Die Gartenlaube (1879)/Heft 46
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No. 46. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
„Ihr seht, daß ich Wort zu halten weiß – wir sehen uns wieder,“ eröffnete Melazzo das Gespräch. „Könnt Ihr nicht sprechen, oder habt Ihr mir nichts zu sagen?“ fuhr er fort, da der Deutsche schwieg.
„Was soll ich sagen? Wir sehen uns wieder – das Wie und Warum und die Folgen, welche dieses Wiedersehen haben wird, mögt Ihr vor Eurem Gewissen verantworten.“
Der Mulatte zuckte die Achseln.
„Das Warum habt Ihr vorhin gehört,“ sagte er ruhig.
„Ich habe Euch nicht verrathen.“
„Ich weiß es.“
„Und doch behandelt Ihr mich wie einen überwiesenen Verbrecher?“
„Könnt Ihr meinen Leuten beweisen, daß Ihr unschuldig seid?“
„Ich nicht, aber Ihr. Sprecht vernünftig mit diesen Menschen, und sie werden Euch glauben.“
„Lenkt man wüthende Massen durch die Stimme der Vernunft? Nur der gesättigte Tiger hört auf den Befehl seines Wärters.“
„Und das ist Eure Gerechtigkeit?“ stöhnte Walter auf.
„Was haben wir mit der Gerechtigkeit zu thun? Wird die Natur durch Gerechtigkeit beherrscht? Wenn der Orkan die Palme fällt, ist es die Gerechtigkeit, die ihren Schaft zerknickt?“
„Nein – aber Ihr wißt es, daß ich unschuldig bin.“
„Auch die Antilope ist unschuldig, und doch trifft sie das Blei des Jägers.“
Er schwieg und eine Weile ruhte sein Blick wie in tiefen finsteren Gedanken auf dem Gefangenen.
„Wo so viele Schuldige straflos durchkommen,“ fuhr er dann ruhig fort, „was liegt daran, ob ein Schuldloser zu Grunde geht? Denkt an die Generationen farbigen Blutes, die, durch Eures Gleichen von ihrem natürlichen Boden gerissen, in der Fremde unter Martern lebten, unter Martern starben und Alle, Alle in Verzweiflung hinüber gingen, und dann beklagt Euch, daß Euer Loos ein zu hartes ist! – Nein, Ihr müßt sterben, wenn ich Euch nicht rette – und dazu giebt es nur einen Weg: Ihr müßt das Mädchen heirathen, für das ich Euch bestimmt –“
„Niemals!“ rief Walter verzweifelnd.
„Ihr müßt sie heirathen, oder morgen hängt Ihr als Leiche an einem der nächsten Bäume – das ist die mildeste Todesart, die ich Euch versprechen kann.“
„In Gottes Namen!“ rief Walter mit einer Art zorniger Ergebung. „Wollt Ihr mich morden, so macht es wenigstens kurz!“
„Hört mich an: das Mädchen ist jung, schön, reich, wohlerzogen, von guter Familie. Hunderte werden Euch beneiden.“ Und er setzte mit cynischer Ironie hinzu: „Sie hat sogar die Ehre, mit mir verwandt zu sein.“
Walter schauderte, und unwillkürlich schloß er die Augen, als könne er es dadurch ermöglichen, sie nicht einmal in Gedanken zu sehen. Dann besann er sich.
„Wenn sie das alles ist, warum heirathet Ihr sie nicht selbst?“ fragte er rasch.
„Es war auch meine Absicht, allein sie will mich nicht. – Ja,“ wiederholte er und sah an seiner stattlichen Gestalt hinunter, als könne er solche Verblendung nicht begreifen, „sie will mich nicht. Sie hat erklärt, lieber, als noch einmal von einer Heirath mit mir auch nur zu hören, werde sie sich das Leben nehmen, und der kleine Satan,“ setzte er mit einer Art grimmig verbissenen Lachens hinzu, „ist wirklich im Stande, es zu thun. – Uebrigens habe ich mich inzwischen verheirathet. Folgt meinem Beispiel und entscheidet Euch schnell! Die Zeit ist kurz.“
„Aber großer Gott, ich kann einmal nicht heirathen!“ rief Walter außer sich. „Es ist nicht meine Schuld – ich hege eben eine unüberwindliche Abneigung gegen die Ehe, und mein Beruf –“
„Nun, Ihr müßt es ja wissen, ob Ihr lieber hängen wollt,“ unterbrach ihn Melazzo trocken.
„Bedenkt, daß meine Regierung, daß die amerikanische Regierung, daß General Grant, dem Ihr dient, niemals ein solches Verfahren dulden würden! Bedenkt, daß sie einen Mord, der an einem friedlichen Reisenden und obendrein an einem Vertreter der Wissenschaft begangen wird, ahnden werden!“
„Und was kümmert das mich?“ rief Melazzo dagegen. „Was vermögen sie überhaupt in diesen Wäldern gegen mich? Wo der Löwe brüllt, muß selbst der Tiger weichen; wo Melazzo steht, da kann kein Anderer Gebieter neben ihm sein.“
„Wird es immer so bleiben? Werdet Ihr nie die Wälder verlassen?“
„Nicht mit mir hat es die Regierung zu thun,“ entgegnete ruhig der Mulatte. „Nicht mein Opfer seid Ihr – merkt es Euch! – sondern das meiner Leute, die in Euch den Spion der Secessionisten sehen. Ihr wehrt Euch umsonst, und der Tod ist Euch gewiß, wenn Ihr nicht meinen Willen thut. Aber ich hasse Euch nicht; ob Ihr lebt oder sterbt, was kümmert es mich? [762] Meiner Rache fallen der Opfer genug; ich brauche Euch nicht dazu, und selbst in dem, was ich von Euch fordere, habe ich es nicht auf Euer Unglück abgesehen. Meine Lebensschicksale mögen Euch meine Handlungsweise erklären. Ich bin der Sohn eines Weißen und einer seiner Sclavinnen. Ich hatte einen liebevollen Vater, aber dafür hegte der Bruder desselben eine um so unbegrenztere Antipathie gegen den farbigen Bastard-Neffen, und manche Strafe und Demüthigung, die meine Jugend traf, danke ich ihm. Er that mehr – er, dieser Onkel –“ die Augen des Mulatten glühten und seine Fäuste ballten sich – „er hat nach meines Vaters plötzlichem Tode meine Mutter weit hinein in die Union verkauft und unserer Beider Freibrief aus dem Nachlasse verbrannt. Er war ja Vormund für meinen saubern Halbbruder, dem die Erbschaft zufiel, und dieses Brüderchen – haha! – dieses Brüderchen war die getreue Copie des Onkels und ich der ‚Hund von einem Sclaven’ für ihn. Während der Herr Onkel in Europa drüben sich vergnügte, hörte sein Neffe hier eines Tages auf zu leben. Ich hatte zufällig einen Strick gefunden, der ihm paßte. Seitdem habe ich in den Wäldern auf die Rückkehr des Onkels gewartet; und ich mußte lange warten – bis der Krieg ausbrach. Da kam er herüber und fing an, auf mich zu fahnden.“
Der Mulatte schwieg einen Augenblick und lachte, wie in eine Erinnerung verloren, heiser auf.
„Vor zwei Monaten,“ fuhr er endlich fort, „habe ich ihn und seine ganze Brut umgebracht, bis auf das Mädchen, welches Ihr heirathen sollt, und eine Nacht mich am Brande seines Hauses gewärmt. Das Mädchen fanden meine Leute im Weinkeller ohnmächtig in den Armen einer Mulattin. Sie gefiel mir, wie gesagt, und ich ließ sie eigentlich für mich übrig. Und – der Teufel weiß, warum: ich habe nun einmal eine Schwachheit für sie, auch da sie mich nicht will. So mag sie denn anderswie verschwinden, damit sie mich hier nicht genirt, und Ihr seid der einzige Mann um das zu ermöglichen. Sie muß nach Europa. Diese secessionistische Seifenblase kann über Nacht zerplatzen; dann ist der Friede da, und treten erst die sogenannten geordneten Zustände wieder ein, so darf Niemand mehr hier sein, der mit unangenehmen Reklamationen gegen mich aufträte.“
„Nun, so will ich sie mit nach Europa nehmen und sie dort in einer gebildeten Familie unterbringen, bis sich eine passende Versorgung für sie findet.“
Melazzo schüttelte den Kopf.
„Ich muß eine Garantie haben, daß ihr Leben mir keine Sorgen mehr macht. Möglicherweise will sie von einer passenden Versorgung drüben nichts wissen und taucht eines Tages wieder hier auf. Wenn Ihr sie heirathet, so ist sie für mich so gut wie todt. Die Deutschen – das weiß Jedermann – sind ein friedsames Volk, das sich nicht gern in fremde Händel mischt und zufrieden ist, wenn es die Nase in ein Buch stecken kann. Daß Ihr künftig zu Hause bleibt, das weiß ich, auch ohne daß Ihr es versprecht, und ist sie Eure Frau, so muß sie eben bei ihrem Manne bleiben – dagegen hilft ihr kein Gott. Darum entschließt Euch, denn fort muß sie, so oder so – auch ihr Leben liegt in Eurer Hand.“
Walter wußte nicht mehr, was er sagen sollte.
„Aber fühlt Ihr denn nicht,“ rief er endlich, „daß so zu heirathen etwas geradezu Entsetzliches ist?“
„So wollt Ihr lieber hängen? Oder vielleicht zieht Ihr es vor, daß ich Euch meinen Leuten ausliefere? Es sind Indianer dabei, die es meisterhaft verstehen, auch dem starrsinnigsten Dulder noch einen letzten Schmerzensschrei zu entlocken –“
„Nein, nein!“ rief Walter, schon bei der bloßen Vorstellung halb wahnsinnig.
„So willigt Ihr ein?“
Der Tod ist ein gewaltiger Bekehrer. Noch vor wenigen Minuten hatte der junge Mann sich so sicher gefühlt in dem Bewußtsein seiner unerschütterlichen Seelenkraft – und nun – nun war es doch anders. Er wand sich förmlich unter der Marter dieser immer zunehmenden Hülflosigkeit. Und daneben flüsterte die Hoffnung lügnerisch von den tausend Zufällen, welche die Trauung, sogar noch im letzten Augenblicke, vereiteln konnten – gab es davon nicht Beispiele genug? Und träfe das auch nicht bei ihm ein, gab es nicht Mittel, die lästige Fessel später von sich abzustreifen? Und war es nicht seine Pflicht, sich der Mutter, den Freunden, der Heimath – ach! das egoistische Herz rief überlaut, dem Leben zu erhalten, so lange es noch eine Möglichkeit dazu gab?
„Aber wie kann ich heirathen,“ rief er in einem letzten Anlaufe seiner Gewissenhaftigkeit, „ohne meine Papiere – ohne die geringste Legitimation?“
„Ich habe Euren Paß und die Licenz – das genügt.“
„Aber die deutschen Gesetze –“
„Ihr werdet nach amerikanischem Gesetze getraut. Das geht durch die ganze Welt.“
„Aber eine Trauung ohne kirchliche Einsegnung –“
„Auch dafür ist gesorgt. Beruhigt Euer Gewissen! Ich bin ein frommer Mann. Ihr sollt so fest verheirathet sein, daß weder Pfaff noch Jurist ein Nägelchen davon losschrauben kann.“
Es war der letzte Nothanker, den der Unglückliche ausgeworfen, und er hatte selbst gefühlt, wie schwach er war. Seine Bande waren zerschnitten; der Neger half ihm auf die Füße, und Walter ergab sich in sein Schicksal. Aber er taumelte, und unwillkürlich war es der Arm des Mulatten, nach dem er, um sich zu stützen, griff.
„Schnell – schnell!“ drängte dieser, „oder wir haben die Secessionisten auf dem Halse!“ und er zog sein Opfer nach der Thür. Doch Walter hielt noch immer zurück. „Aber das Mädchen kennt mich nicht,“ stammelte er fassungslos. „Wie, wenn sie mich auch nicht will? Eine so resolute Person –“
„Sie kennt Euch – sie will Euch – sie hat mir heute noch erklärt: Alles sei ihr recht, um nur von meinem verhaßten Anblick erlöst zu sein. Aber schnell, oder es ist zu spät.“
Und er faßte den Gefangenen ungeduldig am Arm und riß ihn mit sich hinaus.
Draußen herrschte pechschwarze Finsterniß; nur die nächste Umgebung des Verschlages war von der rothen Gluth einiger Kienfackeln spärlich erleuchtet. Ihr unheimlicher Schein erhellte nothdürftig einige verwegene, wilde Gestalten, wohl die Intimen des Mulatten. Zwischen diesen standen zwei weiße Männer, beide gefesselt, zitternd und bleich. Der Eine im langen Talar, die Tonsur im dichten, kurzgeschnittenen Haare, verrieth den katholischen Priester in jedem seiner angstentstellten sanften Züge; der Andere war offenbar eine Magistratsperson. Zwischen den gebundenen zuckenden Händen hielt er krampfhaft ein zusammengefaltetes Papier.
Bei Walter’s Erscheinen wurden ihnen im Nu die Fesseln gelöst; zugleich entstand noch eine andere Bewegung unter den Versammelten. Zwei Farbige, denen eine schluchzende Mulattin folgte, brachten auf einer Art Tragsessel einen Gegenstand herbei, der mehr einem Bündel unordentlich auf einander geworfener Kleidungsstücke, als einem menschlichen Wesen glich. Walter bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu schließen, daß er seine Braut vor sich habe. Ein großes buntgestreiftes Tuch, wie es die Negerinnen zu tragen pflegen, bedeckte nicht nur die Gestalt des Mädchens, sondern auch ihr ganzes Gesicht. Als man sie auf die Füße stellte, knickte sie zusammen und sank mit einem leisen Aufschrei der Mulattin an die Brust. Walter hörte, wie die Frau in der wohllautenden spanischen Sprache ihr allerhand Liebesworte zuflüsterte: „Mein Liebchen! Mein Goldkindchen! Mein einziges Töchterchen!“ und so weiter. Er fühlte eine Regung von Mitleid für das arme Geschöpf, das offenbar ebenso ungern, wie er, in diese gezwungene Verkuppelung einging.
Nur Melazzo war gepanzert gegen jede Anwandlung eines nachgiebigeren Gefühls. Ungestüm hatte er das vorhin erwähnte Papier an sich gerissen, es entfaltet und, nachdem er dem Nächststehenden bedeutet, mit seiner Fackel die Schriftzüge besser zu beleuchten, es der Magistratsperson wieder in die bebenden Hände gedrückt.
Es war der Ehecontract.
Mit stotternder Stimme begann der Friedensrichter, oder was er immer sein mochte, die ersten Worte zu lesen. Da erscholl plötzlich aus der Ferne das Knattern einer Kettenlinie von Schüssen durch die Nacht.
Aller Augen wendeten sich nach der Seite, woher der Ton kam, und in Walter’s Seele erhob sich ein Sturm der Hoffnung und der Furcht zugleich. War es Grant? War es Davis? Waren es die Verfolger, von denen Melazzo gesagt? Zornig stampfte der Mulatte mit dem Fuße. Er riß einen Revolver aus dem Gürtel und spannte den Hahn; das Papier auf eine [763] alte Kiste werfend, welche man, so gut es ging, als Altar hergerichtet, donnerte er dem unglücklichen Deutschen zu: „Unterschreibt!“
Vergebens suchte dieser zu zögern; die Mündung der geladenen Pistole wirkte überzeugender, als selbst das Schießen, das von der Möglichkeit der Befreiung sprach, überdies sich jetzt wieder mehr und mehr in die Ferne zu ziehen schien.
Er gab die Hoffnung auf und unterschrieb.
Nun kam die Reihe an die Braut, aber die Feder entsank ihrer zitternden Hand. Wieder stampfte Melazzo mit dem Fuße; dann bückte er sich, hob die Feder auf und drückte sie der Widerstrebenden zwischen die Finger. Er selbst führte ihr die Hand mit entschlossenem Zuge – nun noch Melazzo’s eigene Unterschrift und die eines beliebigen Anderen als Zeugen, dann, nachdem der Mulatte zwei goldene Reife hervorgezogen, der Ringwechsel und das Ja des Paares – alles ging rasch und überstürzt, und dazwischen rückte das Schießen allmählich wieder näher. Endlich war das letzte Wort gesprochen; Pferde wurden vorgeführt, Melazzo, die bewußtlose Braut im Arme, schwang sich auf das eine; hastig wurde Walter auf ein anderes gehoben, dessen Zügel ein dritter Reiter ergriff; einige andere folgten – sie schienen aus dem Boden zu wachsen – und fort ging es über Stock und Stein, hin durch die Dunkelheit, als hätten die Pferde Flügel, erst die Lichtung entlang, dann über enge Waldpfade, ohne Rast, ohne Aufenthalt – jetzt quer über Landstraßen weg, dann an Blockhäusern und Pflanzungen vorbei, fort – fort! Nun sausten sie um ein Städtchen herum, nun über ein Stück Prairie, schneller, immer schneller. Es war wie ein Hexenritt.
