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ADB:Meyr, Melchior

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Artikel „Meyr, Melchior“ von Johann August Ritter von Eisenhart in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 21 (1885), S. 650–660, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Meyr,_Melchior&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 10:20 Uhr UTC)
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Band 21 (1885), S. 650–660 (Quelle).
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Meyr: Melchior M., Dichter und Philosoph, geb. am 28. Juni 1810 zu Ehringen, einem zwischen der früheren Reichsstadt Nördlingen und dem Residenzorte Wallerstein gelegenen Dorfe; † am 22. April 1871 zu München. – Sein Vater, ein einsichtsvoller ungewöhnlich gebildeter Landmann, der mit den Seinigen von den Erträgnissen eines bescheidenen Anwesens lebte, – war den Wünschen des begabten Sohnes nach höherer Ausbildung nicht abgeneigt, und so kam der kleine Melchior nach einer mit der Dorfjugend froh verlebten Kindheit in die Lateinschule nach Nördlingen, wo er das väterliche Wohlwollen mit glänzenden Fortschritten vergalt. Hierauf besuchte er die Gymnasien zu Ansbach, dann zu Sanct Anna in Augsburg; und bezog 1829 im Alter von 19 Jahren, die Münchener Hochschule. Der Naturphilosoph Oken und der Philologe Thiersch fesselten den Studiosus des ersten Jahres am meisten; im zweiten übten Schellings Vorträge durch ihre scharfsinnigen Begründungen und Unterscheidungen großen, nachhaltigen Einfluß; Schelling war der richtige Führer zu den Idealen, welche dem Jünglinge vorschwebten! Zugleich lernte M. den später in Schwetzingen verstorbenen Naturforscher Karl Schimper kennen, einen Mann von seltener Begabung, welcher in lebensvoller Ergänzung der Universitätsstudien einen Kreis strebsamer junger Männer um sich versammelt hatte. Ihm verdankt der strebsame Schüler nach seinen eigenen Worten „neben dem philosophischen Lehrer die fruchtbarste Anregung für sein ganzes Leben“. In freien Stunden versenkte sich M. mit wachsendem Interesse in das Studium unserer Classiker, besonders Goethe’s und in eigene dichterische Versuche. Eine Auswahl letzterer (lyrisch-idyllische Gedichte) „möglichst sauber copirt“ mit einer Darstellung seiner „Ideen und Projecte in Bezug auf Weiterführung der deutschen Poesie“ sandte er „in einer Art heroischen Taumels“ Ende des Jahres 1831 an Goethe. Eine ähnliche Darstellung hatte Schelling kurz vorher ziemlich lau und ablehnend aufgenommen. Von Goethe aber erhielt „der junge muthige Mann“ zu seiner namenlosen Freude unterm 22. Januar 1832 ein sehr wohlwollendes, das jugendliche Streben ermunterndes eigenhändiges Schreiben, eines der letzten des Altmeisters († 22. Mai [651] 1832), welches der Empfänger noch in späten Jahren als kostbares Andenken in hohen Ehren hielt … Ein minder günstiger Stern waltete über seinem Erstlingswerke: „Wilhelm und Rosine, ländliches Gedicht in 8 Gesängen“ (1835), das, ziemlich breit angelegt, vor Auerbachs Dorfgeschichten in der nach Hermann und Dorothea beliebten hexametrischen Form Leben und Fühlen der Rieser Bevölkerung recht anschaulich wiedergibt. Nach langem dreijährigen Suchen an verschiedenen Orten fand sich endlich ein Münchener Buchhändler, welcher das Epos – ohne Honorar verlegte. Trotz mancher Schönheiten gewann das Buch keinen Leserkreis, und war bald vergessen. – Mittlerweile hatte sich M. mit einem Medicin studirenden Freunde im Sommersemester 1832 nach Heidelberg begeben, um dort nach Goethe’s Rath sich der Rechtswissenschaft zu widmen … Der angehende Rechtscandidat besuchte die belegten Collegien gewissenhaft, schrieb in denselben auch fleißig nach, aber das neue Studium übte auf ihn keine Anziehungskraft; sein Herz gehörte wie ehedem der Dichtkunst, und so löste er trotz Goethe die Vernunftehe mit Frau Justitia und eilte mit freudigem Ungestüm in die Arme der ersten Liebe, der Poesie! Der Gedanke der Beamtenlaufbahn wurde mit dem Plane eines Universitätslehrers für Aesthetik und Litteraturgeschichte vertauscht. – In diesem Sinne setzte der Dichter mit Zustimmung des anfänglich ungehaltenen Vaters die Studien in München fort, und erwarb im Wintersemester 1835/36 den Grad eines Doctors der Philosophie. – Kurz nach dem Erscheinen von „Wilhelm und Rosine“ hatte er ein Exemplar an Friedrich Rückert gesandt, auf den er durch Schimper aufmerksam geworden war. Rückert dankte umgehend (den 18. Mai 1835) und es entspann sich ein lebhafter Briefwechsel, der immer wärmer im Tone wurde, eine je größere Uebereinstimmung in litterarischen Fragen zu Tage trat, weßhalb bei M. im Spätherbste 1836 der Entschluß reifte, mit dem gefeierten Sänger unmittelbar zu verkehren, welcher Entschluß durch Uebersiedelung nach Erlangen sofort zur Ausführung kam, nachdem M. schon früher zu Rückerts voller Befriedigung dessen „Bruchstück eines Lehrgedichtes“ im Stuttgarter Morgenblatte besprochen hatte. – Die Umgangsform beider Männer könnte man als eine „peripatetische“ bezeichnen, weil sie ihre Gespräche über eigene und fremde Leistungen, über die deutsche Poesie, deren Ziele und Aehnliches auf den nachmittäglichen Spaziergängen zu führen pflegten. War auch Rückert’s Urtheil ziemlich einseitig, da er bloß Goethe gelten lassen wollte, und gegen Platen wie Uhland als Nebenbuhler eine Voreingenommenheit nicht überwinden konnte, so zog doch der jüngere Dichter aus diesem Umgange manche Belehrung und reichlichen Nutzen. Aus jenen Erlanger Bestrebungen gingen die im September 1837 bei Heyder erschienenen „Poetische Richtungen unserer Zeit“ hervor, mit einem litterarischen Glaubensbekenntnisse in Vor- und Nachwort, gediegene, kritisch-ästhetische Besprechungen über Heine, Platen, Rückert, Uhland und das junge Deutschland, und hat Meyr’s Auffassung jener Dichter hinwiederum eingehende Abhandlungen von Seite Sallets und Feuchterlebens hervorgerufen. Ein volles, genußreiches Jahr war im regen Verkehre mit dem älteren Freunde verflossen, als „die Nothwendigkeit des Lebens“ den jüngeren zwang, diesem persönlichen Umgange zu entsagen. Am 30. October 1837 schieden Beide in herzlichster Weise, ohne zu ahnen, daß in Kurzem ein unheilvoller Bruch ihre guten Beziehungen für immer trüben sollte. In München angelangt, bewarb sich M. um ein staatliches Reisestipendium – als Brücke zur angestrebten Professur, wurde indeß nach mehrfachen Verhandlungen von dem clerical gefärbten Ministerium Abel schließlich wegen unzureichender Mittel abgewiesen. Tief verstimmt über diesen Mißerfolg und über eine hiermit verbundene Unfruchtbarkeit litterarischen Schaffens suchte M. Zerstreuung in Freundes- und Gesellschaftskreisen; er war [652] bei Thiersch und Schelling (in dessen Haus er durch den Sohn Paul eingeführt worden war), gerne gesehen, – als die Störung seiner Beziehungen zu Rückert neue Aufregung im Gefolge hatte. Von Letzterem im Spätjahre 1839 zur Einsendung von Beiträgen für den in Leipzig erscheinenden „Musen-Almanach“ eingeladen, entschuldigte er sich mit Mangel an geeignetem Stoff. Rückert, aus anderen Gründen bereits mißtrauisch, erblickte hierin nur leere Ausflucht, und machte seinem Unmuthe in einem auf M. gemünzten Gedichte (Dichterwald) Luft, dessen Absicht die Eingangsstrophe sattsam kennzeichnet:

