren auch seine Freunde aus Eutin geschieden. Dieses Städtchen aber hegt und pflegt in treuer Pietät das Andenken des edlen Mannes und rüstet sich jetzt, den Tag festlich zu begehen, an welchem er ihm einst gegeben worden war.
Durch ihre einfachen Aufzeichnungen hat sich die „Hausmutter“ zu ihrer Freude das Vertrauen vieler „Gartenlauben“-Leser erworben, und aus allen Himmelsrichtungen sendet man ihr freundlich aufmunternde Briefe zu. Fast jedes dieser Schreiben enthält die Bitte, irgend ein darin bezeichnetes Thema demnächst zur Sprache zu bringen, und so ist es gekommen, daß die „Vernünftigen Gedanken einer Hausmutter“ immer wieder Stoff zu neuen Besprechungen empfingen.
Meist finden denn auch diese anregenden Briefe ein williges Echo im Herzen der „Hausmutter“, zuweilen aber kann sie ihre Ansichten nicht in Einklang bringen mit denen ihrer Leser, und ein solcher Fall tritt auch heute ein, wo ihr folgender Brief vorliegt:
„– – ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, ist eine Redensart, die man in allen Kreisen hört, obgleich sie für das Bestehen der menschlichen Gesellschaft so verderblich ist.
Im Hinblick auf die Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, läßt der Sohn den Vater, die Tochter die Mutter, der Bruder die Schwester darben oder umkommen, sucht jeder Mensch den andern zu schädigen oder zu vernichten, obgleich Gesetz und Moral das Gegentheil lehren. Es ist dies nach meiner Ansicht ein Mangel an gegenseitiger Achtung, ein Mangel an Bildung, der nicht wenig Theil hat an den gegenwärtigen, so oft getadelten gesellschaftlichen Zuständen.
Ich kenne geachtete Menschen, die, durch unverschuldetes Unglück oder entschuldbares Versehen arm geworden, sich das Leben genommen haben, weil sie bei der Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, auf Hülfe der Menschen nicht rechneten, obgleich Hülfe durch Rath und That leicht möglich gewesen wäre.
Die Befolgung dieses egoistischen Grundsatzes in Fällen der Noth ist eine Eigenschaft des Menschen, die ihn dem Thiere gleich stellt“ etc.
Sollte dieses düstere Bild der Wahrheit entsprechen? Sollte es uns wirklich die allgemeine Regel vorführen und nicht vielmehr nur eine Reihe trauriger Ausnahmen?
Wohl läßt es sich nicht leugnen, daß die Zahl der Selbstmorde aus Verzweiflung in grauenhafter Weise zugenommen hat, aber trägt daran auch wirklich die Hartherzigkeit der Menschen im Allgemeinen Schuld und nicht auch ebenso oft die Muthlosigkeit oder falsche Scham jener Verzweifelnden?
Wir haben es uns zum Grundsatz gemacht, hier nur Selbsterlebtes und Selbstgeprüftes zur Darstellung zu bringen; in unserer eigenen Erfahrung aber ist der Fall nicht vorgekommen, daß ein Unglücklicher mit festem Muth und bescheidenem Sinn allenthalben vergeblich um Hülfe nachgesucht hätte. Freilich, wer den Glauben an die Menschheit so ganz verloren hat, daß er gar nicht erst den Versuch macht, Hülfe zu erbitten, oder wer schon bei dem ersten mißlungenen Versuch dazu den Muth verliert, der darf nicht die Welt und ihren Egoismus anklagen, wenn er zu Grunde geht – sich selbst hat er es zuzuschreiben.
Wahr ist es auch leider, daß gerade in den letzten Jahren Verbrechen verübt worden sind, die eine solche Tiefe menschlicher Verkommenheit und Entartung verrathen, daß unser Verstand erstarrt davor still stehen muß. Wiederholt ist es ja vorgekommen, daß Väter oder Mütter in der Noth ihre ganze Familie förmlich abgeschlachtet haben, ein Kind um’s andere. Aber diese Unseligen haben dann stets zuletzt auch die Hand an’s eigene Leben gelegt; auf sie also kann der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ keine Anwendung finden. Um ihn aber auf ihre Mitmenschen beziehen zu können, die ihnen aus so tiefer Noth nicht geholfen haben, müßte in jedem einzelnen Fall erst nachgewiesen werden, daß die Betreffenden auch wirklich in angemessener Weise menschliche Hülfe nachgesucht hatten. Und wäre dies geschehen, hätte kein Mensch ihnen helfen wollen, und sie wären in der That dem harten Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ zum Opfer gefallen, so sind diese Geopferten, trotz ihrer anscheinend großen Zahl, doch immer nur eine sehr kleine Ausnahme, jenen Millionen anderer Unglücklicher gegenüber, welche durch werkthätige Nächstenliebe gerettet wurden.
Ist es nicht wahrhaft erstaunlich, welch große Summen jede mildthätige Sammlung für Verunglückte ergiebt, so oft sich auch dergleichen Aufrufe wiederholen? Und doch sind diese Summen sicherlich nur klein im Vergleich mit jenen anderen, welche, im Stillen gegeben, durch keine Zeitung bekannt werden.
Nein, wir können uns unmöglich zu dem Glauben bekennen, daß die Welt so schlecht ist, wie sie oft gemalt wird. Es geht darin kaum jemals ein Mensch verloren, der sich nicht selbst verloren gegeben hat, und wer sich von nichts als von Härte und Egoismus umgeben glaubt, dem trauen wir zu, daß er entweder ein gut Theil von beiden selbst in der Brust trägt oder daß er durch trübe Schicksale verstimmt und verbittert worden ist. Wer aber Schiffbruch gelitten hat am eigenen Seelenfrieden, der befindet sich in einem Ausnahmezustande; er denkt und fühlt nicht normal, und seine Ansicht kann keine maßgebende sein.
Gewiß giebt es auch Egoisten, die keine andere Sorge kennen, als jene um das eigene liebe „Ich“, die so fühllos bei der Noth ihrer Mitbrüder bleiben, daß sie den Verschmachtenden von ihrer reich besetzten Tafel ruhig fortzuweisen vermöchten; bei ihnen aber heißt es nicht mehr: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, sondern: „Jeder ist nur sich selbst nahe“, und nicht die Schuld des alten Spruches ist es, wenn er mißdeutet und zum Deckmantel niedriger Gesinnungen genommen wird.
Ja, es giebt wohl auch solche traurige Ausnahmen, uns selbst aber sind ihrer kaum zwei oder drei im ganzen Leben vorgekommen; dagegen kennen wir Hunderte von Menschen, die gern und freudig zur Hülfe bereit waren, wo es Noth that, und eine große Anzahl Solcher, die aus warmer Nächstenliebe mehr der Opfer brachten, als sie vor sich selbst verantworten konnten.
Gewiß, die Zahl der Egoisten, welche Einsender des oben wiedergegebenen Briefes im Auge hatte, ist nicht so groß, wie man oft anzunehmen pflegt, und keinenfalls groß genug, daß sie erheblich zum Verfall der menschlichen Gesellschaft beitragen könnte, den wir vielmehr in dem Leichtsinn, der Genußsucht und der Großmannssucht Jener zu finden glauben, die sich durch diese Fehler erst zu Grunde richten und dann auch oft noch den falschen Stolz besitzen, sich lieber durch fremde Unterstützung als durch eigene ehrliche Arbeit helfen zu wollen.