Endlich, endlich waren sie am Ziel. Ein breites, schwarzes Wasser schimmerte undeutlich zu ihren Füßen; am Ufer lag ein Kahn; Männer erhoben sich daraus. Sie schienen gewartet zu haben. Im nächsten Augenblick saß Walter im Boote; die Andern folgten – jetzt erst bemerkte der Deutsche, daß auch die Mulattin mitgekommen war. Die Ruder schlugen in’s Wasser, und pfeilschnell ging es stromabwärts zwischen niedrigen bewaldeten Ufern hin, die sich undeutlich im Schimmer des aufgehenden Mondes abzeichneten. Kein Wort wurde gesprochen; kein Laut war vernehmbar; nur die Ruder arbeiteten heftig.
Immer weiter wichen die Ufer zurück; immer höher stiegen die Wellen, und mit dem ersten Morgengrauen hatte man den Hafen erreicht.
Ein einziges Schiff lag da, schwarz in der schwachen Beleuchtung. Zwei Männer lehnten eben an Bord. Kein Ruf erscholl; keine Frage wurde gethan. Walter erhob sich; eine Treppe war herabgelassen, aber er schwankte und mußte beim Hinaufsteigen gestützt werden. Dann kam Melazzo und trug das Mädchen; die Mulattin folgte, so gut sie konnte.
„Ihr kommt spät,“ bemerkte einer der Männer. Es war der Capitain.
„Besser spät, als gar nicht,“ antwortete Melazzo’s tiefe Stimme.
Gleich darauf verschwand er mit der Mulattin und seiner noch immer regungslosen Last in das Innere des Schiffes.
Der Capitain entfernte sich mit seinem Gefährten, um die nöthigen Befehle zu ertheilen, und Walter lehnte betäubt am Borde und starrte halb bewußtlos in den aufdämmernden Morgen hinaus. Er war nicht im Stande, einen Schritt zu thun, nicht fähig einen Gedanken zu fassen; das Uebermaß physischer Erschöpfung hatte ihn gegen Alles stumpf gemacht.
Da fiel die Hand des Mulatten schwer auf seine Schulter.
„Glück in die Ehe und auf die Reise!“ nickte er seinem Opfer spöttisch zu, und zugleich drückte er ihm eine Brieftasche in die Hand. „Da habt Ihr die erste Rate Eurer Einkünfte!“ Und: „Ich werde vorläufig hier Eure Besitzungen verwalten,“ rief er, als er schon, abwärts eilend, auf der Treppe stand.
Ein Aufwärter trat jetzt an Walter heran, ihn in seine Kajüte zu führen, und hier angelangt, schloß dieser die Thür hinter sich ab und warf sich, ohne sich erst zu entkleiden, auf das Bett. Ihm war, als dränge ein leises Wimmern durch die dünne Bretterwand, die ihn von der nächsten Kajüte schied, doch hatte er nicht die Kraft, darauf zu merken, und schon in der nächsten Minute lag er in einem tiefen Schlaf, den wohl selbst die Posaunen des Weltgerichts nicht verscheucht hätten.
Als er erwachte, war es Vormittag. Durch eine halbgeöffnete ovale Krystallscheibe, die der Kajüte als Fenster diente, drang der frische, würzige, unsäglich belebende Hauch der Seebrise und erfüllte den Schläfer, der sich, ohne die Augen zu öffnen, noch auf seinem weichen Lager dehnte, mit einem unaussprechlichen Wohlbehagen.
Wie durch einen Zauber waren alle unangenehmen Ereignisse des vergangenen Tages, wenigstens für jetzt, aus seinem Gedächtnisse weggewischt, und für nichts war, in diesen kurzen Augenblicken Raum in ihm, als für dieses unendlich süße, rein physische Erwachen, welches noch keine geistige Thätigkeit in ihm aufkommen ließ. Endlich mußte er doch die Augen öffnen, und als er jetzt den ersten Blick um sich warf, konnte er sich wirklich in eine Märchenwelt versetzt glauben, so überraschend war die an Pracht streifende Eleganz, die ihn in dem kleinen Raume umgab. Nichts schien vergessen, was nur in irgend einer Weise zum Comfort des verwöhntesten Millionärs gerechnet werden konnte. Unwillkürlich stellte sich ihm der Gegensatz dieser Umgebung zu den Bildern der letzten Tage vor die Seele, und damit begann die volle Wirklichkeit wieder in ihr Recht zu treten.
In diesem Augenblicke pochte es sacht an seine Thür, und eine ehrerbietige Stimme fragte, ob Mr. Walter das Frühstück hier oder im Speisesaale befehle? Walter entschied für den Speisesaal und der Frager zog sich zurück.
Nun mußte er sich doch zum Aufstehen entschließen, so viel Ueberwindung es ihm auch kostete. War es ihm doch, als habe er seit seinen Kindertagen nie mehr so süß geruht.
Seine Blicke irrten träumerisch über den weichen Teppich der Cabine hin; da wurden sie plötzlich von einem Gegenstande gefesselt, der bescheiden im fernsten Winkel lag. Noch ein Blick, und Entzücken durchströmte Walter’s Sinne. Es war keine Täuschung – da lagen sie, die verlorengeglaubten, vielgebrauchten, starkabgenutzten, treuen Bewahrerinnen seiner botanischen Schätze, die Begleiterinnen seiner Mühen, seine alten, lieben, wohlbekannten, unersetzlichen Reisetaschen. Da lagen sie neben ein paar Koffern, die er nicht einmal eines Blickes würdigte, denn da sah er ja auch seine Kapseln – sein Tagebuch, Alles war da, sogar die Pflanzen, die er gestern gesammelt, das Merkbuch, in dem er seine letzte Beobachtung notirt. O Melazzo!
Plötzlich flog ein überraschter Blick auch über die Koffer: zu seiner höchsten Verwunderung erkannte er die Colli, welche er bei dem preußischen Consul in X. zurückgelassen und die nun auf dem Schiffe, in wahrscheinlich gewählter und eleganter Gesellschaft von Passagieren ihm höchst willkommen sein mußten, da sie die im Urwalde überflüssigen Requisiten feinerer Toilette enthielten.
Zuletzt fand sich noch ein fremder Gegenstand: die Brieftasche, die er beim Abschiede von Melazzo erhalten. Er hatte sie beim Eintreten achtlos auf einen Stuhl geworfen, und es war reiner Zufall, daß sie ihm in der Betäubung nicht schon früher aus der Hand gefallen war. Er öffnete sie und sah, daß sie mit Banknoten von ansehnlichem Werth gefüllt war. Dabei lag ein Zettel, wahrscheinlich von des Mulatten Hand, der die letzten Worte wiederholte, die jener seinem Gefangenen gesagt: daß dies die erste Zinsenrate des ihm durch seine Frau zufallenden Vermögens sei.
Jetzt erst fiel es ihm mit voller vernichtender Wucht auf die Seele, daß er neben allem Guten, das ihm geworden, doch auch wirklich und unwiederbringlich verheirathet sei.
O dieser Melazzo! Dieser feige, tückische Schurke!
Es war keine Nothlüge gewesen, als Walter dem Mulatten seine unüberwindliche Antipathie gegen die Ehe versichert hatte. Von allen Blumen, welche das irdische Leben schmücken, hatte der junge Naturforscher sich bisher um keine anderen bekümmert, als um jene, welche man in einem Herbarium aufzubewahren pflegt. Die Frauen aber, wie er sie nun einmal auffaßte, dünkten ihm weiter nichts, als ein beschämender Mißgriff der Schöpfung zu sein. Nach Walter’s Meinung hätten die Menschen – unter welchem Begriffswort seinem Geiste immer nur der Mann vorschwebte – wie die Aepfel auf den Bäumen wachsen sollen, womöglich gleich mit dem Buche in der Hand. Er konnte es nicht fassen, daß ein Mann bei gesunden Sinnen sein Leben, welches er so herrlichen Aufgaben widmen konnte, durch die Sorgen um ein so nichtiges, stets nur um Nichtigkeiten sich sorgendes Wesen zerstückeln konnte. Und nun hatte die Bosheit des Schicksals es auch ihm angethan – er war verheirathet, er, der nie eine andere Geliebte gehabt noch hatte haben wollen, als die Botanik!
[764] Und wer war das Wesen, mit dem man ihn wider Willen verkettet hatte? Wie sah sie aus? Jetzt erst fiel es ihm ein, daß er sie eigentlich nicht gesehen. Während der Trauung hatte das Tuch ihr Gesicht verhüllt, ja, sie schien dasselbe absichtlich festgehalten zu haben, und was er später vielleicht doch von ihren Zügen hätte erblicken können, dafür hatten die Nacht, die Verwirrung, der Tumult seiner Empfindungen und endlich die maßlose Uebermüdung seine Augen blind gemacht. Aber Melazzo hatte sie seine Verwandte genannt. Was konnte sie also sein, als eine Tochter jener abscheulichen Mulattin, wahrscheinlich noch häßlicher, noch schwärzer als ihre Mutter!
Immer demüthigender, immer entsetzlicher malte er sich sein Unglück aus. Er wagte nicht, seine Kajüte zu verlassen; er schämte sich vor den Menschen. Aber würde er diesen nicht lächerlich erscheinen, wenn er sich zu freiwilliger Gefangenschaft in seiner Kajüte verurtheilte? Einmal mußte diese Gefangenschaft ja doch enden.
Er machte hastig Toilette. Dann öffnete er die Thür und steckte ängstlich den Kopf hinaus, in der Erwartung, die verhaßten Mulattinnen gleich draußen auf der Lauer nach dem Ehemann zu erblicken. Doch er sah nichts. Der Platz war frei.
Auch als er hinausging, zeigten sie sich nicht, selbst nicht im Salon, in dessen eleganten Räumen es sich eben jetzt eine nur aus Weißen, Herren und Damen, bestehende Gesellschaft bequem machte. Die Theilnahme war auffallend, mit der sich bei seinem Erscheinen alle Augen sogleich nach ihm wendeten. Wußte denn hier schon Alles um sein Unglück?
Ein Wort des Capitains klärte Walter über den Grund dieser Theilnahme auf: Mrs. Walter war gefährlich erkrankt, und mehrere Stunden der Nacht hindurch hatte man für ihr Leben gefürchtet. Einige der älteren Damen hielten es für angemessen, sich bei dem hübschen, blassen, gewiß höchst betrübten jungen Ehemanne nach dem Befinden der Leidenden zu erkundigen.
In seiner Verlegenheit stammelte Walter eine ungeschickte Entschuldigung, die seine totale Unkenntniß sowie sein bedauerndes Erstaunen kundthun sollte, und da man ihm in demselben Augenblicke sein Frühstück servirte, machte er sich mit einem gesunden, durch die Prüfungen des vergangenen Tages verschärften Appetit ohne Zögern darüber her.
Das war ein Verstoß gegen eheliche Wohlanständigkeit, den eine Amerikanerin unmöglich verzeihen kann. Der würdige, grauhaarige Seemann schüttelte verwundert den Kopf, und mit kühler Abgemessenheit zogen sich die Damen von dem rohen, gefühllosen Deutschen zurück.
Walter verzehrte sein Frühstück einsam und stieg alsdann auf das Verdeck, um hier sein aufgeregtes Gemüth durch das großartige Schauspiel, das Meer und Himmel boten, zu zerstreuen.
Es war ein wundervoller Tag. Und dazu die Luft, diese laue, leichte, unbeschreiblich süße Luft der südlichen Welt, die, noch mit den Wohlgerüchen des Landes gewürzt, sich wie ein duftiger Schleier um die Sinne legt! Ein Spiel von Licht und Leben und durchsichtiger Farbenpracht umgab ihn, das ihn unter anderen Umständen sicher entzückt und berauscht hätte.
Gegen sein Erwarten wollte es keine Macht auf ihn üben. Das leise Wimmern, das er in der Nacht zu hören geglaubt, und der eigenthümlich erstaunte Blick des Capitains, das vornehme Befremden der Damen saßen ihm wie scharfe Dornen in der Seele. Er fühlte etwas wie Schuld. Sollte er seine Frau besuchen, sie pflegen, und, da er ja doch die Medicin absolvirt hatte, ihr seine Dienste als Arzt anbieten? Er schlug, wenn auch langsamen, zögernden Schrittes, den Weg zu ihrer Kajüte ein.
Auf sein Klopfen wurde die Thür handbreit geöffnet, und ein ebenso breiter Streifen bunten Kopftuches kam zum Vorschein, darunter ein tiefbrennendes Auge, dem ein reines Frauenprofil und der Umriß einer sammetweichen braunen Wange zur angenehmen Folie diente. Aber dieses schöne Auge war von Weinen geröthet, und um den wohlgeformten Mund lag ein Zug, der auf schweren Kummer deutete.
Es war die ältere Mulattin. Sie war höchst anständig, sogar reich in dunkle Seide gekleidet, die sich jedoch nach unten hinter einer umfangreichen, weißen Battistschürze verlor.
Allein kaum hatte die Frau ihrerseits den Besucher erkannt, als ihre Züge von unaussprechlicher Angst zu zucken begannen und sie vor Schrecken halb in die Kniee sank. Mit verzweifelnd gerungenen Händen flehte sie ihn an, er möge sich entfernen, und als Walter ging, drückte sie die Thür energisch in’s Schloß und schob von innen den Riegel vor.
Walter hatte seine Pflicht gethan, und das beruhigte ihn sehr. Zudem hatte er die keineswegs unangenehme Ueberzeugung gewonnen, daß seine Schwiegermutter, wenn ihr dieser Titel wirklich gebühren sollte, zwar von etwas ungewöhnlicher Farbe, übrigens jedoch eine nichts weniger als abstoßende Persönlichkeit sei.
Er hatte sich noch nicht weit entfernt, als die Thür, die eben mit solcher Entschiedenheit geschlossen worden, sich hinter ihm wieder öffnete. Rasch wendete Walter sich um, in der Meinung, er werde zurückgerufen; es trat jedoch ein wohlbeleibter älterer Herr heraus, der sich, nach innen gewandt, auf der Schwelle noch einmal tief verneigte und dadurch dem jungen Manne die flüchtige Vision eines mit Seide, Gold und sanften harmonischen Farben ausgestatteten kleinen Raumes gewährte.
Der 14. November 1879 ist für das geistige Leben des europäischen Nordens von hoher Bedeutung, denn an diesem Tage vor hundert Jahren ward Adam Gottlob Oehlenschläger geboren, eines der größten Dichtergenies nicht nur Dänemarks, sondern der gesammten skandinavischen Lande.
Schon das allein wäre Grund genug, bei dieser Gelegenheit sein Leben und seine Werke näher in’s Auge zu fassen; für Deutschland aber liegt noch der weitere Grund vor, daß Oehlenschläger’s Dichtung, wie selbstständig sie sich auch gestaltete, in ihrem Ursprunge mit einer der bedeutendsten Perioden in der Geschichte des deutschen Geisteslebens eng zusammenhängt.
Oehlenschläger ward am 14. November 1779 in einem Häuschen der Vorstadt Vesterbro vor Kopenhagen geboren. Das Haus ist längst verschwunden, und an dem Platze ist jetzt eine Straße angelegt, die den Namen des Dichters führt. Sein Vater stammte aus dem südlichen Schleswig; seine Mutter war eines Kopenhagener Bürgers Tochter; sowohl von väterlicher, wie von mütterlicher Seite waren die Vorfahren deutscher Herkunft. Der Vater war Organist an der Kirche zu Frederiksborg und erhielt ein Jahr nach seines Sohnes Geburt den Posten eines Schloßverwaltungs-Bevollmächtigten auf dem gleichnamigen Schlosse, wo ihm auch seine Wohnung angewiesen wurde. Hier verlebte der Dichter seine Kindheit in glücklichen, wenn auch bescheidenen Verhältnissen, unter steter Einwirkung seitens der Eltern, die beide eigenthümliche, vollausgeprägte Persönlichkeiten waren; der Vater eine joviale, kerngesunde Natur, die Mutter ernster, sanft und träumerisch.
In hohem Grade trugen die Umgebungen, in denen er aufwuchs, dazu bei, seinen Geist eigenartig zu entwickeln, namentlich aber auf seine Phantasie befruchtend zu wirken. Das Schloß war in der Regel unbewohnt, und der sonst an ärmliche Verhältnisse gewöhnte Knabe konnte nach Herzenslust sich in den hohen, reichverzierten Sälen mit den bunten Gemälden und in dem großen Schloßgarten, der damals noch im steifen französischen Geschmack mit Taxuspyramiden und glattgeschorenen Hecken gehalten war, ergehen. Auch den im Entstehen begriffenen schönen Park Söndermarken mit seinen freieren englischen Anlagen, der zu jener Zeit noch dem großen Publicum verschlossen war, hatte er meistentheils für sich allein.
Immer und immer wieder kommt die Erinnerung des Dichters in seinem späteren Schaffen zurück auf diese seine glückliche Kindheit, die in all ihrer stillen, unbewegten Einförmigkeit so reich an tiefen Eindrücken für seine empfängliche Seele war.
