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ADB:Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von

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Artikel „Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph“ von Friedrich Jodl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 6–27, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schelling,_Friedrich_Wilhelm_Joseph_von&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 22:08 Uhr UTC)
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Band 31 (1890), S. 6–27 (Quelle).
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Schelling: Friedrich Wilhelm Joseph S., der Philosoph der deutschen Romantik, ist der Sohn eines württembergischen Landgeistlichen, welcher im Gebiete der morgenländischen Sprachen bewandert war und auch als theologischer Schriftsteller sich bekannt machte. Er kam im Städtchen Leonberg am 27. Januar 1775 zur Welt. Die Vorbereitung auf einen gelehrten Beruf lag [7] dem Knaben umso näher, als sein Vater schon im Jahre 1777 Prediger und Professor in Bebenhausen wurde, einer Vorbereitungsanstalt für das Tübinger Stift. Die geistige Begabung des jungen S. entwickelte sich ungewöhnlich früh. Allen Mitschülern an Kenntnissen und Fertigkeiten ebenso weit voraus, als er an Jahren hinter ihnen zurückstand, kam er bereits im 16. Lebensjahre in jene berühmte Pflanzstätte theologischer Gelehrsamkeit, wo er Hegel und Hölderlin, beide im J. 1770 geboren, als ältere Zöglinge vorfand und mit beiden rasch vertraute Jugendfreundschaft schloß. Nicht leicht wird man aufnehmende und gestaltende Thätigkeit in einem jungen Manne so nahe beisammen finden als bei S.; mit wunderbarer Feinfühligkeit spürt er aus allem Wissensstoff, welcher an ihn herangebracht wird, den Punkt heraus, an welchem das Leben pulsirt: in der Philosophie die Umbildung, welche eben jetzt der Kantianismus durch Fichte’s Wissenschaftslehre erfuhr; in der Theologie die Umwälzung, welche die consequente Anwendung der historischen Methode in der Erklärung der Glaubensurkunden hervorbringen mußte.

Wir haben aus diesen Lehrjahren Schelling’s im Stifte der Tübinger Universität bereits eine Reihe von Abhandlungen, welche freilich keine Entdeckungen enthalten, aber S. in der engsten Fühlung mit den bahnbrechenden Tendenzen der theologischen und philosophischen Wissenschaft zeigen. (Sämmtl. W. Abth. I, Bd. 1.) Die älteste ist die lateinisch geschriebene Dissertation „Antiquissimi de prima malorum origine philosophematis explicandi tentamen criticum“, womit er am 26. September 1792 den Magistergrad der Philosophie erwirbt. Sie behandelt das 3. Capitel der Genesis und nimmt, in der Weise des Kant’schen Rationalismus, aber sichtlich beeinflußt durch die poetische Auffassung Herder’s, die Erzählung vom Sündenfall als dichterischen Ausdruck des ältesten Philosophems der Menschheit über den Ursprung der Uebel. Der Grundgedanke dieser Schrift erscheint in erweiterter Anwendung in der Abhandlung „Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt“, welche im J. 1793 im V. Stück der Memorabilien von Paulus erschien. Das große Problem des Mythus, der Mythenerklärung und der mythologischen Weltanschauung beschäftigt den eben der Lehre entwachsenen Jüngling: es bleibt das Gefäß, in welchem der gereifte Mann an der Schwelle des Greisenalters seine letzten, einsamsten Gedanken der Nachwelt zu überliefern sucht. So wahr ist im Leben Schelling’s was oft ausgesprochen worden ist: daß dem kräftigen Jugendalter die Erzeugung der Ideen zukomme, dem Manne die Ausführung. Auch das andere Grundthema der Philosophie Schelling’s klingt in diesen schöpferischen Jugendjahren bereits an, noch gebannt durch den übermächtigen Einfluß Fichte’s, aber doch vernehmlich: Fortbildung der Kantischen Philosophie. Und das Wort des Räthsels, über welches er später Decennien hindurch sann und dessen Aussprechen Deutschland mit schließlich erlahmender Geduld erwartete, war nichts anderes als Ergänzung alles Kriticismus und Logicismus durch eine positive Philosophie, eine Philosophie der höchsten Realität. Zwar die erste philosophische Schrift, welche S. veröffentlichte: „Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt“ (1795) ist kaum mehr als eine freie Rhapsodie über den Grundgedanken der Fichte’schen Wissenschaftslehre; aber schon die nächstfolgende Arbeit: „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen“ (1795) nimmt mit erstaunlicher Kühnheit einen Hauptgedanken der späteren Entwicklung Fichte’s hinweg. Indem S. den Satz: „Das Ich ist das Absolute“ auch umgekehrt und das Absolute Ich nennt, sprach er aus, was damals in Fichte bereits gährte und was dieser selbst anerkannte, als er in einem Briefe an Reinhold (Juli 1795) die Schrift einen Commentar seiner Philosophie nennt und besonders ihr Hinsehen auf Spinoza rühmt, aus dessen System das [8] seinige am sichersten erläutert werden könne. Wie das zu verstehen ist, sieht man aus Schelling’s gleichzeitiger Bewunderung für Spinoza, als den vollendetsten, großartigsten Geist, „dem man nur hätte beweisen sollen, daß die unbedingte, unwandelbare Urform alles Seins, die er wollte, nur in einem Ich gedenkbar sei“. Der Spinozismus, zurückgeführt auf die Fichte’sche Philosophie, und zur Fortbildung Kant’s verwendet, bildet auch das eigentliche Thema der ebenfalls im J. 1795 verfaßten „Briefe über Dogmatismus und Kriticismus“; zuerst ohne Namen in Niethammer’s philosophischem Journal veröffentlicht. Die ausgesprochene Wendung zu den ethischen Problemen am Schlusse der Briefe bildet den Uebergang zu der unmittelbar anschließenden Arbeit Schelling’s, welche aus dem Gedanken entsteht, das Princip Fichte’s auch der Darstellung der praktischen Philosophie zu Grunde zu legen. Noch waren in den von Fichte bis dahin veröffentlichten Darstellungen der Wissenschaftslehre erst einzelne Winke nach dieser Richtung gegeben worden, da lag bereits bei der Redaction von Niethammer’s philosophischem Journal Schelling’s Abhandlung: „Neue Deduction des Naturrechts.“ Nur infolge des verzögerten Abdruckes in der Zeitschrift kam Fichte’s „Grundlage des Naturrechtes nach Principien der Wissenschaftslehre“ gleichzeitig zur Ausgabe (1796). Die hastig hingeworfene, unfertige Arbeit Schelling’s, welche dieser in späteren Jahren selbst zu ignoriren liebte, wurde dadurch zwar in den Hintergrund gedrängt; aber es blieb S. der Ruhm, mit welchem ihn damals Hölderlin, von Jena zurückkommend begrüßte: in der Philosophie ebensoweit zu sein als Fichte.

Den Uebergang von der Hochschule ins Leben vermittelt bei S. wie bei so vielen bedeutenden aber aus engen Verhältnissen stammenden Männern jener Zeit die Stellung des Hofmeisters. Als Mentor und Reisebegleiter zweier Barone v. Riedesel gelangt S. im Frühjahr 1796 nach längerer Reise über Heidelberg, Mannheim, Darmstadt, Gotha, Weimar, Jena nach Leipzig, wo er bis in den August 1798 in gleicher Stellung verblieb. Dieser Aufenthalt zu Leipzig wurde für Schelling’s innere Entwicklung höchst bedeutungsvoll. Es sind Jahre intensivster geistiger Arbeit, der eifrigsten receptiven wie productiven Thätigkeit. Zunächst entstand im Auftrage des Philosophischen Journals eine „Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur“, kritische Aufsätze, welche eben dort in den Jahren 1797 und 1798 erschienen, und später von S. unter dem Titel: „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“ wieder abgedruckt (S. W. I, 1). Sie enthalten eine mit hinreißender Begeisterung für Fichte, mit verletzender Derbheit gegen alle Widersacher, geschriebene Apologie der Fichte’schen Philosophie, welche dessen Aufmerksamkeit in hohem Grade erregte und ihn zum eifrigen Fürsprecher von Schelling’s späterer Berufung nach Jena machte. Während aber S. noch ganz und gar als der hingegebene Prophet der „Wissenschaftslehre“ erscheint, bereitet sich in ihm schon jene Wendung vor, welche später zum völligen Zerwürfniß mit Fichte führen sollte. Während des Aufenthaltes zu Leipzig tritt in den Gesichtskreis Schelling’s eine Macht ein, von welcher Fichte nie berührt worden ist: die Naturwissenschaft, eben damals durch eine Reihe glücklicher Entdeckungen in die lebhafteste Bewegung versetzt, und selbst von dem eifrigen Streben erfüllt, in der Mannichfaltigkeit der einzelnen Naturkräfte die innere Einheit zu begreifen. Mit dem gleichen Enthusiasmus, mit welchem S. die Wissenschaftslehre ergriffen hatte, stürzte er sich auf die neuen Offenbarungen, die seiner bisherigen, ausschließlich theologischen und humanistischen Bildung von dieser Seite kamen und hier wie dort gewinnt das kaum Aufgenommene in seinem Geiste alsbald eine bestimmte litterarische Gestalt, in welcher Angeeignetes und Selbständiges kaum zu scheiden ist. Um Ostern 1797 erschien „Ideen zur Philosophie der Natur“; [9] ein Jahr später die Schrift „Von der Weltseele“ (S. W. I., 2). Sie bezeichnen den ersten Durchbruch der neuen Richtung, die Erweiterung der Wissenschaftslehre zur speculativen Naturlehre. Hatte S. durch seine früheren Arbeiten Fichte gewonnen, so fesseln diese die Aufmerksamkeit Goethe’s. Im Mai 1798 macht S. dessen persönliche Bekanntschaft und unter Goethe’s Mitwirkung kam im Juli 1798 seine Berufung nach Jena zu Stande. Freilich nur als Extraordinarius und vorläufig ohne Gehalt; aber es war doch eine Stellung, welche den Vierundzwanzigjährigen aus den Fesseln des Hofmeisterthums befreite und als wirkende Kraft an einen der Mittelpunkte des geistigen Lebens in Deutschland brachte. Von allen Seiten strömen ihm jetzt die befruchtendsten Eindrücke zu. In den Herbstmonaten zwischen seiner Berufung und dem Antritte des Jenenser Lehramtes weilt S. zu Dresden und dieser Aufenthalt wird für seine Entwicklung kaum minder bedeutend als der Leipziger. Wie dort die Naturwissenschaft, so erschließt sich seinem Blicke hier die Welt des Schönen und der Kunst im Anschauen der Meisterwerke der Dresdener Sammlungen und im persönlichen Verkehre mit den Häuptern der eben selbständig hervortretenden romantischen Schule, den Brüdern Schlegel, Hardenberg, Gries. Der Enthusiasmus für Fichte und Goethe bildet das natürliche Band der Vereinigung. Hier wird der Grund gelegt zu der späteren Umbildung des Idealismus der Wissenschaftslehre und der Naturphilosophie zum ästhetischen Idealismus.