So lange es Menschen giebt, hat es auch Neid, Bosheit und Egoismus unter ihnen gegeben, und der Kampf gegen die durch diese Fehler hervorgebrachten Leiden wird fortdauern bis an den jüngsten Tag. So lange die Welt steht, wird aber auch Güte, Milde und Liebe unablässig ankämpfen gegen diese und
[483] andere Dämonen des Menschengeschlechtes und – nach unserer frohen und festen Ueberzeugung – siegreich dagegen ankämpfen.
Und ferner: wie viele gute und mitleidige Menschen giebt es, die erst nach und nach, durch unzählige böse Erfahrungen hart geworden sind, die für all ihre Opfer nichts als Undank geerntet haben, ja denen vielleicht geradezu in’s Gesicht gesagt wurde, daß sie durch ihre Milde und Güte nur Schaden angerichtet haben! Die Fälle sind nicht selten, wo sich Eltern für einen Sohn aufopfern, Schwestern für einen Bruder, der Freund für den Freund, und wo der so oft Gerettete, so reich Unterstützte doch nur Schande und Unglück über seine ganze Familie bringt.
„Ihr hättet ihn sich selbst überlassen, ihm nicht immer wieder beispringen sollen,“ heißt es dann. „Ihr habt ihn gehindert, die eigene Kraft zu entfalten. Ihr selbst seid es, die ihr ihn zu Grunde gericht habt, durch eure Hülfe.“
Kann es etwas Trostloseres geben, als solche Anklagen, wenn deren Begründung nicht zu leugnen ist? Und hat diesen armen Opfern treuester Nächstenliebe gegenüber der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, nicht seine volle Berechtigung?
All diesen düsteren Bildern wollen wir zum Schluß noch ein freundliches aus unserer Erfahrung anreihen: wir haben es erlebt, daß entzweite Geschwister sich seit Jahren zum ersten Mal wieder trafen im Hause gemeinsamer Verwandten, welche durch schweres Unglück an ihre Hülfe gewiesen worden waren. Anfangs scheu und fremd an einander vorübergehend, lernten sie bald in der gemeinsamen Sorge um die hülfsbedürftige Familie den eigenen Zwist vergessen, und kaum kann es ein ergreifenderes Bild geben, als ihre schließliche Versöhnung bot, alle Sonderinteressen begrabend im gemeinsamen Wirken für unverschuldetes Unglück. – Wer Solches erlebt hat, wem in schwerer Zeit freiwillig Hülfe geboten wurde, und oft von Seiten, wo er sie nie gesucht hätte, – der kann sich unmöglich der Ansicht anschließen, daß der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, die ganze Welt regiert, und ihre gesellschaftlichen Zustände untergräbt. Ja, wir müssen noch weiter gehen: wir müssen uns in gewissen Fällen sogar auf die Seite dieses hart klingenden Spruches stellen.
Gerade um seinem Nächsten zu rechter Zeit und in angemessener Weise helfen zu können, muß man auch – und vielleicht sogar zunächst – an sich selbst denken. Wie kannst du Mann und Kinder pflegen, wenn du nicht zunächst – ja, liebe Hausmutter, zunächst! – auf deine eigene Gesundheit achtest? Kein Egoismus, sondern nur die richtige Art der Fürsorge für deine Lieben ist es, wenn du unablässig auch für die Erhaltung deiner eigenen Körperkraft, für die Frische und Gesundheit deines Geistes sorgst.
Was nützt es deinem kranken Liebling, wenn du dich selbst aufreibst in seiner Pflege, wenn du, statt dich zuweilen für Stunden durch Andere vertreten zu lassen, dann zuletzt die Pflege ganz in fremde Hände legen mußt?
Oder wie kannst du Andere hülfreich durch Geldmittel unterstützen in bösen Zeiten, wenn du nicht zunächst für dich selbst gesorgt, das heißt, deine eigenen Mittel klug zu Rathe gehalten hast? Und endlich: Wie kannst du Anderen Freude und Frieden bringen, wie kannst du ein anderes Herz beglücken, wenn Freude, Friede und Glück dir im eigenen Herzen fehlen?
Alles was man – ob geistig oder materiell – seinem Nächsten spenden will, das muß man doch zuerst auch selbst besitzen, und in diesem Sinne aufgefaßt, scheint uns der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, nicht nur berechtigt – er enthält sogar in dieser seiner ursprünglichen Bedeutung gewiß ebenso viel Wahres, wie all unsere anderen guten alten Sprüche.
Aus der Samariterschule.
Da es ein großer Unterschied ist, ob eine Blutung aus einer verletzten Pulsader, aus einer Blutader oder aus den kleinen Haargefäßen kommt, so muß den Zuhörern zunächst klar gemacht werden, wie diese Adern sich von einander unterscheiden und wie das Blut in denselben kreist. Das war schon in der ersten Vorlesung geschehen, in welcher der Blutkreislauf mit Hülfe einer ganz einfachen schematischen Darstellung des Herzens und der Adern den Schülern geschildert wurde.
Mit steter Hinweisung auf dieses Schema wurden dann in der zweiten Vorlesung die verschiedenen Arten der Blutung geschildert und darnach gezeigt, auf welche Weise auch der Laie selbst die gefährlichsten Blutungen bis zur Ankunft des Arztes zu hemmen vermöge:
Die Art der Blutung und ihre Gefährlichkeit ist sehr verschieden, nach der Art und Größe der Adern, welche geöffnet wurden.
Wenn das Blut in nicht starkem Strom aus der Wunde rieselt, so sind nur kleine Adern (Haargefäße) verletzt.
Wenn dunkelrothes (schwarzes) Blut in gleichmäßigem Strom ausfließt und wenn der Ausfluß durch Druck oberhalb der Wunde verstärkt wird, dann ist eine größere Blutader (Vene) geöffnet.
Wenn aber hellrothes Blut in starkem Strahl und absatzweise (pulsirend) aus der Wunde hervorspringt, dann ist eine Pulsader verletzt und große Lebensgefahr vorhanden.
Geringe Blutungen aus verletzten kleinsten Adern oder aus Blutadern hören meist auf, wenn man auf die Wunde drückt oder die Wundränder gegen einander drückt oder auch von selbst, weil die Mündungen der durchschnittenen Aederchen sich verengern (zusammenziehen) und das Blut in der Wunde zu einem klebrigen zähen Klumpen gerinnt.
Blutungen aus verletzten Blutadern (z. B. aus Beingeschwüren mit Krampfadern) sind bisweilen schwer zu stillen, weil oberhalb der blutenden Stelle ein Kleidungsstück einschnürt (Strumpfband). Nach Lösung dieser Strangulation steht die Blutung auf leichten Druck und Erhebung des Gliedes.
Fließt aber das hellrothe Blut trotz Druck auf die Wunde unaufhaltsam weiter, so muß eine größere Pulsader verletzt sein, und dann ist der Tod durch Verblutung zu fürchten.
In solchen Fällen ist rasche Hülfe nöthig. Man sende also sogleich zum Arzt oder bringe den Verwundeten zu ihm. Der Arzt wird die Blutung durch Zubinden der Ader dauernd stillen. Aber weil der Verwundete sterben kann, ehe der Arzt da ist, so muß der Laie stets versuchen, den Blutstrom einstweilen zu hemmen.
Das einzig wirksame Mittel dazu ist ein starker Druck auf die Wunde selbst, wenn dieselbe nur klein ist, oder auf den Stamm der Pulsader oberhalb der Wunde.
