Literarische Briefe (Gutzkow) 5

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Autor: Karl Gutzkow
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Titel: Literarische Briefe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 379–380, 382
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: An eine deutsche Frau in Paris V.
u. a. über Levin Schücking
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Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
V.

Ob ich denn, fragen Sie, angeregt von meinem letzten Briefe, nicht mehr den Zauber der Romantik auf mich wirken ließe? Ob sich überhaupt die Deutschen nicht mehr geistig heimisch fühlten unter epheuumwundenen Klosterruinen, beschienen vom milden Glanz des Mondes, umsäuselt von den Klängen einer in rauschenden Baumwipfeln aufgehängten Aeolsharfe? Die fremden Nationen wollten ja doch von uns gerade nur diese Richtung –! Sie wollten ja in uns nur ein Volk, das sich immer noch mit Nixen und Kobolden um den Besitz unserer Berge und Thäler stritte, ein Volk, das gewisse Schluchten vermiede, wo die Drachen hausen, ein Volk, das sich Abends unter duftenden Lindenbäumen jetzt noch gegrüßt wähnte von vorüberschwebenden Feen, und die Zauberer, die Wahrsager, die Hexen und Zigeuner als die wahren Berather seiner Geschicke anerkennt! E. T. A. Hoffmann, der Verfasser der „Teufelselixire“, erschiene, sagen Sie, den Franzosen „deutscher“, als selbst Goethe, wenigstens letzterer in seinen „Wahlverwandtschaften“.

Die Periode der Romantik bezeichnet allerdings einen Abschnitt unserer Geschichte, der uns für alle Zeit denkwürdig, theuer und werth bleiben soll. Wer unter uns hätte sie nicht in seiner ersten Bildungsentwickelung gefühlt, diese süßen Schauer einer schöneren Zeit und Welt, die von Künstlern und Dichtern hervorgezaubert wurde mit dem täuschenden Schein eines annoch wachen Lebens! Möglich, daß die gegenwärtige, sich vorzugsweise schon auf Schiller, Lessing und die Theorie vom Schönen überhaupt gründende Schulbildung einer ausschließlichen Hinneigung des jugendlichen Gemüths zum Romantischen vorbeugt. Dann wäre aber unsere Jugend um einen Genuß ärmer geworden! Sie hätte nichts empfunden von jenem geheimnißvollen Reiz der Wiederbelebung des Todten, von jener tiefinnigen Beseelung von Stein und Welle, Baum und Blüthe, von jener poetischen Ergänzung des sichtbar Vorhandenen durch zahllose schöne Schattenbilder (nicht nur Schattenbilder des Märchens und der Sage, sondern auch der Verknüpfung und Aneinanderreihung heterogenster Gedankenmöglichkeiten), die zum Wesen des Romantischen gehört. Denke man sich nur Deutschland zur Zeit seiner tiefsten Erniedrigung, in jenen Tagen, wo unsre Heere von Frankreich besiegt, unsre Fürsten gezwungen wurden, die Reste derselben dem corsischen Eroberer zur Verfügung zu stellen – in jenen Tagen, wo man über die Möglichkeit, daß jemals wieder Deutsche gegen Deutsche kämpfen könnten, für immer den Fluch ausgesprochen zu haben glaubte – ! Damals flüchtete sich unser Stolz, unser Herz, unsre Liebe und Sehnsucht hinaus aus unserm unterjochten, in Fesseln schmachtenden Vaterlande. Damals konnte ein Sturmgeist wie Joseph Görres, der schon die Mütze des Jacobiners getragen hatte und sogar, im grellsten Widerspruch mit seinem traurigen, nachtumhüllten, nur der römischen Kirche dienenden Lebensausgang, eine Schrift zum Druck vorbereitete, die kein einziger freisinniger Verleger Hamburgs herauszugeben wagte: „Fall der Religion“ – damals, sage ich, konnte sich ein Genius solcher Thatkraft einer Zeitschrift der Romantiker anschließen. „Trösteinsamkeit. Wochenblatt für Einsiedler.“ … Im schönen Heidelberg, im Nachtigallenhain am Wolfsbrunnen war es, wo sich eine kleine Gemeinde von gleichgestimmten Dichtern und Forschern versammelte und den Mittelpunkt jener Richtung bildete, die sämmtliche bereits in unserer Literatur, seit Herder, Bürger, Hölty, Schubart, Schiller und Goethe, zerstreut gewesenen Elemente des Begriffs vom Romantischen zu einem einheitlichen, besondersbedingten Schönheitsgesetze vereinigte und dem jammervoll gewordenen Zeitalter, dem abgestorbenen Reiche, der französelnden Sitte, dem umsichgreifenden, sogar schon den deutschen Genius anzustecken drohenden und sich gewissen antikisirenden Richtungen unsres eignen Kunstlebens enger und enger anschließenden Pariser Geschmack eine Kunstform gegenüberhielt, die wesentlich auf einem neuen Erforschen und Erfassen des Mittelalters beruhte.