Am 5. October 1798 kam S. nach Jena, begrüßt von den größten Erwartungen, die ihn in eine gefährliche Ueberspannung seiner Kräfte hineintrieben. Nicht um des Schulbetriebes philosophischer Disciplinen willen, sondern als der Verkünder eines neuen philosophischen Evangeliums schien er gekommen zu sein. Sein Auftreten that nichts, um diese Erwartungen bescheidener zu stimmen; im Gegentheil. S. war durch seine bisherigen Erfolge verwöhnt; er liebte es, sich geräuschvoll einzuführen, und bis in seine spätesten Jahre pflegte er, von sich selbst sprechend, den Mund gehörig voll zu nehmen. Aber auch für ihn war die Aufgabe eine sehr schwierige. An einzelnen Punkten hatte er bisher durch glückliche Gedanken, welche er der im vollsten Flusse befindlichen Entwicklung der deutschen Philosophie abgelauscht zu haben schien, in die Wissenschaft eingegriffen; jetzt galt es, diese selbst in systematischem Zusammenhange vorzutragen. Ein System, das noch gar nicht existirte, außer in einigen flüchtig hingeworfenen Grundgedanken, und zu dessen Ausführung eine schier unübersehbare Menge positiven Stoffes gehörte. Er macht sich mit Feuereifer ans Werk. Akademische und litterarische Thätigkeit fördern und bedingen sich gegenseitig. Hauptthema ist zunächst die Darstellung der Naturphilosophie. Aus den beiden ersten Jenenser Semestern stammen „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ und die (spätere) „Einleitung zum Entwurf“ (S. W. I, 3). Gleichzeitig gründet S. die „Zeitschrift für speculative Physik“, deren wichtigster Mitarbeiter wiederum er selber war, da ja die neue Naturphilosophie, deren Organ sie sein sollte, wesentlich nur in seinem Kopfe existirte. Rasch erweitern sich ihm die Aufgaben, was wol auch damit zusammenhängt, daß er schon seit April 1799 Fichte nicht mehr an der Seite hatte und somit der Standpunkt der neuen Transcendentalphilosophie von ihm allein zu vertreten war. Aus dieser Situation erwächst die Schrift: „System des transcendentalen Idealismus“ (1800, S. W. I, 3), eine erneute Darstellung der Fichte’schen Wissenschaftslehre und Schelling’s eigener Arbeiten über dieselbe, aber unter bestimmtem Hinblick auf die mittlerweile entstandene Naturphilosophie, als deren nothwendiges Gegenstück sich die Schrift gibt. Beide Wissenschaften werden gefordert, um den Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten vollständig darzustellen. Das Objective zum Ersten zu machen und das Subjective daraus abzuleiten, ist Aufgabe [10] der Naturwissenschaft; und die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste. Vom Subjectiven, als vom Ersten und Absoluten auszugehen und das Objective aus ihm entstehen zu lassen, die Welt als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseins zu begreifen, ist Aufgabe der Transcendentalphilosophie. Aber zugleich tritt hier noch ein neuer Gesichtspunkt hinzu: die Bedeutung des Schönen und der Kunst. Schiller hat ihre Mitwirkung bei der Ethisirung des Menschen und sie selbst als Mittlerin zwischen dem Sinnlichen und dem Uebersinnlichen dargestellt; Fichte den gleichen Gedanken in seine Sittenlehre aufgenommen. S. proclamirt sie als das Organon und Document der Philosophie, als den Schlüssel zum Allerheiligsten, weil sie jenen geheimnißvollen Einheitspunkt des Subjectiven und Objectiven, worin Naturphilosophie und Transcendentalphilosophie aneinandergrenzen, in unmittelbarer Anschauung aufzeige. In den mannichfaltigsten Wendungen werden verwandte Gedanken von dem ganzen Kreise ausgesprochen, in dem S. heimisch war, von Fr. Schlegel, von Hölderlin, von Hardenberg: es ist unmöglich in diesem intimen geistigen Wechselleben über Nehmen und Geben genau Buch zu führen.

Bald entwickelten sich von da aus Schelling’s Anschauungen noch weiter. Wie schon bei Fichte selbst, so drängt sich auch bei ihm, nur noch viel entschiedener, der spinozistische Gedanke in den Vordergrund. Jene Einheit des Idealen und Realen, welche nur in gehobenen Momenten durch die intellectuale Anschauung direct faßbar und von der Kunst im Bilde dargestellt wird, soll sie wirklich nur Grenzpunkt und Durchgangsmoment sein? Ist sie nicht vielmehr das Allerrealste, der substantielle Grund, aus welchem Natur- wie Geisteswelt stammen? Muß sie nicht selbst philosophisch begriffen und construirt werden können? Vom Selbstbewußtsein ausgehend hatte Fichte das Ich zum All und dieses zum Product des Ich gemacht. Darum muß, so hatte Schelling’s Naturphilosophie den gleichen Gedanken gewendet, in der ganzen Natur das Ich aufgezeigt werden können. Wenn aber Ich und Natur sich gegenseitig bedingen und voraussetzen, so müssen beide aus einem tieferen, gemeinschaftlichen Grunde stammen, der weder Ich noch Natur ist, sondern die ungeschiedene Einheit beider darstellt: so beginnt S. nach dem Jahre 1800 hinzuzusetzen. Die Schriften, in denen dieser neue Gesichtspunkt zuerst hervortritt, sind die „Darstellung meines Systems der Philosophie“, welche Ende des Jahres 1801 in der Zeitschrift für speculative Physik erschien, nachdem bereits die Vorlesungen im Sommer 1801 auf sie hingewiesen hatten, und das Gespräch „Bruno“ aus dem Jahre 1802, welchem die Auszüge Jacobi’s aus Giordano Bruno im Anhang zu den Briefen über die Lehre des Spinoza zu Grunde liegen (S. W. I, 4). Daß S. in der Vorerinnerung zu der ersteren Schrift nachdrücklichst hervorhebt, das System, welches hier zuerst in ganz eigenthümlicher Gestalt erscheine, sei dasselbe, welches er schon immer vor Augen gehabt und woran er sich, für sich selbst, in der Transcendental- wie in der Naturphilosophie beständig orientirt habe, ist sehr begreiflich; kann uns aber über den wahren Sachverhalt umsoweniger täuschen, als spätere briefliche Aeußerungen Schelling’s ausdrücklich und offenherzig den Zeitpunkt dieser Schrift als denjenigen angeben, in welchem ihm das Licht in der Philosophie aufgegangen sei. Der Standpunkt der Indifferenz des Subjectiven und Objectiven, in welchem S. sich nun zu befinden erklärt, von welchem aus Natur- und Transcendentalphilosophie als entgegengesetzte Pole erscheinen, wird auch als der Standpunkt der absoluten Identität und damit diese Phase des Schelling’schen Philosophirens als das „Identitätssystem“ bezeichnet. Aber auch diese Darstellung ist kein System, sondern nur der Torso eines solchen; bei dem Uebergang von der organischen Welt in die Welt des Geistes bricht sie ab, [11] und Niemand wird die flüchtige Wendung, welche das Gespräch „Bruno“ am Schlusse nach dieser Richtung hin nimmt, als eine Ausführung des hier nur Angekündigten nehmen wollen. Am deutlichsten aber erkennt man die eingetretene Veränderung des Standpunktes an der nun fühlbar werdenden Entfremdung zwischen S. und Fichte, welcher noch für das System des transcendentalen Idealismus warme Anerkennung gehabt hatte, aber mit dem Identitätssystem sich nicht mehr zu befreunden vermochte. Der Briefwechsel beider Männer in der letzten Hälfte des Jahres 1801 endet mit der gegenseitigen Versicherung, daß keiner den anderen je verstanden habe. Der innere Bruch ist damit entschieden; der öffentliche wird aus Rücksicht auf die nachtheiligen Wirkungen solchen Scandals einstweilen noch verschoben. Der Dialog „Bruno“ empfängt durch diese Vorgänge eine interessante Beleuchtung; Fichte ist in demselben durch die Person des Lucian repräsentirt und wird im Dialoge zur Anerkennung einer über ihn hinausgehenden Philosophie gebracht, was der wirkliche Fichte eben auf das nachdrücklichste abgelehnt hatte.

Während S. so dem Gestirne den Rücken kehrte, welches in seine eigene Entwicklung am hellsten hereingeleuchtet hatte, trat in seinen Gesichtskreis der Mann, welcher das Verhängniß seines eigenen Lebens zu werden bestimmt war: sein Landsmann und Studiengenosse Hegel. Dieser, um fünf Jahre älter als S., hatte sich im J. 1801 in Jena als Docent habilitirt. Wie einst S. neben Fichte, so erscheint jetzt Hegel neben S. als hochbegabter Anhänger und Commentator. Wie Schelling’s erste Schriften der „Wissenschaftslehre“ zu einem Ausdruck von so glücklicher Klarheit verholfen hatte, wie sie Fichte selbst nie vergönnt gewesen, so spricht die erste Arbeit, mit welcher Hegel vor einem größeren Publicum auftrat: „Ueber die Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“ (Juli 1801) den Unterschied beider mit einer Entschiedenheit aus, wie es S., absichtlich oder unabsichtlich, niemals noch gethan hatte. Erst nach dem Erscheinen dieser Schrift beginnt S. gegen Fichte den Ton ausgesprochner Selbständigkeit anzuschlagen. Hand und Gedanken des neuen, in diesem kritischen Moment der Kriegserklärung gegen Fichte doppelt werthvollen Bundesgenossen ergriff S. mit Eifer; schon im „Bruno“ finden sich Spuren eifriger Benützung der frühesten, lateinisch geschriebenen Abhandlungen Hegel’s. Mit Hegel gemeinsam gründet er im J. 1802 ein „Kritisches Journal der Philosophie“, worin beide Herausgeber ihre Arbeiten ohne Namensunterschrift gaben und somit öffentlich von der vollständigen Geistesgemeinschaft Zeugniß ablegten. Indessen ist das „Kritische Journal“ vorzugsweise das Werk Hegel’s geworden, während sich Schelling’s Thätigkeit nach wie vor auf die Ausgestaltung der Naturphilosophie in der Zeitschrift für speculative Physik concentrirte. Dort erschienen im J. 1802 „Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie“ (S. W. I, 4) – eine weitere Ausführung der Metaphysik des Identitätssystems; im „Kritischen Journal“ ein Artikel „Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt“. Beide Arbeiten zeigen einen fühlbaren Einfluß der strengeren Methodik Hegel’s auf S. so sehr, daß über die Autorschaft der letztgenannten Abhandlung zwischen Schellingianern und Hegelianern ein langwieriger Streit entstehen konnte, in welchem sich die letzteren mit ebensoviel Recht auf die Form, als jene auf den Inhalt zu berufen vermochten.