Man hebt zunächst das verwundete Glied in die Höhe, weil dadurch das Ausfließen des Blutes verlangsamt wird, und entblößt dann die Wunde und das verletzte Glied durch Aufschneiden der Kleidungsstücke bis an den Rumpf hinauf.
Dann legt man auf die Wunde ein zusammengefaltetes Stück Leinwand (Compresse, Taschentuch) und preßt dasselbe durch Umwickelung mit einer Binde oder einem Tuch fest gegen die Wunde. Quillt trotzdem das Blut hervor, so sucht man den Stamm der Pulsader oberhalb der Wunde auf (zwischen Herz und Wunde) und drückt sie mit den Fingern stark zusammen.
Es giebt gewisse Körperstellen, wo die Pulsadern so oberflächlich liegen, daß man sie wirksam zusammendrücken kann, und diese muß man kennen.[2]
Die große Pulsader des Armes kann man an der Innenseite des Oberarmes (da, wo die innere Naht des Aermels liegt) [484] zusammendrücken mit den Fingern (Fig. 1), aber besser durch einen Stock, Regenschirm oder dergl., zwischen Brust und Arm gelegt, gegen den man den Arm durch ein um die Brust geschlungenes Tuch fest andrückt. (Fig. 2.)
Ist die große Pulsader des Armes in der Achselhöhle verletzt, dann kann man versuchen, den Hauptstamm am Halse oberhalb des Schlüsselbeins gegen die Rippe anzudrücken. (Fig. 3.)
Auch durch starkes Zurückziehen der Schulter nach hinten und unten mit Hülfe des andern Armes kann man das Schlüsselbein so herabziehen, daß es die darunter liegende große Armpulsader zusammendrückt. (Fig. 4.)
Die beiden großen Pulsadern des Kopfes liegen vorne am Halse an beiden Seiten der Kehle, wo man sie an der Innenseite des Kopfnickers mit den Fingern gegen die Wirbelsäule andrücken kann. (Fig. 5.)
Sicherer aber ist es, bei heftig blutenden Wunden des Halses oder Kopfes den Finger, nachdem man ihn mit reiner Leinewand umwickelt, auf die Wunde selbst zu setzen und mit demselben stark einwärts zu drücken.
Die große Pulsader des Beines kann vorne aus der Mitte der Schenkelbeuge mit den Fingern zusammengedrückt werden. (Fig. 6)
An diesen Stellen legt auch der Arzt die Aderpresse (Tourniquet) an, wenn er den Blutstrom hemmen will, und sucht durch Einschnitte die Adern auf, wenn er sie zubinden will.
Um aber durch einen solchen Druck auf eine bestimmte Stelle den Blutstrom zu hemmen, dazu gehört einestheils genaue anatomische Kenntniß der Stelle, anderntheils eine gewisse Uebung und Geschicklichkeit und große Kraft und Ausdauer, wenn die ärztliche Hülfe lange ausbleibt.
Auf dem Transporte verschiebt sich außerdem die bestangelegte Aderpresse nur gar zu leicht, und sie schadet dann mehr, als sie nützt. —
Ich habe mehr als einmal Gelegenheit gehabt, die schädlichen Folgen zu beobachten, welche nach dem Anlegen einer solchen Aderpresse alten Stils eintreten können, wenn auf dem Transporte sich die Pelotte verschiebt oder der unelastische Gurt allmählich wieder nachgiebt.
Nach der Schlacht von Kolding wurde in das Lazareth zu Christiansfeld ein schleswig-holsteinischer Soldat gebracht, dem durch eine Kugel die Pulsader am Vorderarm zerrissen war und dem man wegen der heftigen Blutung auf dem Schlachtfelde eine solche Aderpresse um den Oberarm angelegt hatte. Der Transport auf einem Bauernwagen hatte mehrere Stunden gedauert, und da sich unterwegs die Druckpelotte verschoben hatte, so war nur noch der Rückfluß des Blutes aus den Blutadern zum Herzen gehemmt, aber die Pulsader hatte auf’s Neue das Blut in den Arm geschickt, und so war der letztere unter den heftigsten Schmerzen zu einem unförmlichen Klumpen angeschwollen. Als der einschnürende Gurt gelöst wurde, sank der Verwundete todt zurück, wahrscheinlich, weil ihm ein Blutgerinnsel aus der geschwollenen Blutader des Armes in’s Herz gefahren war.
In ganz ähnlicher Verfassung kam noch vor wenigen Monaten ein Werftarbeiter in meine Klinik, dem wegen einer schweren Verletzung des Vorderarmes ein Tourniquet alten Stiles von einem Arzt um den Oberarm gelegt worden war. Es ist viel einfacher und sicherer, sich der elastischen Einschnürung zu bedienen, das heißt mittelst einer elastischen Binde oder eines Gummischlauches das Glied an einer Stelle so zu umschnüren, daß kein Blut mehr durch irgend eine Ader hindurchfließen kann.
Wenn man einen elastischen Riemen einmal mit aller Kraft um ein Glied schnürt, so ist der Druck nicht stark genug, um die Adern zusammenzudrücken. Wenn man aber an derselben Stelle den Gurt mehrmals herumführt, so verstärkt jede folgende Umkreisung den Druck so sehr, daß bald kein Blut mehr die Stelle passiren kann.
Die neueren Aderpressen, mit welchen die Ambulancewagen der Truppen, die Rettungskästen der Eisenbahnen und die Instrumentenkästen der Chirurgen versehen sind, bestehen daher auch nur aus einem elastischen Gurt oder Schlauch.
Wenn aber eine solche Aderpresse nicht zur Hand ist, dann muß man sich auf andere Weise zu helfen suchen. Wenn man z. B. eine leinene Binde hat, so legt man dieselbe so fest wie möglich an einer Stelle so an, daß jede Umkreisung die andere deckt, und begießt sie dann reichlich mit Wasser, nachdem man das Ende gut befestigt hat. Durch die Befeuchtung zieht sich die Binde so kräftig zusammen, daß der Druck derselben in vielen Fällen ausreichend sein wird.
Hat man nichts als ein Tuch (Halstuch, Schnupftuch) zur Hand, so legt man dasselbe, als Cravatte gefaltet, lose um das
[485][486] Glied, knotet die Enden gut zusammen, schiebt einen Knebel (Stock, Waschschlüssel, Mörserstempel, Axt, Degen mit Scheide, Ladestock) unter das Tuch und dreht denselben so lange herum, bis die Blutung steht (Knebeltourniquet).
Aber eine elastische Umschnürung ist in allen Fällen vorzuziehen, weil die Wirkung derselben kräftiger und von größerer Dauer ist.
Ich habe neuerdings elastische Hosenträger anfertigen lassen, deren Gurt aus einem Stücke besteht und so lang ist, daß man damit bei dem kräftigsten Manne die Schenkelpulsader zusammenschnüren kann. Wer ein solches Tragband trägt, wird also im Stande sein, jede Blutung aus Armen oder Beinen an sich selbst oder Anderen mit Hülfe desselben zu stillen.