„Singst Du etwa bess’re Lieder
Als der Meister? Schäme Dich;
Seines Ruhmes Glanzgefieder
Läßt Dein Flattern unter sich“ etc. etc.

M. schwieg; aber das herzliche Einvernehmen war für immer dahin. Aus diesen unerquicklichen Zuständen wurde er rechtzeitig durch ein Reisestipendium befreit, das ihm sein Gönner Schelling von dem hochherzigen Kronprinzen Maximilian von Baiern im März 1840 mit freier Ortswahl erwirkt hatte. Der dankbar Erfreute entschied sich für Berlin zur Fortsetzung begonnener Goethestudien. Beglückwünscht von Freunden und Bekannten, welche ihm bereits eine glänzende Zukunft vorhersagten, trat er Mitte November 1840 die Reise an, welche er in Nürnberg, Erlangen und Weimar für einige Tage unterbrach. In Erlangen wurde er von Rückert ohne Berührung des leidigen Zwischenfalles gastlich begrüßt; allein weder dort noch in Berlin ließ sich der frühere Zustand wieder herstellen. Rückert, im October 1841 durch Cabinetsordre als Professor der orientalischen Sprachen mit dem Titel eines Geheimen Rathes nach Berlin berufen, war dort wegen Mangels eines ihm zusagenden Wirkungskreises überhaupt stets mißvergnügt. Er war – mit M. zu sprechen, – dort eigentlich nur aufgetaucht, um so bald es anging, wieder unterzutauchen, worauf er aus Neuseß bei Koburg satyrische Reimpfeile wider die Capitale der Intelligenz schleuderte. M. dagegen machte sich mit dem gesellschaftlichen und hoch entwickelten geistigen Leben der Großstadt rasch vertraut; ließ sich dort nieder, und verbrachte von 1840 bis 1852 eine an Eindrücken und Erfahrungen äußerst reiche Periode. – Anfänglich nahm er die akademischen Studien wieder auf; hörte alle nur denkbaren Vorlesungen bei Dönniges, von der Hagen, Marheineke, Neander, bei Ritter, Savigny und Schönlein, auch bei Ranke, Stahl und Jacob Grimm! Daneben schrieb er fleißig Artikel für die „literarische Zeitung“ und den „rheinischen Beobachter“, später auch noch für das Morgenblatt, das Repertorium und die Jahrbücher, wodurch er mit dem späteren Unterstaatssecretär Gruner, mit Bettina, Lachmann, Theodor Mügge, mit Kopisch, Varnhagen, Paul (der sein Bildniß malte), und mit anderen theils hervorragenden, theils einflußreichen Persönlichkeiten in unmittelbare, meist nähere Berührung trat. Auch in Abendgesellschaft verkehrte der gesellige junge Mann gerne, und wurde immer heimischer bei Cornelius, dessen Compositionen er wiederholt, namentlich 1849 in einem längeren Artikel des Morgenblattes „Cornelius und die deutsche Kunst“ besprach. Begeistert von dem großen Meister, der hinwiederum auch ihn hoch schätzte, wollte Letzterer seine Erlebnisse mit diesem als „Erinnerungen an Cornelius“ niederschreiben und „dabei recht seine Liebe zu ihm auslassen“, ist jedoch über den ersten Entwurf nicht hinausgekommen. – Noch öfter fand er sich bei Schelling ein, der im Herbste 1841 gleichfalls nach Berlin gerufen, unseren Philosophen als getreuen Schildknappen betrachtete, dem er sein Mißfallen nicht undeutlich merken ließ, wenn er säumig zu werden schien! Auch von ländlichen Ausflügen und einer größeren Fahrt nach Rügen erzählen die zu jener Zeit sorgfältig geführten Tagebücher. Da wurde mit befreundeten Familien [653] geplaudert, gescherzt, getanzt und bei Gesellschaftsspielen zugleich der Reiz der Natur und des Umgangs genossen. Dazwischen wurde er zum Festordner erkoren, worauf er sich trefflich verstand.

