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ADB:Raumer, Friedrich von

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Artikel „Raumer, Friedrich von“ von Franz Xaver von Wegele in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 403–414, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raumer,_Friedrich_von&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 18:10 Uhr UTC)
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Raumer: Friedrich v. R., Geschichtschreiber. Er wurde geboren am 14. Mai 1781 zu Wörlitz bei Dessau, als der Sohn eines vorzüglichen Mannes und ausgezeichneten Landwirths, Georg Friedrich v. R., der damals als Pächter der Verwaltung der großen Domäne Wörlitz vorstand und im Jahre 1796 als fürstlicher Kammerdirector nach Dessau versetzt wurde, wo er im Jahre 1822 nach einem in jeder Beziehung wohl angewandten Leben gestorben ist. Seinen ersten Unterricht erhielt R. zu Wörlitz unter der Aufsicht seines Vaters von Privatlehrern und wurde im Jahre 1793 nach Berlin auf das Joachimsthal’sche Gymnasium versetzt, das damals bekanntlich unter der berühmten Leitung Meierotto’s stand, dem er auch das dankbarste Andenken bewahrt hat. In Berlin bewegte sich R. überdies vermöge seiner verwandtschaftlichen Beziehungen in höchst anregenden und angenehmen Verhältnissen, die seiner allgemeinen Entwickelung und Ausbildung im hohen Grade zu Gute gekommen sind. Wir erwähnen im Besonderen nur seinen Oheim, den Präsidenten v. Gerlach, der, selbst von ausgesprochener Vorliebe für das classische Alterthum erfüllt, des jugendlichen Neffen Neigung in dieser Richtung in erfolgreichem Grade befestigte. Ostern 1798 verließ R. das Gymnasium mit den anerkennendsten Zeugnissen seines sittlichen Wandels, seines nachhaltigsten Fleißes und der erworbenen Kenntnisse. Anfangs Mai des genannten Jahres ging er zur Universität Halle über, zunächst in der Absicht, sich dem Studium des Rechtes zu widmen. Die angeborene Vielseitigkeit seiner Natur führte ihn aber schon jetzt dazu, sich mit den verschiedenartigsten, zum guten Theil in das Gebiet der Naturwissenschaften fallenden Wissenszweigen als Zuhörer bekannt zu machen. Das Fach, das am Ende den Mittelpunkt seines Lebens und Strebens bilden sollte, die Geschichte, fesselte ebenfalls schon in dieser Zeit seine Aufmerksamkeit. Von Halle siedelte er Ostern 1801 nach Göttingen über, obwohl er der Meinung war, seinen specifischen Berufsstudien bereits genug gethan zu haben. Es waren weniger die Vorlesungen, die hier seine Zeit in Anspruch nahmen, als das Privatstudium mit Hülfe der ausgezeichneten öffentlichen Bibliothek. Weder Schlözer noch Heeren verstand es, wie hoch auch bereits seine Vorliebe für geschichtliche Dinge erweckt war, ihn anzuziehen oder zu fesseln, wogegen er den Umgang mit dem Musikdirector Forkel aufs Lebhafteste unterhielt. R. hatte schon früher Musik theoretisch und praktisch getrieben; der intime Verkehr mit diesem Meister, der ihn insbesondere auf die classische Musik verwies, gab ihm einen für seine ganze Zukunft nachwirkenden Anstoß, dem er gelegentlich auch einen schriftlichen Ausdruck gab. (S. seine vermischten Schriften, 3. Bd. S. 369 ff.) Ostern 1801 endete die Universitätszeit Raumer’s, und er kehrte zunächst in die Heimath zurück und trieb auf den Wunsch seines Vaters das nächste halbe Jahr praktische landwirthschaftliche Studien, da damals das Domänenwesen für den Hauptzweig der Verwaltung galt. Michaelis gedachten Jahres ging er nach Berlin und trat hier nach bestandener Prüfung als Referendarius bei der kurmärkischen Kammer ein. Der Sommer 1802 eröffnete ihm einen weiteren, mit einer gewissen Selbständigkeit verbundenen Wirkungskreis, indem er veranlaßt wurde, einen seiner Vorgesetzten, den Kriegsrath von Bassewitz, zur Besitzergreifung des Eichsfeldes, das als Entschädigungsobject an Preußen gefallen war, zu begleiten. Die Mittheilungen, die R. selbst über diese seine Thätigkeit gemacht hat, sind in mehr als einer Beziehung höchst lehrreich. Kraft seiner Anstelligkeit, seines praktischen Sinnes und seiner humanen milden Denkungsart war er gegenüber der oft recht delicaten Aufgabe so recht an seinem Platze. Es blieb ihm zugleich Zeit genug, seinen Lieblingsstudien nicht untreu zu werden und (zu Hildesheim) [404] das sogenannte „große Examen“ mit dem besten Erfolge zu bestehen, kraft welchem er sich die Qualification zu „einer Kriegs- und Domänenrath- oder Steuerrathstelle“ erwarb. Es lag jetzt in der Hand des jungen Assessors, in Heiligenstadt zu einer festen Stellung mit einer ihm genügenden Besoldung zu gelangen; er entschloß sich aber doch aus Furcht, auf lange Jahre hinaus in einer solchen ihm ungünstigen Umgebung ausharren zu müssen, und im Einklange mit den Wünschen seiner Eltern, Verwandten und Freunde, auf jenes Anerbieten zu verzichten und (im Februar 1804) nach Berlin in seine frühere Stellung zurückzukehren. Seine nicht gewöhnliche Befähigung zur Verwaltung wurde nicht verkannt und in seiner ihn befriedigenden Weise verwerthet. In dieser Zeit machte er die Bekanntschaft Johann von Müller’s, der kurz zuvor aus dem österreichischen Dienst in den preußischen übergetreten war. Durch seine praktischen Arbeiten unbehindert, hatte R. in den letzten Jahren seine Studien, namentlich die geschichtlichen, fortgesetzt und angefangen, sich in die Quellenschriften der Epoche Kaiser Friedrich’s I. und der Kreuzzüge zu vertiefen, und obwohl sein Oheim Gerlach ihm voraussagte, daß der königliche Dienst und Neigungen dieser Art sich nicht gut vertrügen, faßte er schon jetzt den „sehr kühnen Gedanken – selbst Geschichte zu schreiben“. Es kam bloß noch darauf an, sich für einen bestimmten Gegenstand zu entscheiden. Das Alterthum hatte stets eine mächtige Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, aber nicht minder merkwürdig und mit Unrecht vernachlässigt erschien ihm das Mittelalter. Johannes von Müller empfahl ihm die Bearbeitung des 15. Jahrhunderts, das in der That in hohem Grade von der Forschung zurückgesetzt worden war. Aber R. hatte seine Wahl bereits getroffen und sich, „wie durch Inspiration“ den Hohenstaufen zugewendet. Man muß zugeben, daß diese Wahl eine äußerst glückliche war; R. hat durch diesen, nach Lage der Dinge kühnen Griff sich eine Aufgabe gestellt, deren im Wesentlichen gelungene Lösung den besten Inhalt seines Lebens bilden und in der historischen Wissenschaft die Fortdauer seines Namens sichern sollte. Die Ausführung dieses Gedankens stand freilich noch in weitem Felde; R. hat ihn aber festgehalten, obwohl seine dienstliche Stellung in den nächsten Jahren ihm ganz andere Aufgaben zuwies, und seine Freunde und Verwandte, nach seiner ausdrücklichen Versicherung dieselbe „ganz thöricht und unausführbar schalten“. Um seinen wissenschaftlichen Plänen treu bleiben zu können, lehnte er eben jetzt eine ihm angetragene und mit festem Gehalt verbundene Stelle „ohne Bedenken“ ab. Gerade in dieser Zeit ist R., von J. v. Müller ermuntert, zum ersten Male als Schriftsteller aufgetreten. Er veröffentlichte, allerdings anonym, im Jahre 1805 die „Sechs Gespräche über Krieg und Handel“ (wieder abgedruckt in seinen Verm. Schriften, Bd. 1, S. 133 ff.), die in ihrer Form eine fleißige Lectüre der Platonischen Dialoge bezeugten und heut zu Tage namentlich durch den Muth Aufmerksamkeit erwecken, mit welchen er für die damals als unausführbar verurtheilte Lehre vom Freihandel eingetreten ist. Ein theoretisch und praktisch durchgebildetes Talent wie das Raumer’s war, konnte jedoch nicht lange auf eine untergeordnete Stellung angewiesen bleiben. Im August des Jahres 1806 wurde ihm die erledigte Stelle eines Rathes bei der Domänenkammer in Königs-Wusterhausen in commissarischer Weise übertragen, und er hat sie bis zum Mai 1808 versehen. Auch hier hat er dem in ihn gesetzten Vertrauen vollständig entsprochen und in der bald nach seiner Versetzung eintretenden schweren Zeit sich als tüchtig und gewandt bewährt. Sein Beruf ließ ihm zugleich hinlänglich Muße, seinen gelehrten Studien Genüge zu thun. Er setzte die Lectüre der griechischen und römischen Schriftsteller, der späteren Byzantiner, Abulfeda’s und anderer Araber eifrig fort und hielt zugleich geschichtliche Vorträge vor einer dankbaren Zuhörerschaft [405] von Frauen und Herren, welche Neigung sich in der späteren Epoche seines Lebens bekanntlich erfolgreich ausgestaltet hat. Daneben unterhielt er einen ergiebigen Briefwechsel mit Männern wie Wilken, Schleiermacher und Steffens und fand noch Zeit, zahlreiche Berichtigungen der bekannten Lohmeier’schen „Genealogischen Tabellen“ abzufassen, die ein paar Jahre später durch den Druck veröffentlicht worden sind. Seine Begeisterung für den Beruf zum Historiker war derart im Wachsen, daß er sich den Gedanken, sich zu verheirathen, als eine Hinderung in seinen Studien, zur Zeit grundsätzlich aus dem Kopfe schlug. Eben jetzt arbeitete er an einem ersten Entwurf zu einer Geschichte der Kreuzzüge und legte als eine Probe J. v. Müller eine Erzählung der „Schlacht bei Hittin“ vor; Müller erwiderte mit ermunternder Anerkennung und zugleich mit einer nachdrücklichen Warnung vor der philosophirenden Geschichtschreibung. Dieser sein genannter Gönner hat R. um diese Zeit (s. Lebenserinnerungen I, S. 162) zu einer Professur in Süddeutschland empfohlen, näheres wird uns darüber freilich nicht mitgetheilt. Gewiß ist aber, daß R. bald darauf (Mai 1809) durch die verdiente Beförderung zum Rath bei der Regierung zu Potsdam aus seiner doch isolirten Lage in Königs-Wusterhausen, die ihn auf die Länge und trotz der Nähe von Berlin doch nicht hätte befriedigen können, erlöst wurde. In Potsdam war er doch in ganz anderer Weise an seinem Platze; indeß hat dieser sein Aufenthalt nicht länger als zwei Jahre gedauert. Aber auch hier fuhr R. fort, und war es ihm möglich, sich wissenschaftlich zu beschäftigen und litterarisch productiv zu sein. So legte er in den Heidelberger Jahrbüchern (1809) eine Kritik der Lombard’schen Denkwürdigkeiten nieder, und gab er das Jahr darauf (1810) die Schrift „Ueber das brittische Besteuerungssystem, insbesondere die Einkommensteuer mit Hinsicht auf die in der preußischen Monarchie zu treffenden Einrichtungen“ heraus; die Schrift wurde mit Beifall auch an hoher und höchster Stelle aufgenommen; sie wurde unzweifelhaft zugleich die Veranlassung, daß R. im Mai 1810 als Rath in das Finanzministerium, dem damals Herr v. Altenstein vorstand, und zwar bei der Staatsschuldensection berufen wurde. Es dauerte jedoch nicht lange, so zog ihn der Minister v. Hardenberg, der durch die erwähnte Kritik der Lombard’schen Denkwürdigkeiten auf ihn aufmerksam geworden war, in seine Nähe und nahm ihn, nachdem er den Minister auf einer Reise nach Schlesien begleitet und sich sein besonderes Vertrauen erworben hatte, sogar in sein Haus und an seinen Tisch auf. So kann man wohl sagen, daß R. in kurzer Zeit und in so jungen Jahren eine glänzende Laufbahn gemacht hatte, und darf vermuthen, daß ihn eine noch glänzendere erwartete. An allen Reorganisationsarbeiten nahm er lebhaften, oft maßgebenden Antheil, und sein Einfluß auf den Kanzler erschien so groß, daß man ihn wohl den kleinen Staatskanzler nannte und lebhaft beneidete. Genug, quälende Anfeindungen oder doch Verdrießlichkeiten blieben ihm nicht erspart; gelegentlich mag er wohl, wie z. B. Niebuhr gegenüber, der in hervorragender Stellung gleichfalls im Finanzministerium arbeitete, nicht durchweg die passende Haltung befolgt haben. Er glaubte, in den praktischen Fragen den großen, freilich recht empfindlichen Gelehrten zu übersehen; einzelne Reibungen blieben nicht aus, und so faßte er von der Zeit an gegen denselben eine nicht zu verkennende Abneigung, die er später auf ein Gebiet übertrug, in welchem er sich doch schwerlich mit dem großen Gelehrten messen konnte. Ueberhaupt neigte R. allmählich zu der Meinung, daß er mit seinem besten Willen und wohldurchdachten Vorschlägen in den brennenden Fragen der staatswirthschaftlichen Reform auf zu viel Schwierigkeiten stoße und überzeugte sich zu allem anderen hin, daß ihm in dieser praktischen Stellung für seine Lieblingsstudien so gut als keine Zeit mehr übrig bleibe. Hatte er doch seit seiner [406] Uebersiedelung nach Potsdam und Berlin, von ein paar kleinen halbamtlichen Ausführungen über den „Indult“ und „die Verfassung der Behörden im preußischen Staat“ abgesehen, außer dem Bruchstück über die Schlacht bei Hittin nur zwei kleinere gelehrte Arbeiten, eine Vorlesung über „Perikles und Aspasia“ und die Einleitung zu den von ihm übersetzten „Reden des Aeschines und Demosthenes über den Kranz“ zu Stande gebracht. Es erschien ihm indes unmöglich, sein Herz von diesen wissenschaftlichen Beschäftigungen loszureißen, und so reifte im Zusammenhang mit all den erwähnten Momenten in ihm der Plan, den praktischen Staatsdienst aufzugeben und lediglich der Wissenschaft zu leben. Die eben eingetretene Erledigung der Professur der Staatswissenschaft an der Universität Breslau gab ihm erwünschte Gelegenheit, mit diesem Plan Ernst zu machen; er wendete sich bereits anfangs September 1811 an den Staatskanzler mit der motivirten Bitte, ihm die gedachte Professur anzuvertrauen, „wobei er sich auch zum Lesen historischer Collegia verpflichte“. Der Kanzler willigte ungern genug in diese Bitte, nachdem er sich von der Erfolglosigkeit der von ihm erhobenen nachdrücklichen Gegenvorstellungen überzeugt hatte. Am 9. September 1811 erfolgte die königliche Ernennung. – R. durfte sich sagen, daß er durch seine vorausgegangenen gelehrten Studien und Leistungen, sowie durch die seit einem Jahrzehnt erworbenen Erfahrungen im praktischen Staatsdienste nicht unvorbereitet in das ihm übertragene Lehramt eintrat. –

Mit der Uebersiedelung nach Breslau beginnt die zweite, der Zeit nach viel längere Hälfte in Raumer’s Lebensgange, die überwiegend den wissenschaftlichen Bestrebungen gewidmet blieb, ohne daß er darum seine Vorliebe für gemeinnütziges Wirken aufgab oder dem so lebhaft empfundenen Bedürfniß, stets mit dem öffentlichen Leben in Fühlung zu bleiben und seinen Gesichtskreis nach allen Richtungen zu erweitern, zum Opfer gebracht hätte. Sieben wohl ausgenutzte Jahre hat R. in der neuen Stellung in Breslau zugebracht. Gleich nach seiner Uebersiedelung hat er sich durch die Verheirathung mit einer Landsmännin, mit Louise, der Tochter des Oberforstmeisters v. Görschen in Dessau den eigenen Herd gegründet, dessen Genuß durch freundschaftlichen Verkehr mit Männern wie Manso, Steffens, v. Hagen, Heinsdorf, Schneider und seinem Bruder Karl einen erhöhten Reiz erhielt. Als Zeugniß seines fortgesetzten eifrigen Studiums des Mittelalters veröffentlichte er schon im Jahre 1812 sein „Handbuch merkwürdiger Stellen aus den lateinischen Geschichtsschreibern des Mittelalters“ und dehnte seine Vorlesungen zugleich auf das Gebiet der Geschichte aus, indem er u. a. Vorträge über die alte und neuere Geschichte hielt. Aus den einen sind seine im Jahre 1821 erschienenen „Vorlesungen über alte Geschichte“, aus den anderen seine im Jahre 1832 veröffentlichte und durch die Zeitereignisse hervorgerufene Schrift über „Polen’s Untergang“ hervorgegangen. Beim Ausbruche des Befreiungskampfes hat er sich wohl die Frage vorgelegt, ob er nicht auch, wie z. B. sein Bruder Karl, die Feder mit dem Schwerte vertauschen solle, hat aber in Erwägung, daß an Streitern kein Mangel sei und er anderswie der guten Sache mehr nützen könne, den Gedanken fallen lassen; man wird ihm das kaum verdenken können, zumal die Natur ihn nach Allem nicht gerade zum Soldaten bestimmt hatte. Nach dem Friedensschluße unternahm er zu seiner Erholung eine Reise nach Venedig; sie eröffnet die lange Reihe von Ausflügen und Reisen, die sich im Verlaufe seines langen Lebens und bis in sein hohes Alter hinauf fortgesetzt wiederholten und ihn mehrmals nach Italien, England und Frankreich, nach Scandinavien, nach Constantinopel und Smyrna und Athen und sogar nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika geführt haben. Diese Reisen gingen zum Theile aus der merkwürdigen Beweglichkeit seiner Natur, zum [407] Theil aus wissenschaftlichen Zwecken und endlich aus dem Bedürfnisse, aus eigener Anschauung Menschen und Welt kennen zu lernen, hervor. Von fast allen diesen Reisen hat R. je nach ihrer Veranlassung Beschreibungen und Berichterstattungen veröffentlicht, die sich durch ihre Lehrhaftigkeit, die Unabhängikeit seines Standpunktes und eine gesunde, oft scharfe Beobachtungsgabe auszeichnen. Gleich über den erwähnten ersten Ausflug von Breslau aus ließ er im Jahre 1816 eine Beschreibung in 2 Theilen erscheinen, dagegen über eine zweite Reise nach Italien, die ihn in der Zeit von 1816–17 im Interesse seiner Forschungen für die Geschichte der Hohenstaufen zu einem längeren Aufenthalte nach Rom führte und zu welchem er von der preußischen Regierung eine beträchtliche Unterstützung erhielt, hat er keine eigene Schrift veröffentlicht, und sehen wir uns auf die Briefe angewiesen, die er in die Heimath richtete und die theilweise im zweiten Bande seiner Lebenserinnerungen abgedruckt sind. Im Juli 1817 kam er wieder nach Breslau zurück und mußte sich bald genug mit der in Deutschland herrschenden Aufregung, die durch das Wartburgfest, die Ermordung Kotzebue’s und die sich daran knüpfenden Complicationen hervorgerufen wurde, wohl oder übel abfinden; es soll nicht verschwiegen werden, daß er in der Beurtheilung dieser Vorgänge bei allem Freimuthe sich seine Besonnenheit bewahrte und mit der bezüglichen öffentlichen Meinung keineswegs vorbehaltlos oder überall übereinstimmte. Im verhängnißvollen Jahr 1819 war ihm noch überdies die Führung des Rectorates zugefallen; es scheint aber, daß er nicht gerade eine wohlthuende Befriedigung von dieser Ehre erlebt hätte. Genug, er fühlte sich in Breslau nicht mehr behaglich; auch in den geselligen Verhältnissen hatte sich in Folge von Sterbefällen oder Berufungen manches zu seinen Ungunsten verändert; er sehnte sich fort und in einen andern Wirkungskreis. Dieser sein Wunsch wurde noch im Jahre 1819 erfüllt: er erhielt auf Vorschlag der Facultät den Ruf als Professor der Staatswissenschaften und nebenbei der Geschichte an die Universität Berlin und folgte ihm noch im Herbste desselben Jahres: bereits am 25. October eröffnete er seine Vorlesungen.