Die Veranlassung zur Erfindung dieses Tourniquet-Hosenträgers gab mir der Verblutungstod des Kaisers Alexander’s des Zweiten von Rußland. Wer erinnert sich nicht mit Entsetzen des schrecklichen Endes dieses unglücklichen Monarchen? Durch die von verruchter Mörderhand geschleuderte Bombe wurden beide Beine des Kaisers zerschmettert; aus den zerrissenen Adern strömte das Blut, aber Niemand war zur Stelle, der es verstanden hätte, den Blutstrom zu hemmen. Ohne daß ein Verband angelegt worden, fuhr man den ohnmächtigen in einem Schlitten zum Winterpalast. Während der Fahrt rieselte das Blut unaufhaltsam aus den gräßlichen Wunden, und fast leblos kam der Kaiser im Schlosse an. Erst hier suchten die herbeigerufenen Aerzte durch Einwicklung mit elastischen Binden das wenige noch im Körper vorhandene Blut nach dem Herzen zu drängen; darnach wurden die Herztöne wieder hörbar, die Athemzüge tiefer. Der Kaiser schlug noch einmal die Augen auf. Man reichte ihm das Abendmahl und schickte nach Instrumenten, um fremdes Blut in die Adern zu spritzen. Aber ehe dieselben ankamen, wurden Herzschlag und Athembewegungen wieder schwächer und hörten plötzlich ganz auf – der Kaiser war todt.
In einem Berichte, welchen Dr. Dworjaschin in der „St. Petersburger Zeitung“ über die Verwundung des Kaisers veröffentlichte, heißt es : „Wäre ein sachverständiger Mann in der Nähe gewesen und hätte die Umgebung Seiner Majestät nicht den Kopf verloren, wäre eine Compression der Pulsadern oder eine feste Einschnürung der Schenkel vorgenommen, so wäre der Kaiser wahrscheinlich gerettet gewesen.“ (?)
Dieses traurige Ereigniß beschäftigte lange meine Gedanken. Es war mir unbegreiflich, daß bei der Lebensgefahr, von welcher der Kaiser stets bedroht war, man nicht seine Umgebung, Lakaien, Kutscher, Reitknechte oder Leibkosaken mit elastischen Schläuchen versehen und darin unterrichtet hatte, in solchem Falle die erste Hülfe zu leisten, nachdem ich doch schon vor acht Jahren gelehrt hatte, wie jeder Laie auch ohne anatomische Kenntnisse mit Hülfe eines solchen Gummischlauches jede Blutung aus verletzten Pulsadern an den Gliedern stillen könne.
Da fiel mir ein, daß es zweckmäßig sein dürfte, einem allgemein gebrauchten Kleidungsstück eine solche Construction zu geben, daß es in derartigen Nothfällen mit gutem Erfolge gebraucht werden könnte, und so entstand der „Tourniquet-Hosenträger“.
Ich wendete mich an den Inhaber der rheinischen Gummiwaarenfabrik, Herrn Franz Clouth in Nippes bei Köln, und veranlaßte ihn, derartige Träger herzustellen, die nunmehr nach vielen Versuchen zu meiner Zufriedenheit ausgefallen sind, sodaß ich Herrn Clouth die Erlaubniß gegeben habe, jedem Exemplar eine von mir verfaßte Gebrauchsanweisung beizugeben. (Preis pro Paar 2,50 M.)
Ausdrücklich warnen muß ich noch vor der Anwendung der sogenannten Blutstillungsmittel, welche so oft in die blutende Wunde hineingestopft werden, seien es nun die aus der Apotheke bezogenen (Eisenchlorid, gelbe Charpie, Pinghawer-Yambi etc.) oder seien es Volksmittel (z. B. Spinnengewebe, welches gewöhnlich aus den staubigsten Ecken geholt wird). Man kann mit solchen Mitteln wohl unbedeutende Blutungen zum Stehen bringen, aber ein zweckmäßig angewendeter Druck erreicht diesen Zweck viel besser, und nach dem, was ich über die schädliche Einwirkung jeder Art von Verunreinigung auf die Wunden gesagt habe, wird es klar sein, daß solche Mittel meist nur Schaden anrichten können, jedenfalls die rasche Heilung durch erste Verklebung verhindern müssen.
Ueber Rechte und Pflichten der Eisenbahnreisenden und der Eisenbahnverwaltungen.
Seitdem der Dampf den Verkehr der Menschen neugestaltet hat, ist das ganze Jahr hindurch Reisezeit. Wenn auch der Sommer für die Vergnügungsreisenden seinen natürlichen Vorzug behauptet und namentlich für die kurzen Fahrten, die Tagesausflüge, Tausende in Bewegung setzt, so werden doch in den übrigen Jahreszeiten durch die Gebote der Arbeit und Pflicht in deren zahllosen Verzweigungen die Bahnhöfe bevölkert, während „das Geschäft“ diejenigen, welche sogar den Titel „Reisende“ führen, das ganze Jahr auf allen Bahnen herumhetzt. – Zwischen diesen und den Vergnügungsreisenden, welchen das Glück es gestattet, jedes Jahr in die Bäder oder in schöne Länder zu eilen, und die eben deshalb auf den Eisenbahnen nach und nach „wie zu Hause sind“, bewegt sich eine nicht geringe Anzahl Anderer, denen man es auf den ersten Blick ansieht, daß ihnen eine Eisenbahnfahrt, wenn auch nicht etwas Neues, so doch etwas Seltenes ist. Solchen Reisenden, zu denen ganz gebildete und sogar gelehrte Leute gehören können, erwachsen nun sehr leicht Unannehmlichkeiten aus der Unkenntniß der mancherlei gesetzlichen Eisenbahn-Anordnungen. Selbst Vielgereiste wissen vielfach nicht, daß Specialbestimmungen einzelner Eisenbahnverwaltungen neben denen der Reglements vom 1. Juli 1874 und vom 1. Juni 1876, in Uebereinstimmung mit dem Bahnpolizei-Reglement vom 4. Januar 1875, respective vom 12. Juni 1878 nur noch in so weit Geltung haben, als sie mit demselben nicht im Widerspruch stehen, dasselbe vielmehr nur ergänzen oder dem Publicum günstigere Bedingungen gewähren.
An diese Seltenreisenden richten sich die folgenden, belehrenden Mittheilungen eines Vielerfahrenen, und wenn der reisebewandertere Leser längst Bekanntem darin begegnet, so berücksichtige er das Bedürfniß Anderer, nicht damit Vertrauter, die wir aus ihren selteneren Reisen vor dem zu bewahren wünschen, was das Störendste derselben ist, vor Aergerlichkeiten.
Als erstes hat der Eisenbahnreisende stets im Auge zu behalten, daß bei etwaigen Streitigkeiten mit dem Dienstpersonal der Eisenbahnen, wenn diese auf den Stationen stattfinden, der Stationsvorsteher, während der Fahrt aber der Zugführer die entscheidende Instanz bildet. Das Publicum ist verpflichtet, den Anordnungen des Dienstpersonals, so weit dasselbe durch Uniform oder Dienstabzeichen legitimirt ist, unbedingt Folge zu leisten; vorkommende Streitigkeiten hat dasselbe entweder mündlich bei den Vorgesetzten zur Erledigung zu bringen oder seine Beschwerden bei den Dienstvorgesetzten schriftlich anzubringen, respective in das auf jeder Station befindliche Beschwerdebuch einzutragen.
Was dann zunächst die Personenbeförderung anlangt, so muß ausdrücklich gesagt werden, daß diejenigen Reisenden, welche fünf Minuten vor Abgang des Zuges noch keine Fahrkarte gelöst haben, aus Verabfolgung einer solchen einen Anspruch nicht haben.