Trotz solch’ heiterer Außenseite zieht sich durch die Tagebücher wie ein rother Faden die stete Klage wegen des Kampfes ums Dasein. Die Quelle der Mäcene versiegte allmählich, das Recensentenhonorar floß spärlich; denn M. arbeitete langsam, weil er sehr gewissenhaft arbeitete. Wiederholt tauchte die Vision auf, „einem Leben ein Ende zu machen, welches sich in Ehren kaum fortsetzen ließ“. Allein unser Dichter besaß Jugendsinn und elastischen Humor; in munterer Abendgesellschaft vergaß er bald die Noth des Tages. Das Vielen unheilvolle Jahr 1848 war ihm ein heilbringendes. M. war eigentlich kein Politiker; seiner idealen Natur sagte die philosophische Speculation weit mehr zu als die nüchternberechnende des Politikers; er gesteht offen: „Die Fragen der Religion und Philosophie sind und bleiben mir wichtiger als alle Politik!“ Zu ihr führte ihn lediglich die Ungunst seiner Lage. Am geschichtlich Ueberlieferten und Bestehenden festhaltend, erkannten ihn die bedrohten Träger der Staatsgewalt als befreundetes Element; seine Feder war gesucht, geschätzt und gut bezahlt; mit der Einnahme stieg auch das Ansehen. Das Gebot rascher Mittheilung machte ihn zum gewandten Stilisten, und ist die Zahl der von ihm verfaßten Leit- und Correspondenzartikel eine erstaunlich große. Allmählich wurde jedoch der etwas schwächliche Mann solcher an sich aufregender und durch viele Nachtarbeiten aufreibenden Thätigkeit müde; im October 1849 beschleicht ihn das Gefühl, daß man die Politik nun aufgeben müsse, und er kehrte schrittweise zur früheren Thätigkeit zurück, welche er nie ganz aus den Augen verloren, da er regelmäßige Theaterkritiken schrieb, welchen ihr ästhetischer Gehalt innern Werth verlieh.

1852 erschien der ursprünglich für die Bühne bestimmte „Hans von Sickingen“, in welchem die strenge Beobachtung der geschichtlichen Treue der dramatischen Wirkung Eintrag thut. Was der Dichter bei dessen Entstehung und Prüfung von Seite der Theaterintendanz, der Schauspieler und Dritter erfuhr, hat er in poetischer Freiheit recht anmuthig in der Novelle: „Die zweite Liebhaberin“ geschildert, in welcher die verschiedenen Charaktere mit feiner psychologischer Empfindung gezeichnet sind. Wenn der wissenschaftliche Dialog hier, – wie in den meisten Romanen und Novellen des Verfassers gegenüber der einfachen Handlung überwiegt, so beruht dies in der doctrinären Richtung des Schriftstellers, welche durch dessen Vorliebe für Kunst und Philosophie begünstigt wurde.

Dem „Sickingen“ folgte die mehrfach dramatisch behandelte „Agnes Bernauer“, welche von Schelling und Alex. v. Humboldt warm empfohlen, am 29. März 1852 im Berliner Schauspielhause, dann zu München, auf dem Burgtheater in Wien und auf mehreren deutschen Provinzialbühnen unter dem Titel: „Herzog Albrecht“ oft und beifällig gegeben wurde. Nach der ersten Aufführung hat der Dramaturg den letzten Act, welcher nach dem Tode der Agnes spielt, umgearbeitet, um nach den vorangehenden erschütternden Katastrophen den Schluß noch wirkungsvoller zu begründen, ohne daß ihm dies völlig gelungen wäre.

Unter fortgesetzter fleißiger Arbeit hatte M. fast unvermerkt das 40. Lebensjahr überschritten; es war hohe Zeit, den häuslichen Heerd zu gründen, den er in München aufschlagen wollte. An Stelle flüchtiger Bekanntschaften war eine tiefgehende Neigung getreten, welcher sich der gemüthvolle Bewerber mit Innigkeit hingab; – er wurde schweigend abgewiesen. – Solche Ernüchterung war bitter und niederschlagend; sie beschleunigte den Entschluß der Rückkehr in die [654] Heimath. Anfangs September 1852 finden wir den schwer Verstimmten zu Ebermergen im Ries bei seinen Verwandten; dann zog es ihn muthmaßlich wegen Aufführung des „Herzog Albrecht“ nach München, wo er von nun an mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tode (1871) lebte. M. war in seinen Gedanken noch immer lebhaft mit dem Fehlschlagen seines Lebensplanes beschäftigt; so entstand allmählich die einige Jahre später (1864) im Buchhandel erschienene zweibändige Novelle: „Ewige Liebe“, welche in theilweiser poetischer Umbildung seine damaligen Erlebnisse und Empfindungen wiederspiegelt. Der Entstehungsgrund des Buches legt das besondere Hervortreten der Persönlichkeit des Dichters nahe und rechtfertigt in den trefflich gearbeiteten Dialogen das Vorherrschen ethisch-philosophischer Betrachtungen.