Aus den Vorlesungen des Sommers 1802 ging die Schrift „Ueber die Methode des akademischen Studiums“ (1803, S. W. I, 5) hervor – eine Arbeit, welche classischen Werth beanspruchen darf. In künstlerisch gerundeter Form verkündet S. hier zum ersten Male seine Weltanschauung als Ganzes, Reales und Ideales, Natur und Geschichte, gleichmäßig umfassend. Die Philosophie [12] erscheint als der einheitliche Mittelpunkt alles Wissens; die einzelnen Facultätswissenschaften erhalten durch die Beziehung auf ihn die Ablösung vom handwerklichen Treiben und die Wechselwirkung mit der Idee des Wissens als Totalität. Eine tiefsinnige Construction der Welt und die würdigste Auffassung des akademischen Studiums. Wie bei einem auf Fernwirkung berechneten Kunstwerke treten die zahlreichen störenden Unebenheiten und Seltsamkeiten der bisherigen Arbeiten Schelling’s hier zurück: man empfängt beim Lesen der Schrift den Eindruck einfacher und klarer Linien, die sich zu einem wohlgeordneten Ganzen verbinden. Es war eine großartige Abschiedsgabe an die Universität, von welcher S. sich zu scheiden rüstete. Oeffentliche und häusliche Verhältnisse wirkten zusammen, um diesen Entschluß in ihm zu reifen. Nicht ohne reichliche Schuld Schelling’s hatte sich seine amtliche Stellung äußerst unerquicklich gestaltet. Gleich das erste Heft des „Kritischen Journals“ hatte ein „Gespräch zwischen dem Verfasser (S.) und einem Freunde“ (Hegel) gebracht, „Ueber das absolute Identitätssystem und sein Verhältniß zum neuesten (Reinhold’schen) Dualismus“, welches die Formen und Wendungen der zwanglosesten Ausdrucksweise unter vier Augen mit dem derbsten Realismus in die Litteratur übertrug. Auch wenn Reinhold nicht College Schelling’s und diesem als Vertreter der Kantischen Philosophie und Anhänger Fichte’s auch litterarisch nahestehend gewesen wäre, müßte der hier angeschlagene Ton der Polemik als ein unwürdiger, roher, bezeichnet werden. Noch schlimmer aber war die Fehde, in welche S. mit der ebenfalls von Collegen, dem Philologen Schütz und dem Juristen Hufeland, herausgegebenen Jenaer Litteraturzeitung gerathen war. Ein eifriges Organ Kant’scher Philosophie, konnte und wollte das Blatt dem Sturmschritt der neuesten philosophischen Entwicklung nicht folgen; die ablehnende Haltung der Herausgeber gegen S. hatte schon im J. 1799 dessen Erbitterung erregt und S. im ersten Bande der Zeitschrift für speculative Physik zu einer Polemik gereizt, deren wahrhaft „homerische“ Grobheit auch den Kampfesmuth des Gegners so herausforderte, daß die Sache schließlich zu beiderseitigen Injurienklagen und beiderseitiger Verurtheilung zu Geldstrafen führte. Aber leider nicht endete. Neue Angriffe der Gegner, zu welchen gewisse unfragliche Absurditäten der neuen Naturphilosophie, namentlich in ihrer angestrebten Einwirkung auf die Medicin, willkommenen Anlaß boten, führten zu neuer Entgegnung Schelling’s („Benehmen des Obscurantismus gegen die Naturphilosophie“) in seiner Zeitschrift, worin S. in lärmender Reclame für sich und in Verunglimpfung der Widersacher alles Maaß verlor. Aber bereits hatten sich die Gegner die Stelle ausersehen, um S. in seinen heiligsten Gefühlen tödtlich zu treffen. Während des Aufenthaltes in Jena war in S. allmählich eine tiefe Neigung zu der geistvollen Karoline Schlegel, der Gattin des ihm litterarisch und persönlich nahestehenden August Wilhelm Schlegel entstanden – eine Leidenschaft, die freilich erst allmählich ihrer selbst bewußt wurde. Die Frau war fast zwölf Jahre älter als S., Schlegel ihr zweiter Gatte, den sie nach vierjähriger erster Ehe und achtjährigem Wittwenstande geheirathet hatte. Anfangs sucht sie ihr Verhältniß zu S., von dessen Genialität sie mächtig ergriffen wird und dessen Arbeiten sie mit Begeisterung folgt, mütterlich zu gestalten; aber sehr bald mischten sich Töne von anderer Klangfarbe hinein. S. gerieth zwischen Karoline und ihrer eben aufblühenden Tochter aus der ersten Ehe, Auguste Böhmer, welche den Geist und scharfen Verstand der Mutter mit mädchenhafter Frische vereinigte, bald in wunderliche Herzensbedrängniß. Der plötzliche Tod des Mädchens, welches im Juli 1800 an der Ruhr starb, bringt eine entscheidende Wendung näher. Im Frühjahr 1801 war Karoline nach längerer Abwesenheit nach Jena zurückgekehrt, ohne ihren Gatten, der sich in Berlin einen neuen [13] Wirkungskreis zu bereiten suchte. Immermehr verschiebt sich das Verhältniß; war sie früher Schlegel’s Frau und Schelling’s Freundin, so wird sie nun in fast unmerklichem Uebergange Schlegel’s Freundin und Schelling’s Frau. Der Bruch zwischen den Gatten erfolgt im Sommer 1802; im Herbste das gemeinsame Gesuch um Scheidung. Daß diese Dinge, welche sich, man darf sagen vor aller Augen, in Jena abspielten, mannichfaches Aergerniß und den Gegnern erwünschte Waffen gaben, läßt sich begreifen. Ein anderer Umstand kam dazu. S. hatte am Krankenbette der verstorbenen Auguste gestanden, und selbstthätig, als Arzt, in die Behandlung eingegriffen. Wahrscheinlich wäre der tödtliche Ausgang sowieso unabwendbar gewesen. Was aber konnte den schwergereizten Gegnern Schelling’s willkommener sein, als diese durch den verdrängten Arzt ruchbar gewordene Thatsache, durch deren Benutzung der Mensch und der kurz zuvor von der medicinischen Facultät zu Landshut mit dem Doctor honoris causa ausgezeichneten Naturphilosoph gleich tief zu verwunden waren. Aber dies war selbst S., dessen Sache vornehme Zurückhaltung nicht zu sein pflegte, zuviel. Er gibt keine Antwort mehr. An seiner Stelle übernimmt Schlegel die Vertheidigung, unter den gegebenen Verhältnissen freilich die ungeeignetste Persönlichkeit, da sein Auftreten dem boshaften Klatsch der Gegner nur neue Nahrung zuführte.

Die Stellung in Jena wurde unhaltbar. Im Herbst und Winter 1802/3 waren die letzten, bösartigsten Angriffe auf S. und Schlegel erschienen; im Mai 1803 wird die Scheidung Schlegel’s von seiner Gattin beurkundet; wenige Tage darauf verläßt S. mit Karoline Jena; am 26. Juni wird er von seinem Vater mit ihr getraut. Bald thaten sich neue günstige Aussichten auf. Als eine litterarische und akademische Berühmtheit war S. von Jena geschieden. Der Besuch seiner Vorlesungen war von Semester zu Semester gestiegen. Mit den einflußreichsten Trägern der allgemeinen Litteratur, mit Goethe, mit den Romantikern, stand er in der engsten Wechselwirkung. Die Naturphilosophie, wie kurz ihr Dasein noch war, begann bereits über die Philosophie hinaus auf andere Wissenschaften zu wirken, auf die Geologie und physikalische Geographie durch den Norweger Steffens, auf Physik und Chemie durch Eschenmayer und Joh. Wilh. Ritter und insbesondere auf die Medicin durch die Anhänger der Brown’schen Schule in Deutschland. Die letztere Richtung war es auch vornehmlich, welche Schelling’s Berufung an die altbischöfliche Universität zu Würzburg betrieb. Dieses war mit den fränkischen Bisthümern nach dem Reichsdeputationshauptschlusse (25. Febr. 1803) in den Besitz des Kurfürstenthums Baiern gelangt und wurde eben in dem kritischen Sommer von 1803 zeitgemäß reorganisirt. Es fehlte nicht an mancherlei Opposition, in der auch seine alten Gegner von Jena her geschäftig mitthaten; indessen S. drang durch, erhielt im September 1803 sein Anstellungsdecret als ordentlicher Professor der Naturphilosophie und begann im nämlichen Wintersemester die Vorlesungen. Der Eindruck war auch hier ein bedeutender; aber die Stellung nicht ohne Schwierigkeiten. Der in dem ehemaligen geistlichen Fürstentum tief eingewurzelte Clericalismus wie die ältere bairische Aufklärungs- und Popularphilosophie arbeiteten S. gemeinsam entgegen; jener sah den Protestanten, dieser den Obscuranten und Schwärmer in ihm. Die kurfürstliche Regierung verstattete namentlich den letzteren Tendenzen, vertreten durch Salat und Weiller in München und Franz Berg in Würzburg, mehr Einfluß auf die Neuorganisation der Mittelschulen als sich nach Schelling’s Ansicht mit der Geltung der von ihm gelehrten Philosophie vertrug. Ein Versuch Schelling’s, in seiner gewohnten herausfordernden Weise auf die Regierung zu drücken, schlug völlig fehl und ließ ihm nur die unangenehme Wahl, entweder seine Stellung aufzugeben, oder eine derbe Zurückweisung einzustecken. [14] Er überwand sich und blieb. Seine Maßlosigkeit hatte weiter nichts erreicht, als seinen Gegnern auch da noch einen Triumph zu sichern, wo sie ihr eigentliches Ziel, ihn wegzudrängen, vereitelt sahen.