Diese Verpflanzung eröffnete für R. eine bedeutungsvolle Perspective: nun war er erst auf dem rechten Platze, wie ihn seine Natur verlangte, und nun erst konnte der vielseitige, bewegliche, unermüdliche Mann sich in seiner vollen Eigenthümlichkeit entwickeln und zeigen. Denn es ist nicht anders, R. bedurfte bei aller Hingabe an seinen wissenschaftlichen Beruf der An- und Aufregungen, wie sie eben doch nur eine Stadt wie Berlin ihm bieten konnte. Ueber ein halbes Jahrhundert erstreckt sich das noch übrige Leben Raumer’s, das ihm wenn auch mit Unterbrechungen in Berlin beschieden war. Etwas über ein Menschenalter wirkte er in seiner officiellen Stellung als öffentlicher Lehrer, zuerst vor allen der Staatswissenschaften und bald auch, da Rühs bereits 1820 starb, mit besonderer Vorliebe der Geschichte. Als Lehrer hat R. allerdings niemals eine hervorragende Wirksamkeit entfaltet, obwohl er sich stets einer größeren oder kleineren Anzahl recht anhänglicher Zuhörer erfreute, und noch viel weniger kann man von einer Raumer’schen Schule sprechen. Die neuere, ins Fleisch schneidende kritische Richtung, wie sie seit F. A. Wolf und Niebuhr aufgekommen war, entsprach durchaus nicht seiner vermittelnden eklektischen Natur, aber gerade aus diesem Grunde und bei dem Mangel eines abgeschlossenen Systems, vermochte er es nicht, Studirende, die jene Bahn betreten wollten, wie das dann bei Ranke in so ausgezeichneter Weise der Fall war, in seine Kreise zu bannen. Daß er unter seinen Collegen rasch genug Geltung errang, dürfte mit Sicherheit aus der Thatsache gefolgert werden, daß er bereits im Jahre 1822 zum Rector der Universität Berlin gewählt wurde. R. rechnete es sich als ein Verdienst an, daß, als er in dieser Eigenschaft die Festrede zur Feier der [408] 25jährigen Regierung des Königs zu halten hatte, er trotz des Widerstandes des Senates es durchsetzte, daß er sie in deutscher Sprache halten durfte. Bedeutungsvoller ohne Zweifel für die Stellung Raumer’s war, daß im Jahre 1823 endlich der Anfang seiner Geschichte der Hohenstaufen im Drucke erschien und schon im Jahre 1825 der letzte der sechs Bände ausgegeben wurde. Wie schon erwähnt, ist an dieses sein Werk die Unvergänglichkeit seines Namens und seiner Stellung in der geschichtlichen Wissenschaft geknüpft. Der laute Beifall, mit welchem es aufgenommen wurde, war nicht unverdient; daß er mit der von der romantischen Schule gepflegten Stimmung zusammenhing, kann ihm keinen Abbruch thun. Die wesentliche Bedeutung des Werkes lag doch über jene Denkungsweise hinaus und bestand darin, daß hier zum ersten Male eine der größten Epochen unserer nationalen Geschichte in umfassender Verbindung mit der universellen Entwickelung in anmuthender Form, harmonischer Composition, epischer Ruhe, maßvollem Urtheile zur Darstellung gelangte. Es gehört zu den wirksamsten Erfolgen des Werkes, daß durch dasselbe die Aufmerksamkeit unseres Volkes auf die glänzendste Epoche unserer Kaisergeschichte und des Mittelalters überhaupt mit nachhaltiger Kraft hingelenkt wurde. Daß diese Wirkung, wenn sie sich auch nicht auf gleicher Höhe behauptete, im Laufe der Jahre sich nicht verflüchtigte, dürften die bis zum Jahre 1878 noch folgenden vier Auflagen zur Genüge bestätigen. Freilich wurde auch Tadel laut, wie z. B. von Stenzel und Schlosser, und es ließ sich ja bei genauem Zusehen manches daran vermissen, namentlich die Sicherheit in der Quellenkritik, die Schärfe der Charakteristik und vor allem auch die gleichmäßige Behandlung der verschiedenen Abtheilungen des Stoffes; die Geschichte Kaiser Friedrich’s I. blieb auch für jene Zeit allzuweit hinter billigen Anforderungen zurück, während die Epoche Kaiser Friedrich’s II. mit den Glanzpunkt des Werkes bildet. Die fortgeschrittene Forschung hat ihn dann freilich überhaupt überholt und vielfach berichtigt, einzelne Abschnitte der Geschichte der Staufer wie z. B. König Philipp’s u. s. w. sind seitdem mit unleugbar noch größerer Wärme dargestellt worden; aber als Gesammtleistung besteht das Werk noch heutzutage und wird als solches auch nicht so leicht überwunden werden. Der 5. und 6. Theil behandeln bekanntlich überwiegend die Zustände aller Art und was man auch wohl innere Geschichte zu nennen pflegt. Es muß diesen Theilen ein besonderes Verdienst zuerkannt werden. Gerade hier verspürt man den Vortheil, den R. aus seiner früheren praktischen Wirksamkeit zog, indem er, wie mit Recht gesagt worden ist, die Kategorien des Staatslebens, unter welchen es dem wissenschaftlich gebildeten Beamten erscheint, und die Fragen, die sich daran knüpfen, in seine Forschungen über das 12. und 13. Jahrhundert übertrug. Im Uebrigen ist diese Nachwirkung im Grunde bei der Mehrzahl der Raumer’schen Schriften, namentlich auch bei seinen Reisebeschreibungen wahrzunehmen. Die litterarische Fruchtbarkeit, die R. seit dieser Zeit entfaltet, erscheint außerordentlich, zumal wenn man bedenkt, daß seine Kraft gleichzeitig in der verschiedenartigsten Weise in Anspruch genommen wurde. Wir können bei dieser Gelegenheit nur die bedeutenderen oder besonders charakteristischen seiner Publicationen anführen. Schon im Jahre 1836 erschienen seine „Untersuchungen über die geschichtliche Entwicklung der Begriffe von Recht, Staat und Politik“, die (1861) eine dritte