RE:Gegeneis 1

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Beiwort der Giganten und Epitheton von Heroen: bodenständig, urwüchsig
Band VII,1 (1910) S. 929931
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Gegeneis (Γηγενεῖς). 1) I. Ursprünglich ein insbesondere der gehobenen Sprache der attischen Tragödie geläufiges, prägnantes Beiwort der Giganten (Soph. Trach. 1058ff. Eurip. Ion 987ff. Kirchh.; Phoen. 127ff. 1130ff. Batrach. 6f. Lykophr. 42f.) und einiger anderen mythologischen Wesen verwandter Art, wie der Aloaden (s. Bd. I S. 1591), der Sparten (Eurip. Bacch. 263f.; Iph. Aul. 259f.; Herc. fur. 794ff.), des Argos (s. Bd. II S. 791), des Orion (Apollod. I 25; vgl. Euphor. frg. 108 bei Schol. Il. XVIII 486), des Typhon (Aesch. Prom. 355ff. Kirchh., vgl. Hesiod. Theog. 821). Schon bei Aristophanes (Av. 823ff., vgl. Nub. 852f.) wird es aber substantivisch gebraucht und bezeichnet die Giganten schlechthin (vgl. auch Anth. Pal. XIV 148. Lykophr. 1407f. Diod. III 62. Orph. Argon. 17f. Nonn. XLII 202. Clem. Alex. Protr. II 20, 2 St.). Der mythisch-genealogische Sinn, wie er für Tityos in dem Homerischen Γαιήιος υἱός (Od. VII 324, vgl. XI 576 und die ionischen Denkmäler archaischer Periode Ann. d. Inst. 1842 tav. U und Mon. d. Inst. II 18) zu Tage tritt, ist wohl als der primäre aufzufassen, wenn auch ziemlich früh die später mit dem Worte allgemein verbundene Vorstellung von primitiver Wildheit und Hoheit der Sitten sich geltend macht (vgl. das Sophoklesfragment TGF4 302, frg. 724: γηγενῆ βούπαλιν, Ellendt Lex. Soph. s. γηγενής. Pind. Pyth. VIII 13ff.; vgl. den Art. Giganten). Daß mit dem Begriffe der als γ. bezeichneten Giganten die Vorstellung des Riesenhaften auch verknüpft wurde, wird von Diodor (VI 21, 7) ausdrücklich bezeugt: μυθολογοῦνται οἱ γίγαντες γηγενεῖς γεγονέναι διὰ τὴν ὑπερβολὴν τοῦ κατὰ τὸ σῶμα μεγέθους, vgl. Apollod. I 25 (von Orion): τοῦτον γηγενῆ λέγουσιν ὑπερμεγέθη τὸ σῶμα (vgl. Pind. Isthm. III 67).

Die oben als γ. bezeichneten mythologischen Gestalten, die unzweifelhaft alle als Riesen gedacht wurden, können dieser allgemeinen These als Proben auf das Exempel dienen.

In seiner gründlichen Arbeit ,Die Giganten in der antiken Sage und Kunst‘ 27ff. hat Max. Mayer die nahe Beziehung zwischen den mythologischen Begriffen der γ. und γίγαντες einleuchtend dargelegt. In seiner weiteren diesbezüglichen [930] Auseinandersetzung sucht er aber auch eine Differenzierung der beiden Begriffe zu begründen, die kaum durchführbar sein dürfte: teils habe man die ,erdentsprossenen‘ ersten Menschen als Ahnen geehrt und als Heroen gefeiert, d. h. als autochthone Γ. (s. u. 2.): teils habe man sie ,in eine graue, der eigenen Stammesgeschichte vorausliegende Vergangenheit zurückgedrängt und in die phantastische Form eines fabelhaften Riesenvolkes gekleidet‘, die Γίγαντες der griechischen Sage. Aber abgesehen davon, daß der Annahme eines gemeinsamen Ursprungs der Vorstellungen von den ,als Ahnen verehrten Autochthonen‘ und der Sagen von ,dem fabelhaften Riesenvolke der Giganten‘ schwere Bedenken entgegenstehen, wird der von Mayer geltend gemachte Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Begriffen γ. und γίγαντες von den oben angeführten Tatsachen widerlegt. Auf Grund der antiken Zeugnisse können die Giganten ebensogut als γ. angesprochen werden, wie die autochthonen Ahnenheroen. Die Differenz zwischen den Begriffen γ. und γίγαντες liegt eben in dem Umfange: alle Giganten waren γ., aber alle Γ. waren nicht Giganten.