Für die Bitterkeit dieser Erfahrungen mochte ihn die steigende Wirkung entschädigen, welche seine Philosophie auf bedeutende Zeitgenossen auszuüben begann. G. M. Klein, Rector des Gymnasiums in Würzburg, und Joseph Windischmann zu Aschaffenburg, begannen als unbedingte und gefügige Anhänger in zahlreichen Schriften Schelling’s Ideen zu verbreiten; Lorenz Oken, Autenrieth, Döllinger, Troxler die Naturphilosophie zur Grundlage biologischer Spezialarbeiten zu machen; G. H. Schubert sie in die Naturgeschichte und Anthropologie einzuführen; auch Görres stellt eine Zeit lang seine glänzende Begabung in den Dienst der neuen Philosophie. Freilich kommt es bei S. selbst zu keiner reinen Freude an seinen Anhängern. Dies lag in den eigenthümlichen Entwicklungsverhältnissen seiner Lehre begründet, die seit Schelling’s erstem litterarischen Auftreten in beständigem Flusse war und nirgends einen abschließenden und vollkommen authentischen Ausdruck gefunden hatte. Die verschiedenen Standpunkte, welche für S. selbst bereits „überwundene“ waren, gewannen jeder für sich Anhänger, die von da aus weiter zu arbeiten sich anschickten und dies im Geiste Schelling’s zu thun gedachten, auf den sie sich in vielen Fällen mit Recht berufen konnten. Unaufhörlich gab es so abzuwehren, angebliche Mißverständnisse aufzuklären; Schelling’s Nervosität verstieg sich schon im J. 1804 (in der Vorrede zu der Schrift über „Philosophie und Religion“) dazu, sich die „Zudringlichkeit der Nachbeter und Erläuterer“ ein für alle Mal zu verbitten und zu bedenken zu geben, „daß einige Geister doch nicht allein zu dem Zwecke produciren, damit andere Gelegenheit zur Buchmacherei haben.“ Nicht um eine Schule im gewöhnlichen Sinne handle es sich ihm; aber wie es Dichterschulen gab, so mögen gemeinsam Begeisterte fortdichten an diesem ewigen Gedicht! Freilich war es schwer, von S. die Legitimation zu solcher Mitarbeiterschaft zu erhalten, wenn man nicht auf jede geistige Selbständigkeit verzichten wollte; und eben jetzt wurden selbst eifrige Anhänger des Identitätssystems, wie Eschenmayer und J. J. Wagner, die von ihm selbst nach Würzburg gezogen, durch einen neuen Wechsel in Schelling’s Ansichten abgestoßen. Zwar die in Würzburg gehaltenen „Vorlesungen über das System der Philosophie“, welche aus Schelling’s Nachlaß in die gesammelten Werke übergegangen sind (I. Abth., 6. Bd.), zeigen noch das Identitätssystem und zwar in seiner formell vollendetsten Gestalt. Der Sieg Spinoza’s über Fichte ist hier entschieden; diese Vorlesungen müssen in derselben Weise als eine freie Bearbeitung der „Ethik“ mit Hereinnahme Fichte’scher Ideen gelten, wie Schelling’s erste Arbeiten als Phantasien über Fichte unter dem Eindruck Spinoza’s. Aber nur noch auf dem Katheder hält S. die alte Form fest; seine litterarischen Arbeiten zeigen ihn bereits im vollen Uebergange zu einer neuen Weise des Philosophirens, welche einer intellectuellen Katastrophe beinahe gleichkommt, wenn man sich an Schelling’s ursprünglichen Ausgangspunkt, den Kriticismus Kant’s erinnert.

Im Jahre seiner Uebersiedlung nach Würzburg hatte Eschenmayer eine Schrift erscheinen lassen: „Die Philosophie in ihrem Uebergange zur Nichtphilosophie“, worin er für den religiösen Glauben ein eigenes, dem philosophischen Denken schlechthin unzugängliches, aber dasselbe nothwendig ergänzendes Gebiet in Anspruch nahm. Daß S. dies als eine Art Herausforderung empfand, läßt sich nur begreifen, wenn man bedenkt, daß schon die Einleitung zum Bruno in seltsamer Wendung Philosophie und Mysterienlehren einander gleichgesetzt und für ein folgendes Gespräch eine Deutung der Mysterien in Aussicht gestellt hatte, d. h. eine Beschreibung der Sinnbilder und Handlungen, durch welche eine [15] solche esoterische Philosophie dargestellt werden könne. Diesen Dialog ist S. schuldig geblieben; den Stoff desselben gab er, gereizt durch Eschenmayer, zwei Jahre später (1804) in der Schrift „Philosophie und Religion“ (S. W. I. 6). Diese merkwürdige Schrift gibt das Grundthema an zu Allem, was S. von da ab geschrieben hat. Indem er sich scheinbar angelegen sein läßt, der Philosophie das höchste und würdigste Object, die Einsicht in die tiefsten und verborgensten Dinge zuzuweisen, sie dem religiösen Glauben zu associiren, bringt er sie thatsächlich in die drückendste Abhängigkeit von einer fremden Macht. In diesem Gesellschaftsverhältniß ist es die Religion, welche alle Werkmittel besitzt und dem philosophischen Denken die Arbeitsbedingungen vorschreibt. Noch hält zwar S. an der Naturphilosophie fest, der eigenthümlichsten seiner bisherigen Leistungen, welcher er auch den besten Theil seines Ruhmes verdankte. Zu ihrer weiteren Ausbildung und Befestigung vereinigte er sich im J. 1805 mit seinem Freunde Marcus in Bamberg zur Herausgabe der „Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft“, in denen er selbst die Darstellungen der Zeitschrift für speculative Physik weiterführen wollte, die gerade bis zur Grenze der organischen Naturlehre gelangt sei. Aber dazu ist es nie gekommen. Viel wichtiger als die Medicin, beziehungsweise die philosophische Biologie, zu deren Ausführung S. offenbar die positiven Kenntnisse mangelten, ist ihm die Predigt der neuen theosophischen Naturanschauung, welche in Schelling’s Beiträgen zu den Jahrbüchern (Vorrede vom Juni 1805; Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1805); Aphorismen über die Naturphilosophie (1806, S. W. I, 7) eine erweiterte Ausführung in dem Sinne erhält, welchen schon die Schrift „Philosophie und Religion“ hatte erkennen lassen. Der Contrast zwischen den mit priesterlicher Salbung in dithyrambischer Form vorgetragenen Geheimlehren Schelling’s und der Ueberschrift des Ortes, an welchem sie veröffentlicht werden, wirkt auf den heutigen Leser mit unwiderstehlicher Komik. Das Unternehmen war auf die Dauer so wenig lebensfähig wie die speculative Zeitschrift für Physik, und aus den nämlichen Gründen wie diese. Es sind nur drei Bände erschienen, der letzte im J. 1808 und dieser enthält nichts mehr von S.

In dessen Geschick hatten mittlerweile die großen politischen Ereignisse der Zeit tief eingegriffen. Den Bestimmungen des Preßburger Friedens gemäß ging das ehemalige Bisthum Würzburg am 1. Januar 1806 an den Großherzog Ferdinand von Toscana über. Die Aussicht auf diesen Regierungswechsel war für S. nach den vorausgegangenen Kämpfen gegen den fränkischen Clericalismus wenig erfreulich und die Folge zeigte bald, wie richtig seine Befürchtungen gewesen waren. Er leistete den neuen Diensteid nicht, sondern begab sich im Frühjahr 1806, der Noth gehorchend, wenn auch nicht ohne Widerstreben gegen die bairischen Verhältnisse, nach München, um sich für die Zukunft umzuthun. An der Universität Landshut war eben damals eine Professur erledigt und Schelling’s dortige Anhänger arbeiteten naturgemäß für ihn; aber gleichviel ob S. Lust hatte hinzugehen oder nicht, wie er Windischmann gegenüber behauptet (Briefw. II, 80): die bairische Regierung dachte gar nicht daran, ihn wieder als Professor anzustellen. Man wollte als Lehrer vor allem einen Mann, der kein „Systemnarr“ wäre; und die unter glänzenden Bedingungen erfolgende Berufung des Lübecker Predigers Fr. Köppen, welcher im J. 1803 in seinem Buche „Schelling’s Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts“ mit großem Scharfsinne gegen die logischen und methodischen Schwächen des Identitätssystems angekämpft hatte, konnte S. einen deutlichen Wink geben, welche Stimmung in Regierungskreisen gegen ihn herrschte. Indessen S. hatte doch auch Freunde, und daneben wohlbegründete Rechtsansprüche an die bairische Regierung, so suchte man denn Nothwendiges und Nützliches zu verbinden, indem man ihn unter Fortbezug des [16] Würzburger Gehaltes zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften ernannte. Damit ist der Fortbestand des Verhältnisses Schelling’s zum bairischen Staate entschieden; der Philosoph der Romantik dauernd an München gefesselt, wo er (mit Einrechnung des Erlanger Aufenthaltes) volle 35 Jahre blieb. Von innen wie von außen angesehen stellt sich dieser Uebergang nach München als der entscheidende Wendepunkt in Schelling’s Leben dar. Die Grundzüge einer neuen Theosophie als scheinbar letzte Consequenz des Identitätssystems hatte er aus Würzburg mitgebracht; jetzt lösen sich die persönlichen Bande, welche S. noch mit der geistigen Heimath seiner Philosophie verknüpfen, völlig auf; neue Menschen, neue Mächte, nehmen Besitz von ihm. Von allen Wandlungen, die dieser Proteus durchgemacht, ist dies die tiefgreifendste; er hat sich selbst nie wiedergefunden.

Zunächst erfolgte nun der öffentliche Bruch mit Fichte. Im Sommer 1806 schrieb S.: „Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre“ (S. W. I, 7). Diese hatte damals eben in den Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, über das Wesen des Gelehrten und in der Anweisung zum seligen Leben unvergleichlich machtvolle und praktisch wirksame Gestalt gewonnen. Auch Fichte hatte, mit Hülfe der spinozistischen Anklänge, die seine Ich-Philosophie schon früh aufwies, Anknüpfungen an das religiöse Bewußtsein gesucht; aber er war streng auf dem Boden seiner Sittenlehre geblieben und hatte gegen die phantastischen Ausschweifungen der deutschen Wissenschaft, gegen unklares Schwärmen, eifrigen Protest eingelegt. Durch diesen (übrigens ohne Nennung von Namen erhobenen) Protest fühlte S. sich in seiner Ehre und durch die religiöse Wendung Fichte’s in seinem litterarischen Eigenthum gekränkt; er brach nun das langgehaltene Schweigen gegen den einstigen Meister. In allem, was S. über Fichte’s mangelndes Verständniß für die Natur bemerkt, dürfen wir ihm einfach Recht geben; er hat das Verdienst, jene Einseitigkeit Fichte’s, über die er selbst hinausgeschritten war, mit aller Schärfe bezeichnet zu haben. Umgekehrt fehlt S. alles Verständniß für die mächtigen praktischen Ideale, die aus den erwähnten Schriften Fichte’s der Nation begeisternd entgegenleuchten; sie sind für S. nur die letzte Frucht der alten Aufklärungsphilosophie, dagegen was Fichte Schwärmerei genannt hatte der Rückweg zu den ewigen Urquellen der Wahrheit und des Lebens. Dem kühnen Philosophen der That gegenüber, der eben jetzt den geistigen Kampf um die ethisch-politische Wiedergeburt der Nation begonnen hatte, rettet sich S. auf die Insel frommer antiquarischer Beschaulichkeit. Für Anderes wäre freilich in dem damaligen Baiern auch schwerlich Raum gewesen. Und es macht einen peinlichen Eindruck, S. von unerlaubter Aneignung fremder Gedanken sprechen zu hören, einem Manne gegenüber, durch dessen behagliche Ausmünzung er einst selber berühmt geworden war. Mag Fichte zu der neuen Fassung logisch berechtigt gewesen sein oder nicht: vorbereitet war sie in seinem Denken so gut wie in dem Schelling’s und sie stammte in beiden aus derselben Quelle, aus dem Studium Spinoza’s. Aber schon stand die Nemesis für S. bereit. Im J. 1807 erschien Hegel’s „Phänomenologie des Geistes“, das Resultat der Entwicklung, welche sich seit Schelling’s Weggang von Jena bei Hegel vollzogen hatte, und die geharnischte Vorrede des gewaltigen Buches, mit ihrem einschneidenden Protest gegen das „geniale“ Philosophiren, das sich für den Begriff zu gut hält und phantastisch wird, gegen das formalistische Spiel mit einigen Gegensätzen, in die man die Wirklichkeit zwängt, konnte S. keinen Augenblick im Zweifel lassen, wessen Richtung damit in erster Linie gemeint, und daß aus dem ehemaligen Bundes- und Gesinnungsgenossen ein gefährlicher Gegner zu erwachsen im Begriffe sei. Der Brief vom 2. November 1807, in welchem S., sehr verspätet, den Empfang [17] des Buches anzeigt und ablehnt, die Polemik der Vorrede auf sich zu beziehen, ist der letzte, den er an Hegel geschrieben hat. Noch konnte er nicht ahnen, wie verhängnißvoll die Trennung von Hegel für ihn werden sollte. Doppelt verhängnißvoll, da S. nun in den geistigen Bannkreis eines Mannes wie Franz Baader gerieth, der, selber Mystiker und Phantast durch und durch, das bei S. längst vorbereitete Uebergewicht der Phantasie über den Verstand vollends entschied und zugleich S. mit allem Nachdruck in die theologische Weltanschauung zurücklenkte. Es kann keine Frage sein, daß S., der bei seiner Ankunft in München Baader als fertigen Denker von ausgeprägter Eigenart vorfand, in diesem Verhältnisse zunächst durchaus der empfangende Theil war. Das einigende Band aber war das Studium des verworrensten und unklarsten aller Mystiker, Jakob Böhme’s, dessen Einfluß bei S. nun an Stelle des Spinoza tritt und dessen Gedanken man in Schelling’s Schriften nach dem Jahre 1807 in Fülle antrifft.