Auflage erlebten. R. war kein Doctrinär und um so eher im Stande, mit der wünschenswerthen Unbefangenheit eine solche Darstellung fruchtbar zu machen. Schon im Jahre 1823 hatte er das angebotene Amt eines Geschichtslehrers an der k. Kriegsschule in Berlin mit ansehnlichem Gehalt abgelehnt, um seine Kräfte nicht zu zersplittern; als er nun im Jahre 1827 im Namen König Ludwig’s I. von Baiern den Antrag zu einer Professur an die Universität München erhielt, gab er als guter [409] preußischer Patriot wieder eine ablehnende Antwort, und war uneigennützig genug, von diesem Anerbieten keinen weiteren Gebrauch zu machen. Berlin bot ihm freilich so viele Annehmlichkeiten, unter welchen der Verkehr mit einem Kreise vorzüglicher Männer nicht die letzte war, daß schon dieser Umstand allein diesen seinen Entschluß begreiflich macht. Außerdem übte das Theater, namentlich die Oper, weiterhin die Singakademie eine mächtige Anziehungskraft auf ihn. Im Juli 1827 nahm ihn die Akademie d. W. in ihren Kreis auf, wohl eine der ersten Wirkungen der Art nach dem Erscheinen der Hohenstaufen. Nach Vollendung dieses Werkes hatte R. sofort die Bearbeitung eines anderen, nämlich der Geschichte der drei letzten Jahrhunderte in Angriff und Bearbeitung genommen. Er hoffte ein „Lesebuch im besten Sinne des Wortes für Gebildete zu Stande zu bringen“. Doch gingen noch einige Jahre darüber hin, bis der erste Band erscheinen konnte. Im Herbste 1827 unternahm er seine erste Reise nach Paris, überzeugte sich hier aber bald, daß für ihn die ihm nöthigen geschichtlichen Forschungen ein längerer Aufenthalt nöthig sei als ihm zunächst verfügbar war, doch bekennt er, durch diese „kurze Reise viel gelernt“ zu haben. Und eben die auf dieser Reise gemachten Erfahrungen regten ihn zu der gleich das Jahr darauf herausgegebenen Schrift „Ueber die preußische Städteordnung, nebst einem Vorwort über die bürgerliche Freiheit, nach französischen und deutschen Begriffen“ an. Die Schrift fand den Beifall des Urhebers der preußischen Städteordnung, trug ihm aber zugleich einen unangenehmen Conflict mit dem ihm vorgesetzten Ministerium ein, wobei er sich übrigens mannhaft genug benahm. R. war seit mehreren Jahren auch Mitglied des Obercensurcollegiums, stieß jedoch in dieser Stellung so häufig auf Widerstand, daß er zuletzt (1831), überzeugt von der Fruchtlosigkeit seiner Mitwirkung, aus demselben ausschied, was alles ihm von Heine, der sich auch sonst öfter, aber nicht gerade in wolwollender Weise mit ihm beschäftigt, den Titel eines „kgl. preußischen Revolutionärs“ eintrug. Das Jahr 1830 hatte ihn im Interesse seiner geschichtlichen Forschungen zum zweiten Male nach Paris geführt und als die Frucht dieses länger andauernden Aufenthaltes und der angestellten archivalischen Forschungen publicirte er das Jahr darauf die „Briefe aus Paris zur Erläuterung der Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts“. Im Winter 1830 auf 1831 hielt R. dem Kronprinzen Maximilian von Baiern Vorträge über Geschichte, wie er solche schon im Jahre 1813 in Breslau dem preußischen Thronfolger Friedrich Wilhelm gehalten hatte. Schon das Jahr zuvor hatte er das „Historische Taschenbuch“ begründet, das dann, bei Brockhaus in Leipzig verlegt, 37 Jahre hindurch von ihm redigirt wurde und für die Verbreitung geschichtlicher Kenntnisse auch in weiteren Kreisen einen nachhaltigen und fruchtbaren Anstoß gegeben hat. Im Jahre 1832 ließ er die von dem polnischen Aufstande der Jahre 1830–31 veranlaßte Schrift „Polen’s Untergang“ erscheinen, deren unabhängige Fassung aber in den maßgebenden und höchsten Kreisen einen so mißfälligen Eindruck machte, daß der König Raumer’s Wahl zum Rector der Universität die Bestätigung versagte. Eine mißverstandene Stelle hatte sogar die Wirkung, daß beschlossen wurde, ihn zur fiscalischen Untersuchung zu ziehen, als sich noch rechtzeitig das Mißverständniß aufklärte. Der besser unterrichtete König war dann billig denkend genug, daß er zu einer Art von Satisfaction aus eigenem Ermessen R. als einem unparteiischen, aufrichtigen Manne den Auftrag gab, eine Darstellung der Verhältnisse Preußens zu Polen in den Jahren 1830–32 aus amtlichen Quellen zu entwerfen; diese Schrift erschien noch 1832 und hat mehrere, später ergänzte Auflagen erlebt. Im darauf folgenden Jahre, merkwürdig vor allem durch den vorläufigen Abschluß des deutschen Zollvereins, hat R. eine kleine Schrift „Briefe über den Zollverein“ abgefaßt und darin mit [410] besonderem Hinblick auf den Beitritt Sachsens nachdrücklich seine Stimme in dieser echt nationalen Frage erhoben. Im Jahre 1832 erschien zugleich der 1. Band seiner „Geschichte Europa’s seit dem 15. Jahrhundert“, die erst im Jahre 1850 mit dem 8. Bande abgeschlossen wurde. Seine Freunde, wie z. B. Tieck, mit dem er seit Jahren in engem freundschaftlichen Verkehr stand, erwarteten freilich eine außerordentliche Wirkung von diesem Werke, die wo möglich den Erfolg der Hohenstaufen noch übertreffen sollte, aber die Thatsachen stimmten keineswegs mit diesen wolwollenden Voraussetzungen überein, und es war nicht mehr als ein „Achtungserfolg“, von dem gesprochen werden konnte. Die rasche Art, mit welcher R. producirte, trug ohne Zweifel zu diesem vergleichungsweise geringen Erfolg einiges bei; es hatten sich aber zugleich