Früh erwachte bei ihm das Bedürfniß nach geistiger Beschäftigung, und mit unersättlicher Begierde machte er sich ohne Wahl über alle Unterhaltungsschriften her, die er auftreiben
[765]konnte. Das kam leider wiederum nur seiner Phantasie zu Gute, auf[WS 1] Kosten seiner eigentlichen Ausbildung. Mit seinen Kenntnissen sah es nicht zum Besten aus; und auch als der Dichter Edvard Storm, Vorsteher einer höheren Realschule in Kopenhagen, auf den lebhaften, begabten Knaben aufmerksam ward und ihm einen Freiplatz in seiner Schule verschaffte, half dies nicht viel: der Knabe beschäftigte sich nur mit solchen Fächern, die ihn besonders ansprachen, wie die Geschichte und die nordische Mythologie, und die unterhaltende Lectüre blieb ihm nach wie vor die Hauptsache. Schon damals aber begann er zahlreiche kleinere Gedichte zu schreiben, ja er verstieg sich sogar zu dramatischen Werken, welche unter Beihülfe seiner Schwester und einiger Altersgenossen fast ausschließlich in ihrem Kreise, nur selten vor Zuhörern, aufgeführt wurden.
Viele Kenntnisse besaß der sechszehnjährige Jüngling demgemäß nicht, als er die Schule verließ, allein sein Geist war ungemein frisch und gesund, für alles Schöne und Gute empfänglich, und unverkennbar traten seine vortrefflichen Anlagen hervor. Er selbst hatte noch keine Ahnung davon, in welcher Richtung sie sich entwickeln würden, und überließ das getrost der Zukunft. In der That vergingen noch Jahre, ehe er den rechten Weg fand.
Der junge Oehlenschläger sollte nach dem Austritt aus der Schule sich dem Handelsfache widmen. Allein im letzten Augenblicke stand er davon ab und begann sich zum Maturitätsexamen vorzubereiten. Indessen wollte es damit keinen rechten Fortgang nehmen, denn seine Phantasie war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – er verschlang um diese Zeit die Schriften von Spieß und Lafontaine – und zuletzt warf er die Classiker in den Winkel und ging zum Theater. Es war jedoch nicht der Beruf zum Schauspieler, der ihn zu diesem Schritte trieb, sondern der bei angehenden Schauspieldichtern, die über ihre Bestimmung noch nicht zur Klarheit gediehen sind, so häufig vorkommende Drang, mit der Bühne in Berührung zu kommen. Nachdem er in den verschiedensten Stücken aufgetreten, ward er irre an seinem Schauspielertalent und nahm nun eifrig, unter Leitung der beiden später so berühmt gewordenen Brüder Oersted, die ihm mit Rath und That getreulich beistanden, seine Vorbereitungen für das Studium wieder auf. Im Jahre 1800 wurde er Student; statt aber sich, wie er beschlossen, in die Jurisprudenz zu vertiefen, machte er sich an die Beantwortung einer von der Universität aufgestellten ästhetischen Preisfrage: in wie fern es für die schöne Literatur des Nordens ersprießlich sein könne, wenn sich dieselbe auf die alte nordische Mythologie statt wie bisher auf die griechische stütze? und beschäftigte sich gleichzeitig mit dem Studium von Schiller, Goethe und Jean Paul, die er erst jetzt kennen lernte und die sofort einen überwältigenden Eindruck auf ihn [766] machten. Seit jener Zeit dachte er nicht mehr an das juristische Studium.
Schon damals war Oehlenschläger ein überaus fruchtbarer Schriftsteller. Nicht nur wurden die von ihm an belletristische Zeitschriften gelieferten Beiträge immer zahlreicher: es erschienen auch bereits größere Arbeiten von ihm. Was er schrieb, erwarb ihm bald den Ruf eines „jungen, vielversprechenden Dichters“, und als im Jahre 1800 Jens Baggesen, ohne Frage der bedeutendste Dichter Dänemarks in jenen Tagen, das Land verließ, um, wie er glaubte, niemals zurückzukehren, vermachte er Oehlenschläger seine „Dänische Leier“. Dennoch befindet sich unter Allem, was der junge Schöngeist, der „Mann mit den verborgenen Talenten“ – so nannten ihn diejenigen seiner Freunde, welche ein Auge für die in ihm wogende Unruhe und Gährung hatten – damals zu Tage förderte, wenig oder nichts, woraus man hätte schließen können, auf welche Höhe er sich in kurzer Frist erheben würde.
Daß Oehlenschläger’s Zeitgenossen von seinen damaligen Arbeiten befriedigt wurden, ist durchaus natürlich. Er dichtete, wie es Mode war, getreu den Idealen, der Lebensanschauung und der Dichtungsweise, die man von der faden nüchternen Aufklärungsperiode her als Erbe übernommen, und die selbst ein Ewald oder ein Wessel nicht zu verdrängen vermocht hatten. In erster Reihe stand die Rücksicht auf das Nützliche, was der Dichtkunst vorherrschend einen moralisirenden, lehrhaften Zuschnitt aufnöthigte. Vom ästhetischen Standpunkte beschränkte sich ihre Aufgabe darauf, „nette Gedanken verständig in einem guten und angenehmen Versmaß auszudrücken“, und auf der anderen Seite sollte sie das allgemeine Wohl durch Kräftigung des Bürgersinns, der Liebe zur Tugend etc. befördern. Oehlenschläger folgte, wie alle Anderen, dem Strom, und es bedurfte eines starken äußeren Anlasses, um ihn in eine neue Spur zu bringen, die ihn in das Land der echten Poesie, seiner eigentlichen Heimath, führen sollte. Endlich kam dieser entscheidende Stoß; er ging von Heinrich Steffens, dem berühmten Philosophen und Naturforscher, aus.
Steffens war in Norwegen geboren und in Dänemark erzogen, doch hatte sein Geist das eigentliche Gepräge in Deutschland erhalten, wo er sich mit Begeisterung an Schelling und die romantische Schule anschloß. Gegen Ende des Jahres 1802 kam er nach Kopenhagen und hielt hier Vorlesungen, in denen er wie „ein zweiter Ansgar“ ein neues Evangelium predigte. Dieser geistreiche und beredte Mann, „der Mann des Blitzes“, wie Grundtvig ihn nannte, gewann einen außerordentlich großen Einfluß auf die Entwickelung des dänischen Geisteslebens, obgleich er fast wie ein Meteor vorüberflog – er war nicht viel länger als ein Jahr in Kopenhagen. Man erstaunte über die Fülle reicher Gedanken, die ihm entströmten, und man erkannte bald, daß, wenn der Geist, den er verkündete, zur Herrschaft gelangte, nicht viel von den geltenden Lebensanschauungen sich aufrecht erhalten könnte. Eine ganz neue Welt mit anderen Begriffen, anderen Idealen, als den herkömmlichen, erschloß er seinen Zuhörern. Die ältere Generation nahm daran Aergerniß und lehnte sich gegen die von dem unruhigen Kopf verkündeten neuen Lehrsätze auf, aber die Jüngeren stellten sich begeistert auf seine Seite, machten seine Gedanken zu den ihrigen und nahmen Eindrücke auf, die für ihr ganzes Leben bestimmend wurden: die beiden Oersted, Grundtvig, Mynster und viele Andere, vor allen aber Oehlenschläger.
Nach einem flüchtigen Zusammentreffen in einem größeren Kreise, wo Oehlenschläger auf’s Eifrigste gegen die vielen neuen von Steffens ausgesprochenen Meinungen auftrat, die, wie er sich ausdrückt, „machten, daß den Anwesenden die Haare zu Berge ständen“, besuchte dieser Steffens in seiner Wohnung und hatte ein sechszehnstündiges Gespräch mit ihm. Am nächsten Morgen schrieb Oehlenschläger sein Gedicht „Die goldenen Hörner“, und als er es Steffens vorlas, brach dieser in die Worte aus: „Ei, Sie sind ja ein wirklicher Dichter,“ und gestand ihm, daß diejenigen seiner Gedichte, die er früher gelesen, den Glauben in ihm erweckt hätten, Oehlenschläger sei ein alter, abgelebter Mann. Und Steffens hatte Recht. Der wirkliche Dichter trat erst in jener Nacht hervor, als er durch Steffens sich selbst und seine Aufgabe verstehen lernte. Seit dieser Zeit weht uns aus seinen Gedichten ein phantasiefrischer, jugendlicher Hauch entgegen. Wohl kann es vorkommen, daß seine Poesie auf Abwege geräth, allein von Greisenhaftigkeit ist keine Spur mehr darin.
Das Motiv zu dem Gedicht „Die goldenen Hörner“ bilden die beiden Trinkhörner aus massivem Golde, die einst in Schleswig gefunden waren, zwei der köstlichsten Alterthumsdenkmäler, die Dänemark je besessen. Sie waren gerade damals aus der Kunstkammer, wo man sie aufbewahrt, von einem Goldschmied gestohlen, der sie umgeschmolzen hatte. Der Dichter faßt diesen Vorfall in echt romantischer Weise symbolisch auf: die Götter hatten das nationale Streben, in das Heldenleben des alten Nordens einzudringen, damit belohnt, daß sie die herrlichen goldenen Gefäße auffinden ließen, als aber der Sinn für die nationale Vergangenheit dermaßen vom Volke wich, daß es die ehrwürdigen alten Denkmäler nur noch neugierig anstarrte und nach dem Werth des Goldes schätzte, da nahmen die Götter ihr Geschenk zurück. Dieser Gedanke ist mit einer poetischen Kraft und einem Schwung in der Diction durchgeführt, wie sie von Oehlenschläger selbst niemals übertroffen worden sind.
Wie mächtig der Durchbruch war, der sich zuerst in diesem Gedicht offenbarte, und wie fruchtbar die schöpferische Kraft, die nun in Thätigkeit trat, davon legt Steffens im fünften Bande seines Werkes „Was ich erlebte“ ein sprechendes Zeugniß ab.
„Ich gab ihn sich selber,“ heißt es da; „er erkannte den eigenen inneren Reichthum, und ich erschrak fast, als die jugendliche, frische Quelle mir entgegenströmte. Er kannte wohl die deutschen Dichter; er verehrte wohl Goethe, aber er wagte es nicht, dem, was ihn innerlich erfüllte, Worte zu geben. Jetzt zerbrachen plötzlich die Fesseln, und er war Dichter. Er fühlte sich befreit, jubelte und belohnte denjenigen, den er seinen Befreier nannte, mit einer grenzenlosen, rührenden Hingebung. Keine Zweifel quälten ihn, die ungehemmte schöpferische Thätigkeit fand unmittelbar die geeignete Gestaltung. Was mich in Erstaunen setzte, da ich es unter allen Menschen am unmittelbarsten erlebte, war die Leichtigkeit, mit welcher er seine Muttersprache beherrschte. Eine nie vorher gekannte Anmuth und dichterische Fülle entwickelte sich plötzlich, eine neue Epoche der Sprache, die über ganz Skandinavien sich mächtig verbreitete, trat ahnungsvoll und reich unter meinen Augen hervor. Man kennt Oehlenschläger nicht als Dichter, kann sein jugendliches Verdienst nicht schätzen, wenn man nicht die fast unglaubliche Gewalt erwägt, die er über die Sprache ausübte.“
Ebenso sprechend für die Bedeutsamkeit jener Wandlung ist ein Vorfall, der sich an die Herausgabe der ersten Gedichtsammlung Oehlenschläger’s in dieser Zeit knüpft. Er hatte sich mit einem Buchhändler über die Herausgabe einer solchen Sammlung geeinigt. Steffens aber verwarf fast Alles, was zur Aufnahme in dieselbe bestimmt war, und in größter Eile – Steffens war im October gekommen; das Buch sollte zu Weihnachten erscheinen – schrieb Oehlenschläger eine große Anzahl neuer Gedichte, sodaß die Sammlung zur rechten Zeit erschien und gerade um des Neugeschaffenen willen ein außerordentliches Aufsehen erregte: denn es erklangen darin ganz neue Töne, die durch ihre wunderbare Schönheit die Jugend unwiderstehlich hinrissen, während sie zugleich die Männer der alten Zeit zu den Waffen riefen. Den Inhalt bildeten Romanzen, die zu dem Besten gehören, was wir von Oehlenschläger besitzen, und das liebliche dramatische Idyll „St. Johannisabend-Spiel“ mit seinen stimmungsvollen lyrischen Episoden, worin der Dichter mit lebhaften Farben das Sommerleben der Kopenhagener im Walde schildert und kraftvolle, von dem jugendlichen Glauben an die von ihm verfochtene Sache und von Siegesgewißheit getragene Angriffe gegen den nüchternen, pedantischen Geschmack der Zeit richtet.
Im Jahre 1805 erschienen zwei Bände „Poetische Schriften“, die eine Anzahl kleinerer Gedichte, die beiden Gedichtcyklen „Die Reise nach Langeland“ und „Jesu Christi wiederholtes Leben in der Natur“, ferner die mit tiefsinniger Symbolik durchwebte „Vaulundurs-Sage“, deren Stoff der nordischen Vorzeit entnommen war, endlich die dramatische Dichtung „Aladdin oder die Wunderlampe“, eine meisterhafte dramatische Behandlung des bekannten Märchens in „Tausend und einer Nacht“, enthielten. Dies letztere ist wohl sein bestes Werk, jedenfalls dasjenige, in dem seine reiche jugendfrische Phantasie, seine stimmungsvolle Lyrik und seine liebenswürdige Laune sich zur schönsten Harmonie verschmelzen. Die Aufnahme war eine glänzende; er selbst nun seiner Sache völlig sicher. Die Jurisprudenz ward gänzlich aufgegeben, und er trat eine Reise in’s Ausland an, wo er sich fast fünf Jahre aufhielt.
Zuerst besuchte er Steffens in Halle und blieb bei ihm ein [767] halbes Jahr. Hier dichtete er in einem Zeitraum von weniger als sechs Wochen seine erste und vorzüglichste Tragödie „Hakon Jarl“, welche den Sturz des nordischen Heidenthums behandelt. Der Vorwurf ist der norwegischen Königschronik Snorre Sturleson’s entlehnt und mit erstaunlicher poetischer Kraft behandelt. Sein nächstes Werk war eine dramatische Bearbeitung der Mythe von „Baldur dem Guten“ im Styl der griechischen Tragödie. Hierauf hielt er sich einige Monate in Weimar auf, im fast täglichen Verkehr mit Goethe, worauf er sich nach Paris begab.
Das Trauerspiel „Palnatoke“, welches hier entstand, ist insofern ein Gegenstück von „Hakon Jarl“, als es das nordische Heidenthum in einem seiner edelsten Repräsentanten, im Gegensatz zu den Schattenseiten des Katholicismus, verherrlicht, während „Hakon Jarl“, wie große Sympathie der Dichter auch dort für den Helden zu erwecken weiß, doch zunächst eine Verherrlichung des siegreichen Christenthums ist. Weniger bedeutend war die zweite in Paris geschaffene Tragödie „Axel und Valborg“, die dramatische Bearbeitung eines berühmten alten Liedes von zwei Liebenden, gegen welche Haß und Mißgunst auftreten, um sie durch Anwendung der Kirchengesetze zu trennen. Dann reiste Oehlenschläger über die Schweiz nach Italien und dichtete hier in deutscher Sprache die Künstlertragödie „Correggio“, welche alsbald in den größten Städten Deutschlands aufgeführt und mit großem Beifall aufgenommen wurde, trotz der zahlreichen kunsthistorischen Irrthümer, deren der Dichter sich schuldig macht, und trotz des verfehlten, in schneidendem Widerspruch zu dem anmuthigen dramatischen Idyll in den ersten drei Acten stehenden Schlusses der Tragödie.[1]
Oehlenschläger hatte das dreißigste Lebensjahr erreicht, als er in sein Vaterland zurückkehrte. Hier waren die im Auslande gedichteten und von ihm in die Heimath gesandten Werke mit maßloser Begeisterung aufgenommen worden. Er ward sofort an der Universität als Professor der Aesthetik angestellt und vermählte sich jetzt mit Christiane Heger, einer Schwester der geistreichen Gattin Rahbek’s[WS 2]. Von nun ab verlief sein Leben still und ruhig, voll Zufriedenheit und Ruhm, und dieses idyllische Dasein ward nur durch einige literarische Fehden aus Anlaß seiner dichterischen Thätigkeit getrübt. Die große Schaar seiner Bewunderer nahm Alles, was von seiner Hand kam, selbst das Werthloseste – und er schuf dergleichen in der Folge nur zuviel – ohne die mindeste Kritik mit stürmischem Jubel auf und überfiel Baggesen mit wüthenden Angriffen, der, nachdem er 1811 nach Dänemark zurückgekehrt war, Oehlenschläger’s Werke, namentlich die schwächeren, in einer Reihe von Recensionen einer sehr scharfen Kritik unterzog. Unleugbar enthielt dieselbe viel Wahres und Treffendes, allein sie verfehlte doch den rechten Eindruck, weil man seinem rücksichtslosen und feindseligen Tone anmerkte, daß ein nicht geringer Theil Eifersucht mit im Spiele sei. Der Dichter selbst nahm nur wenig Theil an dem Streite, der bis 1819 dauerte, überließ es vielmehr seinen jungen Bewunderern, sich mit Baggesen herumzubalgen. Die zwölf Hauptkämpen, das sogenannte „Tylvt“ (Dutzend), unter denen sich mehrere später berühmt gewordene Dichter befanden, gingen zuletzt soweit, daß sie Baggesen aufforderten, sich wegen seiner Angriffe gegen ihren angebeteten Heros „auf Lateinisch“ zu rechtfertigen, worauf Jener sich natürlich nicht einließ.