Unterdessen hatte sich Schelling’s Stellung in München wider Erwarten befestigt. Die gehässige Opposition, welche die zu vorläufiger Säuberung dieses alten Jesuitenbodens berufenen protestantischen Franken und Norddeutschen vielfach fanden, machte sich S. gegenüber minder fühlbar. Seine Stellung brachte ihn mit der Oeffentlichkeit weniger in Berührung, und seine süddeutsche Art mochte es ihm erleichtern, sich in die Baiern zu finden. Am 12. October 1807 hielt er in öffentlicher Versammlung der Akademie der Wissenschaften zur Feier des königlichen Namensfestes eine Rede „über das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur“ (S. W. I, 7). Das im System des transcendentalen Idealismus berührte Problem einer Metaphysik des Schönen knüpft S. mit Geschick an die praktischen Fragen, welche in Lessing’s Laokoon, Winckelmann’s Geschichte der Kunst, Goethe’s Propyläen, verhandelt worden waren. Ohne im Gedanken darüber hinauszugehen, stellt die Rede selbst ein stilistisches Kunstwerk dar. Das Vollendetste was S. je geschrieben, kann sie als ein classisches Erzeugniß rednerischer Prosa bezeichnet werden. Auch der augenblickliche Eindruck war ein sehr günstiger; sie hatte die Ernennung Schelling’s zum Generalsecretär der Akademie der bildenden Künste, mit dem Range eines Collegiendirectors, zur Folge. Der Kronprinz Ludwig hatte der Festsitzung angewohnt; er mag damals die ersten Eindrücke von Schelling’s Persönlichkeit empfangen haben, die für dessen spätere Stellung in Baiern entscheidend wurden. Die Briefe Carolinens geben den Nachklang dieser in sich beruhigten und beglückten Zeit; sie gewähren zugleich den Einblick in ein eheliches Zusammenleben von seltenem Reichthum und seltener Frische: die Gattin mit hingebendem Eifer allen Bestrebungen ihres Mannes lebend; und S. der klugen geistvollen Frau die reiche Beweglichkeit seines Geistes in immer neuen Wendungen erschließend. Während er, nun ungehemmt durch äußere Verpflichtungen, die von Baader und Böhme kommenden Anregungen in sich ausgestaltet, reift in ihm der Plan, die jetzige Phase seines Philosophirens mit den früheren auch äußerlich zu verknüpfen und in Eins zusammenzufassen. Im J. 1809 erschien, mit einer Vorrede vom 31. März, der 1. Band von Schelling’s „philosophischen“ Schriften. Derselbe enthielt außer der Abhandlung „Vom Ich“, den „Briefen über Dogmatismus und Kriticismus“, die „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“, die Rede über die bildenden Künste und als das einzig Neue: „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ (S. W. I, 7). Dieser erste Band ist auch der einzige geblieben. Die naturphilosophischen Arbeiten sind sämmtlich bei Seite geblieben; merkwürdiger Weise aber auch das System des transcendentalen [18] Idealismus. Unverkennbar verräth sich in der Vorrede das Bestreben, die Erinnerung an diese Schrift zu verwischen. S. leugnet, bis jetzt überhaupt ein fertiges System aufgestellt zu haben und bezeichnet die neue Abhandlung über die Freiheit als Ergänzung der früheren unvollendeten Darstellung seines Systems (in der Zeitschrift für Physik) und als die erste Schrift, worin er seinen Begriff des idealen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlege. Ebenso schreibt er an seinen Freund Windischmann: „er habe in dieser Abhandlung das, was man sein System nennen kann, da hinausgeführt, wo es auf dem Wege der ersten Darstellung wirklich hinaussollte“. In diesen Aeußerungen Schelling’s läuft doch wohl einige optische Täuschung mit unter; von dem neuen Standpunkte aus gewinnen die älteren Arbeiten eine veränderte Gestalt, und die neue Abhandlung größere Tragweite, als man ihr heute wird zugestehen können. Was wir in ihr besitzen ist nicht die ganze ideale Seite der Philosophie, sondern eine Metaphysik des Bösen, welche tiefsinnige Speculation und schrullenhafte Mystik nebeneinander zeigt, ein treues Abbild der zwiefältigen Stellung, in welche S. innerlich gerathen ist, ein wunderlicher Bastard des Naturalismus und der Theologie, und darum von beiden Seiten mit Mißtrauen behandelt.

Während S. so, man möchte sagen im Gefühle des Zwiespaltes mit sich selbst, die Anlehnung an seine Vergangenheit sucht, zerreißt der Tod das lebendige Band, welches ihn mit seiner großen, schöpferischen Zeit verknüpfte. Am 7. September 1809 stirbt seine Gattin Caroline in seiner schwäbischen Heimath zu Maulbronn, wo beide zum Sommeraufenthalt weilten – ein Schlag, der ihn bis ins Innerste trifft, nicht bloß die Frau, sondern eine geistige Kraft, eine Lebensweckerin, von seiner Seite reißt. Sein Schmerz ergießt sich gegen Windischmann in das Gelöbniß „in diesem Leben, das keinen Werth mehr haben kann und nicht willkürlich enden darf, ganz allein für das Höchste zu wirken“; aber es ist, als ob die frische Kraft des Schaffens, der Muth des Gebens, gebrochen wären, seit sie nicht mehr neben ihm ist. Mit Mühe und vielfach kränkelnd überdauert er den Winter 1809/10 in München; im Februar geht er mit viermonatlichem Urlaub nach Stuttgart „wo wenigstens die Natur und zum größten Theile auch die Menschen anders und menschlicher sind denn hier. In München könnte man wirklich versauern und versteinern“. In der That fand er in der württembergischen Hauptstadt, wo er bis zum October 1810 weilte, einen Kreis von angesehenen Männern, die ihm mit lebhaftem Interesse entgegenkamen und zur Mittheilung seiner Lehre in freier, halbdialogischer Form bewogen. In diesem anregenden Verkehr, welcher ihm die seit Würzburg entbehrte Lehrthätigkeit wieder erschloß, fand S. sich selber wieder. Seine zu diesem Zwecke gemachten Aufzeichnungen, welche aus dem Nachlasse in die gesammelten Werke übergegangen sind (Abth. I, Bd. 7) ruhen im wesentlichen auf den in der Abhandlung über die Freiheit entwickelten Gedanken; sie sind zugleich der deutlichste Beleg für eine Thatsache, die damals aus Mangel an Documenten zweifelhaft bleiben konnte, jetzt aber an der Hand des Nachlasses über allen Zweifel hinaus sichergestellt werden kann: daß S. nicht daran dachte sein früheres System in paralleler Entwickelung zu ergänzen, sondern daß in der Abhandlung über die Freiheit die Grundlinien einer neuen gnostischen Weltanschauung niedergelegt sind, in deren Abgrund dasjenige verschwindet, was früher das Wesentliche war. Die Indifferenz des Idealen und Realen, im Identitätssystem als der Scheitelpunkt zweier Linien construirt, erweitert sich jetzt dem seherischen Auge des neuen Propheten zu einer Welt für sich. Die Philosophie, die einst innerhalb jenes Winkels, in der erfahrbaren Welt, gelegen hatte, liegt jetzt jenseits desselben, zwischen den ins Unendliche verlängerten Linien, im Unerkennbaren. Aus einer begrifflichen Construction des Weltinhaltes [19] wird sie, wie einst schon der „Bruno“ in Aussicht gestellt hatte, Mysterium, Geschichte Gottes und dessen, was vor der Welt war und nach der Welt sein wird.

Keinen ungünstigeren Zeitpunkt hätte der alte Fr. Jacobi wählen können, um in einem Schriftchen „Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung“ seine alte These, Wissenschaft und Demonstration führe nothwendig zum Atheismus, mit besonderer Beziehung auf S. zu predigen. Mochte er zehnmal Recht haben mit der Behauptung, daß der Gott, von dem der mystisch gewordene S. redete, nicht immer in seiner Philosophie heimisch gewesen sei und daß S. eigentlich nichts von ihm wissen könne – er gab sich in seinem Angriff solche Blößen, daß S. leichtes Spiel hatte. Seit Jahren bestand zwischen beiden Männern ein gespanntes Verhältniß. Schon 1802 waren drei polemische Briefe Jacobi’s über die Identitätslehre im Anhang zu der Schrift von Köppen (s. ob.) erschienen, welche S. jedoch unbeantwortet gelassen hatte. Als S. nach München kam, fand er Jacobi als Präsidenten der Akademie. Rücksichten conventioneller Höflichkeit erhielten leidliche Beziehungen zwischen den Männern, die sich innerlich abstießen. Aber die Einleitung der Schrift über die Freiheit brachte einen nicht mißzuverstehenden Ausfall auf Jacobi. Und jetzt brach S. offen gegen ihn los. Er mußte auch wol. Mochte er seinen Gott haben woher er wollte: ein Angriff aus solchem, immerhin angesehenen Munde, der ihn zum Atheisten stempelte, bedrohte ihn, den Theosophen, in seinem Heiligthum, in dem was jetzt der Mittelpunkt seines Denkens geworden war, wovon er sich die größte Wirkung auf die Zeit versprach. S. schrieb: „F. W. J. Schelling’s Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Fr. H. Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus“ (1812, S. W. I. Abth. 8. Bd.). Die Schrift ist die Vernichtung des Gegners. Litterarisch und moralisch. Ersteres mit Recht; das zweite mit Unrecht; denn Jacobi hatte gewiß bona fide geschrieben, in der Meinung eine rettende That zu thun; aber er war so unvorsichtig gewesen, als sein Gegner erbarmungslos. Der unmittelbar darauf erfolgende Rücktritt Jacobi’s von der Präsidentschaft der Akademie bedeutete für S. auch äußerlich vollen Erfolg.