Antik oder romantisch – das wurden zwei Gegensätze, denen noch für längere Zeit ein scharf ausgesprochener und festbestimmter dritter Begriff, das Moderne, nicht entgegenstand. Letzterer hat sich erst in unseren neuern Tagen klarer und bestimmter herausgestellt. Wie das Antike oder Classische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen der vorchristlichen Zeit war, so wurde das Romantische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen des Mittelalters. Unstreitig ist als der geistige Grundgedanke des Alterthums das Opfer zu bezeichnen, als der des Mittelalters das Wunder, als der der neuen Zeit der Gedanke selbst. Es wird sich mir noch Gelegenheit bieten, Ihnen, verehrte Frau, zu beweisen, daß die geistigen Blüthen des Alterthums eben dem Priesteramt und dem Opfer entsprossen sind. Daß das Wesen des Mittelalters im Wunder zu suchen sei, dürfte Ihnen schon einleuchtender erscheinen. Nicht nur, daß „das Wunder“, wie der Dichter sagt, „des Glaubens liebstes Kind“ ist, und es eben der Glaube war, der dem mittelalterlichen Leben seine Weihe gegeben, es gehört auch die Sehnsucht, auch der Trieb in die Ferne, das Völkerwandern und Ländersuchen des Mittelalters jener Herrschaft des Wunders an. Das Unerklärte, Ahnungsvolle, den Sinnen eine unüberwindliche Schranke Setzende ist das Wunder, und so nennen wir denn auch eine Landschaft, eine Situation, einen Charakter – romantisch. Was heißt romantisch anders als: Hier rauschen Quellen, die wir hören, aber nicht sehen! Hier leuchten Farben und Lichtbrechungen, die aus einem Prisma stammen, das über den Wolken thront! Hier gewinnt ein Ineinandergreifen von moosbewachsenen Felsen, düstern Tannen und von einigen Abendsonnenstrahlen eine unerklärliche Macht über unser Gemüth, spricht die sanfteste Sprache, macht die süßeste Musik elegischer Rhythmen und Tonarten für unser Herz! Romantisch ist uns das Schöne unter dem Gesichtspunkt wehmuthsfroher Erinnerung und Ahnung.

Es ist eine schöne Aufgabe, die sich ein Kunstrichter stellen [380] sollte, nachzuweisen, wie sich in Deutschland unser ästhetischer Begriff „Romantisch“ entwickelt hat aus dem so geistiglebendigen, bahnbrechende achtzehnte Jahrhundert heraus, ja sogar aus den Seherblicken der unbefangensten, freisinnigsten Forscher, eines Rousseau, eines Herder. Der Geschichtsschreiber der Romantik würde erst durch manche, sogar „classische“, Propyläen und Vorhöfe gelangen zu jener vorhin angedeuteten vollen Glanzperiode der Romantik, die wir dem brennenden Farbenlicht einer Kirchenfensterrose über dem Portal eines Münsters vergleichen möchten. Er würde hierauf zu verzeichnen haben die Uebergänge aus diesem romantischen Vollbewußtsein zum Humor, zur Satire, zur Ironie, bis sich der romantische Gedanke, schon zersetzt, dem aus einem weitaus andern Bereich entstammenden Begriff des „Modernen“ näherte. In fast allen Meistern der romantischen Dichtungszeit sind diese Uebergänge mitgegeben. Sogar bei Görres finden sie sich, bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und vollends bei Ludwig Tieck. Nur bei einigen wenigen schien es nicht mehr möglich, daß sie dem Zauberbann ihrer ausschließlichen Phantasienwelt entrannen. Nicht bei Novalis-Hardenberg, nicht bei Joseph von Eichendorff, welcher letztere sogar mitten unter den gebieterischen Notwendigkeiten der verstandeskühlen Neuzeit in’s Grab gegangen ist unter dem ihm noch immer vernehmbar gebliebenen geisterhaften Wehen jener „Trösteinsamkeit“ von Heidelberg, unter dem Nachhall von Waldhornklängen aus unergründlichen Waldestiefen der Ahnung, unter dem märchenhaften Rauschen von schöngefiederten Reihern, wie sie an goldenen Kettchen Briefe dahintragen mit einem Selam an zierliche Erker eines maurischen Schlosses, wo Märchenprinzessinnen wohnen, Zauberinnen wunderbar verschlungener Lebensschicksale und Märchenabenteuer.