Aus Anlaß der 1827 von Oehlenschläger vollendeten Tragödie „Die Normannen in Byzanz“ erhob sich eine literarische Fehde zwischen ihm und dem jungen talentvollen Dichter und Kritiker Johne Ludwig Heiberg. Dieser Streit kann insofern als eine Fortsetzung des Kampfes mit Baggesen angesehen werden, als er sich ebenso, wie dieser, wesentlich um das Verhältniß zwischen Inhalt und Form bei der Dichtkunst drehte. Heiberg’s ganze Haltung dabei war objectiv und leidenschaftslos, und er machte daher beim Publicum mit seinen Forderungen zu Gunsten des guten Geschmacks weit mehr Eindruck, als Baggesen, dessen Bemerkungen, mochten sie noch so richtig und treffend sein, stets einen Beigeschmack von persönlicher Bitterkeit hatten.
Während der Kampf mit Baggesen am heftigsten entbrannt war, gab Oehlenschläger neben einer Anzahl von Arbeiten, die er füglich nicht hätte veröffentlichen sollen, mehrere seiner allertrefflichsten Werke heraus. Selbstverständlich trug das viel dazu bei, daß sich das große Publicum auf seine Seite stellte. So erschienen in dieser Zeit die Tragödien „Stärkodder“ und „Hagbarth und Signe“ mit Handlungen aus der Vorzeit des Nordens; ferner das farbenreiche orientalische Märchen „Aly und Gulhyndy“, das anmuthige dramatische Idyll „Der kleine Hirtenknabe“ und ganz besonders der Romanzencyklus „Helge“ mit der Schlußtragödie „Yrsa“ und der Prosadichtung „Hroars Saga“. Dieser Cyklus bietet eine Reihe von glänzenden Bildern aus dem Leben in der Heidenzeit, wie es sich dem Dichter, von dem warmen, farbigen Licht der Romantik überstrahlt, darstellte. Wenn er in diesen Jahren des Kampfes für die ihm von seinem schonungslosen Gegner zugefügten mannigfachen Kränkungen vollen Ersatz in den Sympathien erhielt, welche ihm von seinem Volke beim jedesmaligen Erscheinen einer neuen gediegenen Arbeit auf’s Neue entgegengetragen wurden, so ward ihm während des Zwiespalts mit Heiberg eine Genugthuung in einer anderen, nicht minder erhebenden Weise dargebracht. Als er 1829 Schweden besuchte, ergriff der Bischof Esaias Tegnér, der berühmte Dichter, die Gelegenheit, während der Doctorpromotion in der Domkirche zu Lund Oehlenschläger zum „nordischen Sängerkönig“ zu krönen und ihn zu erklären für den „Erben des Throns im poetischen Reich, dessen König ist Goethe“, wobei er die denkwürdigen Worte sprach, daß die Zeit der Absonderung zwischen den Völkern des Nordens vorüber sei, und das Verdienst dieserhalb in allererster Reihe Oehlenschläger anrechnete, der durch seine Dichtung den alten nordischen Geist wieder in’s Leben gerufen.
Bis zu seinem Tod, der am 20. Januar 1856 erfolgte, war Oehlenschläger schöpferisch thätig, und mehrere von den Werken seines späten Alters zählen zu den glänzendsten Zierden der dänischen Literatur. Die bedeutendsten unter den bisher noch nicht genannten Schöpfungen Oehlenschläger’s sind: der große Romanzencyklus „Die Götter des Nordens“, eine freie, in stetem Wechsel der Tonart, vom höchsten Pathos bis zum kräftigsten Humor, ausgeführte Bearbeitung der mythischen Sagen und Gesänge der „Edda“ (1819), die Tragödie „Erik und Abel“ (1820), „Königin Margarethe“ (1833) und „Dina“ (1842), in welcher letzteren der Dichter sich weit mehr in den Charakter der Hauptperson vertieft, als dies bei seinen dramatischen Arbeiten sonst seine Gewohnheit ist, ferner die beiden großen epischen Dichtungen „Rolf Krake“ – in einer charakteristischen, auf die Nibelungenstrophe basirten Versform geschrieben – und „Regnar Lodbrog“, ein Romanzencyklus mit wechselndem Versmaß, die letzte größere Dichtung von ihm (1848). Außerdem eine große Anzahl van Romanzen, lyrischen Gedichten und dergleichen, sowie „Erinnerungen“, welche er im Manuscript hinterließ.
Diejenige Seite von Oehlenschläger’s reicher und umfassender Dichterthätigkeit, welche im Ganzen genommen am stärksten und unmittelbarsten auf seine Zeit einwirkte, war die dramatische, und doch war sie es nicht, in der sich sein Genius am klarsten und mächtigsten offenbarte. Alle die genannten Dramen zeichnen sich durch große poetische Schönheit aus, allein eigentlich nur „Hakon Jarl“ erfüllt durchaus die Forderungen der dramatischen Dichtung. Oehlenschläger war eine zu unmittelbare Natur, als daß er die dramatische Composition, bei welcher Ueberlegung und Berechnung eine so stark hervortretende Rolle spielen, hätte bemeistern können. Das Epische und das Lyrische wuchern allzu üppig, und leicht geschieht es, daß sich bei ihm der feste Umriß der Charaktere unter der hochtrabenden Rhetorik verflüchtigt. In seinem höchsten Glanze zeigt er sich da, wo das Epische sich mit dem Lyrischen zu einer weniger compacten Einheit verbindet, wie in der Romanze, der von einer stark lyrischen Stimmung durchdrungenen erzählenden Dichtung, ferner in solchen dramatischen Werken, wo der Stoff eine minder feste Composition zuläßt oder wohl gar fordert, wie z. B. in „Aladdin“ und „St. Johannisabend-Spiel“. Hier ist er völlig in seinem Element, bewegt sich mit wunderbarer Sicherheit in den verschiedensten Tonarten und entfaltet eine seltene Ursprünglichkeit und Schönheitsfülle.
Namentlich ist er als Romanzendichter ohne jede Frage ein Meister ersten Ranges – aber um dies recht zu erkennen, muß man seine Dichtungen in seiner Muttersprache lesen, denn der über ihnen ausgebreitete magische Glanz beruht zum großen Theil darauf, daß er dieselbe nach den feinsten Stimmungsnuancen zu [768] biegen und zu schmiegen verstand. Dadurch aber wird es zur Unmöglichkeit, diese Gedichte in einer fremden Sprache wiederzugeben, ohne die charakteristische Schönheit zu beeinträchtigen.
Dies ist unzweifelhaft der hauptsächlichste Grund, weshalb Oehlenschläger sich nirgends außerhalb des Nordens, nicht einmal in Deutschland Eingang verschaffte, wozu sein Genie sonst die Berechtigung hatte und wonach er selbst so sehr trachtete. Er war von dem Gefühl durchdrungen, wie viel er der deutschen Literatur zu verdanken habe, von der aus seine dichterische Thätigkeit den entscheidenden Anstoß erhalten hatte und mit deren Koryphäen ihn ein inniges Freundschaftsband verknüpfte. Ja – unglücklicherweise war es ihm nicht genug, daß seine Schriften in’s Deutsche übersetzt wurden, er wollte deutscher Dichter, so gut wie dänischer sein. Mehrere seiner Arbeiten schrieb er zuerst auf deutsch, wie dies bereits von seinem „Correggio“ oben gesagt wurde, und die meisten übersetzte er selbst. Bezüglich seiner Behandlung des Deutschen möge hier Steffens’ Urtheil angeführt sein: „Wunderbar und seltsam war die poetische Leichtigkeit, mit welcher er das innere Verständniß der deutschen Sprache sich zu eigen zu machen wußte, obgleich er mit der Grammatik derselben völlig unbekannt war.“
Noch ein anderer Umstand trug dazu bei, daß man in Deutschland Oehlenschläger’s Werken keinen Geschmack abgewinnen konnte. Während nämlich die deutschen Romantiker sich immer mehr in’s dunkle, weihrauchumwogte Mittelalter vertiefen, hatte er in der Götter- und Heldenwelt des nordischen Alterthums die unerschöpfliche Goldmine, deren Schätze er entdeckte und zu heben vermochte. Diese Welt aber, aus welcher seinem Volke nicht nur Schönheit und Größe entgegenstrahlte, sondern in der es auch den Ausgangspunkt für die Entwickelung seines ganzen selbstständigen geistigen Lebens im Laufe der Zeiten kennen lernte – diese Welt mußte nothwendigerweise dem deutschen Publicum als etwas Fremdartiges erscheinen, weil die Culturströmungen, die das Geistesleben des deutschen Volkes formten und ausprägten, den Zusammenhang mit jener abgebrochen hatten.
Oehlenschläger’s Bedeutung für die Geistescultur Dänemarks kann nicht hoch genug angeschlagen werden; für die Entwickelung derselben in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist er zum größten Theil der alleinige Träger, denn seine Dichtung wirkte anregend nach allen Seiten hin und rief eine früher nie geahnte Bewegung hervor. Eine reiche, in allen Farben spielende poetische Literatur, die Entfaltung der in Oehlenschläger’s Dichtung liegenden Keime, ist aus derselben emporgesproßt. Und ihr Einfluß erstreckte sich weit über das Gebiet der schönen Literatur hinaus: er ganz besonders trug zur Erweckung und Kräftigung des Nationalgefühls bei. Indem Oehlenschläger die großen Gestalten der Vorzeit, wohl idealisirt und gemildert, aber doch mit Bewahrung der bedeutungsvollsten Züge, seinem Volke vorführte, brachte er dasselbe zur Klarheit über den innersten Grund seines Wesens, wozu es früher nicht hatte kommen können. Und dies that Oehlenschläger nicht blos für Dänemark, sondern für den ganzen Norden. Die ihm von Tegnér in Lunds alter ehrwürdiger Domkirche dargebrachte Huldigung war keine leere Schmeichelei und geschah nicht im Taumel einer schrankenlosen Begeisterung, sondern sie war der Ausdruck eines Gefühls, das auf vielfache Weise in Norwegen und Schweden nicht minder wie in seinem engeren Vaterlande zu Tage getreten war, des Gefühls, daß er für den gesammten Norden mehr gethan, als irgend ein anderer Dichter, daß er darum gerechten Anspruch hat auf den stolzen Namen des „nordischen Dichterkönigs“.
- ↑ In Rom ward der Dichter von dem deutschen Maler Riepenhausen portraitirt. Dieses Gemälde ist das beste Bild von Oehlenschläger und befindet sich im Besitze des Consul Haidt zu Kopenhagen, der bereitwillig seine Zustimmung zur Wiedergabe desselben in der „Gartenlaube“ ertheilt hat.
- ↑ Verfasser, ein junger dänischer Gelehrter, veröffentlicht gegenwärtig eine deutsch geschriebene „Geschichte der Literatur des skandinavischen Nordens von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (Leipzig, Schlicke), welche als das erste erschöpfende Werk dieser Art berechtigtes Aufsehen erregt. Wir dürfen den Lesern eine dauernde Mitarbeit dieser gediegenen Kraft an unserer „Gartenlaube“ versprechen. D. Red.
Die größten Höhen sind auf Luftfahrten zu wissenschaftlichen Zwecken erreicht worden, denn die professionellen Aëronauten begeben sich nicht gern in jene Regionen, wo das Thermometer 30 Grad unter den Gefrierpunkt sinkt und der Körper so sehr an Kraft verliert, daß bisweilen jede Bewegung unmöglich wird. Am 18. Juli 1803 stiegen Robertson und ein Genosse zu Hamburg auf und erreichten eine Höhe von 6831 Metern. Im folgenden Jahre erreichte der berühmte Chemiker Gay-Lussac, als er am 16. September in Paris aufstieg, 7016 Meter Höhe über dem Meeresspiegel. In dieser ungeheuren Höhe, in welcher der kühne Forscher fast drei Fünftel des Gewichts der Atmosphäre unter sich hatte, fühlte er fast gar keinen körperlichen Schmerz; Puls und Athem waren beschleunigt; dazu war die Luft außerordentlich trocken, aber er empfand kein Unbehagen, das ihn zum Niedersteigen hätte veranlassen können. Während am Erdboden eine Wärme von 28 Grad Celsius herrschte, zeigte das Thermometer in der angegebenen Höhe 9½ Grad Kälte.
Barral und Bixio unternahmen am 29. Juni 1850 eine Luftreise in einem Ballon, der sich voraussichtlich bis zu 12,000 Meter Höhe erheben konnte. Unter Wind und Regen stiegen sie auf und verschwanden pfeilschnell in den Wolken. Es war eigentlich gut, daß der Ballon in Folge des ungünstigen Wetters schadhaft geworden war und in 5900 Meter Höhe einen Riß erhielt, der sein Niederfallen herbeiführte; denn nach den Erfahrungen, die wir nunmehr besitzen, würden bei dem raschen Emporsteigen des Ballons die beide Insassen desselben wohl schwerlich lebend aus 10,000 Meter Höhe herabgekommen sein. Am 27. Juli 1850 wiederholten sie ihre Fahrt und erreichten eine Höhe von 7049 Metern. Die Luft war hier so kalt, daß das Thermometer 40 Grad unter den Gefrierpunkt sank.
John Welsh stieg am 10. November 1852 in der Nähe von London bis zu einer Höhe von 6989 Meter auf und fand in dieser Höhe 24 Grad Kälte. Die größte Höhe im Luftballon erreichte 1862 Glaisher; er kam bis zu 8838 Meter, wo er bewußtlos wurde, ja der Ballon soll sogar 11,000 Meter Höhe erreicht haben. Die Luftfahrt, welche Crocé-Spinelli und Sivel das Leben kostete, erstreckte sich bis zu 8600 Meter Höhe. Tissandier, der einzige Ueberlebende des schrecklichen Dramas, vermochte diese größte Höhe jedoch nicht direct an seinem Instrumente abzulesen, denn in 8000 Meter Höhe fiel er bewußtlos nieder und wachte erst nach einer halben Stunde auf, als der Ballon sank.
Nach diesen Erfahrungen werden wir wohl darauf verzichten müssen, die Luftregionen in 8000 und mehr Metern Höhe zu untersuchen, so interessant dies auch in mancher Beziehung sein möchte. Dem Sauerstoffmangel in jenen Höhen kann man allerdings abhelfen, und in der That athmeten Tissandier und seine Genossen, nachdem sie 7000 Meter Höhe erreicht hatten, wiederholt Sauerstoffgas von geeigneter Zubereitung, das sie in Röhren mitgenommen hatten; aber dem geringen Luftdrucke dort kann man sich nicht entziehen, und dieser ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Veranlassung der schrecklichen Katastrophe gewesen, welcher Crocé-Spinelli und Sivel zum Opfer fielen. Tissandier glaubt, seine Gefährten würden nicht erlegen sein, wenn sie die Fähigkeit behalten hätten, sich zu bewegen und Sauerstoff einzuathmen.
Ballonfahrten zu lediglich wissenschaftlichen Zwecken haben für das größere Publicum zunächst nur ein beschränktes Interesse; um so beifälliger wird dagegen Alles aufgenommen, was eine Aussicht eröffnet, die Luftschifffahrt praktisch verwerthbar zu machen. Die Meisten denken dabei weniger an Fortbewegung von Gütern durch den Ballon, als vielmehr an billige, bequeme und rasche Vergnügungsfahrten, so etwa nach Asien, oder nach den Quellen des Nil oder den Urwäldern am Amazonenstrome. Wenn man dabei Abends wieder zu Hause sein, den Ballon hübsch zusammenklappen und bis zum Gebrauch am nächsten Sonntag im Schrank aufbewahren könnte, so wäre das noch schöner. Leider ist es mit der Luftschifffahrt zunächst noch nicht so weit, denn immer noch fehlt die vielersehnte Möglichkeit, den Ballon beliebig zu steuern; und da durch das unsinnige Treiben verschiedener Leute, die ohne Geld und ohne Talent das Problem lösen wollten, alle Bestrebungen in dieser Richtung lange genug sehr in Mißcredit gekommen sind, wird jene Möglichkeit schwerlich so bald gefunden werden.