Die Abfassung der Schrift gegen Jacobi unterbrach eine Arbeit, welche S. schon gleich nach der Rückkehr von Stuttgart begonnen haben muß und an welcher er kein Ende finden konnte. Es war die als Fragment aus dem Nachlasse in die Werke (Abth. I, Bd. 8) übergegangene Schrift: „Die Weltalter“; wie man heute sieht, ein Versuch, die in der Abhandlung über die Freiheit und den Stuttgarter Privatvorlesungen zuerst angedeutete Theogonie vollständig auszuführen. Schon im J. 1811 hatte er das 1. Buch als gedruckt angekündigt, im nächsten Jahre stellt er das Erscheinen wieder in Aussicht, im J. 1813 kam die nationale Erhebung dazwischen; 1815 werden die „Weltalter“ im Meßcatalog als erschienen aufgeführt und in der Allgemeinen Zeitung angezeigt, aber gleichwol nicht ausgegeben und von da an wird die Erwähnung des Werkes auch in den Briefen immer seltener.

Aber während S. als Schriftsteller über die Hypochondrie klagt, die ihm das Arbeiten und Fertigmachen erschwere, war in sein Haus neues blühendes Leben eingezogen. Am 11. Juni 1812 hatte S. eine zweite Ehe geschlossen. Er blieb in dem Kreise, in welchem er schon durch Caroline heimisch war. Seine Erkorene war Pauline Gotter. Ihr Vater war ein Jugendfreund Goethe’s gewesen, der mit der Familie stets freundliche Beziehungen unterhielt; ihre Mutter mit der verstorbenen Gattin Schelling’s innig befreundet; sie selbst mit jugendlichem Enthusiasmus an Caroline hängend. Die gemeinsame Trauer um diese, die gemeinsamen Beziehungen, halten den Briefwechsel aufrecht, der immer häufiger [20] und vertraulicher wird, zu dem Wunsche persönlicher Begegnung und mit dieser zu Verlobung und Heirath führt. Schelling’s zweite Frau war vierzehn Jahre jünger als er, sechsundzwanzig jünger als Caroline; ihre Briefe zeigen eine anmuthig belebte Natürlichkeit, wenn auch entfernt nicht die geistige Bedeutung der Verstorbenen. Dieser Verlust war nicht zu ersetzen. Caroline war nicht bloß Frau, sondern Freund und geistiger Berather gewesen.

Mit dem neuen Eheglück, aus welchem im Laufe der Jahre drei Söhne und drei Töchter hervorgingen, gerieth S. in ein behagliches Stillleben hinein. Seine bisher so eifrig betriebene schriftstellerische Thätigkeit kommt ins Stocken. Im Eifer der nationalen Erhebung war ihm der Plan entstanden, die besten Kräfte der wissenschaftlichen Litteratur in Deutschland zu einem gemeinverständlichen Unternehmen zu sammeln, welches den Namen „Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche“ führen sollte. Dieselbe erschien in der That im J. 1813. Das Ideal aber, welches S. vorschwebte, und welches er in der Vorrede entwickelte, war er zu verwirklichen ganz außer Stande: es floß ihm nur sehr dürftiges Material zu und der Beitrag, welchen er selbst geliefert hatte, eine peinlich genaue Auseinandersetzung mit Eschenmayer über die in der Abhandlung über die Freiheit entwickelte Metaphysik (S. W. I. Abth. Bd. 8), mußte auf einen größeren Leserkreis geradezu abstoßend wirken. Schon im folgenden Jahre ging das Unternehmen ein. Die begonnene Sammlung der philosophischen Schriften bricht ab; die mit der Abhandlung über die Freiheit angekündigte Bearbeitung „des gesammten idealen Theils der Philosophie“, erscheint sowenig wie die „Weltalter“. Was Schelling hier verspricht, aber nicht zur Ausführung bringt, tritt mittlerweile in der „Logik“ seines Freundes Hegel in großartiger, die Zeitgenossen packender Weise hervor. Diese Leistung Hegel’s war das Pharsalus der Schelling’schen Philosophie; die Suprematie in dem großen geistigen Wettkampfe ist ihm von da aus den Händen gerungen; unthätig sieht er, der sonst so Streitbare, der steigenden Macht dieses Gegners zu; erst nach Hegel’s Tod erschöpft sich sein Groll in ohnmächtigen Protesten. Das Einzige, was S. von dem Angekündigten wirklich bot, war die Abhandlung: „Ueber die Gottheiten von Samothrake“, welche 1815 als „Beilage“ zu den nicht mitveröffentlichten „Weltaltern“ erschien (S. W. I, 8). Diese Schrift, offenbar angeregt durch Creuzer’s „Symbolik und Mythologie der alten Völker“ (1810), ist insofern interessant, als sie die erste Spur jenes Irrlichts enthält, welches S. und seine Anhänger später das „historische Philosophiren“ genannt haben, d. h. den Uebergang von der Philosophie als rationaler Begriffswissenschaft zu antiquarischer Schatzgräberei in den Grüften der Vergangenheit. In wunderlicher Verkehrung des Goethe’schen Wortes: „Alles Gescheidte ist schon einmal gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken“, wirft sich S. auf die Tradition, um den Gott und seine Geschichte, welche den Hauptinhalt seiner jetzigen Lehre bildeten, als das Erbgut des urältesten Glaubens der Menschheit nachzuweisen. Ein Philosophiren, das sich historisch nennt und doch in seiner unvermeidlichen Tendenz, die geschichtlichen Bildungen nicht rein aus sich selbst, sondern nach einem vorgefaßten Begriff zu verstehen, das gerade Gegentheil aller wahren historischen Methode darstellt.

S. selbst sieht sich in wunderlicher Stellung zur Zeit. Mit den rückläufigsten Tendenzen der romantischen Schule, mit Mystik und Magie, mit Wünschelruthen und Somnambulismus, mit Ahnungen aus dem Jenseits und Nachtseiten des Seelenlebens, hatte er sich tief eingelassen; anderseits waren doch der Protestant und der Forscher untilgbar in ihm und gewisse Ausartungen, wie sie in Fr. Schlegel, Baader und Görres zu Tage traten, gründlich zuwider. Noch hatte man ihn auswärts nicht vergessen. Von Tübingen wie von Jena kamen [21] ehrenvolle Anfragen, er konnte sich nicht entschließen. Es scheint, daß dieselbe Unentschiedenheit, welche seine Arbeiten hemmte, es ihm auch unmöglich machte sich zu neuer Wirksamkeit auf einem fremden Schauplatze aufzuraffen. Um doch einmal wieder andere Luft zu athmen geht er im Herbst 1820 nach Erlangen; aus dem zur Erholung genommenen Urlaub werden sieben Jahre. Er fand dort, was ihm in München fehlte: einen Kreis von Männern, die er als seine Anhänger betrachten durfte und als deren Mittelpunkt er sich fühlte. Als Gast der Universität, von den Lehrern wie von den akademischen Bürgern mit Wärme aufgenommen, hielt er in den Jahren 1821–23 eine Anzahl öffentlicher Vorlesungen, allerdings nur rhapsodisch. Unter den Themen derselben erscheint zum ersten Male das Steckenpferd des späteren S.: „Die Philosophie der Mythologie“. Er beabsichtigt sie im Druck herauszugeben und spielt hier das nämliche Spiel wie mit den „Weltaltern“. Durch Jahre hindurch werden sie als demnächst erscheinend angekündigt: 1826 stehen sie im Buchhändlerkatalog unter den erschienenen Schriften; aber nur einige Exemplare gelangten wirklich zur Ausgabe und zehn Jahre später erfolgt neue Ankündigung und neues Ausbleiben. Von der unmittelbaren Wirkung jener Erlanger Vorlesungen (S. W. II, 1) haben wir einige begeisterte Berichte, den wärmsten von Platen, welcher damals in Erlangen studirte und S. in einigen Sonetten feierte. Sicherlich war S. im Stande, empfänglichen Gemüthern starke Anregungen zu geben. Er war Meister einer würdevollen getragenen Form, wenn er sich gehörig Zeit zur Vorbereitung ließ; und obwol er das Improvisiren auf dem Katheder thunlichst vermied, verstand er doch vortrefflich die Kunst, das ausgearbeitete Concept im Vortrage so zu beleben, daß er den Eindruck kunstvoller freier Rede hervorbrachte. Und es herrscht in diesen späteren Erzeugnissen des Schelling’schen Geistes eine Mischung von weltabgezogener Speculation, symbolischer Tiefsinn und phantasievoller Bilderpracht, deren Reiz man wohl begreift in einer Zeit, die nach allen Richtungen in das volle Gegentheil der Verstandesklarheit des 18. Jahrhunderts umgeschlagen war. Aber diese Wirkungen hielten auf die Dauer nicht vor. Die Zuhörer wurden es müde, immerfort nur in die geheimnißvollen Abgründe zu schauen, die S. vor ihnen aufthat; sie fanden zuletzt, daß sie nicht nur dunkel sondern auch leer seien. Die Thatsachen verschwanden aus Schelling’s Unterweisungen vor der Speculation über Dinge, die man wohl denken aber niemals erfahren und darum auch niemals beweisen kann. Im Eifer, immer nur das Höchste, Bedeutendste zu geben, vergißt er, daß es auch in der Wissenschaft einen goldenen Boden des Handwerks gibt, den man nicht ungestraft verläßt. Auf ihn wie auf keinen paßt der geistreiche Spott des Aristophanes auf den Mann in Wolkenkukuksheim. Schon in Erlangen scheint S. unliebe Erfahrungen gemacht zu haben, die sich später in München und Berlin wiederholten und ihm das Dociren verleideten. Er selbst schiebt es auf den Mangel einer eigentlich berufsmäßigen Verpflichtung, daß er die Vorlesungen in Erlangen so bald aufgab; aber das Gefühl, thatsächlich zu wirken und Schule zu machen, würde diesen Zwang wohl ersetzt haben, wenn es sich hätte einstellen können.