Häufig tritt der Fall ein, daß Zuspätkommende den Schalter bereits geschlossen finden und, ohne einen Fahrschein gelöst zu haben, im Coupé Platz nehmen. Hier treten folgende Bestimmungen in Geltung:
„Der Reisende, welcher ohne gültigen Fahrschein betroffen wird, hat für die ganze von ihm zurückgelegte, und wenn die Zugangsstation nicht sofort unzweifelhaft nachgewiesen werden kann, für die ganze vom Zuge zurückgelegte Strecke das Doppelte des gewöhnlichen Fahrpreises, mindestens aber den Betrag von sechs Mark zu entrichten. Derjenige Reisende jedoch, welcher in einen Personenwagen einsteigt und gleich beim Einsteigen unaufgefordert dem Schaffner oder Zügführer meldet, daß er wegen Verspätung keinen Fahrschein habe lösen können, hat, wenn er überhaupt noch zur Mitfahrt zugelassen wird, worauf er aber keinen Anspruch hat, einen um eine Mark erhöhten Fahrpreis zu zahlen. Wer die sofortige Zahlung verweigert, kann ausgesetzt werden.“
Nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt, ist jeder Versuch zum Einsteigen sowie jede Hülfeleistung dazu streng verboten, ja strafbar. Das Fahrgeld muß eigentlich und sollte stets von jedem Reisenden abgezählt bereit gehalten werden, weil am Schalter durch Wechseln größerer Geldscheine und durch Herausgeben kleiner Münze zu viel Zeit verloren geht. Auch ist wohl zu merken, daß Coupons, und zwar auch von Staatspapieren, nicht in Zahlung genommen werden, sondern daß jede solche in Reichs- oder Landesmünze, Reichscassenscheinen oder dem landesüblichen Papiergelde geleistet werden muß. Ausländisches Geld, Gold oder Silber, wird überhaupt nicht angenommen.
Uebrigens kann kein Passagier gezwungen werden, in einer niedrigeren Classe Platz zu nehmen, als er bezahlt hat, und bei etwa eintretendem Raummangel geben die Fahrbillets Anspruch aus die betreffende Wagenclasse, so weit in dieser Plätze vorhanden sind, respective beim Wechsel der Wagen vorhanden bleiben, wenn aber einem Reisenden der seinem Fahrschein entsprechende Platz nicht angewiesen und ihm auch zeitweilig ein Platz in einer höheren Classe nicht eingeräumt werden kann, so steht es ihm frei, den Fahrschein gegen einen solchen der niedrigeren Classe, in welcher noch Plätze vorhanden sind, und gegen Erstattung des Unterschiedswerthes einzuwechseln oder die Fahrt zu unterlassen und das bezahlte Fahrgeld zurückzuverlangen. Jedenfalls haben aber die mit durchgehenden Fahrscheinen versehenen Reisenden den Vorzug vor den neu hinzukommenden.
Unterwegs, also auf Zwischenstationen, kann ein Uebergehen auf Plätze einer höheren Wagenclasse nur dann beansprucht werden, wenn man einen Fahrschein auf die Bestimmungsstelle einlöst, durch dessen Preis, einschließlich desjenigen für den bereits gelösten Fahrschein, der Fahrpreis für die höhere Classe mindestens gedeckt wird.
Diese Bestimmungen sind von außerordentlicher Bedeutung insbesondere [487] für die Abend-Extrazüge im Sommer, wo die ungeduldig harrende, überzahlreiche Menge der Wartenden oft mit Gewalt sich beliebig der leeren Plätze bemächtigt und dadurch die ruhig wartende Minderheit von Passagieren, welche aber gewöhnlich mit Fahrscheinen der besseren Classe versehen ist, in die Lage bringt, an Ort und Stelle zurückgelassen zu werden; es ist ihr bei dem allgemeinen Wirrwarr und dem Drange der Zeit dann nicht einmal möglich, die gelösten Fahrscheine umzutauschen, und sie wird so gezwungen, ihren unfreiwilligen Aufenthalt oft bis zum frühen Morgen zu verlängern.
Kaufen und im Voraus belegen kann man wohl ein ganzes Coupé, nicht aber einzelne bestimmte Plätze; verläßt Jemand auf den Zwischenstationen seinen Platz, ohne denselben zu belegen, so muß er sich, wenn derselbe inzwischen besetzt worden ist, mit einem anderen begnügen.
Den Reisenden ist verboten, beim Ein- und Aussteigen die Wagenthüren selbst zu öffnen; sie müssen vielmehr das Oeffnen derselben dem Dienstpersonal überlassen und dürfen nicht ein- und aussteigen, bevor der Zug völlig stillhält.
Das Dienstpersonal ist berechtigt und auf Verlangen der Reisenden auch verpflichtet, denselben ihre Plätze anzuweisen, und für allein reisende Damen muß sich in jedem Zuge mindestens je ein Damencoupé der zweiten und dritten Wagenclasse befinden.
Auf die Bequemlichkeit und Körperconstitution der Reisenden ist vorschriftsmäßig in sofern Rücksicht genommen, als auf Verlangen jedes Reisenden die Fenster auf der Windseite geschlossen werden müssen, wie auch durch Einrichtung von besonderen Coupés für Nichtraucher gesorgt worden ist.
In Rücksicht auf das Wohl der Reisenden während der Fahrt können Personen, welche wegen einer sichtlichen Krankheit oder aus anderen Gründen durch ihre Nachbarschaft den Mitreisenden augenscheinlich lästig würden, von der Mit- und Weiterreise ausgeschlossen werden, falls sie nicht ein besonderes Coupé bezahlen.
Ferner wird, wer die vorgeschriebene Ordnung nicht beachtet, sich den Anordnungen des Dienstpersonals nicht fügt oder sich „unanständig“ benimmt, ohne Anspruch auf den Ersatz des bezahlten Fahrgeldes von der Mit- und Weiterreise ausgeschlossen; insbesondere dürfen trunkene Personen zum Mitfahren und zum Aufenthalt in den Wartesälen nicht zugelassen werden.
Dies die hauptsächlichen Bestimmungen über die Fahrt selbst! Sollte nun ein Reisender die Abfahrtszeit versäumen, obwohl er eine Fahrkarte gelöst, so steht ihm zunächst ein Anspruch auf Rückerstattung des Fahrgeldes oder auf irgend eine andere Entschädigung nicht zu – denn die Versäumniß war ja durch seine eigene Schuld eingetreten – doch ist ihm gestattet, auf Grund der gelösten Fahrkarte mit einem am nämlichen oder nächstfolgenden Tage nach der Bestimmungsstation abgehenden, zu keinem höheren Tarifsatze fahrenden Zuge zu reisen, wenn er seine Fahrkarte unverzüglich dem Stationsvorsteher vorlegt und mit einem Vermerk über die verlängerte Gültigkeit versehen läßt. Eine Verlängerung der für Retourfahrten sowie für Fahrkarten zu Rundreisen und Vergnügungszügen festgesetzten Frist wird hierdurch nicht herbeigeführt.
Verspätete Ankunft oder Abfahrt von Zügen begründen übrigens keinen Anspruch gegenüber der Eisenbahnverwaltung; auch berechtigt eine ausgefallene oder unterbrochene Fahrt nur zur Zurückforderung des für die nicht durchfahrene Strecke gezahlten Fahrgeldes. Wird jedoch in Folge einer nicht durch höhere Gewalt herbeigeführten Zugverspätung der Anschluß an einen andern Zug versäumt, so ist dem mit durchgehender Fahrkarte versehenen Reisenden nach erbrachtem Nachweise, daß er mit dem nächsten zurückführenden Zuge ununterbrochen zur Abgangsstation zurückgekehrt ist, der bezahlte Preis für die Hinreise sowie der für die Rückreise zu erstatten, falls die Anmeldung des Anspruchs sogleich nach Ankunft des verspäteten Zuges beim Stationsvorsteher erfolgt.