In München führte M., zum Theil durch seine schwankende Gesundheit genöthigt, ein äußerst regelmäßiges, gleichförmiges Leben. Der Vormittag gehörte bis 1 Uhr ernster Arbeit und liebte der Schriftsteller nicht, in dieser gestört zu werden. Nach einfachem Mittagessen in einem Speisehause trank er mit Bekannten Kaffee und unternahm dann meist auf den Isarhöhen, jener reizenden Schöpfung Maximilians II., einen längern Spaziergang. Nach 5 Uhr war der fleißige Schriftsteller wieder am Arbeitstische, den Abend verbrachte er lesend und ging, wenn er zu Hause blieb, frühzeitig zu Bett. Bisweilen besuchte er das „Krokodil“, wo er mit den Münchener Dichtern (Heyse, Hertz, Lingg, H. Schmid, Reder etc.) verkehrte, an Mittwochen die „Zwanglosen“, eine aus höheren Berufskreisen bestehende Herrengesellschaft, deren Feste er gleich Kobell mit munteren Dichtungen belebte; manchmal verbrachte er die Winterabende bei bekannten Familien: bei Dr. Cordes, bei Rob. v. Hornstein, dem genialen Liederdichter, bei Moritz Carriere, der ihm zufolge übereinstimmender Anschauungen näher getreten war, und selbst nach Meyr’s Tode hingebend manche Freundesdienste leistete.

Bisher war M. zwar nicht ausschließend, aber doch vorwiegend „receptiv“ gewesen; von nun an, also in verhältnißmäßig vorgeschrittenem Alter begann er eine fruchtbare litterarische Thätigkeit, weshalb seine Werke insgesammt das Gepräge der Reife und männlichen Ernstes an sich tragen. Zunächst sind die „Erzählungen aus dem Ries“ (1856) zu verzeichnen (Ludwig und Annemarie; Die Lehrersbraut; Ende gut, Alles gut), nebst den „Gesprächen eines Grobians“ die gelungenste Arbeit, durch die M. in der erzählenden Litteratur rasch einen angesehenen, weit verbreiteten Namen erwarb. Ermuthigt durch solchen Erfolg ließ er 1860 zwei „Neue Erzählungen aus dem Ries“ folgen (der Sieg des Schwachen; und Regina), dem er noch „Gleich und gleich“ anreihte. Die dritte Auflage (1870) wurde um einen Band (den vierten) vermehrt, dessen erste Erzählung „Der schwarze Hans“ (1867 mit anderem Schlusse in der „Wiener Presse“ mitgetheilt) einen Don Juan auf dem Lande vorführt, indeß die zweite Novelle „Georg“ einen charaktervollen jungen Menschen schildert, der ohne Aufgeben des bäuerlichen Lebens siegreich der Bildungssphäre zustrebt. In „Georg“ finden sich Anklänge an das elterliche Haus, die darin vorkommende Verlobungsgeschichte ist die der Eltern des Verfassers, getreu nach des Vaters eigenen Aufzeichnungen wiedergegeben.

Die Rieser Erzählungen sind Dichtungen von bleibendem Werthe, in den einen werden wir durch die Tiefe und Fülle des Gemüths, in den andern durch humoristische Scenen oder feine Charakteristiken angezogen; durchweg aber fesselt gleichmäßig die so lebensvolle, realistische Darstellung in echt künstlerischer Form, doch bekennt M. in einem unbewachten Augenblicke, daß „die Rieser Bauern in seinem Herzen und Kopfe wol ein wenig besser, angenehmer und interessanter [655] geworden sind, als sie in Wirklichkeit sein mögen!“ Karl v. Enhuber (Bd. VI, 145), einer der geistvollsten Münchener Genremaler, der mit M. die Nördlinger Lateinschule besucht hatte, fand an den Erzählungen seines Jugendfreundes solch’ Gefallen, daß er die älteren zum Vorwurf von 13 Bildern wählte, welche in dem Zeitraume von 1864 bis 1866 entstanden. Der über das Unternehmen hocherfreute Dichter begleitete im Sommer 1864 den Maler auf dessen Studienreise durch die Dörfer und Flecken des Rieses. Es war eine genußreiche Fahrt, von welcher Enhuber mit vollgefüllter Mappe sehr befriedigt heimkehrte. Die photographischen Vervielfältigungen der Bilder erschienen unter dem Titel: „Deutsches Volksleben. 13 Bilder nach M. Meyr’s Erzählungen aus dem Ries“ (Berlin, Grote s. a. fol.), wozu letzterer einen kurzen, erläuternden Text lieferte. Da Enhuber schon am 6. Juli 1867 starb, sind die erwähnten Illustrationen des Meisters letztes, aber auch reifstes Werk; denn er hat durch vorzüglich gewählte Typen das schwäbische Volksleben in einer geradezu vollendeten Weise zur Anschauung gebracht.

Den „Erzählungen aus dem Ries“ folgten 1859 die „Gedichte“ in vier nach des Dichters Lebensgang geordneten Büchern, welche aus thatsächlichen Zuständen als lebendige Organismen geboren in der jetzigen Zusammenstellung rein poetisch-philosophisches bilden, das auf die Lebensfragen der Zeit Licht werfen und die Ideale der Menschheit vor Augen stellen soll“ (Vorrede). Das Buch bringt in buntem Wechsel Gedichte sehr mannichfacher Art, ernste und heitere, weltliche und geistliche. Ausgezeichnet durch Gedankenreichthum sind die Sprüche und epigrammatischen Strophen; von echter Frömmigkeit die religiösen Gedichte; und „Bruder Lustig“ mit Vor- und Nachwort gehört zu den Perlen unserer humoristischen Litteratur. Obwol die Gedichte zu den besten der neueren Zeit zählen, haben sie nicht einmal jene Anerkennung gefunden, welche weit minderen Leistungen zu Theil wurde.