Eine besondere Gattung der ,erdgeborenen‘ Giganten werden die von Apollonios Rh. (Arg. 936ff.), wahrscheinlich nach dem Logographen Herodoros von Heraklea, auf dem Ἄρκτων ὄρος in der Gegend von Kyzikos lokalisierten Γ. gewesen sein (Schol. Apoll. Rhod. Arg. I 943, vgl. Mayer Gig. 125ff. Knaack Comment. Phil. Gryph. 1887, 41. De la Ville de Mirmont La mythol. dans les Argon., Paris 1894, 36ff. Tümpel Phil. N. F. X 342. Knorr De Apoll. Rhod. Argon. font., Diss. Lips. 1902, 30ff. Gruppe Griech. Myth. 316f. 436f.). Der Logograph Deilochos von Prokonnesos bezeichnet sie als ἐγχειρογάστορες (frg. 5, FHG II 18 aus Schol. Apoll. Rhod. I 989, vgl. den Art. Encheirogastores).

II. Den autochthonen Charakter bezeichnendes Epitheton einiger Heroen: des Erechtheus, seines Doppelgängers Erichthonios (vgl. die betr. Art.) und Pelasgos (Aesch. Hik. 250f., vgl. PLG III4 712f. frg. ad. 84), sowie der tritonischen oder libyschen Athena (Diod. III 70. vgl. Gruppe Griech. Myth. 1212, 2). Daß hier das im 5. Jhdt. zu politischen Zwecken vielfach ausgenützte Dogma von dem Autochthonentum der Athener (vgl. Herod. VII 161. Eurip. frg. 360, 5 N2. Thuk. I 2, 5. II 36, 1. Isokr. Paneg. 24f.; Panath. 124f. Plat. Menex. 237 B) mit hineingespielt haben mag (vgl. Hek. frg. 366 M. im Etym. M. s. γέγειος), dürfte eine nicht zu kühne Vermutung sein. Der Eponymos der Pelasger wird die Eigenschaft des Erdgeborenseins einer ähnlichen Anschauung zu verdanken gehabt haben (vgl. Kretschmer Glotta 17). Die angeführte Diodorstelle ist ein nicht ganz einwandfreies Zeugnis (vgl. Bethe Quaest. Diod. 27ff. Ed. Schwartz o. Bd. V S. 673ff.) und bleibt deswegen in diesem Zusammenhang lieber aus dem Spiel.

Die Ansicht v. Wilamowitz' (Eurip. Herakl. I2 43), daß die Knechte und Hörigen des Adels während des griechischen Mittelalters im Gegensatz zu den διογενεῖς als γ. bezeichnet worden seien, ist nicht zu belegen, vgl. Ed. Meyer Gesch. d. Altert. II § 203 A; Forsch. II 524, 1.

Die Grundbedeutung, die der gemeinsamen [931] Benennung der beiden Kategorien von γ. unterliegt, scheint die auch etymologisch nächstliegende von Bodenständigkeit und Urwüchsigkeit zu sein.

Die allmählich fortschreitende Kultur hat bei erwachender Reflexion einerseits die zum mythischen Ausdruck hindrängende Vorstellung von ihrem Gegensatz zu dem Urzustand der Menschheit und andererseits das Bewußtsein von der Abhängigkeit der menschlichen Gesellschaft jeder beliebigen Kulturstufe von der Natur erzeugt.