inzwischen die Ansprüche gerade an die Behandlung der neueren Geschichte in einem Grade gesteigert, daß R. ihnen nicht mehr so recht genügen konnte. Eine in die Tiefe gehende, schneidige und zugleich geistvolle Darstellung, wie sie Ranke so hinreißend vertrat, hatte ohnedem niemals zu Raumer’s Vorzügen gehört. Auch sein an sich gewiß löbliches Bemühen nach Unparteilichkeit und Gerechtigkeit in der Beurtheilung, die doch häufig nahezu in Grundsatzlosigkeit ausartete, wird ebenfalls der Aufnahme des langathmigen Werkes Eintrag gethan haben. Er selber wurde zwar darum an sich nicht irre und tröstete sich wohl auch mit der Erwägung, daß eben Niemand gegen seine Natur ankönne. Daneben entwickelt R. eine ununterbrochene litterarische Fruchtbarkeit, die die Theilnahme des Publicums wohl hier und da einigermaßen ermüden konnte. Im Jahre 1835 hatte er zum Zwecke seiner Forschungen über die neuere Geschichte eine Reise nach England unternommen, deren Beschreibung er das Jahr darauf in 2 Bänden u. d. T. „England im Jahre 1835“ herausgab und die allerdings den Beweis lieferte, in wie gründlicher Weise er die verschiedenen öffentlichen Zustände und Einrichtungen des Inselreichs studirt hatte. Im Jahre 1841 hat er diesen Besuch wiederholt und die Ergebnisse desselben in einem 3. Bande niedergelegt. In den Jahren 1836–39 ließ er zugleich seine „Beiträge zur neueren Geschichte Europa’s aus dem britischen Museum und Reichsarchiv“ in 5 Bänden folgen, die von den Zeiten der Königin Elisabeth bis in die letzten Jahre Friedrich’s des Großen sich erstrecken und, in zugleich betrachtender und raisonnirender Form, einen guten Theil des Abendlandes umspannen. In denselben Jahren 1839–40 traten seine „Beiträge zur Kenntniß Italiens“ in zwei Theilen zu Tage, ebenfalls die Frucht einer im Jahre 1839 dahin unternommenen Reise. Und gleich darauf, im Jahre 1841, begründete der Unermüdliche, der das öffentliche Interesse und das Bedürfniß der Bildung auch der niederen Classe niemals außer Augen ließ, zum Besten der Errichtung von Volksbibliotheken, jene populären Vorträge (in der Singakademie), welchen dann ein so außerordentlicher Erfolg zu Theil geworden ist, wie achselzuckend auch verschiedene seiner gelehrten Collegen das Vorhaben anfangs beurtheilten, und die den äußerst fruchtbaren Anstoß zur Nachahmung überall in Deutschland gegeben haben. Jedoch weder wissenschaftliches Arbeiten noch gemeinnütziges Wirken ließen den ewig Beweglichen über ein bestimmtes Zeitmaß hinaus ruhig zu Hause. Hatte er den größeren Theil des europäischen Festlandes und Englands kennen lernen, so trieb ihn seine Reise- und Lernlust jetzt (1841) in die neue Welt, nach den Vereinigten Staaten Nord-Amerikas, die damals freilich in der alten Welt noch nicht in dem Grade wie später gekannt waren. Der Bericht, den er über diese Reise (1845) erstattete, liegt in zwei Bänden gedruckt vor. Wenn er es noch nicht gewußt hätte, bei dieser Gelegenheit, wie schon früher bei seinen Besuchen in England, konnte R. es erfahren, daß sein [411] Name weithin gedrungen und lebhaft gefeiert war. Er hat sich überall in der Fremde der zuvorkommendsten Aufnahme zu erfreuen gehabt. –

Das Jahr 1847 brachte ihm, der von seiner Art nicht lassen konnte, einen vielbesprochenen Conflict. Am 28. Januar hatte er zur Gedächtnißfeier König Friedrich’s II. in der Akademie der Wissenschaften in seiner Eigenschaft als Secretär die Festrede zu halten. S. M. der König Friedrich Wilhelm IV. befand sich, wenn wir nicht irren, selbst unter den Zuhörern. Der Gegenstand, den R. sich für seine Rede erwählt hatte, des großen Königs religiöse Toleranz, war nach Lage der Dinge allerdings delicater Natur, und die Behandlung, die R. ihm angedeihen ließ, erweckte die nicht zurückgehaltene Mißbilligung vor allem des erlauchten Zuhörers. Die Akademie hielt es für angezeigt, dem Könige ihr tiefstes Bedauern über das Vorgefallene auszudrücken und den in Ungnade gefallenen Redner insoweit zu entschuldigen, daß derselbe „nicht aus sträflicher Absicht, sondern nur durch unvorsichtige Ausführung des Gegenstandes und Wahl des Ausdruckes gefehlt“ und „jede persönliche Zurechtweisung ohne Widerrede hingenommen habe“ u. dgl. Man konnte es unter diesen Umständen R. kaum verdenken, daß er sich entschloß, diesem Vorgehen der Akademie gegenüber sein Amt als Secretär niederzulegen, und aus der Akademie selbst ausschied. Dürfen wir bei dieser Gelegenheit den religiösen Standpunkt Raumer’s berühren, so kann man etwa sagen, er war entschiedener Protestant, aber ein Gegner jedes ausschließlichen Confessionalismus, und indem er für sich das Recht in Anspruch nahm, nach seiner Façon selig zu werden, durchaus bereit, jedem anderen ein ähnliches Recht zuzugestehen. Aus diesem Grunde wußte er auch den Katholicismus von seiner besten Seite zu nehmen, was ihm namentlich als Geschichtschreiber des Mittelalters wesentlich zu Gute kam. Um aber auf den angedeuteten Conflict zurückzukommen, so erhielt die Popularität Raumer’s durch denselben, wie es zumal nach der damals herrschenden Stimmung in Berlin nicht Wunder nehmen konnte, erheblichen Zuwachs. Er wurde als ein Märtyrer seiner Ueberzeugung gefeiert; seine bald darauf folgende Wahl zum Stadtverordneten war ein nicht zu verkennender Ausdruck dieser frondirenden Gesinnung.