Indessen nahte sich die Zeit, wo in der That die Lehrthätigkeit ihm wieder zur Berufspflicht werden sollte. Im Herbst 1826 war die von Landshut nach München verlegte Universität eröffnet worden; im nächsten Jahre wurde S. durch König Ludwig I., der schon als Kronprinz den Philosophen hochgeschätzt hatte, an dieselbe als Lehrer berufen, gleichzeitig zum Generalconversator der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates ernannt und von der Akademie der Wissenschaften zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Die neue Stellung war so ehrenvoll und glänzend als möglich; warm und entgegenkommend der Empfang, welcher dem neuen Lehrer an der Hochschule zu Theil wurde. Wie schon in Erlangen, [22] fanden sich in seinem Hörsaale nicht nur Studenten, sondern auch Collegen und andere gereifte Männer aus verschiedenen Berufskreisen ein. Hier kam nun endlich in der Form von Vorlesungen das Ergebniß der letzten fünfzehn oder achtzehn Jahre stiller Arbeit zum Vorschein; dasjenige, was S. nun unter Philosophie verstand und sein System nannte. Er gab eine Einleitung „über die Natur der Philosophie als Wissenschaft“, die er schon in Erlangen vorgetragen hatte, (S. W. Abth. I, Bd. 9) und „Geschichte der neueren Philosophie seit Descartes“ (S. W. Abth. I, Bd. 10); als Haupttheil des eigentlichen Systems erschienen die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung. Hier versucht S. nun auch zuerst, historisirend und polemisirend, das Verhältniß seiner jetzigen Philosophie zu der gesammten nachkantischen Speculation und insbesondere zu der einflußreichsten und überzeugendsten Gestaltung, welche dieselbe gewonnen hatte, zum System Hegel’s, näher zu bestimmen. Diese geschichtliche Darstellung, obwol die Dinge durchaus nur unter dem Gesichtswinkel des Systems sehend, enthält vieles Geistreiche und Tiefgedachte. Es wird immer Interesse haben, einen Mann über die Entwickelung der deutschen Philosophie seit Kant sprechen zu hören, der in dieser Entwickelung selber eine so mächtig treibende Kraft gewesen. Die Naturphilosophie, das Werk seiner genialen Jugend, wird von ihm nicht als ungiltig, aber auch nicht als unbedingt wahr bezeichnet. Sie bedürfe einer Ergänzung durch eine „positive“ Philosophie, eine Philosophie der höchsten Realität, einer Philosophie des Absoluten und der Gottheit, als des Grundes alles Seins; Gott müsse als lebendiges Subject, und nicht wie in dem früheren System als bloßes Resultat des ganzen Processes in Natur und Geschichte begriffen werden. Dies gelte in verstärktem Maaße von dem System Hegel’s, welchem er nur den Werth einer Caricatur seiner eigenen früheren Lehre zugestehen will, eine Caricatur, welche in dem, was sie überhaupt Eigenes habe, bloß eine Episode in der Geschichte der Philosophie darstelle. Der oft und mit Gehässigkeit, insbesondere in Briefen, gegen Hegel erhobene Vorwurf des Ideendiebstahls berührt peinlich: es ist als wolle S. sich damit die Verstimmung über die unvergleichlich größeren Erfolge seines Jugendfreundes vom Herzen reden. Aber man darf nicht vergessen, daß in dieser so persönlich gefärbten Polemik gegen Hegel zwei Gedanken zum Vorschein kommen, die dessen Lehre im Mittelpunkte treffen. S. zuerst hat gesehen, daß die treibende Kraft in Hegel’s System nicht die dialektische Selbstbewegung des Begriffs, sondern die Anschauung ist, und daß das Sein, wie es im tiefsten Grunde nicht bloß logisch und rational ist, auch nicht ohne Rest in reine Begriffe aufgelöst werden könne. Dies waren zu offenkundige Mängel des Hegelschen Systems, als daß die Zeit nicht mit Aufmerksamkeit dem hätte lauschen sollen, der sie als einer der ersten aussprach. Aber das, was S. seine positive Philosophie nannte und der Zeit als die Vollendung seiner eigenen Aufgabe, als die eigentliche und entscheidende Krisis der neuesten Philosophie, anzupreisen nicht müde ward, war völlig außer Stande, die Lücken des Hegel’schen Systems auszufüllen und dieser „hektisch abgezehrten Denkweise“, wie er sie nannte, frisches Lebensblut einzuflößen. Es ist wahr: die Zeit, müde der rein dialektischen Construction und der idealistischen Verflüchtigung der Dinge in Gedanken, begann die Realität zu suchen und sie fand den Rückweg zu ihr durch Schopenhauer und Feuerbach, wogegen die Realität, welche S. in seiner theogonischen Speculation und seiner Potenzenlehre zu entwickeln sich bemühte, selbst nur wie der Schatten eines Traumes erschien. Ueber philosophische Specialwissenschaften hat S. niemals gelesen; außer jener einführenden Darstellung der Geschichte der Philosophie beschränkt sich seine ganze Unterweisung auf die Philosophie der vorchristlichen und christlichen Religionen. Man sieht, dieser religiöse Gnosticismus [23] hat ihn völlig in Beschlag genommen. Welch ein Contrast zu Hegel, dessen Vorlesungen in Berlin sich über alle Theile des Systems gleichmäßig erstreckten und nach seinem frühen Tode in der Ausgabe der Gesammtwerke mächtig fortwirkten!

Die erste litterarische Kundgebung von Schelling’s Urtheil über Hegel erfolgte in den Jahren 1833 und 1834, also 3 Jahre nach Hegel’s Tode (1831). Victor Cousin, der Neubegründer philosophischer Studien in Frankreich, welcher S. schon im J. 1818 in München aufgesucht, längere Zeit mit ihm verkehrt hatte, und von da ab im Briefwechsel mit ihm stand, veröffentlichte 1833 mit der zweiten Auflage seiner „Fragments philosophiques“ eine Vorrede, in welcher er sich über sein allgemeines Verhältniß zur deutschen Philosophie näher aussprach. Cousin sah S. und Hegel als die beiden Häupter der deutschen Philosophie an, die er zugleich als die wahre erklärte, ihre Lehren als sich wechselseitig ergänzend, und in unauflöslicher Beziehung zu einander – ein Urtheil, das dadurch nicht unrichtiger wurde, daß Cousin diese deutschen Verhältnisse bereits aus einer gewissen Vogelperspective sah. Er wünschte eine Besprechung seiner Arbeit durch S. – ein Wunsch, dem sich dieser nicht entziehen konnte, und darum lieber benützte, um mit dem französischen Freunde zugleich auch das deutsche Publicum über die wahre Bedeutung Hegel’s aufzuklären. S. veranlaßte die Uebersetzung des französischen Essais ins Deutsche durch einen Schüler, Dr. Hubert Beckers, (damals Professor am Lyceum zu Dillingen, später Professor an der Universität München) und schrieb eine beurtheilende Vorrede dazu, welche im wesentlichen die Quintessenz seiner Katheder-Polemik enthielt. Seit den „Gottheiten von Samothrake“, also seit 20 Jahren, das erste, was S. wieder veröffentlichte.

Aber er selbst scheint gefühlt zu haben, daß mit einigen satirischen Redensarten einem so mächtigen Gegner wie der Hegel’schen Philosophie nicht beizukommen war, und so werden nun die Aeußerungen wieder häufiger, welche eine größere Publication als unmittelbar bevorstehend ankündigen. Sie kam so wenig wie früher. Es gibt nur eine Erklärung für dieses endlose Zögern. S. hatte den Glauben an sich verloren; er fürchtete sich, die positive Philosophie, das Schmerzenskind vieler einsamer Jahre, der litterarischen Kritik und den schonungslosen Angriffen der Hegelianer preiszugeben, die er durch seine Polemik schwer gereizt hatte. Aber mit jedem Jahre wurde seine Stellung schwieriger, der Boden steiniger, auf dem seine „Philosophie der Offenbarung“ Wurzeln schlagen sollte. Bald nach jener litterarischen Erklärung gegen Hegel erschien Strauß’ „Leben Jesu“; Feuerbach’s „Wesen des Christenthums“ stand schon im Hintergrunde. Auf der andern Seite stieg im baierischen Staate und an der Universität München die Hochfluth des Clericalismus immer höher. Nachdrücklichst wurde der exclusiv katholische Charakter der Hochschule betont, die freisinnigen und protestantischen Elemente aus der Lehrerschaft ausgemerzt, die freie Studienordnung, an deren Zustandekommen S. einst wesentlich mitbetheiligt gewesen, beseitigt. Zwar ist es bezeichnend für die Stellung, die S. zum Kirchenthum einnahm, daß er, wie der gesinnungsverwandte Schubert, solange unbehelligt blieb, ja sogar vom König im J. 1835 mit der philosophischen Unterweisung des Kronprinzen, des späteren Königs Max II., betraut wurde, welcher lebenslang warmer Anhänger des Philosophen blieb und später das von ihm in München errichtete Denkmal mit dem Prädicate „des Großen“ schmückte. Aber auf die Dauer konnte sich selbst S. nicht den Angriffen der unter dem Ministerium Abel immer üppiger wuchernden katholischen Reaction entziehen. War doch selbst ein Mann wie Baader der ultramontanen Richtung nicht katholisch, d. h. nicht päpstlich genug. Ihn und S. dachte man hauptsächlich zu treffen, [24] als ein Ministerialrescript verordnete, daß Vorträge über Religionsphilosophie an der Universität künftig nur noch katholischen Priestern gestattet sein sollten.

Während diese Vorgänge Schelling’s Lage in München trotz der persönlichen Gunst des Königs immer unbehaglicher machten, hatte man von Berlin aus ein sehnsüchtiges Auge auf ihn geworfen. Eine ansehnliche Partei, an ihrer Spitze der Kronprinz, nachmals König Friedrich Wilhelm IV., wünschte S. in Berlin zu haben, nicht bloß als Nachfolger Hegel’s sondern „zur Bekämpfung, ja Vernichtung der Drachensaat des Hegel’schen Pantheismus“. Diese briefliche Aeußerung Friedrich Wilhelm IV. an Bunsen muß man im Auge behalten, um überhaupt zu verstehen, was man denn eigentlich von S. wollte. Denn auch Hegel hatte doch in der Religionsphilosophie eine begriffliche Construction des christlichen Dogmas gegeben und sein Standpunkt hatte sich fruchtbar erwiesen, wie die große Zahl protestantischer Theologen zeigte, die sich an ihn anschloß. Aber schon hatten die Gedanken Hegel’s bei einigen seiner Anhänger jene radicalere Wendung genommen, welche die Zionswächter aller Orten mit Entsetzen erfüllte und auf Hegel’s Haupt selbst den Heiligenschein einer eminent staats- und kirchenerhaltenden Kraft erblassen ließ. Schelling’s Philosophie in ihrer letzten Entwickelung schien als Ergebniß der tiefgehendsten Speculation statt des Pantheismus den Theismus, statt der in Auflösung gerathenen Religionsphilosophie Hegel’s die endgiltige Versöhnung des christlichen Dogmas mit der Wissenschaft und dem Zeitbewußtsein zu bieten. Für den geistreichen, katholisirenden Romantiker und Reactionär auf dem Hohenzollernthrone war S. der rechte Mann. Nachdem das erste, von Friedrich Wilhelm noch als Kronprinz vertretene Berufungsproject am Widerstande des Freiherrn v. Altenstein gescheitert war, beginnen alsbald nach dem Regierungsantritt des Königs die Verhandlungen aufs neue. S. war mittlerweile 65 Jahre alt geworden, aber wenn er noch irgend welches Mark in seinen Knochen übrig hatte, so mußte er annehmen. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in schweigendem Groll der wachsenden Verbreitung einer Philosophie zugesehen, deren Wahrheit nach seiner eigenen Erklärung von ihm selber stammte, und deren Eigenes die Zeit ihre besten Kräfte an die Ausbildung eines todten Schematismus vergeuden ließ. Wenn S. nun gerufen wurde an die Stätte, von wo „die Schule des leeren Begriffs“ ausgegangen war, „nicht wie ein gewöhnlicher Professor, sondern als der von Gott erwählte und zum Lehrer der Zeit berufene Philosoph“, wie es in Bunsen’s Berufungsschreiben hieß, so wäre die Ablehnung gleichbedeutend mit Insolvenz gewesen. Aber man sieht deutlich, wie schwer es ihm auch jetzt wurde; wie nur das Gefühl des Nichtanderskönnens ihn vorwärts trieb. Zunächst dachte er selbst sich von Baiern, mit dem er eng verwachsen war und dem er sich dankbar verpflichtet fühlte, nicht endgiltig abzulösen. Er meinte, oder gab sich wenigstens den Anschein zu meinen, daß es keiner dauernden Lehrwirksamkeit in Berlin bedürfe, um das von ihm Erwartete zu leisten, daß der rathlos gewordenen Zeit die bloße Andeutung eines möglichen Ausweges genügen werde.