[769] Schon die ersten Erfinder des Luftballons, die Gebrüder Montgolfier zu Annonais, welche große Leinwandsäcke durch warme Luft zum Emporsteigen brachten, sowie Professor Charles, der zuerst einen gefirnißten Taffet-Ballon mit Wasserstoffgas füllte und aufsteigen ließ, empfanden es schmerzlich, daß der Ballon in horizontaler Richtung sich nicht lenken ließ, sondern ein Spiel jedes Windes blieb. Vergebens machte man alle möglichen Versuche mit Segeln und Rudern und erdachte die tollsten, unmöglichsten Formen für die Luftfahrzeuge – alles half nichts: der Wind trieb stets den Ballon, wohin er eben wehte. Es ist aber auch ganz natürlich, daß weder die Form eines Luftschiffes noch die Anbringung von Rudern zur Steuerung etwas beitragen können, so lange dem Ballon nicht auf irgend eine Weise eine eigene Bewegung neben der ihm vom Winde ertheilten innewohnt. Ist ein Ballon lediglich der strömenden Luft überlassen, so ertheilt diese ihm bald ihre eigene Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung, er steht dann mit Bezug auf diese Luftströmung vollständig still, und so nützt es nichts, ob man das Ruder nach rechts oder nach links stellt, ob man ein großes oder kleines Segel aufspannt; auch darin hat man gefehlt, daß man das Ruder an der Gondel anbringen wollte und wirklich anbrachte, statt oben an dem viel größeren Ballon. Es ist das, wie Pearson sehr gut bemerkt, gerade so, als wollte man einen Wagen durch irgend einen an den vorderen Rädern angebrachten Apparat steuern, während er von den Pferden in gerader Richtung fortgezogen würde. Dann ist auch die Kugelform des Ballons für eine Steuerung so ungünstig wie möglich. Ein Schiffer würde sich für die Lenkung eines kugelförmigen Schiffes, an dem unter Wasser noch ein Korb mit Steinen hinge, sehr bedanken.
Wenn die Luftschifffahrt Fortschritte erzielen soll, so muß man zunächst ganz von der Kugelform des Ballons abgehen. Dieselbe ist allerdings am einfachsten zu erreichen, sie ist aber geradezu die am wenigsten passende.[1] Deswegen hat ein Italiener, Dr. Giovanni Polli, die Construction eines Luftballons angegeben, der sich der Fischgestalt möglichst nähert. Um die Wirkung der Schwimmblase hervorzubringen, wodurch der Luftschiffer ohne Gasverlust auf- und absteigen könnte, sollte an der Maschine eine kleine Feuerung angebracht werden, welche warme Luft in Röhren durch das Gas des Ballons leitete und dieses ausdehnte. Der Vorschlag ist recht gut, aber seine Ausführung kaum minder gefährlich, als das Erwärmen eines Fasses voll Pulver. Von einem mit Gas gefüllten Ballon soll man alles, was Feuer heißt, nur möglichst weit entfernt halten. Pilatre de Rozier und Romain sind durch Nichtbeachtung dieser Hauptregel 1784 verunglückt, und genau ebenso erging es dem Grafen Zambeccari, der, nachdem er zwei Mal mit seinem Ballon in’s adriatische Meer gefallen war, darauf verfiel, das Gas desselben durch eine Spiritusflamme zu erwärmen, und damit natürlich eine Explosion herbeiführte. Um dem Luftballon in horizontaler Richtung eine eigene Bewegung zu verschaffen, schlug Polli vor, an demselben ein Ruder in Gestalt der Schwanzflosse des Fisches anzubringen und dieses Ruder stets rasch hin und her zu bewegen. Dieser Vorschlag ist sehr sinnreich, aber seiner Ausführung dürften sich doch große Schwierigkeiten entgegenstellen.
Von anderen Gesichtspunkten ging David Meltzl aus. Er verwarf alle Vorschläge, dem Ballon durch Menschen- oder Dampfkraft eine eigene Bewegung zu geben, sondern reflectirte nur auf die Bewegungen der Luft, als die einzigen Gewalten, denen der Ballon je gehorchen werde. Die Richtung der Luftbewegung, also des Windes, ist in den verschiedenen Höhen der Atmosphäre nicht gleich, und darauf gründete Meltzl seinen Vorschlag. Zwei Kräfte, sagt er, führen den Seemann: der Stoß des Windes und der Widerstand des Wassers; aus der Benutzung dieser Kräfte, deren Einwirkung auf sein Fahrzeug er durch Steuer und Segel zweckmäßig zu leiten weiß, entspringt die nach dem Ziele gerichtete Bewegung des Schiffes. Könnte nun nicht ebenso der Luftfahrer zwei in verschiedenen Richtungen wehende Winde gleichzeitig benutzen? Es ist klar, daß er zu diesem Zwecke keinen tausend Fuß hohen Mast über dem Ballon aufrichten kann, um daran oben ein Segel zu befestigen, das dem andern Winde ausgesetzt wäre; aber was hindert ihn, den Mast herabhängen zu lassen? Derselbe brauchte nicht einmal von Holz zu sein; ein Seil würde dieselben Dienste thun, und am unteren Ende wäre das Segel zu befestigen. Daneben bedürfte der Ballon selbst eines Steuers, um das Segel jedesmal in der erforderlichen Lage zu befestigen.
Damit der Luftfahrer die ihm günstigen Winde aufsuchen kann, muß er aber auch die verticale Bewegung ganz in seiner Gewalt haben. Er kann sich in dieser Beziehung durch Auswerfen von Ballast helfen, aber dieses Mittel leidet nur eine beschränkte Anwendung, und Meltzl schlug deshalb vor, daß der Aëronaut sich in der Luft selbst ein Ueber- oder Untergewicht von ein paar Pfund – und mehr bedarf es nicht – verschaffen solle. Dies läßt sich aber, wie Meltzl bemerkt, leicht erreichen, wenn der Luftfahrer eine genügend große hohle Kugel von feinem Kupferblech und eine Luftpumpe mitnimmt. Wird diese Kugel mit verdichteter Luft gefüllt, so erhält man Uebergewicht, wird dagegen die zusammengepreßte Luft durch Oeffnen des Hahnes wieder freigelassen, so erhält man noch viel leichter Untergewicht. Auf diese Weise brauchte der Luftfahrer sein Gas nicht zu verschwenden, wenn er sich zur Erde senken will, auch könnte er nöthigenfalls die Kugel mit sammt der Luftpumpe herauswerfen, wenn der Ballon einmal allzu schnell zur Erde sinken sollte. Meltzl versprach sich sehr viel von seinem Ballon. Zu Fahrten über das Meer, so meinte er, könnten die Segel des Luftschiffs durch das Wasser bearbeitet werden, wie die Luft in die Segel des Wasserschiffs greift. Wenn aber die See sich empöre, so tauche der Luftfahrer in den befreundeten Aether empor und lache ihrer Wuth. Es ist das etwas sehr überschwänglich; denn nach den bisherigen Erfahrungen darf man einen Ballon, welcher der Meeresoberfläche nahe kommt, dreist für verloren erklären. Das hat schon Crosbie erfahren, als er von Dublin aus über die Irische See fliegen wollte und sich, weil es ihm oben zu kalt war, durch Ausströmen von Gas senkte. Der Ballon war nun nicht mehr zu halten, und obgleich Crosbie Alles was er hatte auswarf, sank er doch bis zum Wasserspiegel. Vorsichtiger Weise hatte er seine Gondel so construirt, daß sie als Nachen dienen konnte, und nun begann eine rasende Fahrt in der Richtung nach der englischen Küste. Der Ballon zog wie ein Schleppdampfer, und erst nach vielen Bemühungen konnte man des seltsamen Seefahrers habhaft werden.
Die Vorschläge von Meltzl sind niemals praktisch geprüft worden, denn auf dem Gebiete der Luftschifffahrt arbeitet, wie es scheint, Jeder nach seiner eigenen Eingebung und kehrt sich nicht viel an das, was seine Vorgänger gedacht und vorgeschlagen haben. Das trat am deutlichsten bei der Europäischen Luftschifffahrts-Compagnie hervor, die in den dreißiger Jahren in Paris sich gebildet hatte und eine directe Luftschifffahrt zwischen Paris und London einrichten wollte. Die guten Leute hatten gar keine Idee von den Bedingungen, unter denen ein Ballon aufsteigt. Sie meinten, je mehr Gas man einfülle, um so besser wäre es, und füllten daher so wacker, daß der Ballon wie eine Seifenblase platzte. Ein neuer Ballon, „der Adler“, der von London aus seinen Flug nach den Hauptstädten Europas nehmen sollte, kam auch nicht dazu, sondern wurde vor seinem Aufsteigen in den blauen Aether von den Gläubigern der Luftschifffahrts-Compagnie mit Beschlag belegt. Es war dies eigentlich gut, denn der Ballon war so sinnreich construirt, daß er diesmal gewiß hoch in der Luft geplatzt wäre. Die Unternehmer hatten ihn nämlich mit einer Schwimmblase versehen, die in Gestalt eines kleinen Ballons in dem großen gasgefüllten Ballon angebracht war und durch Zuführung von atmosphärischer Luft leicht aufgeblasen werden konnte. Hierdurch sollte das Gas in der größeren Hülle zusammengepreßt und die ganze Flugmaschine schwerer werden, sich also senken. Wie gefährlich solche Pressungen einer Taffethülle werden können, liegt klar auf der Hand, und es scheint mir unzweifelhaft, daß der Versuch, durch Einpressen von Luft die Schwimmkraft des Ballons in merklichem Maße zu vermindern, das größte Unglück herbeigeführt haben würde.
Trotz des Fiascos, welches der „Adler“ in London gemacht, ließ sich wenige Jahre später der englische Ingenieur Samuel Henson nicht abhalten, die Beförderung von Menschen und Waaren durch die Luft zum Gegenstande neuer Speculationen zu machen. Er kam dabei auf ein atmosphärisches Fahrzeug, das er sich patentiren ließ und worüber er sich folgendermaßen ausspricht: „Der erste Theil meiner Erfindung besteht in einem Apparate, welcher so gebaut ist, daß er eine sehr ausgedehnte Oberfläche von leichter und dennoch starker Construction darbietet, die [770] zum Hauptkörper der Maschine in demselben Verhältnisse steht, wie die ausgebreiteten Schwingen eines im Fluge begriffenen Vogels zu seinem Körper. Anstatt aber die vorwärts gerichtete Bewegung mittelst der Bewegung der ausgedehnten Fläche zu erzielen, wie dieses mit den Schwingen der Vögel der Fall ist, bringe ich geeignete, durch eine Dampfmaschine getriebene Schaufelräder an, womit ich obigen Zweck erreiche.“
Es ist unnöthig, hier näher auf die Beschreibung der von Henson erdachten Dampfmaschine einzugehen, denn der monströse Flugapparat mit seinen siebenundsiebenzig Fuß weit ausgebreiteten Flügelflächen kam nie zu Stande; der Erfinder muß wohl selbst hinterher einen Haken daran gefunden haben. Wie mit diesem Projecte, so ging es mit tausend anderen; die Erfinder waren meist von der Vollkommenheit ihres Apparates felsenfest überzeugt, aber sie brachten es nicht zu praktischen Versuchen, oder wenn dies einmal geschah, so hatten die Flugapparate den Eigensinn, entweder gar nicht aufzusteigen oder sich in der Luft nicht horizontal steuern lassen zu wollen. Dennoch sind in neuerer Zeit in Bezug auf Lenkbarkeit des Luftballons einige nicht unwesentliche Fortschritte angebahnt worden, und zwar fast gleichzeitig in Frankreich und Deutschland. Dort war es die enge Einschließung von Paris, welche die Belagerten anspornte, auf Vervollkommnung der Luftcommunication zu sinnen, und schon im October 1870 wurde der Ingenieur Dupuy de Lôme beauftragt, einen Luftballon nach den von ihm vorgelegten Plänen zu construiren, von dem man erwartete, er werde sich in horizontaler Richtung lenken lassen. Schwierigkeiten aller Art verhinderten indeß die Herstellung des Ballons, und erst Anfangs 1872 war man damit so weit, daß am 2. Februar eine Probefahrt unternommen werden konnte. Zur Erzeugung einer Eigenbewegung des Ballons mit Rücksicht auf die Luftschicht, in welcher derselbe schwimmt, diente eine zweiflügelige sogenannte Propellerschraube, die von acht Mann in rasche Umdrehung versetzt wurde. Die Probefahrt fand unter wenig günstigen Umständen statt; der Ballon stieg bei heftigem Südwinde, mit vierzehn Personen Bemannung und fünfhundert Kilogramm Ballast versehen, rasch empor. Sobald die Schraube in Umdrehung versetzt wurde, machte sich der Einfluß des Steuerruders augenblicklich bemerklich. Derselbe war freilich nur gering, aber er war doch unzweifelhaft vorhanden, und wenn die Schraube, statt durch Menschenkraft, vermittelst einer Maschine in raschere Umdrehung versetzt worden wäre, so würde sich eine weit entschiedenere Abweichung von der Richtung des Windes bemerklich gemacht haben. Eine Dampfmaschine in einem mit Leuchtgas oder Wasserstoffgas gefüllten Ballon ist freilich eine gefährliche Sache, aber man braucht eine solche Maschine auch gar nicht mitzunehmen, sondern blos ihre mechanische Kraft. Läßt man nämlich durch eine Dampfmaschine eine hinreichend starke Feder spannen, so hat man in dieser einen Kraftvorrath, den man im Ballon gefahrlos benutzen kann.
Auch der Ingenieur Hänlein in Mainz hielt die Anwendung von Menschenkraft zum Betriebe des Luftballons für ungenügend und hat dafür die Anwendung einer rotirenden Gasmaschine vorgeschlagen. Die Construction eines mit Rücksicht hierauf erdachten Luftschiffes ist ihm im Jahre 1874 patentirt worden, und man muß gestehen, daß die Entwürfe des deutschen Ingenieurs genial und praktisch erscheinen. Er selbst war von der Ausführbarkeit seines Projectes vollständig überzeugt und betrachtete die Gasmaschine als den allein möglichen Motor für den Ballon. Besonders die rotirende Gasmaschine soll sich nach Hänlein außerordentlich eignen; in ihr, sagt er, liegt das ganze Geheimniß der Luftschifffahrt, da sie es ermöglicht, in einem kurzen Zeitraume ganz enorme Quantitäten Gas feuergefahrlos zur Explosion zu bringen, respective ihre Kraftäußerung nutzbringend für die Fortbewegung des Ballons zu verwerthen. Inzwischen können hier nur praktische Versuche entscheiden, und zwar müssen dieselben wiederholt und in größtem Maßstabe angestellt werden. Einige vorläufige Experimente haben die Ideen Hänlein’s keineswegs als unpraktisch erwiesen; allein was soll das! Um wirkliche Fortschritte auf dem Gebiete der Luftschifffahrt zu begründen, muß in großem Maßstabe experimentirt werden, und dazu gehört erstens Geld, zweitens Geld und drittens viel Geld. Ein eifriger Freund aller Bestrebungen auf dem Gebiete der Aëronautik meinte jüngst: „Es giebt landwirthschaftliche Versuchsstationen – warum nicht auch einmal luftschifffahrtliche?“ Ich weiß nicht, ob dergleichen nöthig und nützlich sind, so viel aber ist sicher, daß keine wichtige Erfindung der Neuzeit so lange in den Kinderschuhen stecken blieb, wie die Erfindung der Luftschifffahrt. In gewissen „für die weitesten Kreise des Volkes“ bestimmten „illustrirten“ Pfennigblättern Deutschlands findet man allerdings von Zeit zu Zeit Abbildungen und zu diesen angefertigte Beschreibungen von lenkbaren „Luftschiffen“, durch die das Problem gelöst erscheint. Besonders sind es Amerikaner, denen es „endlich“ gelungen sein soll, alle Ansprüche zu befriedigen. Geht man der Sache auf den Grund, so zeigt sich ihre völlige Nichtigkeit. Man kann vor solchen „illustrirten“ Mittheilungen nicht genug warnen; sie enthalten in vielen Fällen bodenlosen Unsinn. Die Erläuterungen werden meistens von Leuten verfaßt, die gar keine Idee von der Sache haben, und die Illustrationen sind Abklatsche aus englischen oder französischen Journalen. Natürlich verlautet später von den gerühmten Erfindungen kein Wort mehr, und während man erwarten dürfte, sie würden praktisch ausgebeutet, sind sie längst mit dem Pfennigblatt in den Papierkorb gewandert.