Nur die allerroheste Hand könnte es sein, die im Vollbewußtsein „gesunden Menschenverstandes“ in die allmähliche Abwickelung des romantischen Zauberfadens innerhalb unserer neuen deutschen Literatur gewaltsam hineingreifen und den vielen Verirrungen und sogar moralischen Selbsttäuschungen, die allerdings im Gefolge der Romantik, im Gefolge eines systematische Scheinlebens, nicht ausbleiben konnten, nicht blos die ewigen Gesetze der Kunst, sondern sogar die Paragraphen - des Strafgesetzbuches entgegenhalten wollte! Eines feinen Analytikers ist es vielmehr würdig, zu schildern, wie der romantische Scheingedanke allerdings allmählich auch ein - Truggedanke wurde, ein ästhetischer Truggedanke schon bei Heinrich von Kleist, noch mehr bei E. T. A. Hoffmann und bei vielen Andern, ein moralischer sogar bei Denen, die ihr romantisches Kunstprincip aus die Forderungen der Neuzeit im Leben des Staates, der Kirche, der Gesellschaft übertrugen. Wie anmuthig vermählte sich aber noch die Romantik mit dem Begriff des Modernen bei Heinrich Heine! Allerdings wird der Analytiker nachzuweisen haben, wie weit noch für Heine die Romantik Ernst oder Spielerei, ich für mein Theil meine, ein abgezogener Tripleextract gewesen, geträufelt auf gemachte Blumen. Er wird nachzuweisen haben, wie eine ganze Phase der neuern Romandichtung zunächst aus den Uebergängen der Romantik in die Ironie hervorging. Tieck's Beispiel voran, nach ihm Immermann, andersbedingter Kräfte, wie Rehfues, Steffens, Heinrich König, Mörike, nicht zu gedenken. Die Bezeichnung der Stelle, wo dann plötzlich ein niederfallender Schlagbaum zu sagen hätte: Bis hieher und nicht weiter! wird nicht fehlen dürfen. Sie muß offen und ehrlich angegeben werden. Bei Immermann´s „Münchhausen“ liegt sie in der Nähe. Bei dem, was in diesem Arabeskenbuche Ernst oder Scherz sein sollte, hat sich der kritische Feldmesser anzusiedeln, seinen Meßtisch aufzuschlagen und die Visire zu richten. Denn hier beginnen die Scheidewege des Modernen und der noch zurückgebliebenen - romantischen Flunkerei.

Sie wünschen mein Urtheil über Levin Schücking’s Schloß Dornegge oder der Weg zum Glück. Roman in vier Bänden“ (Leipzig, Brockhaus) zu haben. Der Verfasser ist ein liebenswürdiger, vielseitig unterrichteter, höchst weltgebildeter Autor, der sich schon in mannigfacher Weise um unsere Literatur verdient gemacht hat. Bei seinen Romanen aber vertritt er durchaus jene Romantik, die nach meinem Dafürhalte hinter uns liegt. Nicht etwa, daß wir ihm auf jenen Wegen noch begegneten, wo einst Novalis seinen Heinrich von Osterdingen „die blaue Blume“, jene wunderbare Verheißung im Geschmack des heiligen Graal, suchen ließ, auf Wegen, die noch unser vor Kurzem von unsäglichen Leiden erlöster Julius Mosen mit so behaglichsicherem Schritt und träumerisch- sorglos wandelte - im Gegentheil, Levin Schücking ist geradezu bei den Franzosen allerjüngsten Datums in die Schule gegangen. Er hat verstanden, sich einen Ruf „beliebter Erzählerschaft“ zu begründen, ganz, wie ihn nur ihre Ponson du Terrail und andre Matadore ihres Feuilletons genießen. Er greift in's volle moderne Leben hinein, hat Paris, Rom, Neapel gesehen, versteht sogar die Sprache der Börse. In diesem seinem neuesten Roman läßt er den großen belgischen Dr. Stroußberg, den päpstlichen Grafen Langrand Dumonceau, der die österreichische Finanzschuld aus seinen Beutel hatte übernehmen und den Nächten des Doctor Brestel in Wien den süßesten Schlummer garantiren wollen, persönlich auftreten, und nach allen Richtungen hin glaubt man bei ihm die Personen und Zustände des Tages und vorzugsweise das Leben auf den Schlössern und Höfe Westphalens mit Händen greifen zu könne. Er setzt, was er berichtet, lebhaft in Scene. Wenn es wahr ist (und wenn es wahr ist, wäre es „ schade“, wie Polonius sagt), daß unsere Lesewelt keine andere Darstellungsform mehr genießen mag, als Dialog, so besteht der vorliegende Roman fast nur aus Dialog. Man glaubt zuweilen in ein Handbuch der Conversationsprache zu blicken.