Die preußischen Staatseisenbahn-Directionen sind übrigens angewiesen worden, bei solchen Zugverspätungen auf die Weiterbeförderung der Reisenden mittelst eines besonderen Zuges Bedacht zu nehmen, sofern sich für die zurückgebliebenen Reisenden nach dem Fahrplane keine geeignete Gelegenheit bietet, ihre Reise ohne erheblichen Zeitverlust fortzusetzen, oder die betreffende Anschlußstation nicht geeignet ist, den Reisenden eine angemessene Unterkunft zu gewähren. In diesen Fällen ist nur der gewöhnliche, nicht aber der für die außergewöhnliche Beförderung in Güterzügen festgesetzte erhöhte Fahrpreis von den Reisenden zu erheben.
Machen Elementarereignisse oder andere Hindernisse die Fahrt auf einer Strecke der Bahn ganz unzulässig, so muß für die Weiterbeförderung bis zur fahrbaren Strecke mittelst anderer Fahrgelegenheit nach Thunlichkeit so lange gesorgt werden, bis für jeden einzelnen Fall eine besondere Anordnung getroffen worden ist.
Kinder unter zehn Jahren werden zu einem niedrigeren Fahrpreise befördert; und für solche, welche noch getragen werden und ihre Stelle auf den Plätzen der Angehörigen haben, wird keine Zahlung gefordert.
Als „Reisegepäck“ wird in der Regel nur, was der Reisende zu seinem und seiner Angehörigen Bedürfnisse mit sich führt, namentlich Koffer, Mantel- und Reisesäcke, Hutschachteln, kleine Kisten etc. befördert, wogegen größere, kaufmännisch gepackte Kisten, Tonnen sowie andere nicht zu den Reisebedürfnissen zu rechnende Gegenstände nur ausnahmsweise zugelassen werden können. Kleine, leicht tragbare Gegenstände können, wenn die Mitreisenden dadurch nicht belästigt werden, von den Reisenden in den Wagen als Handgepäck mitgeführt werden, und insbesondere ist es den Reisenden vierter Classe gestattet, Handwerkszeug, Tornister, Tragelasten in Körben, Säcken und Kiepen, nach Entscheidung des Stationsvorstehers, mit sich zu führen. Für solche in den Wagen mitgenommene Gegenstände werden keine Gepäckscheine ausgegeben; sie sind vielmehr von den Reisenden selbst zu beaufsichtigen.
Dagegen dürfen feuergefährliche Gegenstände, wie alles Gepäck, welches Flüssigkeiten und schadenbringende Gegenstände enthält, in den Personenwagen nicht mitgenommen werden.
Am Bestimmungsorte kann der Reisende nach Ankunft des Zuges die sofortige Auslieferung des Gepäcks nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit im Local der Gepäckexpedition, und zwar ohne die Entladung aller übrigen Stücke abzuwarten, verlangen oder dasselbe innerhalb vierundzwanzig Stunden nach der Ankunft in der Gepäckexpedition in den bestimmten Expeditionsstunden gegen Rückgabe des Gepäckscheines abholen lassen; läßt er es länger liegen, so muß für alle weiteren vierundzwanzig Stunden das vorschriftsmäßige Lagergeld bezahlt werden. In Ermangelung des Gepäckscheines ist die Verwaltung zur Aushändigung des Gepäcks nur nach vollständigem Nachweise der Empfangsberechtigung gegen Ausstellung eines Reverses und nach Umständen gegen Sicherheit verpflichtet.
Ganz besonders beachtenswerth sind die wenig bekannten Vorschriften über die Haftpflicht der Eisenbahnverwaltung für das Reisegepäck, weil sie selten zur Anwendung kommen, auch der Reisende sich mit der Entschädigung gewöhnlich nicht befriedigt wähnt.
Darnach haftet die Eisenbahnverwaltung von dem Zeitpunkte der Aushändigung des Gepäckscheines ab für die richtige und unbeschädigte Ablieferung der Gepäckstücke im Allgemeinen nach den die Beförderung von Gütern betreffenden Bedingungen und Abreden, besonders aber nach folgenden Grundsätzen: a) Ist von dem Reisenden ein höherer Werth nicht declarirt, so wird im Falle des Verlustes oder der Beschädigung nur der wirklich erlittene Schaden vergütet, dieser kann jedoch in einem höheren Betrage als mit 12 Mark pro Kilogramm nach Abzug des Gewichts des unversehrten Inhalts des blos beschädigten Gepäckstücks nicht beansprucht werden. b) Ist von dem Reisenden ein höherer Werth declarirt, so wird mit der Gepäckfracht ein Frachtzuschlag erhoben, welcher für jede, wenn auch nur angefangenen 150 Kilometer, die das Gepäck von der Absende- bis zur Bestimmungsstation zu durchlaufen hat, im Geringsten 20 Pfennig beträgt und 2 für 1000 der ganzen declarirten Summe nicht übersteigen darf. – Die Werthdeclaration hat aber nur dann rechtsverbindliche Wirkung, wenn sie von der Expedition der Abgangsstation im Gepäckschein eingeschrieben ist. – c) Die Verwaltung ist von jeder Verantwortlichkeit für den Verlust von Reisegepäck frei, wenn es nicht innerhalb acht Tagen nach Ankunft des Zuges auf der Bestimmungsstation abgefordert wird.
Fehlende Gepäckstücke werden erst nach Ablauf von drei Tagen nach der Ankunft des betreffenden Zuges auf der Bestimmungsstation des Reisenden als in Verlust gerathen betrachtet, und dieser ist erst dann befugt, mit Ausschluß aller seiner weiteren Entschädigungsansprüche, die Zahlung der Garantiesumme zu fordern, falls aber das verloren gegangene Gepäckstück später gefunden wird, so ist davon der Reisende, sofern sein Aufenthalt zu ermitteln ist, trotz der Empfangnahme der Entschädigung zu benachrichtigen, und kann er dann binnen vier Wochen verlangen, daß ihm das Gepäckstück gegen Rückerstattung jenes Schadenersatzes nach seiner Wahl entweder am Bestimmungsorte oder frachtfrei am Aufgabe-Orte verabfolgt werde. Alle im örtlichen Bezirk der Bahnverwaltung oder in den Wagen zurückgelassenen Gegenstände werden mindestens drei Monate lang aufbewahrt, dem Verderben ausgesetzte Sachen aber, sobald ein solches zu befürchten ist, bestmöglichst verkauft und dann der Erlös bis Ende der Frist zur Verfügung des Berechtigten gehalten. Im Uebrigen unterliegen dergleichen gefundene Gegenstände den gesetzlichen Vorschriften über den Fund.
Dies die wesentlichsten Vorschriften auch über die Haftpflicht der Eisenbahnverwaltungen! Ueber Haftpflicht im Allgemeinen vergl. man Jahrg. 1880, S. 278 und 320.
Zum Schlusse sei es gestattet, den Bahnverwaltungen einige Wünsche auszusprechen, welche das beiderseitige Interesse berühren.