Obgleich die Gefahr, welche mit Ballonfahrten verknüpft ist, im Allgemeinen nicht gerade zu gering veranschlagt werden kann, so sind doch, nachdem viele tausend Luftfahrten ausgeführt wurden, bis jetzt nur wenig Unglücksfälle vorgekommen, und selbst von diesen hätten manche bei einiger Vorsicht vermieden werden können. Es ist daher heute auch nur noch selten von Anwendung des Fallschirms die Rede, dessen Bedeutung unmittelbar nach Erfindung des Luftballons so hoch berechnet wurde. Es war in der That ein aufregendes Schauspiel, zu sehen, wie ein Mensch, bewaffnet mit einem aufgespannten Regenschirme von zwanzig Fuß Durchmesser, sich aus dem Ballon herabstürzte und pfeilschnell niedersauste. Die Beklemmung der Zuschauer wich freilich schnell genug, denn der Fall des kühnen Luftspringers mäßigte sich rasch, und die Ankunft auf der Erde geschah regelmäßig ohne Verletzung. Die großen Hoffnungen, welche man anfangs auf weitere Vervollkommnung des Fallschirms setzte, von dem man glaubte, daß er mannigfachen praktischen Nutzen haben werde, sind nicht in Erfüllung gegangen. Wohl aber hat auch hier der Unverstand sein Opfer gefordert. Der Widerstand der Luft ist es natürlich, der bei Anwendung des Fallschirms die Schnelligkeit des Herabsturzes mäßigt; kann die Luft rasch nach allen Seiten entweichen, so tritt der beschleunigte Fall ein. Diese einfache Wahrheit haben mehrere Verbesserer des Fallschirms nicht einsehen können, denn sie schlugen vor, man solle, um das Hin- und Herschaukeln des Schirms zu vermeiden, denselben umkehren, also nicht die hohle Seite, sondern die Spitze der Erde zukehren. Diese wahnsinnige Idee ist von verschiedenen Leuten verfochten worden, aber nur Einer – ein Engländer – hatte den Muth, sie praktisch zu erproben und bezahlte, wie vorauszusehen, den Versuch mit seinem Leben.
Cap Lopez an der Küste von Südwestafrika ist eine Halbinsel, welche vom Festlande nur durch schmale Buchten inmitten sumpfiger Mangrovewaldungen getrennt wird, auf ihrer äußersten Südostspitze jedoch durch eine ungeheure öde Sandbank mit demselben zusammenhängt. Sie erstreckt sich etwa 25 englische Meilen nach Nordwest zu Nord in den atlantischen Ocean und liegt etwa einen Breitegrad südlich vom Aequator. Das Terrain ist flach, parallel mit der Länge der Halbinsel leicht gewellt und vorherrschend Savanne, in der viele und lange Buschparzellen romantisch eingestreut liegen. Quellen und fließende Gewässer fehlen, weshalb die Gegend nur vorübergehend von Orungu- und Comi-Negern des Fischfangs und der Jagd wegen besucht wird.
Mangi, wie die Halbinsel von den Eingeborenen benannt wird, gleicht einem großen englischen Wildpark und bietet bei [771] weitem den besten Jagdgrund, welchen ich auf meinen vielen Streiferen angetroffen habe; sie strotzt von Wild, das in dem saftigen Gras der tieferen Stellen und dem immer grünen Laube der mehr gebüschartigen Waldungen vortreffliche und ergiebige Aeßung findet. Ausreichende Tränke liefern einige an der Südostseite gelegene Wasser-Reservoirs, die sich während der Regenzeit füllen und nie austrocknen. Nur auf der vom Winde abgewendeten Ostseite ist eine Landung möglich, wogegen die äußerst heftige Brandung der Südwestlage die Annäherung wehrt, indem hier eine constante Brise aus gleicher Richtung, die heftige Schwellung des Meeres und das weit in dasselbe reichende flache Vorland, je nach der Einwirkung, drei bis fünf Reihen Brecher (Sturzseen) hervorruft. An der ganzen Länge dieser Seite ist der Strand beständig selbst bei geringem See-Andrange in einen aus stäubenden Wassertheilchen bestehenden Nebel gehüllt, eine Folge des Zerschellens der unter donnerndem Brausen und Zischen sich überstürzenden Brandungswellen, die man in Westafrika Calema nennt.
Dieser Theil der Halbinsel ist besonders von Thieren belebt, da er der gesündeste und von Menschen am wenigsten besuchte ist. Selbst zu Lande ist er äußerst beschwerlich zu erreichen, da der Zugang wiederholt durch tiefes Sumpfwasser inmitten zum Theil schon absterbender, unglaublich verwurzelter Mangle-Gebüsche führt, durch die man sich einhauend die Wege bahnen muß.
Ich war zu Jagdzwecken auf Mangi und kam nach sechswöchentlicher Jagd auf der Südostseite mit meiner Begleitung, bestehend aus fünf Orungus, zwei Galoa und einem Kru-Neger, an die südwestliche Küste, um Flußpferde zu schießen. Sehr überrascht war ich, als ich hart am brandenden Strande eine kürzlich erbaute Hütte und als deren Insassen ein altes, lahmes und schauerlich häßliches Medicinweib mit einem Sclaven zu ihrer Bedienung vorfand. Sie war aus Sangatanga, stand bei den Orungus und selbst Comis in großem Ansehen und war gekommen, um Kräuter für Medicin, sowie Gifte zu suchen und ihren Hokuspokus in einem kleinen, sehr reinlich gehaltenen Fetischhäuschen abzuhalten. Behangen war sie mit einer Menge von Firlefanz, das heißt Fetischen (Amuleten) der sonderbarsten und verschiedensten Art. Ihre Einladung, in der Hütte zu übernachten, schlug ich unter Ausreden ab, es vorziehend, auf einer der Fluth nicht ausgesetzten Sandbank zu campiren, wo wir denn auch unser Lager aufschlugen.
Im Verlaufe des nächsten Tages, der so verhängnißvoll für mich enden sollte, nöthigte mich das alte Medicinweib, wohl aus Dankbarkeit für erhaltene kleine Geschenke, in ihr Fetischhäuschen, nahm unter einer Höhlung des guten Götzen Eviva ein Stück weißer Erde hervor und beschmierte mir die innere Seite der einen Hand. Die Schwarzen selbst – um dies nebenbei zu bemerken – bemalen sich, wenn sie Frieden oder Willkommen stillschweigend ausdrücken wollen, damit die Stirn über den Augenbrauen. Diese heilige Erde entnehmen sie dem Rande eines tiefen Erdfalles, an welchem, wie sie glauben, der böse Geist Ibambu Wache hält und die sich ihm Nahenden durch Schwindelanfälle hineinzieht. Wie natürlich, wollen Viele dieses durch den Aberglauben vermehrte Gefühl empfunden haben. Den Erdfall bezeichnen sie mit Wonka-Wonka. Nie habe ich ein Stückchen dieser weißen Masse außer diesem einen Male in die Hand bekommen können, und damals dachte ich – ich muß es zu meiner Schande gestehen – nicht daran, zu untersuchen, ob es Talkerde, Thonerde oder Kreide war.
Etwa anderthalb Stunden vor Sonnenuntergang begab ich mich auf den Weg, um nach meinen Dickhäutern zu sehen. Zur Begleitung nahm ich einen Galoajungen mit, der mir noch eine leichte Jagdflinte zum Schießen von Vögeln nachtrug. Der andere Galoa gesellte sich uns unaufgefordert zu und bewaffnete sich mit einem Manatus-Speer. Die Ebbe hatte schon längere Zeit eingesetzt. Der Weg am Strande war angenehm zu gehen, und die Lagune, welche wir aufsuchen wollten, lag nur dreiviertel englische Meilen landeinwärts von ihm ab.
Nachdem ich eine geraume Weile am Meeresufer entlang gegangen war, glaubte ich die Stelle erreicht zu haben, um nach der Lagune einzubiegen, ging also den Strand hinauf und hatte kaum den Kopf über den Sandwall erhoben, als ich bemerkte, wie eine Büffelheerde – von der in Europa bisher noch durch keine Abbildung bekannten Art Bos brachyceros – hinter einer längeren Buschparzelle hervortrat und offenbar gleichfalls nach der Lagune sich in Bewegung setzte. So gingen wir eine Weile, uns gegenseitig immer mehr nähernd – ich hinter meinem Sandwalle – als die Thiere Zeichen von Unbehaglichkeit gaben, denn der Wind stand von mir nach ihnen zu. Die Leitkuh stutzte, und mit ihr die an dreißig Köpfe starke Heerde. Einige Thiere liefen eine kurze Strecke fort, um stehenbleibend wiederum zu wittern.
Das Leitthier mit ein paar starken Bullen kam einige zwanzig Schritte in der Richtung auf mich zu. Die Thiere hatten die Schwänze erhoben und scharrten unruhig den Boden mit den Füßen. Nunmehr war meine Zeit gekommen, und obwohl die Entfernung immer noch beträchtlich war, nahm ich doch einen der mir näherstehenden und größten Bullen auf’s Korn. Nach abgegebenem Schuß ergriff die Heerde, durch einander wirbelnd, die Flucht, von Zeit zu Zeit stutzend, bis sie verschwand. Der von mir auf Korn genommene Büffel jedoch, welcher anfänglich mit fortzukommen suchte, blieb zurück und lahmte in das schmale Gebüsch, welches mit Unterbrechungen die eine Seite der Lagune begrenzte.
Es ist stets ein großer Fehler, ein angeschossenes Stück Wild auf noch warmer Spur zu verfolgen; ebenso ist es ein solcher, wenn der Jäger hinter seinem Versteck hervortritt. In diesem Falle jedoch war es mir mehr um Flußpferde, als um den Büffel zu thun, namentlich deshalb, weil die Sonne sich rasch zum Horizont neigte. Genau hatte ich mir die Stelle gemerkt, wo das verwundete Thier in den Busch getreten war. Als ich derselben bis auf zwanzig Schritte nahe gekommen, höre ich vor mir das Gestrüpp und Geäst brechen und gewahre aufschauend den wüthenden Büffel, wie er mit gesenkten Hörnern auf mich zukommt. Keineswegs war ich, so großsprecherisch es auch klingen mag, bestürzt. Hatte ich doch bereits vier solche Attaquen ohne Herzklopfen ausgehalten und mit sicherer Kugel mir die Angreifer todt zu Füßen gelegt.
Im Nu lag die so oft erprobte Doppelbüchse im Anschlag. Nach abgegebenem Schuß markirte die wüthende Bestie denselben wohl, ließ sich jedoch dadurch im Angriff nicht weiter stören. „Komme mir nur hart vor’s Rohr!“ dachte ich. Endlich drückte ich los, aber, o Entsetzen! die Patrone, durch den Einfluß der feuchten Atmosphäre verdorben – versagt. Wie unwillkürlich springe ich mit einem gewaltigen Satze zur Seite, jedoch zu kurz.
Der zweifach schwer verwundete, dabei noch so gewandte Büffel schlug mir sein rechtes Horn durch den linken Unterschenkel. Natürlich riß mich dies zu Boden und kaum hatte ich mich gedreht, denn ich war auf den Leib geworfen worden, als er auch schon wieder über mich herfiel. Den hierauf folgenden Kampf genau zu schildern vermag ich nicht. Er war zu gräßlich. Meine Geistesgegenwart verlor ich zwar keinen Augenblick, wäre aber um ein Haar, ohne einen letzten Gedanken an den Höchsten und die mir Liebsten auf Erden, aus dem Leben geschafft worden, wenn nicht mein kleiner Edute, jener Galoaknabe, in der höchsten Noth, obwohl auf zweihundert Schritte, die mit Nr. 4 und 7 geladene Schrotflinte in der Richtung nach dem Kampfplatze abgefeuert hätte.
Bevor die Schüsse fielen, kniete das fürchterliche Thier mit dumpfem, heiserem Brüllen auf meiner Brust und drückte die Stirn mit den darauf tödtlich drohenden Hörnern mir in’s Gesicht. Beide hatte ich krampfhaft gefaßt, war auch während des Kampfes einmal, daran mich stützend, in die Kniee gekommen, alsdann aber wieder niedergedrückt worden. Schon kreiste es mir im Gehirn, schon ging mir der Athem aus; noch eine Minute in dieser Lage, und meine irdische Laufbahn war vollbracht. Da krachten die Schüsse. Der Büffel sprang von mir auf, um nach dem anderen Feinde zu wittern. Kaum fühlte ich mich von der centnerschweren Last befreit, kaum hatten sich meine Lungen wieder mit etwas Luft gefüllt, so erwachten schnell meine Lebensgeister. Das haarscharfe, in der Klinge neun Zoll lange, breite Jagdmesser fuhr gedankenrasch aus der Scheide und senkte sich, indem meine linke Hand noch immer das rechte Horn des Gegners gefaßt hielt, zwischen Hals und Schlüsselbein in des Büffels Herz. Der Stoß war so gewaltig, daß der halbe Griff des Messers mit eindrang und das Thier sofort über mir zusammenbrach. In diesem Augenblicke war ein schrecklicher Kampf, Leben um Leben, beendet. Der Büffel lag todt über seinem besinnungslosen Gegner.
Wie lange ich gelegen hatte, weiß ich nicht. Ein schwerer Alp hielt noch immer meine Sinne gefangen, als ich endlich [772] wieder zu mir kam. Die Schmerzen sowie das nahe Donnern der brandenden See gaben mir die volle Besinnung wieder zurück. Es war rabenfinstere Nacht. O welch eine Wirklichkeit! Ueber und über dick mit Blut bedeckt, schienen mir alle Glieder gebrochen, und ich fühlte das Blut warm aus meinen Wunden quellen.
Ich lag neben dem getödteten Büffel. Wie ich unter demselben hervorgekommen war, weiß ich nicht. Mehrere Male versuchte ich aufzustehen, doch vergeblich; ein schneidender Schmerz in meinem linken Oberschenkel erlaubte es mir nicht. Mit schwacher Stimme rief ich wiederholt nach meinen Leuten um Hülfe. Die feigen Burschen hatten mich verlassen. Unheimlich umschwirrten mich die hier in Menge vorkommenden großen Flederhunde (Pteropus vulgaris), und Gedanken der schwärzesten Art stiegen in mir auf.
Ich beschloß, bei dem hoffnungslosen Zustande und den fürchterlichen Schmerzen, meinem Leben ein Ende zu machen. Ich führe in Fläschchen stets auf allen meinen Streifereien Salmiakgeist, Chinin und Morphium bei mir. Das Morphium sollte mich erlösen. Schon hatte ich eines der Fläschchen entkorkt, es war aber zu meinem Heile Salmiakgeist. Da kam mir der Gedanke, bevor ich zum Letzten schritt, meinen Zustand einer genaueren Prüfung zu unterwerfen.
Ich fand ihn weniger hoffnungslos, als ich vermuthet. Das viele Blut schien von dem Büffel herzurühren; keine edleren Theile schienen verletzt, wennschon ich nur mühsam und mit großen Schmerzen Athem schöpfen konnte und mein linker Oberschenkel gebrochen schien. Die Schmerzen rührten wohl mehr von den allerdings bedenklichen Contusionen her. Die Lust zum Leben erwachte in mir. Um die tiefe Hornwunde an meinem linken Unterschenkel, aus der ich noch immer das Blut fließen zu fühlen glaubte, band ich mein Taschentuch und versuchte abermals, aufzustehen – doch wieder umsonst. Der erwähnte schneidend brennende Schmerz verhinderte es. Vorsichtig faßte ich mein Bein am Knie und drehte es ganz leise, jedoch kein Knirschen von Knochentheilen ließ sich fühlen und hören, dagegen stellte sich, wie bei jeder drehenden Bewegung, dieser fürchterlich in’s Mark schneidende Schmerz ein. Der Knochen war unzweifelhaft ein-, wenn auch nicht durchgebrochen.
Nochmals rief ich um Hülfe. Vergebliche Mühe! Das nahe Geräusch der brüllenden See übertönte es. Fürchterliche Situation!
Leoparden konnten in der Nähe sein, durch den Blutgeruch angezogen werden und mich, hülflos wie ich war, zerreißen. Hatte ich sie doch am Morgen längs der Lagune ganz frisch gespürt. Da mit einem Male fiel mir ein, daß ich einen Revolver bei mir führte, und obschon ein solcher im Kampf mit einem Büffel oder Leoparden nur ein armseliges Spielzeug ist, konnte ich doch durch Schüsse dieselben verscheuchen und meine feigen Schufte von Schwarzen zu meiner Hülfe heranbringen. Mit dem beruhigenden Gefühl, bewaffnet zu sein, kehrte mir meine ganze Energie wieder zurück.
Auf der rechten Seite liegend, kroch ich, den Revolver zu sofortigem Gebrauch in der Linken, mit Hülfe des rechten Beines und rechten Armes wohl nahe an eine englische Meile unter unsäglich qualvollen Schmerzen wie eine Schnecke nach der Richtung zu meinem Lager hin. Da – war es Einbildung oder Wirklichkeit? – schimmern die phosphorescirenden Lichter eines Leoparden aus der Dunkelheit. Natürlich mußte es ein Leopard sein, denn in solchem Zustande glaubt man immer an das Schlimmste.
Der erste Schuß kracht. In kleinen Zwischenräumen feuere ich den zweiten, den dritten Schuß ab. Weiter kann ich nicht mehr; über und über bin ich mit Schweiß und Blut bedeckt. Die Kräfte sind erschöpft; es beginnt mir wieder vor den Augen zu flimmern. In der Gegend meines Lagers laufen Feuerscheine durch einander. Noch einmal halte ich den Revolver hoch über den Kopf und gebe den vierten Schuß ab. Gott sei gedankt! Ich sehe Gewehre aufblitzen; die Feuerscheine nähern sich. Die Hülfe ist nahe.