Mit poetischen Arbeiten gingen philosophische Hand in Hand; war ja in M. nach eigener Bemerkung Dichter und Philosoph untrennbar verbunden. 1860 erschien „Gott und sein Reich; Darstellung der freien göttlichen Selbstentwicklung zum allumfassenden Organismus“ (1860), das bedeutendste unter den philosophischen Werken unseres Gelehrten, worin er die Grundzüge seiner metaphysischen Anschauungen und sein religiöses Glaubensbekenntniß niederlegt. M. war ein eifriger Hörer und warmer Verehrer Schellings, demungeachtet gehörte er nicht zu dessen Schülern im üblichen Wortsinne, da er vielfach eigene Bahnen einschlug; so hat er abweichend von Schelling die göttliche Selbstentfaltung, mithin Ursprung und Ende aller Dinge, ohne äußeres Wunder in göttlich-natürlicher Entwicklung dargestellt; dagegen nähert er sich Schelling’scher Offenbarungs-Philosophie, wenn er „Natur, Gemüth und Geist“ – als nothwendige Lebensmomente Gottes – in Gott personificirt und zu drei selbständigen Offenbarungen und Organen des göttlichen Wesens macht. In der Lehre von der Wiedererhebung des Menschen und vom Jenseits (Abschn. VII u. VIII), dann in der Lehre von der Geisterwelt (Abschn. VI) vertritt unser Philosoph theosophisch-mysteriöse Vorstellungen, welche in der Annahme zahlloser, übersinnlicher Einzelwesen (Engel und Dämonen) verschiedenster Rangabstufung bestehen, durch welche Einzelwesen Gott auf die Menschen wirkt, eine Hypothese, welche an Jac. Böhme und Franz v. Bader anknüpft, von welch’ Letzterem ihn hauptsächlich nur dessen katholisirende Tendenz entfernt. Ein Theil der Lehre von der Geisterwelt umfaßt „Die Lehre vom Satan“, der (nach M.) als individuelles Princip der Negation des Guten – zum Heile des Guten von Gott hervorgebracht ist. Sie bildet die schwächste Partie des Buches, deren Bedürftigkeit [656] zur Umarbeitung der Verfasser selbst erkannte. Das wohldurchdachte Werk – entgegen den Pessimisten und Materialisten auf dem Grundgedanken einer von Gott geleiteten, also sittlichen Weltordnung aufgebaut – ist bei seinem Erscheinen auf dürren Boden gefallen. Nicht blos Orthodoxe und Rationalisten, auch Theologen und Philosophen von Beruf haben ihm geringe Beachtung geschenkt, selbst unter den Freunden hat es wenige Freunde gefunden, und der neu gewonnene Verleger meldet aus Stuttgart den äußerst flauen Absatz des Buches. Solche Lauheit war dem Verfasser unbegreiflich; er schrieb in sein Tagebuch: „Man wird später darüber staunen (!), was die Zeit nur angefangen hat, so dumm zu sein, um Werke wie Gott und sein Reich etc. übersehen zu können!“… Um so erquickender waren die günstigen Besprechungen von Johannes Huber (Bd. XIII, 235) und von Carriere. Schließlich tröstete sich indeß M. mit der Bemerkung: „So geht es, wenn man nicht widerlegt werden kann, wird man eben todt geschwiegen!“ Ein paar Jahre später (1863) veröffentlichte er als erläuternde Fortsetzung: „Emilie, Drei Gespräche über Wahrheit, Schönheit und Güte“; außerdem eine Reihe von Aufsätzen, welche das „Deutsche Museum“ gebracht hat; ferner 1869 eine Abhandlung „Ueber die Fortdauer nach dem Tode“, um die es nach berechtigter Meinung der Kritik übel bestellt wäre, wenn keine triftigere Beweisführung möglich wäre. – Nach Herausgabe von „Gott und sein Reich“ ging der Verfasser 1861 zur Erholung in die Heimath, wo er mit großem Geschicke das Material zur „Ethnographie des Rieses“ sammelte, welche, in die „Bavaria“ (Bd. II, Abthl. 2, Abschn. 8) aufgenommen, als Musterstück einer Gau- und Stammbeschreibung gerühmt werden kann; so recht geeignet, die Theilnahme des Lesers an der geschilderten Landschaft und deren Bewohnern wachzurufen. Einer ähnlichen im J. 1864 mit Enhuber durch’s Ries unternommenen Fahrt ist bereits früher gedacht. Neben der philosophischen Production ging die poetische ununterbrochen fort. 1861 wurde „Karl der Kühne, historisches Drama“ (1862) mit günstigem Erfolge auf der Münchener Hofbühne gegeben; Wien und andere Bühnen folgten nach. „Karl der Kühne“ ist durch Form und Gehalt Meyr’s vorzüglichstes Drama, in dessen dankbarer Titelrolle Grunert reiche Lorbeeren errungen hat. Einige Aenderungen nach der ersten Aufführung erhöhten die Wirksamkeit der umgearbeiteten Scenen. Nach Umfluß weniger Jahre erschienen (1858) mit einem Vorworte „Die Gefahr und das Heil des deutschen Dramas“, „Mechthilde, Herrin von Königsfeld“, ein fünfactiges Versöhnungsdrama aus dem 13. Jahrhundert, welches sich durch glückliche Gestaltungsgabe bemerkbar macht; und das Salonschauspiel „Wer soll Minister werden“, das im November 1867 im Münchener Gärtnertheater eine freundliche Aufnahme fand, demungeachtet aber bald vom Repertoire verschwand, was auch ein paar kleinen Lustspielen widerfuhr, welche der wahren komischen Kraft entbehrten.

Die umfassendste Thätigkeit entfaltete unser Schriftsteller auf dem Gebiete der erzählenden Litteratur, auf dem er sich nach seiner Persönlichkeit mit Vorliebe bewegte.