Das Jahr 1848 führte R. wieder auf einen größeren und weiteren Schauplatz. Die Berliner März-Revolution gab ihm in seiner Eigenschaft als Stadtverordneter Veranlassung, in den kritischen Tagen handelnd und zugleich beschwichtigend aufzutreten. Zunächst befreite ihn die Wahl zum deutschen Parlament nach Frankfurt aus mancher Verlegenheit, welche ihm die erneuerte Wahl als Stadtverordneter nicht erspart hätte. In drei Wahlkreisen, Frankfurt a. O., Quedlinburg und Aschersleben, war R. zum Abgeordneten gewählt worden, Beweis genug, ein wie populärer Mann im Lande er wol oder übel bereits geworden war. Er optirte für Frankfurt a. O. und reiste noch im Mai nach Frankfurt a. M. Es ist bekannt, daß R. in der deutschen Nationalversammlung eine hervorragende Rolle nicht gespielt hat. Dazu fehlte ihm schon die nöthige Rednergabe – einige seiner in Frankfurt „nicht gehaltenen“ Reden hat er später in den Druck gegeben (Verm. Schriften 1, S. 88 ff.) – aber diese seine Thätigkeit, die er niemals überschätzt hat, wurde für den übrigen Rest des Jahres 1848 dadurch unterbrochen, daß er im August als Vertreter der deutschen Centralgewalt nach Paris geschickt wurde. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob diese Wahl für die nicht so leichte, ihm gestellte Aufgabe eine glückliche genannt werden konnte; die Beweggründe, die sie veranlaßt, lassen sich ungefähr vermuthen; gewiß ist, daß sich R. in der ihm zugedachten Stellung doch nicht ganz sicher fühlte und daß der Erfolg seiner Botschaft einiges zu wünschen übrig ließ. Er brachte doch nicht die für ein solches Geschäft nöthige [412] Erfahrung mit, und es gehörte sein Optimismus dazu, sich über so manche erlittene Enttäuschung zu trösten. Mit dem Ende des genannten Jahres nach der Wahl L. Napoleon’s zum Präsidenten der Republik, kehrte R. nach Frankfurt zurück und betheiligte sich wenigstens an den Fractionssitzungen lebhaft genug. Daß er in der deutschen Verfassungsfrage für die preußische Spitze eintrat, versteht sich wol von selbst; er gehörte zur Deputation, die nach Berlin entsendet wurde, Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anzubieten. Zurückgekehrt von der erfolglosen Mission, hielt er noch bis zum Mai (1849) Stand und schied dann mit dem größeren Theile der preußischen Abgeordneten aus der Nationalversammlung aus, das Vergebliche der gemachten Anstrengungen bedauernd, die Gründe des Mißlingens zum großen Theile erkennend und zugleich der sicheren Hoffnung, daß die Zukunft die Lösung der deutschen Frage in der angedeuteten Richtung doch noch einmal bringen werde. Nach seiner Heimkehr nach Berlin kam er zwar noch keineswegs zur Ruhe; er wurde nämlich gleich darauf in die preußische, damals auf Wahl beruhende erste Kammer berufen. Diese seine Wirksamkeit schlägt er nicht übermäßig hoch an. „Ich habe durch sie viel gelernt, aber keinen bekehrt und nichts erwirkt.“ Zugleich sammelte er seine „Briefe aus Frankfurt und Paris“ und veröffentlichte sie noch im Jahre 1849. Ueberhaupt nahm er jetzt seine Berufs- und litterarische Thätigkeit wieder auf. Noch vor dem Ausbruch der deutschen Revolution hatte er unter dem Titel „Spreu“ anonym eine Sammlung von Sprüchen herausgegeben, die sich an den verschiedensten Gegenständen versuchen, überall seine Belesenheit, die Freiheit und Unbefangenheit seines Geistes bezeugen und anregend genug wirkten. Im Jahre 1850 folgten seine „Briefe über gesellschaftliche Fragen der Gegenwart“, in welchen er zum ersten Male diesen Gegenstand, der nun nicht mehr von der Tagesordnung abgesetzt wurde, einläßlicher und mit Geschick und Tact behandelte. Das Jahr 1851 brachte die „Antiquarischen Briefe“, in welchen vor allem zwischen Böckh und R. eine Anzahl interessanter Fragen aus dem Alterthum erörtert werden. Immerhin ersieht man daraus, daß R. den Fortschritt auf dem Gebiete des griechischen Alterthums niemals aus den Augen gelassen hat. Im Jahre 1849 hatte er auch angefangen, Vorlesungen für Frauen zu halten, was er bis zum Jahre 1865 fortgesetzt hat und wobei er stets auf ein sicheres und höchst dankbares Publicum rechnen durfte. In den Jahren 1852–54 veröffentlichte er 3 Bände seiner „Vermischten Schriften“, in welche er einen guten Theil seiner zerstreuten kleinen Aufsätze, Abhandlungen, Recensionen u. dgl. aufnahm. Im Jahre 1859, also in seinem 78. Lebensjahre, bewirkte er seine Emeritirung und wurde von der Verpflichtung, an der Universität regelmäßig Vorlesungen zu halten, entbunden, was ihn aber nicht abgehalten hat, bis zum Jahre 1869 zeitweise immer wieder von dem ihm vorbehaltenen Rechte Gebrauch zu machen und den Katheder zu besteigen; das Jahrzehnt 1850–60 ist zugleich von einer Reihe kürzerer oder längerer Reisen ausgefüllt. Nordamerika hatte er, wie erwähnt, im Jahre 1844 besucht, ob er jemals im Ernste die Absicht gehegt hat, auch Südamerika aus eigener Anschauung kennen zu lernen, bleibt ungewiß, sicher ist aber, daß er im Jahre 1852 diese Reise wenigstens in Gedanken und auf dem Papier machte und mit Benutzung einer zahlreichen Litteratur eine „Reise