Die vorliegende Erzählung ist die Combination eines gebornen Märchenerzählers. Würde Levin Schücking diese Geschichte von einer Millionärstochter, die durch einen unwiderstehlichen Hang zu persönlicher Charakterbewährung in die Ferne getrieben und Hauslehrerin wird, dabei eine Cassette mit einer halben Million, theilweise in baarem Gelde, mit sich trägt, um dieselbe Personen zu übergeben, die durch einen letzten Willen des auf dem Berge Athos in Griechenland als Einsiedler verstorbenen Barons von Nesselbrook die wahren Erben seines großen Vermögens und des Schlosses Dornegge sein sollen, würde er sie, sage ich, in die Sprache der Tausend und Eine Nacht oder der Märchen der Gebrüder Grimm übersetzen, so würde sie eine allerliebste Wirkung hervorbringen. Der alte Nesselbrook wäre dann unbeschadet der Eigenschaften die ihn als eine geistreiche Charakterzeichnung des bekannten Freiherrn von Harthausen und einen Geistesbruder des von mir in meinem „Zauberer von Rom“ geschilderten „Onkel Levinus“ erkennen lassen, gleichsam „der Alte vom Berge“, der „Hüter des großen Schatzes“ sein, während „Saladin erst den kleinen verwaltet“, ein Derwisch gewordener großer Emir der Wüste. Die Tochter des belgischen Dr. Stroußberg wäre dann eine Sultanstochter, die sich vor einem Dämon der Hölle, hier Baron Jauffroi von Montenglaunt geheißen, zu retten sucht, dabei aber das Schicksal erleben muß, immer wieder andere Abgesandten der unteren Mächte, vielleicht wegen einer alten Verfeindung derselben mit ihrem Papier statt Gold in die Welt einführenden Vater, in die Hände zu fallen, von welchen Freiern zwei sogar tödlich verwundet werden von einem Abgesandten des hehren Geistes Ormuzd, des Lichtregierers. Durchaus märchenhaft ist jener Schuß eines Barons Dankmar auf eine Gruppe, wo die Sultanstochter mit einem andern der Abgesandten Ahrimans, dem Baron Beltram, auf einer einsamen Insel im Verzweiflungskampfe ringt. Es ist ein Schuß, märchenhaft wie der Schuß des Tell. Denn wie leicht hätte auch der schwirrende Pfeil (im Buche steht die Flintenkugel) die Heißgeliebte (und Dankmar ist der Auserwählte) bei diesem Ringen und Sichentwinden treffen können! Dankmar muß entfliehe. Aber die Sultanstochter telegraphirt (im Märchen würde ein abgerichteter Falke oder eine Taube diese Botschaft übernommen haben), es sollte ein im Hafen von Antwerpen zu jeder Stunde für ihren Vater bereitliegendes Dampfboot (sinnig, weil an Prospero, den Beherrscher der Wellen und Stürme, erinnernd, die „Miranda“ genannt) sich sofort rüsten, den von Steckbriefen verfolgten Freund aufzunehmen und als alleinigen Passagier nach Neapel zu führen. Auf dem Schiff läßt ihn dann die Sultanstochter (allerdings ist das ein Rückfall wieder in die Welt Goethe's und Varnhagen’s) einen gesammelten Briefwechsel entdecken aus welchem dem Freunde ihre wahre Herkunft ersichtlich werden soll. Die Scene jedoch, wo Baron Jauffroi, der inzwischen auf dem Berge Athos die vermißte Originalurkunde jenes Testaments des Alten vom Berge gefunden hatte (mit einem Dutzend internationaler Poststempel und als noch uneröffnetes Postpaket), jenen Briefwechsel mit Dankmar gegen diese Originalurkunde austauschen will und darüber mit dem hartnäckigen Verteidiger des Briefwechsels in eine Rauferei gerät, die zuletzt mit wiederum [382] beinahe tödtlich werdender, aber durch eine reisende Theatersoubrette (sagen wir eine ihrer Erlösung durch einen Gott harrende Bajadere) geheilten Verwundung des Lichtprinzen Dankmar endigt, das alles ist nur verständlich, ja nur als menschenmöglich denkbar, wenn man diese Geschichten unter die Abenteuer Sindbad’s verlegt oder auf die Insel Barataria. Dann ist jenes Testament etwa ein Wünschelhut, geschenkt von einem Zauberer, und der Briefwechsel ist der seidne Pantoffel, den die Geliebte der beiden wüthenden Nebenbuhler getragen hat. Dann allein versteht man die leidenschaftlichen Scenen auf der fashionabelsten Straße des heutigen Neapel, jenes: „Schäumend vor Wuth hielt Jauffroi die Hände über die Brust gekreuzt“ – oder: „Dieses Testament, welches hier in meiner Brusttasche steckt, übergebe ich Ihnen als Preis für Eugeniens Briefe! Wählen Sie!“ Dankmar kämpfte mit sich. Endlich rief er: „Nein! Nein!“ Hierauf Ueberfall, Stiletstich – und zwar von der Hand eben jenes schwarzen Emirs, den einst in Westphalen auf der Insel der schwirrende Tellpfeil getroffen hatte, ohne daß er jedoch davon gestorben und ohne daß Eugenie selbst dabei verwundet wurde. Und die Bajadere ist es, die Dankmar’n heilt und pflegt. Warum gerade sie? Es ist der Dank für einen Nothpfennig, den ihr einst Eugenie anonym zugesendet hatte, als Fanny (also lautet ihr Name) in einem westphälischen Provinzialstädtchen bei einer reisenden Schauspielertruppe einmal wieder vor Schulden nicht weiter kommen konnte. Letzteres allerdings ein modernes Motiv. Aber wie handhabt es unser Dichter? Das Mädchen aus der Fremde, eben jene Eugenie Stroußberg, zieht einen Papierstreifen aus jener verhängnißvollen Cassette, womit sie gereist war (sie trug sie immer bei sich wie ihr Reisealbum), und schreibt darauf: „Ordre Fanny N. N. Gut für –“ Ja, jetzt rathen Sie, liebe Freundin! Nicht wahr, gut für fünfundzwanzig bis dreißig Thaler? Doch schon ein beinahe fürstliches Almosen für eine Eugenien völlig unbekannte vagirende Schauspielerin? Nein, meine Theure, wir leben eben in Deutschland und doch noch im Lande der Märchen und doch noch unter den Dichtern der Romantik! Sie schreibt: „Gut für – dreißigtausend Franken!“ Ebenso griff Fortunatus, Prinz von Famagusta, niemals in seinen Wünschelhut um Bagatellen.