Ein dreibändiger Culturroman: „Vier Deutsche“, welcher die Bewegungsjahre 1848 und 1849 behandelt, verließ im J. 1861 die Presse. Der Autor sucht darin wie Gutzkow in den „Rittern vom Geiste“ die brennenden Fragen der Zeit zu untersuchen und in befriedigender Weise zu lösen. Die Anlage ist durchweg künstlerisch, die Hauptfiguren (unter denen der Autor selbst als der „Poet“ leicht erkennbar) sind gut gezeichnet, die Schilderungen der politischen Vorgänge lebendig. Dagegen macht sich des Dichters Neigung, breit und doctrinär zu werden – besonders in den philosophischen Gesprächen – sehr fühlbar. [657] Sie stören den Fortgang der ohnedies einfachen Handlung, mit der sie in nur losem Zusammenhange stehen, und ermüden trotz musterhaften Inhalts. In richtiger Erkenntniß wollte der Autor die ersten Capitel (Jugendzeit der vier Helden) kürzen und die philosophischen Dialoge zu einem selbständigen Buche verarbeiten, hat jedoch die wünschenswerthe Ausführung später aus den Augen verloren. – Dann folgten (1863) zwei Bände Novellen; die bedeutendste unter ihnen ist die schon erwähnte „Zweite Liebhaberin“, in welche des Verfassers Ansichten über dramatische Kunst und Darstellung gesprächsweise verwoben sind. Auch die übrigen Novellen sind gehaltvoller als die meisten Erzeugnisse heutiger belletristischer Litteratur. M. selbst betont in seinen beachtenswerthen Vorreden, daß seine Erzählungen doch etwas mehr als vorübergehende Unterhaltung, daß sie eine tiefer gehende, wiederholte Betrachtung bezwecken. Er wollte sich und Andere „verbessern und vollenden im Hinstreben nach einem höchsten Ziele der Entwicklung“.

1866 wurde die Lesewelt mit den anonym herausgegebenen „Gesprächen eines Grobian“ überrascht; sie erregten großes Aufsehen und waren schon nach wenigen Monaten vergriffen. Die freimüthigen Urtheile und Ansichten über unsere Zustände und die Gebrechen der Zeit dem originell erdachten „Grobian der Gerechtigkeit“ in den Mund gelegt, sind ebenso witzig und unterhaltend als treffend und wahr, und darin liegt der Grund des allgemeinen Anklanges. Das nächste Jahr brachte den „Grobian“ in vermehrter Auflage; gleichzeitig ein Bändchen mit drei Novellen; das Jahr 1870 den Roman „Duell und Ehre“. Diese Arbeiten, welche das heutige Gesellschaftsleben wiederspiegeln, sind, wie alle Arbeiten unseres Erzählers, von ethischem Gehalte und feiner Gliederung. Letzteres Werk, aus zwei Bänden bestehend, beschäftigt sich mit der vielbesprochenen Duellfrage in Gestalt eines geistvollen Romans, der um so anziehender ist, als die psychologische Begründung des Schlusses in der wissenschaftlichen Kritik eine sehr verschiedene Beurtheilung erfahren hat.

Unter fortgesetzter Arbeit verstrich nach genau geregelter und eingehaltener Tagesordnung das äußere Leben unseres Schriftstellers ruhig und einförmig. Die Sommermonate boten insoweit Abwechslung, als bei drückender Julisonne M. in die Voralpen oder das heimathliche Ries flüchtete; zu größeren Reisen, zu Villeggiaturen in der Schweiz oder an der Seeküste, dazu gebrach es in der Regel an den nöthigen Mitteln. Im Frühjahr 1864 war er ausnahmsweise wegen Aufführung seiner Tragödien nach Wien gegangen. Dort verlebte der Glücksfähige nach seinen Aufzeichnungen von Ende April bis 10. Juni äußerst frohe, genußreiche Tage. Im April 1867 unternahm er einen 14tägigen Abstecher zur Besichtigung der Pariser Weltausstellung. Schweres Herzeleid und schlaflose Nächte verursachte das Jahr 1866. M. wollte an einen Bruderkrieg nicht glauben. Sein Ausbruch, sein für den Süden unheilvolles Ende erfüllte ihn mit Trauer. Wie er sich allmählich mit den Ergebnissen dieses Krieges zurechtfand, ist in der 2. Auflage der „Gespräche mit einem Grobian“ ausführlich zu lesen. Die bedenkliche Zunahme seines leidenden Zustandes führte ihn im August 1867 nach Kissingen; vom 19. dieses Monats bis 20. September 1868 gebrauchte er die Cur zum zweiten Male, leider mit nachtheiligen Wirkungen, da sie sich als verfehlt herausstellte. Mitte August 1870 finden wir ihn auf ärztlichen Rath im Bade zu Reichenhall. Dort folgte er mit gespanntester Aufmerksamkeit den Berichten vom Kriegsschauplatze über die deutschen Waffenerfolge, wobei er wiederholt seine „außerordentliche Freude aussprach, daß er diese große Zeit miterleben durfte“ und pries trotz seinen Schmerzen in einem sehr gelungen volksthümlich gehaltenen Soldatenliede Moltke’s Genie.

[658] „General Moltke! großer Denker,
Planerfinder, Schlachtenlenker,
Wir bedanken uns bei Dir!
– – – – – – – –
– – – – – – – –
Wieder wird man Wunder sehen,
Wenn sie treu zusammengehen,
Deutsche Kraft und deutscher Arm.“ –

Die auf den Besuch von Reichenhall gesetzten Erwartungen zeigten sich leider als trügerisch. Eine am 8. Februar 1871 unternommene ärztliche Untersuchung ergab ein hoch entwickeltes, unheilbares Unterleibsleiden; von da trat unaufhaltbarer Zerfall der Kräfte ein und M. entschlief ruhig am Mittag des 22. April 1871. Sein treuer Freund Carriere und dessen Schwester Bertha empfingen den letzten Gruß des Sterbenden.