Vor Allem dürfte es zweckmäßig sein, wenn man, ähnlich wie bei der deutschen Postverwaltung, bei der Eisenbahn den Gebrauch deutscher statt der meistens französischen Ausdrücke allgemein einführte. Wörter wie Perron statt (des in Oesterreich gebräuchlichen) Wandelbahn, Waggon statt Wagen, Coupé statt Wagenabtheilung, Station statt Haltestelle, Passagier statt Reisender, Tour statt Fahrt, Billet statt Fahrkarte, Train statt Zug, Declaration statt Angabe etc. sind sehr geeignet, bei dem reisenden Publicum, namentlich der niederen Volksschichten, Irrthümer hervorzurufen, welche, zumal bei dem eilfertigen Verkehre auf den Bahnhöfen, nach Möglichkeit vermieden werden müssen.
Endlich ist nicht abzusehen, aus welchen Gründen einige Bahnverwaltungen – und sonderbarer Weise sind dies meist die der Staatsbahnen – bei ihren Preisnotirungen auf den Fahrkarten sich der Ausdrucksweise 2,8 Mark, 1,5 Mark bedienen, während doch die von 2,80, 1,50 Mark etc. über allen Zweifel erhaben, erstere aber leicht die Vermuthung auf 2,08, 1,05 aufkommen zu lassen geeignet ist.
Vielleicht können diese Winke dazu beitragen, an maßgebender Stelle Abhülfe zu schaffen.
Blätter und Blüthen.
Dichter-Ehren – auch wenn erst einem Todten dargebracht, werden stets unsere freudige Theilnahme finden, weil sie in unserer, der Dankbarkeit und den Idealen gerade nicht hingebend zugethanen Zeit doch Zeugniß für ein Walten beider ablegen. In dem vorliegenden Fall können wir das noch Erfreulichere berichten, daß der Mann, dem man nun ein Erinnerungsmal setzt, schon als Lebendender von seiner Heimath hoch in Ehren gehalten worden ist; dies geschah dem Dichter Ludwig Storch von seinem Geburtsorte Ruhla, den der Volksmund [488] „die Ruhl“ nennt. Dieser thüringische Ort hat zwar die seiner Entwickelung oft störend entgegentretende Eigenthümlichkeit, durch einen Bach in zwei Theile geschieden zu sein, die zwei Staaten, Sachsen-Weimar und Sachsen-Gotha, angehören, aber in der Pietät gegen verdiente Landsleute giebt es schließlich doch immer nur eine Ruhl. So war es auch ein gemeinsamer Beschluß gewesen, Ludwig Storch nicht nur das Ehrenbürgerrecht zu ertheilen, sondern auch einen nahen Berg mit seinem Namen zu benennen. Am 2. Juli d. J. ist ein diesem echten thüringischen Dichter errichtetes Denkmal feierlich enthüllt und geweiht worden. Es hat seine Stelle auf dem sogenannten Sarkophagplatz (im Volksmund: dem „steinernen Sargplatz“) am Bärmer Berg gefunden und besteht aus einer in Form einer römischen Tafel gegossenen Eisenplatte mit dem Reliefbildniß des Gefeierten in Bronze und der Inschrift:
Ludwig Storch,
geboren am 15. April 1803, Ruhla,
gestorben am 5. Februar 1881, Kreuzwertheim
die dankbare Ruhl.“
Die Enthüllungsfeier gestaltete sich zu einem großen Thüringer Volksfeste, das mit Kanonendonner und Glockengeläute begann und mit der Bekränzung des Denksteins, nachdem Hofrath Dr. Alexander Ziegler die Festrede gehalten, in dem herrlichen Waldthal erhebend schloß. Zu den Kränzen, welche von auswärts (Berlin, Leipzig, Eisenach etc.) zur Feier gesandt waren, gehörte auch ein Lorbeerkranz, welchen „die ‚Gartenlaube‘ ihrem ältesten Mitarbeiter“ mit einem poetischen Festgruß von Storch’s altem Freunde, Friedrich Hofmann, gewidmet hat.
Denselben Platz ziert noch eine Gedenktafel für den am 7. April 1631 in Ruhla geborenen geistlichen Liederdichter Hartmann Schenk, gestiftet von Alexander Ziegler, und am gleichen Tage enthüllt.
Alexander Ziegler, dem berühmten Reisenden und Schriftsteller, der, selbst ein Sohn der Ruhl, sich als treuer Pfleger und Förderer des Ruhlaer geistigen und materiellen Lebens und Gedeihens großes Verdienst erworben hat, ist es namentlich zu verdanken, daß nicht auch für diese Dichterdenktafel der Klingelbeutel durch das ganze Reich getragen wurde, sondern daß die Ruhlaer, die Beitrage unaufgeforderter Verehrer des Dichters abgerechnet, ihr Denkmal selbst errichteten. Das ist ein sehr hervorzuhebendes und nachahmungswerthes Beispiel!
Alexander Ziegler ist es auch, welcher soeben „Ludwig Storch’s poetischen Nachlaß“ (Eisenach, Hofbuchhandlung von H. Jacobi) herausgegeben hat. Das schmucke Werk zeigt uns den Dichter von einer neuen Seite; denn außer dem Liederkranz: „Die Glocken im Ruhlathale“, patriotischen Gesängen, „Landschaftsbildern“ und der Thüringer „Frau Romantik“ enthält es auch eine Abtheilung von Liedern und Stücken in der Rühler Mundart, die uns bezeugen, wie vertraut Storch mit allen Herzensregungen seines Heimathvölkchens war. Sicherlich wird dieser „Poetische Nachlaß“ den vielen Verehrern des gefeierten Dichters willkommen sein.
„Ob’s wohl reicht?“ (Abbildung Seite 485.) Das ist ein braver Haushalt nach alter guter Sitte! Der Anblick eines solchen Familienbildes thut wohl und erweckt uralte liebe Erinnerungen. Bekanntlich erbte bei unsern Vorfahren ein Kleidungsstück oft vom Großvater bis auf den Enkel fort; denn — das behaupten die Großmütter noch heute — das Tuch war damals viel haltbarer, als jetzt, und die Mode beherrschte die Leute weit weniger, als in unserer Zeit, am wenigsten auf dem Lande, wohin die Trachten unseres Bildes deuten. Die Nothwendigkeit, in jedem sparsamen Haushalte an den Ausgaben für die Kleider, und namentlich die der vielzerreißenden Knaben, nach Möglichkeit zu sparen, ist natürlich auch der Gegenwart noch nicht abhanden gekommen, und Jeder, der nicht den wohlhabenden Ständen von Jugend auf angehörte, kann sich noch die Augenblicke zurückrufen, wo er da stand, wie der prächtige Junge unseres Bildes, mit dem stolzen Gefühl, „von Vaters seiner" eine neue Hose, von Vaters Rock eine neue Jacke zu bekommen. Auch das haben wir erlebt, daß die Mutter bedenklich fragte: „Ob’s auch reicht?“, und diese Bedenken gingen auch auf die Kinder über, deren Herzen ja so eng mit dem der Mutter zusammenhängen. Aber wie hellen sich alle Gesichter auf einmal auf, wenn der Zweifel schwindet, das Maß trifft und die Aussicht auf ein neues Kleidungsstück aus dem alten Gewande gesichert ist! Wir würden uns ebenso freuen, wenn ein Mädchen am Platze des Knaben stände; dieselbe Freude der Zufriedenheit würde aus dem Bilde uns entgegenleuchten. Daß er uns so lieblich in unsere Kindheit zurückführt, macht uns auch den Künstler lieb und wendet ihm unsern vollen Dank zu. Wir sind einmal wieder daheim gewesen — in unserer glücklichsten Zeit.