Im Herbst 1841 geht er zunächst nur mit Urlaub und in provisorischer Eigenschaft nach Berlin, wo er mit der größten Spannung erwartet wird. Die Antrittsvorlesung (15. November 1841) war ein Ereigniß; das größte Auditorium der Universität war viel zu klein, um die Zuströmenden zu fassen. S. verhieß das Größte: „eine das menschliche Bewußtsein über seine gegenwärtige Grenze erweiternde Philosophie“, „eine neue, bis jetzt für unmöglich gehaltene Wissenschaft“. Rhetorisch wie immer vortrefflich, versteht er es in wunderbarer Weise, den Moment ins Historische zu erheben und überzeugt solange, bis man sich auf die Jahreszahl und den Inhalt der rettenden Philosophie Schelling’s [25] besinnt. Da erkennt man, daß das was S. wollte und das was er konnte ganz getrennte Dinge sind. Indessen schienen die ersten Erfolge die von ihm und dem König gehegten Erwartungen zu erfüllen: er sollte dauernd für Preußen gewonnen werden. Am 9. October 1842 erhielt S. in ehrenvollster Weise die Entlassung aus dem baierischen Staatsdienst und trat mit dem Range eines Geheimrathes, den er in Baiern gehabt, in den preußischen. Er war, wie von 1827 an in München, Mitglied der Akademie und hatte als solcher das Recht, Vorlesungen an der Universität zu halten, dessen Ausübung natürlich der dringende Wunsch der Regierung war.

Er las in Berlin wie in München Philosophie der Mythologie und der Offenbarung (S. W. II. Abthl., Bd. 2, 3, 4) mit Unterbrechungen, bis zum Frühjahre 1846. Von da ab betrat er das Katheder nicht mehr, und ließ sich nur noch gelegentlich vernehmen. Die Theilname sank rapid; aber wie es scheint, war es nicht die Verstimmung über diesen Umstand allein, die ihn vom Katheder trieb; vielmehr die Beobachtung, daß das ängstlich vor profaner Kritik gehütete Geheimniß seiner positiven Philosophie in öffentlichen Vorlesungen nicht gewahrt bleiben könne. Es war begreiflich, daß durch die unter so ungewöhnlichen Umständen erfolgte Berufung Schelling’s und die volltönenden Ankündigungen seiner Antrittsrede, welche er im Druck erscheinen ließ, die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Grade beschäftigt und überall lebhafte Begierde nach genaueren Aufschlüssen über Schelling’s jetzige Lehre erregt wurde. Und da S. nicht zur Veröffentlichung zu bringen war, so besorgten das jetzt Andere für ihn. Zwar hatte er sich schon in Erlangen und München das Nachschreiben verbeten; jetzt aber erschienen dennoch schon nach den ersten Semestern auf Grund von Collegienhefte verfaßte, darstellende und polemische Schriften über ihn. Die wichtigste und ausführlichste von seinem alten Widersacher, dem Rationalisten Paulus ausgehend. Dieser veröffentlichte 1843 eine wörtliche Nachschrift von Schelling’s Vorlesung über Philosophie der Offenbarung aus dem Winter 1841/42 mit Einleitung und Commentar von durchaus ironisch-polemisirender Tendenz. S. erkannte die Authenticität des Mitgetheilten an, indem er gegen Paulus wegen Nachdrucks klagbar wurde. Der Proceß machte großes Aufsehen; die öffentliche Meinung war getheilt, und obwol die dolose Absicht bei Paulus unverkennbar war, vermochte das Gericht die Merkmale des Nachdruckes nicht für gegeben zu erachten und sprach die Freigebung des confiscirten Buches aus. S. hatte den entgegengesetzten Ausgang mit Bestimmtheit erwartet und zog sich nun „da er keinen Schutz und keine Genugthuung gefunden“ völlig zurück. Er verzichtet auf den öffentlichen Vortrag seiner Lehre; er verzichtet aber auch auf die Herausgabe seines Lebenswerkes und mit ihr auf das einzige Mittel, um im Großen zu wirken und seine Ideen unbeschadet seines Autorrechtes zu verbreiten. Sein endloses Zögern hatte einen neuen Vorwand gefunden: die selbständige Ausführung der negativen Philosophie, als Grundlage der positiven, welche zwar nach seinen eigenen Erklärungen schon in seinem früheren System und in Hegel’s Logik vorlag, aber nun mit specieller Rücksicht auf die positive Philosophie systematisch neubearbeitet werden sollte. Diese Aufgabe beschäftigte den Greis in den letzten Jahren seines Lebens; Bruchstücke dieser Arbeit sind von ihm in den Sitzungen der Berliner Akademie vorgetragen worden (S. W. II. Abthl. 1. Bd.). Zu einem Abschlusse und einer vollendeten Niederschrift seiner Principienlehre ist es nicht mehr gekommen. Vor dem dröhnenden Gange der Revolution und der folgenden Ereignisse hatte er sich in sein Innerstes zurückgezogen. Was die Revolution wollte, erschreckte ihn; was die Restauration zurückbrachte, konnte ihn nicht erfreuen. Mit unablässig sorgender Mühe baut der alte Mann an einem Heiligthum der Zukunft, einer Philosophie die Christenthum, [26] einem Christenthum das Philosophie sein sollte. Es ist nie eingeweiht worden. Zuletzt nahm ihm der Tod das Werkzeug leise aus der Hand. Im Winter 1853/54 begannen die Kräfte zu sinken; im Bade Ragaz, wo er Heilung suchte, ist er am 20. August 1854 gestorben.

Sein königlicher Schüler, Maximilian II. von Baiern, hat an der Stätte von Schelling’s Tod ein Denkmal errichtet, inmitten der Münchener Prachtbauten Schelling’s Erzbild neben dem Fraunhofer’s aufstellen und seine Büste in die Walhalla aufnehmen lassen. In München wie in Berlin führen Straßen seinen Namen. S. war von mittlerer Größe, gedrungener Gestalt: sein blaues Auge hatte, wenn er vortrug oder erregt war, eine Schönheit und Kraft des Blickes, der sich Niemand entziehen konnte. Er hatte das schwerflüssige Wesen des Süddeutschen, das oft mit einem starken Selbstgefühl verbunden ist, aber eine gewisse Gunst der Umstände und Entgegenkommen bedarf, um sich zu geben und aufzuschließen, im entgegengesetzten Falle nur die Wahl zwischen völligem Verstummen oder äußerster Grobheit hat. Wo er sich gab, gab er viel; für jede Anregung verwandter Art empfänglich, streut er sie selbst mit vollen Händen aus; erst später beginnt er, nach außen hin abgeschlossen, mit kleinlichem Mißtrauen seine Schätze zu hüten. Diesem Leben, das glänzend begann und glänzend endete, fehlt gleichwol eine innere Tragik nicht, die Tragik, mit dem, was es selbst als seine reifste Frucht hervorbrachte, zu spät gekommen zu sein. Aus Schelling’s Nachlasse traten endlich die Vorlesungen über Religionsphilosophie, in welche ihm die positive Philosophie aufgegangen war, in authentischer Form ans Licht: von einer Wirkung derselben weiß Niemand zu berichten. Die Gegensätze, welche S. zu vermitteln geglaubt hatte, stehen sich schroffer gegenüber als je; die positive Philosophie ist weder dem Glauben noch der Wissenschaft positiv genug.

Litteratur: Aus Schelling’s Leben. In Briefen. Leipzig, S. Hirzel, I. Bd. (1775–1803) 1869; II. Bd. (1803–1820) 1870; III. Bd. (1821–1854) 1870. Der erste Band enthält ein biographisches Fragment von Schelling’s Sohn, Decan Fr. Schelling, bis Juni 1796 reichend; die Ausgabe der ganzen Sammlung, wie der verknüpfende Text ist von G. L. Plitt. – Caroline, Briefe etc. Herausgegeben von G. Waitz. Leipzig, S. Hirzel, 1871. 2 Bde. – Schelling’s Sämmtliche Werke. J. G. Cotta, Stuttgart 1856–61. Erste Abtheilung Bd. 1–10; zweite Abtheilung Bd. 1–4. Herausgeber ist der älteste Sohn Schelling’s, Decan R. Fr. A. Schelling. Die Ausgabe enthält außer den gedruckten Werken auch den handschriftlichen Nachlaß und werthvolle Einleitungen des Herausgebers zu den einzelnen Bänden.
Darstellungen: Ludwig Noack, S. und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag zur Culturgesch. des deutschen Geistes. Berlin 1859, 2 Bde. – Kuno Fischer, Fr. W. J. Schelling (Gesch. der neuern Philosophie, VI. Bd.) Heidelberg 1872. 1. Buch, Schelling’s Leben und Schriften; 2. Buch, Schelling’s Lehre. – Rosenkranz, Schelling. Vorlesungen. Danzig 1842. – R. Haym, Die romantische Schule. Berlin 1870. Man vergl. außerdem zur Philosophie Schelling’s die im Texte angeführten Controversschriften, ferner die Darstellungen in den größeren Werken zur Gesch. der neuen Philosophie; insbesondere bei Erdmann, Versuch einer wissenschaftl. Darstellung der Gesch. der neueren Philosophie (III. Bd. 2. Abth.) und Windelband, Gesch. der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften, 2. Bd. – Für Specielleres: Jodl, Gesch. der Ethik in der neueren Philosophie, 2. Bd. 1889. – O. Pfleiderer, Religionsphilosophie. 2. Aufl., 1. Bd.: Gesch. der Religionsphilosophie von Spinoza bis auf die Gegenwart, 1883. – H. Pünjer, Gesch. der christlichen [27] Religionsphilosophie seit der Reformation. 2. Bd., 1883. – Ferner Abhandlungen von Hubert Beckers in den Abhandl. der philos.-philol. Classe der baier. Akademie der Wissenschaften, Bd. IX (1863), Bd. X, 2 (1865), Bd. XI, 1 (1866). – Ueber die letzte Entwickelung der Schelling’schen Philosophie. E. v. Hartmann, Schelling’s positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, 1869. – Const. Frantz, Schelling’s positive Philosophie nach ihrem Inhalte wie nach ihrer Bedeutung für den allgemeinen Umschwung der bis jetzt noch herrschenden Denkweise etc. 3 Thle. 1879–1880. – Karl Groos, Die reine Vernunftwissenschaft. Systemat. Darstellung von Schelling’s rationaler oder negativer Philosophie. 1889.