nach Südamerika“ abfaßte. Seit dem Jahre 1860 fängt seine litterarische Fruchtbarkeit an, nachzulassen, aber keineswegs zu versiegen. In dem genannten Jahre veröffentlichte er die „Historisch-politischen Briefe über die gesellingen Verhältnisse der Menschen“, die eine Art „Staatslehre“, aber ohne strenge systematische Gliederung und Reihenfolge bieten. Sie verdienen noch heutzutage gelesen zu werden und sind frei von dem leichten Sinn und der historischen Unkenntniß, mit welcher fortgesetzt [413] von gewisser Seite her so schwierige Fragen behandelt zu werden pflegen; sie sind zugleich frei von aller Einseitigkeit, die freilich bei einem Thema dieser Art am meisten Eindruck macht. In diesem Jahre hat R. zugleich angefangen als ein fast 80jähriger, eine Umschau über sein vergangenes Leben zu halten und hat es, nicht mit Unrecht, für inhaltsreich genug gefunden, der Mitwelt über seine Entwickelung und Laufbahn Rechenschaft abzulegen. So kamen seine „Lebenserinnerungen und Briefwechsel“ (2 Bände, Leipzig 1861) zu Stande, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Zeitgeschichte bieten. Das Jahr 1864 endlich brachte sein „Handbuch zur Geschichte der Litteratur“ in zwei Theilen, das aus Vorlesungen, die er, wie erwähnt, seit lângerer Zeit für Frauen zu halten pflegte, herausgewachsen ist. Im Jahr 1866 feierten seine Freunde das 25jährige Jubiläum der von R. und Professor von Lichtenstein seiner Zeit mit so vielem Erfolge gegründeten „populären Vorträge zu gemeinnützigen Zwecken“, und es fehlte nicht an schmeichelhafter Anerkennung, die dem überlebenden R. bei dieser Gelegenheit von der höchsten Stelle ausgesprochen wurde. Das kritische Jahr 1866 konnte begreiflicherweise an R. nicht vorübergehen, ohne auf ihn tiefen Eindruck zu machen und ihn zu ernsten Erwägungen zu stimmen. Er hatte auch in der Politik stets die richtige Mitte gesucht und sich niemals als ein Gegner Oesterreichs benommen. Mit Metternich hatte er eine Zeitlang wenigstens auf gutem Fuße gestanden. Als nun aber die Stunde der Entscheidung schlug, war er doch keinen Augenblick zweifelhaft, welcher Seite er den Sieg wünschen sollte und auf welcher Seite die Sache der deutschen Nation und ihrer Zukunft verfochten wurde. So begrüßte er denn das große Ergebniß mit unverhehlter Genugthuung und Zustimmung und erklärte den Bundesbeschluß vom 15. Juni (1866) für ein Glück Preußens, „weil dieses dadurch genöthigt und berechtigt ward, eine neue, große Bahn zu betreten, zu eigenem Heile und zum Heile Deutschlands“. Seine letzte Publication erschien im Jahre 1869, vier Jahre vor seinem Tode und enthielt, charakteristisch genug u. d. T. „Litterarischer Nachlaß“ (2 Theile) nebst einigen Ergänzungen zu seiner Lebensgeschichte, u. a. eine Fortsetzung seines ausgewählten Briefwechsels, z. B. mit Alexander von Humboldt, einzelne geschichtliche Aufsätze, verschiedene Beiträge zu den „schönen Wissenschaften“ gehörig, darunter eine bereits im Jahre 1824 entstandene „Erzählung“ (Marie), denn auch auf dem Felde der Novellistik hat er sich versucht, und im Jahr 1833 eine zweite solche Erzählung in Briefen „Wilhelmine“ (s. Verm. Schriften I, S. 370 ff.) nachfolgen lassen. Man könnte nicht behaupten, daß der Freund Tieck’s als ein Unberufener sich in diese Reihe gedrängt habe. In demselben Jahre (1869) wurde R. noch ein deutlicher Beweis der ungewöhnlichen Beliebtheit und Anerkennung, deren er sich in allen gebildeten Kreisen der Hauptstadt erfreute, zu Theil. An seinem 89. Geburtstage erschien eine Deputation, aus hervorragenden Männern bestehend, bei ihm und überreichte ihm eine Adresse mit den Namen einer großen Anzahl seiner Verehrer und Verehrerinnen – an deren Spitze I. M. die regierende Königin stand – in welcher die wärmsten Glückwünsche zu dem Festtage ausgedrückt waren, und ersuchte ihn zugleich, zu einer Büste zu sitzen, welche ein hervorragender Künstler (Drake) ausführen und die ihm zum Geschenk gemacht werden sollte. –

Kein Zweifel, es war eine lange, fruchtbare, man darf sagen, von Glück und Erfolg begleitete Laufbahn, auf welche R. am Abend seines Lebens zurückblicken konnte. Kein tiefer oder bahnbrechender Geist, aber empfänglich für alles Große und Schöne, von unermüdlicher Arbeitskraft, wirksam in der Wissenschaft wie im praktischen Leben, jeder Einseitigkeit und Leidenschaftlichkeit abhold, jeder Anfechtung gegenüber von unerschütterlichem Gleichmuth, des eigenen Werthes bewußt, fremdes Verdienst kaum jemals beneidend, ist er in einem [414] langen Leben seinem Ideal wissenschaftlichen Arbeitens und gemeinnützigen Wirkens unentwegt getreu geblieben. Kein großer, aber ein unvergeßlicher Mann schloß mit ihm am 14. Juni 1873 die Augen.

Vgl. Raumer’s „Lebenserinnerungen und Briefwechsel“ (2 Theile, Leipzig 1862) und „Litterarischer Nachlaß“ (2 Bände, Berlin 1869). – L. v. Ranke’s Gedächtnißrede auf F. v. Raumer (Historische Zeitschrift 1873) und W. v. Giesebrecht’s Nekrolog F. v. Raumer’s in den Sitzungsberichten der k. Akademie der Wissenschaften zu München, Jahrgang 1874 (S. 179–187).