Zur Gründung eines „Allgemeinen deutschen Touristenverbandes“. Die hohen Verdienste der zahlreichen Alpen- und Touristenvereine um die Erforschung der heimischen Gebirgswelt und die Erleichterung des Verkehrs in derselben sind erst vor Kurzem an dieser Stelle unseres Blattes ausführlicher dargelegt worden (vergl. Nr. 24 dieses Jahrganges). Die erfreuliche Thatsache, daß in der verhältnißmäßig kurzen Zeit von kaum 15 Jahren in Deutschland etwa 30 Touristenvereine mit ungefähr 40,000 Mitgliedern entstanden sind und daß die Ausdehnung dieser jungen Bewegung noch immer im Wachsen begriffen ist, hat schon früher den Vorstand des „Taunus-Clubs Zu Frankfurt a.M.“ veranlaßt, ein gemeinsames engeres Zusammengehen der einzelnen Vereine vorzuschlagen. In Folge dieser Anregung wurde in einer am 19. Juni 1880 zu Frankfurt a. M. stattgefundenen Delegirtenversammlung verschiedener Touristenvereine der hohe Nutzen des wechselseitigen Verkehrs zwischen den einzelnen Vereinen allgemein anerkannt, die Gründung eines „Allgemeinen deutschen Touristenverbandes" im Princip beschlossen und der Taunus-Club beauftragt, einen provisorischen Statutenentwurf auszuarbeiten und ihn in einem geeigneten Zeitpunkt allen deutschen Touristenvereinen vorzulegen. Da inzwischen in den Jahren 1880 und 1881 der Touristenverkehr in Deutschland sich im Allgemeinen sehr gehoben hat, so hielt es der Vorstand des Taunus-Clubs für gerathen, einen Entwurf zu den Satzungen des geplanten Verbandes schon in diesem Jahre an die Vorstände anderer Touristenvereine zu verschicken, um auf diese Weise die Verwirklichung des Planes möglichst zu beschleunigen. Indem wir noch mittheilen, daß etwaige Vorschlage zur Abänderung des Entwurfes bis zum 31. August dieses Jahres an den Vorstand des „Taunus-Clubs“ einzusenden sind, verfehlen wir nicht, die für eine ersprießliche Entwickelung des deutschen Touristenthums so wichtigen Bestrebungen unserer wärmsten Sympathien zu versichern.
Leise über Meer und Lande
Kommt die Nacht herangezogen,
Und es blicken See und Fluren
Mild empor zum Himmelsbogen.
Und das Auge hebt der Denker,
Sieht die Pracht des Sternenlichtes;
Im Bewußtsein stolzen Schaffens
Fragt er lächelnden Gesichtes:
„Sagt, was prunket ihr am Himmel?
Sterne, neigt euch vor der Erden,
Wo im Menschengeist am höchsten
Gott sich zeigt im ew’gen Werden!“
Halb im Sehnen, halb im Zagen
Schaut empor die Jungfraunblüthe:
„Sterne, gebt ihr nimmer Kunde
Unsrem ahnenden Gemüthe?
Seid ihr wirklich jene Welten,
Die den Seligen beschieden,
Wo die Lichtgestalten weilen
In der Liebe Gottesfrieden?“
Aber schweigend ziehn die Sterne
Fort in ihren ew’gen Kreisen,
Und die Winde und die Wellen
Singen ihre alten Weisen.
Und ein Kindlein blickt zum Himmel;
Freudig klatscht es in die Hände:
„Mutter, sieh die lieben Sterne,
Schön und schöner ohne Ende!“
Und die Sterne senden freundlich
Auf das Kindlein lichten Segen;
Wind und Wasserwoge rauschen
Sanfte Grüße ihm entgegen.
B. W. in Wismar. Ihre Bemerkungen zu einzelnen Aufstellungen unseres Artikels über die sächsischen Landesfarben (Jahrg. 1878) sind dankenswerth und veranlassen uns zu folgendem Nachtrag: Das Wappen der sächsischen Kurwürde, beziehentlich des Reichserzmarschallamtes, bestand aus zwei rothen gekreuzten Schwertern im schwarz und weiß quer getheilten Felde; die Farben der Kur würden also identisch sein mit den Nationalfarben des neuen deutschen Reiches. Der grüne Rautenkranz im neunmal schwarz und golden quer getheilten Felde ist eine heraldische Brisüre (Beizeichen im Wappen) für die jüngere Linie des Ballenstedter oder askanischen Fürstenhauses, welches die sächsische Kurwürde erwarb. Der grüne Rautenkranz wurde aber auch vom Hause Sachsen-Lauenburg geführt und ist noch gegenwärtig ein Haupttheil des Wappens aller anderen Herzöge von Sachsen und der Herzöge von Anhalt, welche sämmtlich nie die kurfürstliche Würde erlangt haben, unmittelbar also hat der Rautenkranz mit der Kur gar nichts zu thun.
Die einzige Erklärung für die sächsischen Landesfarben ist die, daß sie willkürlich gewählt worden sind. Es giebt überhaupt nirgends alte Landesfarben. Der Begriff solcher Farben ist ein durchaus moderner, erst überall nach dem Auftreten der französischen Tricolore nachweisbar, welche sich in einen Gegensatz zu den alten dynastischen Wappen- und Hoffarben stellte. Als die Tricolore, welche auch das napoleonische Kaiserthum beibehalten hatte, in den Freiheitskriegen den schwarz-gelben Fahnen Oesterreichs und den schwarz-weißen Preußens unterlag, fühlten auch die anderen Staaten das Bedürfniß solcher Nationalfarben und wählten sie nach der Analogie jener, die sich so rühmlich bekannt gemacht hatten. Nun hätte Sachsen schwarz-gelb-grün zu seinen Wappenfarben wählen können, man wollte aber keine Tricolore haben; grün-gelb erschien geschmacklos; schwarz-gelb war bereits österreichisch, schwarz-grün unheraldisch; man resolvirte sich also dahin, dem Schwarz-Weiß Preußens ein Grün-Weiß Sachsens an die Seite zu stellen, allerdings mit Rücksicht auf den grünen Rautenkranz Sachsens, aber ohne jede Spur eines Zusammenhanges mit „den Farben der Kur“, oder „der des alten Herzogthums“, sondern im Hinblick auf die weiße Fahne mit grünem Kreuze der sächsischen Landwehr von 1814. Vergl. hierüber Dr. Th. Flathe’s Geschichte von Sachsen in Heeren’s u. Ukert’s Geschichte der europäischen Staaten, Band 3, Seite 362.
Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig
- ↑ „Göttinger Dichterbund“.
- ↑ Die hier folgenden Abbildungen sind nach dem „Katechismus zur ersten Hülfeleistung in Unglücksfällen“ von Friedrich Esmarch, der soeben im Selbstverlage des deutschen Samaritervereins erschienen ist, im Holzschnitt ausgeführt worden. Bei dieser Gelegenheit verweisen wir noch unsere Leser auf das „Album für Krankenträger“ vom Oberstabsarzt Dr. G. A. Rühlemann, ein treffliches, mit vielen Illustrationen versehenes Buch, welches ursprünglich für die Krankenträger des deutschen Heeres bestimmt war, jetzt aber auch in außerdeutschen Armeen mehrfach Verwendung gefunden hat. Die deutsche Ausgabe dieses Albums erreichte innerhalb fünf Jahren eine Auflage von 14,000 Exemplaren, und neulich hat der Verfasser auch eine internationale Ausgabe (Preis 40 Pfennig) herausgegeben, welche einen erläuternden Text in sechs Sprachen nachweist.D. Red.