M. hatte sich in letzterer Zeit ausschließend mit philosophisch-religiösen Fragen beschäftigt. Der Gedanke, daß Schmerz und Leiden von einem Höheren auferlegt dem davon Betroffenen schließlich doch zum Heile gereiche, verlieh ihm in seiner Krankheit Trost und Stärke. Wenige Monate vor seinem Tode hatte er noch „Die Religion des Geistes“ (1871) herausgegeben, eine in 18 „Reihen“ getheilte Sammlung religiöser und philosophischer Dichtungen, welche auf wissenschaftlichen Erkenntnissen ruhen und einen Beitrag zur Geistesarbeit der Gegenwart bilden; über den eigenthümlichen Charakter dieser Gedichte gibt eine längere „Einführung“ in Prosa und Versen näheren Aufschluß. Ein von denselben Principien beherrschtes Werk: „Vierzig Briefe über die Religion und ihre jetzt gebotene Fortbildung“ befand sich unter der Presse, als der Verfasser starb; Carriere besorgte die Drucklegung des Restes und widmete dem Verstorbenen in der Beilage zur Allg. Zeitung (Nr. 122 Jahrg. 1871) einen warm empfundenen Nachruf. 1874 veröffentlichte dieser mit Meyr’s treuestem Anhänger, dem Grafen Max Bothmer aus dem Rücklasse: „Aphorismen über Kunst, Philosophie und Religion“, welche in 3 chronologische Abschnitte getheilt, als das ästhetisch-philosophische Tagebuch des Verstorbenen betrachtet werden können und in hervorragender Weise zu dessen Charakteristik dienen. Im nämlichen Jahre unternahmen dieselben Herausgeber aus den umfassenden Tagebüchern, den Gedichten und Briefen des Verlebten eine Auslese, welche unter dem Titel „Melchior Meyr. Biographisches. Gedichte etc.“ an die Oeffentlichkeit trat. Neben lyrischen Ergüssen neuerer Zeit (1857–1870) und den „Erinnerungen an Friedrich Rückert“ (1835–1840) enthält das Buch sehr viel Selbstbiographisches, mit reichen ergänzenden Bemerkungen des Grafen Bothmer. Dagegen ist es für Zeit- und Litteraturgeschichte leider belanglos, weil die vielleicht allzu rücksichtsvollen Herausgeber nahezu alle Aeußerungen und Urtheile über Dritte oder persönliche Verhältnisse späterer Verwerthung vorbehielten.

M. besaß einen Charakter von seltener Biederkeit und Treue. Allem Gemeinen und Niedrigen abgeneigt, verfolgte er zielbewußt ein edles, reines Streben. Sein anspruchsloses Auftreten ließ weder jene hochgradige Ueberhebung ahnen, die in den Selbstgesprächen so scharf ausgeprägt zu Tage tritt, noch jene übergroße Reizbarkeit, die er willenskräftig zu überwinden wußte. Gerne gesellig, war er in Gesellschaften auch gerne gesehen, und erwies sich im Umgange gegen Jedermann freundlich und „liebenswürdig“, obwol gerade er letztere Eigenschaft sehr gering schätzte, weil sie im gewöhnlichen Leben falsch gewürdigt, meist nur für „Schwäche“ gelte. Vermöge seines naiven Gemüths hatte sich unser Dichter bis ins Alter eine hohe Genußfähigkeit bewahrt, welche ihn für Alles, auch für die kleinsten Freuden empfänglich machte; das zeigte sich so recht auch bei der [659] Wiener Reise (1864), die Erde dünkte ihm als eine „Art von Paradies“. Sehr genügsam erzogen, kannte er nur wenige Bedürfnisse. Ein Jahresgehalt des Königs Maximilian II., den er im Betrage von 500 fl. seit October 1854 genoß und der, nach des Königs Tod eingezogen, durch einen Ehrensold der Schillerstiftung von 200 Thlrn. theilweise ersetzt wurde, reichte im Vereine mit einem bescheidenen Schriftstellerhonorar zur Deckung des laufenden Budgets. Allerdings gab es in demselben keine Posten für Anschaffung von kostbaren Büchern, von Kunstwerken und derartigen „Luxusartikeln“ … Die eigentlichste Befriedigung fand er in sich selbst, in seinem Denken und Dichten, seinem Thun und Trachten; noch wenige Wochen vor seinem Tode machte er in der Freude geistiger Thätigkeit die bescheidene Bemerkung: „Ich wäre einer der glücklichsten Menschen, wenn ich gesund wäre.“ – M. war Dichter und Philosoph zugleich und behauptet deshalb eine eigenthümliche aber nicht vereinzelte Stellung in der Litteratur, wie er selbst wähnte, denn abgesehen von Lessing und Schiller, welche auch in der Geschichte der Philosophie einen Platz einnehmen, haben sich Hölderlin, Jacobi, Novalis, Sallet und andere Dichter mehr oder minder mit philosophischen Ideen beschäftigt. Allerdings waren bei M. beide Eigenschaften ganz untrennbar und macht die philosophische Seite seines Wesens in beträchtlicher Breite ein Stück seines Lebens aus. Auf diesen Dualismus legte er aber auch den höchsten Werth; „und wenn ich der erste Poet wäre (sagt er in seinen Selbstgesprächen), ich wäre nicht zufrieden damit, ich ziehe vor, auch Philosoph zu sein; denn der bloße Poet ist nicht herrschender Geist genug!“ Diese Doppelbeschäftigung äußerte neben ihren Vorzügen auch ihre Nachtheile, weil der Dichter bisweilen zu sehr Philosoph, und noch öfter der Philosoph zu sehr Dichter war. Indem M. in der Philosophie einen subjectiven Standpunkt einnahm und die Religion mit derselben verband, konnte er nur von Geistesverwandten oder genau Vertrauten, wie dem Grafen Max Bothmer, der „Gott und sein Reich“ einem sechsmaligen Studium unterzog, richtig verstanden werden; aus demselben Grunde sind auch seine Arbeiten auf die Entwicklung der philosophischen Wissenschaft ohne Einfluß geblieben.