Endlich sind meine durch einander laufenden und toll schreienden Leute mir so nahe, daß sie meine schwachen Rufe hören können. Er war die höchste Zeit; meine Kräfte, von dem Kampfe, dem starken Blutverlust, den Schmerzen und der übergroßen Anstrengung und Aufregung erschöpft, brachten mich einer zweiten Ohnmacht nahe. „Wasser, Wasser!“ stöhnte ich den in ungeheuchelter Freude und Rührung laut weinenden oder vielmehr heulenden, guten, aber bodenlos feigen schwarzen Burschen zu. Jeder stellte in dem gebrochenen Küstenenglisch Fragen und suchte Trostgründe vorzubringen. „Master!“ sagte Edute, „wir glaubten, Du todt. O, mein guter Master! Edute ist blöde, Edute hat keinen Muth. Master – Du ein wirklich starker Mann. Teufel, Teufel! Wahrhaftig, wahrhaftig!“ – „O Herr,“ sagte ein Anderer, „niemals stirbst Du. Du bist ein starker Mann. Du hast gewiß einen guten Fetisch. Mein armer Herr, hast Du viel Schmerzen?“ – „O! mein guter, mein armer Herr,“ schrieen entrüstet die beiden Galoa und hauptsächlich der Kru. „Dieses verd … te alte Fetischweib hat Dich verhext, wir wollen es tödten.“
Solche und ähnliche Aeußerungen fielen in Masse, doch Keiner dachte daran, mir zu helfen, bis ich es endlich durch Drohungen mit meinem Revolver dahin brachte, daß sie mir in einem alten Filzhut, der einem der Leute gehörte, Wasser brachten und eine Tragbahre improvisirten, auf welche ich mich hinaufschob; nun erst ging es unter fortwährendem Geschrei und Erzählen nach dem Lager vorwärts. Schon auf halbem Wege kam uns das arme alte Fetischweib heulend entgegen, wurde aber, wenn sie sich mir nähern wollte, von den Leuten barsch zurückgestoßen.
So erschöpft ich war, hielt ich es doch für geboten, das thörichte Volk von seiner Meinung, die Alte habe mich verhext, abzubringen, ja ich mußte ihnen sagen, daß ich unfehlbar von dem „Niari“ getödtet worden wäre, wenn mich die Medicinfrau nicht in guter Absicht mit der Farbe des Eviva bemalt hätte. Bei dem Lager angekommen, ließ ich mich auf einige Matten und wollene Decken im Sande niederbetten. Der Tag begann zu grauen, bevor ich in einen kurzem unruhigen Schlaf verfiel. Als ich erwachte, stand ein Theil meiner Leute vor mir, mich mitleidig betrachtend. Mein Aeußeres mochte ihre schlimmsten Erwartungen übertroffen haben. Ich sah, soweit ich mich betrachten konnte, gräßlich aus. Alle meine Glieder waren bis zur Unförmlichkeit geschwollen; kaum vermochte ich eines derselben zu regen. Bart und Kleider waren durch das geronnene Blut zusammengeklebt. Obwohl ich am liebsten gestorben wäre – denn die Ermattung überwog selbst die Schmerzen – riß ich mich doch aus meiner Lethargie empor, ließ mir warmes Wasser bringen, weichte die angeklebten Kleider auf, zog die zerrissenen Lumpen vom Leibe, verband meine vielen, zum Theil schweren Wunden, schiente mein gebrochenes Bein mit einer saftigen, ledergleichen Rinde, hüllte mich, nur mit einem reinen Hemd bekleidet, in ein Betttuch und fragte nach den übrigen Leuten.
„The boys go for mainland side and look for canoe. Master can never go by bush”. („Die Jungen sind nach dem Festlande zu gegangen, um nach einem Canoe zu sehen, denn Master kann so niemals durch den Busch kommen.“)
Nachdem ich den Befehl ertheilt, alle Sachen wieder zusammenzupacken, sowie eine bessere Tragbahre zu fertigen, und nachdem das alte, ängstlich besorgte Weib zwar brennende, aber, wie ich mich früher überzeugt hatte, heilsame Kräutersäfte in die noch immer blutenden Wunden eingeträufelt hatte, fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus dem ich, nachdem die Sonne schon hoch am Himmel stand, gewaltsam erweckt wurde. Meine Leute hatten wirklich ein Canoe mit vier Comi-Leuten gefunden. Dieselben waren weit hergekommen, um auf der großen, öden Sandbank, die Mangi mit dem Festlande verbindet, Seeschildkröten zu fangen und nach deren pergamentartig weichen rundlichen Eiern zu suchen. Zwischen ihnen und meinen Leuten, welche jene nur unter großen Versprechungen hergekirrt hatten, war ein ernstlicher Streit ausgebrochen, und die kaum Angelangten würden auf und davon gegangen sein, wenn meine Leute nicht mit den Waffen in der Hand von ihrem Canoe Besitz ergriffen hätten. Das alte Fetischweib suchte vergeblich die Parteien zu beschwichtigen. Als ich nach der Ursache des Streites fragte, mußte ich meinen Leuten vollständig Recht geben, denn die vier Comi verlangten, um mich auf weiten und allerdings sehr beschwerlichen Umwegen nach meinem jenseits der Halbinsel gelegenen Heim zu bringen, nicht mehr und nicht weniger als fünfzig Dollar. Ohne mich auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen, sagte ich ihnen gebieterisch:
„Ihr seid in meiner Gewalt; meine Lage erheischt Hülfe; Ihr seid nichtswürdige Schurken, die sich das zu Nutze machen wollen. Ich werde Euch nach Gebühr bezahlen, den Ersten aber, der mir einen Streich zu spielen versucht, wie einen tollen Hund niederschießen“ – und gewiß hätte ich meine Drohung erfüllt. Während des ganzen Transports, welcher einen Tag und eine Nacht
[773][774] in Anspruch nahm, habe ich die gleichfalls erschöpften Leute nur mit dem Revolver in der Hand zu ihrer Pflicht anhalten können.
Früh um vier Uhr erreichten wir die Hütten auf der Südostseite, welche wir uns für den dortigen Aufenthalt seinerzeit gebaut und mit einer Menge Vorräthen unbewacht zurück gelassen hatten, als wir den Streifzug nach dem südwestlichen Theil angetreten. Dort fand ich Obdach, Verbandzeug, bessere Nahrung, vor Allem die nöthige Ruhe. Vierzehn Tage hatte ich, mehr durch die erlittenen Contusionen, als durch die erhaltenen Wunden, zu leiden. Die Schmerzen in der Brust verblieben am längsten. Ziemlich ein Vierteljahr jedoch war ich auf mein Lager gebannt, und als ich dasselbe verließ, ging ich noch vierzehn Tage an selbstgefertigter Krücke nebst Stock. Am Ende dieser Zeit war trotz des großen Vorraths an Lebensmitteln, die ich für mich und meine Leute mitgenommen hatte, Schmalhans Küchenmeister geworden. Am meisten hatte ich durch die Langeweile und die Muskitos zu leiden, obschon ich mich stets beschäftigte und mir unausgesetzt diese Plagegeister fortwedeln ließ. Meine Leute haben sich während der ganzen Zeit musterhaft betragen. Es waren überhaupt die besten von den Vielen, welche bisher in meinen Diensten standen.
Bevor ich zum Schlusse eile, muß ich noch eines äußerst scherzhaften Vorfalls gedenken, welcher wenigstens auf einige Tage in die trüben Stunden dieser ewig langen Zeit ein unterhaltendes Intermezzo brachte.
Durch die vier Comi, die wider ihren Willen mir bei dem beschwerlichen Transport Hülfe leisten mußten, schließlich jedoch noch als Freunde von mir schieden, war die Kunde von diesem Büffelkampf verbreitet worden.
Mehrere Male erhielt ich, dadurch veranlaßt, wenn auch keine Condolenzvisiten, so doch Besuche aus Neugierde und zum Zwecke purer Bettelei von Comileuten. Unter Anderen stellte sich ein Häuptling mit großer Begleitung ein. Derselbe, immer der Unverschämteste unter der Bande, peinigte mich unausgesetzt mit Forderungen und verlangte von mir, den Fetisch zu sehen, welchen ich bei solchen Gelegenheiten mit mir führe. Ich erwiderte ihm, der weiße Mann besitze keine solche. Der Fetisch derselben bestände in dem Verstand, dem Muthe und der Geistesgegenwart. Dies war ihm jedoch nicht einleuchtend, und er glaubte nur mehr denn je, daß ich einen besitze. Der Plackereien müde, wollte ich ihn schon verdrießlich zum Fortgehen anweisen, als mir der Gedanke kam, ihn für seine bodenlose Unverschämtheit auf eine ganz besondere Weise zu bestrafen. Zu meinem Dolmetscher, einem Orungu, der von seinem Knabenalter an Steward in englischen Factoreien war, sagte ich: „Jacob, Du mußt nicht lachen über das, was ich zu thun beabsichtige. Du machst den King sonst stutzig und störst mein Vergnügen. Bleibe daher ernsthaft! Gieb mir indeß meine kleine Medicinkiste!“
Als ich dieselbe in Empfang genommen, griff ich ein Fläschchen mit Senfäther heraus, hielt dieses dem Comichef hin und sagte: „Dies ist mein Fetisch.“
Ungläubig schüttelte der Schwarze den Kopf. Als aber mein Dolmetsch ihm dies, wenn auch mit einem schalkhaften Zug, ernsthaft bekräftigte, wurde er in seinem Unglauben wankend, um so mehr, als ich ihm plausibel machte: „Wir Weißen haben natürlich eine ganz andere und viel bessere Art Fetisch, wie Ihr schwarzen Leute.“ Da wurde er denn ganz Auge und Ohr und fragte: „Trägst Du das Fläschchen bei Dir, und warum hat Dein guter Fetisch zugegeben, daß Du verwundet wurdest?“
„Nein,“ entgegnete ich, „das ganze Fläschchen trage ich nicht bei mir, sondern reibe mir nur von der Flüssigkeit des guten Gottes Eviva etwas auf die Haut. Dies genügt dann, für einen Monat mich gegen alle Gefahren zu schützen. Man muß aber ein guter Mensch sein; sonst brennt der Fetisch auf der Haut, ja er brennt schon beim Oeffnen des Glasstöpsels in den Augen.“
Mit der Unverschämtheit der Eingeborenen verlangte er nun das ganze Fläschchen zum Geschenk. Ob einer solchen Forderung stellte ich mich ganz entrüstet und rief ihm zu: „Clear out (gehe fort)!“
Als er nun sah, daß er das Fläschchen nicht ganz in Besitz bekam, bat er mich, ihm für einen Monat etwas einzureiben, aber auch dagegen sträubte ich mich, indem ich vorgab, selbst nicht mehr viel zu haben, wie er ja selbst sehe. Er ließ aber nicht nach, bis ich endlich, immer noch widerstrebend, mich unter der Bedingung: „Dafür aber müsse er mir für meine Leute Maniokmehl herbeischaffen,“ dazu bereit erklärte.
Nochmals wiederholte ich ihm, daß er bei der Procedur die Augen schließen müsse, widrigenfalls der in der Flasche verborgene Geist ihm in den geöffneten Augen brenne, ebenso würde die in der Flüssigkeit verborgene Kraft ihn, sofern er ein böser Mensch wäre, je nach seinen begangenen Sünden auf der Haut brennen. Hierin könne ich jedoch nichts im Voraus sagen, da ich seine Eigenschaften nicht kenne. Sein schlechtes Gewissen machte ihn wohl wieder bedenklich. Mein schlauer Jacob beschwichtigte ihn aber dadurch, daß er ihm mittheilte: „Es brennt nur ein klein wenig. Mein Master hat mir schon mehrere Male, wenn wir auf Njargu- und Niari- (Elephanten und Büffel) Jagd gingen, davon eingerieben.“ Sodann log er ihm noch mancherlei unglaubliche Dinge vor, die der Fetisch des weißen Mannes bei ihm bewirkt habe. Der Comichef war gefangen.
Er hielt mir, indem er niederknieete, seinen entblößten Rücken hin. Ich tränkte etwas Baumwolle unter Zukneifen der Augen tüchtig, etwa mit dem dritten Theile des Senfäthers, und rieb, nachdem ich das Fläschchen durch Jacob rasch wieder hatte schließen lassen, dem armen Opfer, so rasch ich im Stande war, die ganz gehörige Partie auf den breiten Rücken. Auf einmal fing er an zu brüllen: „Amani, amani tangani, mia pieni ogoni!“ (Hör’ auf, laß nach, Weißer! Es brennt wie Feuer.“). Damit riß er, wie von Taranteln gestochen, auf Nimmerwiedersehen aus, und ich war einen unverschämten Plagegeist auf gute Manier los. Meine Leute konnten sich vor übergroßer Lustigkeit gar nicht beruhigen; auch bot ihnen dieser Zwischenfall längere Zeit Stoff zur Heiterkeit.
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXI.Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie in den Herbstmonaten, wenn die Saison sich dem Christfest zuneigt, in einem Buchladen jene Kunstgewerbe-Ausstellung eleganter Einbände gemustert haben, hinter denen sich die bescheidene Lyrik der Gegenwart verbirgt. Und gewiß, sie hat alle Ursache bescheiden zu sein; denn wer kümmert sich um sie? In den Salons ist von ihr nicht mehr die Rede; da spricht man nur von den Feuilletons dieses oder jenes Schmock, der „lauter Brillanten“ schreibt, von neuen Theaterstücken „hochbegabter Dichter“, die im Stil Kotzebue’s und Iffland’s schaffen, oder höchstens noch von einem Roman, welchen gelesen zu haben zur Mode des Tages gehört. Und wie selten ist in Feuilletons der politischen Zeitungen von einem Lyriker die Rede!
Was soll ein harmloser Lyriker in einer sensationsbedürftigen Zeit? Daß die Lyrik das Auge der Dichtung sei, gilt ja längst für eine Wahrheit, die in die ästhetische Rumpelkammer gehört; man lacht über die Behauptung, daß keiner ein hervorragender Dichter sein könne, der nicht eine lyrische Ader habe; die Berufung auf die griechischen Trauerspieldichter, auf Shakespeare und Schiller wird verworfen. Die arme Lyrik ist als eine überflüssige Schönrednerin in den Bann gethan; sie braucht ja viel Worte, um das zu sagen, was ein anderer Mensch, den nicht der göttliche Wahnsinn des Plato erfaßt hat, weit kürzer auszudrücken weiß, und wir leben in einer Zeit, in welcher vor allem der Spruch gilt: Time is money.
Der Sortimentsbuchhändler wird Ihnen, verehrte Freundin, wenn Sie sich nach eleganten Christgeschenken umsehen, gewiß außer den Albums zuerst verschiedene poetische Anthologien zeigen. Wie der Goethe’sche Homunculus die Schönen, so liebt das deutsche Publicum die Dichter „im Plural“ und kauft sie gern en masse; in einer Auslese und Sammlung ist ihrer immer eine stattliche Zahl beisammen. Dann wird Ihnen der Buchhändler eine Zahl [775] neuer Auflagen beliebter Poeten vorlegen, Mirza-Schaffy in Diamant- und Perlschriften, Geibel, Heine und was auf dem Parnaß seit lange anerkannten Ruf hat. Zuletzt kommen dann die eleganten Ladenhüter an die Reihe, neue Gedichte und Dichtungen mit Goldschnitt, in zierlichen Einbänden, auf Velin- oder sonstigem mit feinem Farbenhauch schimmernden Papier. Da wird gewählt, bisweilen gekauft, selten gelesen. Das ist das Loos der neuen Ausstellungslyriker; die ungebundenen, broschirten Poeten verstauben indeß melancholisch in ihren Fächern. Keine Zeit war der Lyrik so ungünstig wie die gegenwärtige: sie hat kein Echo bei der Nation; ist es da ein Wunder, wenn begabte Dichter in äußerer Noth und innerem Schmerz verkommen?