Wir sind für heute zu Ende. Merken wir uns den Thatbestand, daß der sogenannte moderne „Realismus“, z. B. die zum Nasenzuhalten duftende Schilderung der Milch- und Käsebereitung oder der Düngerfreude bei Jeremias Gotthelf als Arznei gegen eine solche Welt der Phantasmen eine große Berechtigung hatte. Levin Schücking aber, der Fleißige, Vielgewandte, er vergebe mir, wenn ich ihm ein allzuleichtes Handhaben reiner Unwahrscheinlichkeitsfiguren vorgeworfen. Die Schuld, daß ein so geistvoller, unterrichteter, in der Regel vom feinsten Herzenstact geleiteter Dichter seine Leser gleichsam in eine dunkle Kammer einladet, dort einen zinnernen Teller voll Spiritus anzündet und uns in seinen Romanen und Novellen blaue Wunder vorführt, trägt eben die Romantik, die sich bei ihm und bei manchem Andern und bei manchem, der sich sonst klug und dichterisch neunmalweise dünkt, in ihrem äußersten, dem Verglimmen und Erlöschen nahen Stadium wirklich noch länger erhalten hat, als dem an sich einst so schöngewesenen, so tief in unsere Cultur- und Nationalentwickelung eingedrungenen Kunstprincip des Romantischen zu gestatten ist. Widersprechen Sie aber bei Alledem, wenn uns die Franzosen, auch die Engländer, durchaus noch für ein Volk von Träumern und Nachtwandlern halten wollen! Wir sind es – ach ja! ich zeigte es Ihnen an dem trefflichen, vielbeliebten Levin Schücking – aber wir wollen es ihnen nicht verrathen.*[1]

  1. * Mit dieser Beurtheilung Schücking’s dürfte der berühmte Verfasser obiger Briefe bei den Lesern unserer Zeitschrift doch auf einigen Widerspruch stoßen. Schücking’s Erzählungen in der Gartenlaube mit ihrer reichen Erfindung und ihrer eleganten realistischen Durchführung sind stets mit Enthusiasmus aufgenommen und, was mehr als alles Andere für sie spricht, ohne Ausnahme dramatisirt worden. Das geschieht sonst bei Geschichten voller „blauer Wunder“ in der Regel nicht. D. Red.