Aber auch auf dichterischem Gebiete errang er nur spärliche Lorbeeren, obwol seine Gedichte, die Rieser Erzählungen, Vier Deutsche und die Gespräche eines Grobians bleibenden Werth beanspruchen. Diese Mißerfolge machten ihn jedoch nicht verzagt; er betrachtete sich als dienendes Werkzeug in der Hand eines Höheren, erkoren an der Fortentwicklung der Menschheit mitzuarbeiten; von dieser seiner Mission und deren Bedeutung war er ebenso durchdrungen als überzeugt; des endlichen Sieges gewiß, blickte er mit voller Zuversicht in die Zukunft, ihr vertraute er. Wurde er also wegen Mangels an Anerkennung nicht kleinmüthig, so wurde er durch denselben doch tief verletzt, und je mehr er im täglichen Verkehre mit größter Selbstbeberrschung an sich hielt, desto höher loderte die Flamme des Unmuths im einsamen Poetenstübchen auf! Die in den Tagebüchern niedergelegten Gedanken verrathen eine Selbstschätzung, vielmehr Ueberhebung, welche weder in Meyr’s Werken bemerkbar ist, noch im persönlichen Umgange mit dem so schlichten Manne zu Tage trat. Sie erwecken ein psychologisches Interesse und dienen die Hauptsätze zur erschöpfenden Charakterisirung der ganzen Persönlichkeit. – „Da mich die Welt nicht anerkennt (bemerkt er u. A. in selbstgefälligem Tone), muß ich selber – – – in stolzer Originalität sagen, was Gott durch mich schaffen und thun läßt! Gott will, daß ich in dieser Welt unbescheiden bin! Ich bin’s, zu seiner Ehre!“ – – „Ein Mensch (sagt er anderwärts), der aufs Haar so für die Natur wie für den Geist besorgt ist, und umgekehrt, – – ein solcher gegen beide gleich gerechter [660] Mensch wie ich, ist noch kaum da gewesen. … Ohne meine Arbeiten würden die Menschen des Bildungselementes entbehren! Darum bin ich genöthigt, meine Arbeiten anzubieten und anbieten zu lassen; so kommt die spröde, dumme Welt zu dem, was sie braucht.“ – „Ich denke (fährt er in seinen Betrachtungen fort) an die Nachwelt, die mich recht auffassen wird, da die Mitwelt unechte Arbeiten den meinen vorzuziehen die Gemeinheit hat. Nochmals, noch keine Mitwelt hat in den Werken eines Autors soviel übersehen, wie meine Mitwelt in meinen philosophischen; kaum einem Andern ist die Mitwelt soviel schuldig geblieben.“ – Endlich: „Ich staune zuweilen über meine Fähigkeiten, über die allgemeinen wie über die besonderen, und hege dann ein inniges Dankgefühl gegen Gott, denn alle meine Ideen sind mir nur so inspirirt worden“. Diese und ähnliche Klagen füllen die Tagebücher der letzten Jahre. Ob jenes felsenfeste Vertrauen auf die Zukunft grundhaltig, bleibt zweifelhaft; vom Gesichtspunkte der poetischen Gerechtigkeit ist wünschenswerth, daß eine billig urtheilende Nachwelt dem Denker und Dichter gewährt, was eine mehr dem Scheine zugewandte Mitwelt spröde versagt hat! – Unter den zahlreichen Bearbeitern der neueren deutschen Litteraturgeschichte hat Heinrich Kurz im 4. Bande seines umfassenden Werkes M. am eingehendsten beurtheilt und ihn als Dichter bezeichnet „welchen wir bei Betrachtung seiner Dichtungen auch persönlich lieb gewinnen, weil uns aus denselben nicht blos ein großes Talent, sondern auch ein edler Charakter entgegentritt“ (a. a. O. S. 840). Ein Brustbild Meyr’s (Holzschnitt) ist in Nr. 1273 des 49. Bandes (Jahrg. 1867) der „Illustrirten Zeitung“ einem Artikel Carriere’s beigegeben. – In den schattigen Anlagen vor dem Deininger Thore zu Nördlingen errichteten auf hübschem Sockel von röthlichem Sandstein Freunde und Anhänger des Verstorbenen dessen von Konrad Knoll sehr glücklich ausgeführte Erzbüste, welche am 11. August 1873 enthüllt wurde. – Ein ziemlich vollständiges Schriftenverzeichniß mit kurzer Lebensskizze bei Bornmüller, Schriftstellerlexikon S. 490, und besonders bei Brümmer, Dichterlexikon Bd. II, S. 41 ff.

Melch. Meyr, Biographisches. Briefe. Gedichte. Aus seinem Nachlasse etc. von Max Grfn. v. Bothmer und Moriz Carriere (Leipzig 1874). – Nekrolog von Carriere, Allgem. Zeit. Nr. 122 Beil., S. 2145 des 46. Jahrg. (1871). – Heinrich Kurz a. a. O. 319 f., 617 f., 840 f. – Illustr. Zeit. Jahrg. 1867 a. a. O. – Westermann’s Monatsh. (1875) Bd. 38 S. 688. – Endlich geben die Vorreden und „Einführungen“ zu den einzelnen Werken mannichfache Aufschlüsse über den Entwicklungsgang des Autors.