Sie haben gewiß nichts von der Lebenstragödie des jüngstverstorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold gehört. Auch er ist dem Wahnsinn und traurigen Tode verfallen. Wie oft schon hat sich das willkürliche Spiel von Vorstellungen, das dem Dichter eigen ist, in jenes unwillkürliche verwandelt, aus welchem der Wahnsinn spricht! Der Herrscher im Reiche der Phantasie ist dann deren Sclave geworden; dieses Loos hat einen Tasso, einen Lenau und manche dunkle poetische Existenz getroffen. Gegenüber der Gleichgültigkeit und Nichtachtung der Welt ist der Größenwahn eine oft nothwendige Reaction, wenn die dichterische Schöpfungskraft nicht ganz erlahmen soll. Heinrich Leuthold war ein Jünger der Münchener Dichterschule, er hat in Gemeinschaft mit Emanuel Geibel treffliche Uebersetzungen französischer Lyriker und doch erst in diesem Jahre einen größeren Band eigener Gedichte herausgegeben; er ist ein Sänger von meistens untadelhafter Form, der die persische Ghasele beherrscht, wie die antike Ode, und nur hier und dort mit einem Anflug schweizerischer Derbheit den edlen, harmonischen Guß seiner Verse unterbricht. Dann merkt man, daß sein Thyrsus ursprünglich ein Alpenstock ist. Deshalb haben seine Gedichte neben dem schwermüthigen und resignirten Zug auch einen trotzig herausfordernden und wenden sich vielfach mit satirischer Herbheit gegen eine Zeit der „Literaturfabriken“ und gegen das „dampfkraftfrohe Geschlecht“. Von dem Beruf des Dichters hat Leuthold die höchste Meinung; er hebt, mit einer classischen Wendung, die an Platen’s geflügelte Worte erinnert, hervor:
„Wie der Genuß, der Seele Wohllaut hinzustreun
Im Liede, eine göttliche, erhabene Verschwendung ist –“
und in dem folgenden Ghasel preist er den Triumph des echten Dichters über die kalte Gleichgültigkeit, den Neid und die Rohheit der Zeitgenossen:
„Dem Dichter ward ein karges Loos; die Nüchternen verhöhnen ihn,
Es kehrt die Welt sich ab von ihm; nur schöne Frau’n verwöhnen ihn,
Doch wenn kein irdisch Weib ihm je das Herz erschloß mit keuschem Kuß,
In heiliger verschwiegner Nacht umarmen die Camönen ihn.
Ihn lehrt ein Gott der Dinge Maß; er lauscht entzückt dem Sphärenchor;
Wie Offenbarungen des Alls umrauscht ein Meer von Tönen ihn.
Entsinkt der Muth ihm, richtet neu ein hohes Vorbild ihn empor,
Verwandter Seelen Kampf und Leid erheben und versöhnen ihn.
Dem Ew’gen dient er, lebt nur halb der Zeit, die oft ihn ganz verkennt,
Doch ehrt die Nachwelt seinen Staub, und späte Enkel krönen ihn.
Mag Neid ihm, mag die Rohheit drohn, ihm ziemt zu lächeln ihres Wahns,
Vor ihrem giftgetränkten Pfeil beschirmt der Schild des Schönen ihn.“
Gewiß, verehrte Freundin, dieses Selbstbewußtsein ziert den echten Dichter in einer Zeit, in welcher von den feilen Herolden des Tagesruhms manche geschickte Routiniers für gottbegnadete Poeten ausgegeben werden, während die echten Talente von Neid und Rohheit in den Staub gezerrt werden. Das Maß des Schönen und die Empfänglichkeit dafür scheint ganz verloren gegangen zu sein, und selbst die schönen Frauen, welche „die Dichter verwöhnen“, wo finden sie sich, außer der einen am baltischen Gestade?
Und diesem schweizer Poeten, der in seinen Liedercyklen „Von der Riviera“ und „Die zerfallene Vigne“, in diesen anmuthigen Erinnerungsblättern italienischen Lebens, der in seinen Ghaselen und Oden des Liedes Wohllaut so verschwenderisch ausstreut, ihm hat das Leben nur herbe Dissonanzen geboten, und er ist zu Grunde gegangen in geistiger Verstörtheit.
Auch Hermann Lingg, verehrte Freundin, ist wieder in der Arena der Lyrik erschienen; Sie werden in seinen „Schlußsteinen“ eine Mosaik sehr ungleichartiger Gedichte finden. Einige sind mit der Adlerfeder geschrieben, mit welcher der Dichter seine ersten gedankenreichen Oden verfaßt hat; andere sind allzu flüchtig hingekritzelt; es fehlt ihnen Reinheit und Harmonie, ja bisweilen die unerläßlichste Feile. Sehr schöne Gedichte enthalten die Liebeselegien: „Vergilbte Blätter“. Da findet sich oft der ergreifende, prägnante Ausdruck echter Empfindung:
„Weil du mir zu früh entschwunden.
Blieb ein unerfülltes Glück
Ungenoss’ner schöner Stunden
Ruhelos in mir zurück.
Ungeküßte Küsse leben
In getrennten Herzen fort,
Und die Lippe fühlt noch beben
Das zu früh verstummte Wort.“
Schön ist auch das Gedicht, welches die Trennung von der Geliebten, die innere Trennung besingt, seit jenem sonnenlosen Tag, als er den Abgrund erkannte, der sich zwischen ihnen aufthat. Doch wenn ich Sie auch einladen möchte, nur bei dem Schönen zu verweilen, zu welchem auch mehrere Balladen, besonders das schwunghafte Gedicht „Die Kämpfer von Eleusis“, und sociale Romanzen, wie „Der Ball der Armen“, zu rechnen sind: ganz kann ich es Ihnen doch nicht ersparen, auch einen Blick zu werfen auf jene Schattenseiten der Sammlung, die sich allzu sehr dem Blick aufdrängen, um übersehen zu werden. Der Mangel an Selbstkritik ist bei einem hervorragenden Talent doppelt bedauerlich.
Bald spricht der Dichter wie ein Prophet in begeisterten Hymnen; bald stammelt er wie ein unmündiges Kind in Fibelversen:
„Man kann nur reine Freude haben,
Getrübte sind schon keine mehr“
oder:
„Wer kennt denn wirklich die Natur?“
In dem Gedichte „Der Kampf um’s Dasein“, der an einer Stelle „um’s Dasein das Gerauf“ genannt wird, finden sich die Verse, welche an die bekannte Manier von Wilhelm Busch erinnern:
„Man sieht dann in die Kammern,
Worin der Mord entsteht.“
Und der Schlußvers der Ballade: „Ein Gang im Park“ lautet:
„ … bis der Tod sie trennte,
Bis der ein’ des andern Brust durchsticht;
In dem nämlichen Momente (!)
Löscht auch oben aus ein schwankend Licht.“
Es kann nur in Deutschland vorkommen, daß ein Dichter neben den schönsten so schlechte Verse der Welt übergiebt. Hat denn unser Poet keinen Freund, der den „schlafenden Homer“ weckt? Seine Gegner könnten sonst boshaft genug sein, den Vers des Dichters auf ihn selbst anzuwenden:
„Es flattert wohl im Windeshauch
Von einem todten Schmetterlinge
Ein Flügel noch und schimmert auch,
Doch ist es nicht mehr eine Schwinge.“
Und das wäre grausam ungerecht gegenüber den genialen poetischen Würfen, welche die Sammlung enthält.
Erst neulich sprach ich Ihnen, verehrte Freundin, von dem Romandichter Wilhelm Jensen; heute mache ich Sie aufmerksam auf das Sommernachtsgedicht „Holzwegtraum“, das Jensen vor Kurzem verdeutlicht hat. Es ist ein echt romantischer Sommernachtstraum; alles erscheint darin in phantastisch duftigen Umrissen, und es singt und klingt darin märchenhaft wie in den Poesien von Brentano, Tieck und Arnim. Doch nicht wie sein Held geht die Muse des Dichters auf den Holzwegen der alten Romantik; es ist nicht die alles auflösende Ironie, der sie huldigt, sondern aus diesem Silberflor traumhafter Beleuchtung tritt ein allgemein gültiger, echt poetischer Grundgedanke hervor; es ist eine Feier von Lied und Liebe, allerdings in romantischer Form, in verdämmernden Umrissen, in träumerischer Fassung.
Der Held ist ein armer Geiger, der sich in die Tochter seiner Wirthin verliebt, aber von dieser als „dummer Junge“ tractirt wird und aus seiner Mansarde in den Wald wandert. Dort spielt er und schläft ein; doch er hat mit seinem Spiel Wunder gethan: er hat die Elfenprinzessin aus den Zähnen eines Unholds errettet. Das erfährt er im Traume; er sieht die Hochzeit der Elfenprinzessin mit an, die vor dem Kelch der weißen Wasserrose getraut wird. Zum Dank für seine Errettung weihen die Elfen und Blumengeister seine Saiten zu sieghaften Klängen. So schmilzt er das Herz eines alten Geizhalses, der anfangs den [776] Kettenhund auf ihn losläßt, ihn dann aber an seinen Tisch zieht und ihm eine gefüllte Börse giebt. In der Hauptstadt rührt er mit den Zauberklängen das Herz eines despotischen Herrschers; dieser zieht ihn an den Hof und spendet ihm reiche Ehren. In seinem Glanz wirbt er um die Hand der armen Geliebten. Sie folgt ihm in den Wald; sie hofft dort auf eine glänzende Morgengabe. Er aber wirft das prunkende Hofgewand ab; sie erschrickt, daß sie einem Bettler sich hingegeben, doch er rührt die Geige, und von ihren Zauberklängen entzückt, sinkt sie in den Arm des jungen Spielmanns, und beide ziehen weiter in den Wald.
Mit dieser träumerisch beleuchteten Darstellung der Schicksale seines Helden hat der Dichter allerlei barocke Einfälle und humoristische Zwischenspiele arabeskenhaft verwebt. Sein Stil ist durchaus originell. Er beseelt, wie der echte Dichter soll, das Todte draußen in der Welt.
Gleich beim Beginn der Dichtung sehen wir den jungen Geiger aus hoher Mansarde auf die Nachbardächer schauen:
„Morgenroth und Abendröthe
Hellten ihm die braunen Dächer,
Wenn der Tag begann und hinsank;
Immer gleiche Wellenrücken
Aufgereckter Ziegelsteine
Kalt und schweigsam auch wie Steine.
Nun im Licht und nun im Schatten,
Rechts hinüber lag der grämlich
Alte Giebel, lag zur Linken
Angeschwärzt der breite Schornstein;
Sahn sich an, als hielten Zwiesprach
Sie aus langverschollnen Tagen,
Doch in wunderlicher Sprache,
Unverständlich und unhörbar,
Daß es nichts dem Ohre frommte,
Wenn gespannt hinaus er horchte.
Aber was auch hätt’s ihm frommen
Sollen, wenn er es verstanden,
Des zerborstenen Gemäuers
Brummend dumpfes Windfangmurren
Von vergangnen Sonnen einst’ger
Zeiten, von begrabnen Menschen,
Todtem Glück, verstummtem Herzleid;
Ihm, dem heut der Herzschlag pochte,
Der des eignen Lebens Sehnsucht
In sich trug nach heut’ger Sonne –
Ach, was sollte in des Mondlichts
Bleichem Weben ihm der todten
Steine geisterhaftes Raunen!“
Gewiß, verehrte Freundin, Sie spüren hier mit mir den Mosesstab, der aus todten Steinen den lebendigen Quell der Dichtung schlägt.
Noch eine andere, eben erschienene Dichtung kann ich Ihnen empfehlen, „Murillo“ von Ernst Eckstein, eine Künstlernovelle in wohltönenden Versen von einem Autor, dessen größere humoristische Gedichte oft einen kecken Ton anschlagen und bisweilen an Meister Boccaccio erinnern. „Murillo“ ist aber eine Erzählung für den Familientisch; ihr Hauptvorzug besteht in dem treuen spanischen Colorit, das der Dichter, der Spanien aus eigener Anschauung kennt, vollkommen beherrscht. Mag er uns Andalusiens blühende Gefilde oder die öden Strecken der Mancha schildern: stets erhalten wir ein lebendiges stimmungsvolles Bild. Erzählt wird uns in dem Gedicht, wie der Knabe Murillo früh seine hohe Begabung an den Tag legt, Gönner und Schützerinnen, aber auch Neider und Feinde findet, wie er von Sevilla nach Madrid wandert, dort von Velasquez zum Meister ausgebildet wird und später, nach Sevilla zurückgekehrt, einen großen Triumph feiert. Sein Bild, Santa Justa und Santa Rufina, welche Sevillas Thurm schützen und halten, wird trotz der tadelnden Kritik der neidischen Maler vom Volke bewundert und auch vom König anerkannt, der dem Dichter den Lorbeer reicht. Die Liebe Murillo’s zu einer vornehmen jungen Dame bildet einen zweiten durch die Künstlernovelle sich hindurchziehenden Faden: auch diese Liebe erringt den Preis. Ehe Murillo nach Madrid wandert, erblickt er seine Schöne, welche ihm damals unerreichbar scheint.
„Schon regt sich’s droben am Altan …
Was hast du, fiebernder Esteban?
Ja wohl, sie ist’s, die Wonnereiche,
Die Blumenschöne, die Engelgleiche …
Es rauscht des Kleides schneeige Pracht.
So tritt sie hinaus in die stille Nacht.
O welch ein Bild! Durch Baum und Strauch
Fächelt ein luftig kühler Hauch,
Und leise schauernd mit zarter Hand
Schließt sie am Busen das leichte Gewand.
Ein blauer Mantel faltenreich
Rollt von den Schultern voll und weich,
Und ob der eignen Pracht erschrocken
Beben die aufgelösten Locken.
So steht sie da, die Heilige, Reine,
Glanzumflossen im Mondenscheine,
Und schaut empor in’s ewige Blau,
Verzückt wie Unsere liebe Frau,
Da einst durch Gottes ewige Gnade
Als Bote ihr der Engel nahte.
Kennt ihr das Werk, so hehr und mild,
Das wunderholde Madonnenbild?
Seht ihr die Heilige von Madrid?
Auf Wolken schwebt ihr leichter Schritt;
Voll zarter Scheu, voll heiliger Lust
Preßt sie die Hände vor die Brust.
Sie hebt verklärt den Blick, den süßen;
Der Halbmond flimmert ihr zu Füßen,
Und alles leuchtet rings und strahlt.
So hat Murillo sie gemalt
Als Fürst der Kunst in spätern Tagen,
Da er den Kranz davongetragen.
Das Bild des Mädchens am Altane,
Das er geschaut in trunknem Wahne,
Es sank dem Künstler unbewußt
Als höchstes Urbild in die Brust;
Denn traun, es ist der Liebe Art,
Daß sie das Ew’ge offenbart.“
Das ist gewiß lebendig geschildert und treffend ausgedrückt.
Sie sehen, verehrte Freundin, unsere lyrische Epik bietet noch immer Beachtenswerthes, und es ist nicht alles so schablonenhaft, wie es die Gegner unserer modernen Poesie ausschreien. Auch unsere Lyrik hat noch einige originelle Charakterköpfe aufzuweisen; freilich, die nichtssagenden Alltagsgesichter, die uns aus hundert Versbändchen entgegenblicken, verehrte Freundin, verdienen keinen Platz in Ihrem poetischen Album.
„Einberufung zur großen Armee.“ Die Ordres des Unerbittlichen ergehen in letzter Zeit rasch nach einander an den glänzenden Kreis, welchen die Helden des „Reichs“ um den Kaiser bilden. Einer um den Andern von den Grauköpfen salutirt zum letzten Mal und marschirt zur „großen Armee“ ab. Sie stehen eben Alle in einem Alter, wo, wie im Kriege, die Jahre doppelt zählen. Das Jahrzehnt, welches seit dem großen Kriege nahezu vergangen ist, hat aus Sechszigern Siebenziger und aus Siebenzigern Achtziger und Alle „zur Einberufung fertig“ gemacht. Der Jüngsteinberufene war der vielerprobte Generalquartiermeister des deutschen Heeres.
General Eugen Anton Theophil von Podbielski gehörte bis zur Belagerung von Paris zu den hohen Officieren Preußens, deren Wirken sich dem Auge der Oeffentlichkeit entzieht, deren Namen aber innerhalb der Armee um so gewichtiger sind; sonst würde sein Kriegsherr ihm nicht in den drei Feldzügen von 1864 (in Schleswig-Holstein), 1866 und 1870 die verantwortliche Stellung eines Generalquartiermeisters – bekanntlich soviel wie die rechte Hand des Generalstabschefs – anvertraut haben. Auch um die Organisation des Norddeutschen Bundesheeres erwarb er sich anerkannte Verdienste. – Trotz alledem wurde sein Name erst allgemein, aber auch gleich weltbekannt durch die telegrafischen Kriegs- oder vielmehr Siegesberichte, die er aus dem Hauptquartier nach Deutschland sandte. Seine Telegramme sind für die Geschichte jener gewaltigen Tage Marksteine mit Lapidarschrift, so bestimmt, kurz, klar und wahr, daß sie in ihrer Art einzig dastehen. Und damit Komus in der Weltgeschichte nicht fehle, sind es nicht die Berichte über die vielen und großen Triumphe allein gewesen, die auf seinen Namen besonders aufmerksam machten, sondern der Umstand, daß er so lange Zeit „nichts Neues vor Paris“ zu berichten hatte. So ist es in der That, aber um so wohlthuender ist es auch, daß dieses Spiel des Schicksals das Andenken des Mannes nicht im Geringsten beeinträchtigt. Er steht bei den Helden des „Reichs“ und wird seine Stelle in unserer Geschichte behaupten, so lange sie selbst besteht.
Podbielski hatte fünfzehn Jahre vor der verhängnißvollen Majorsecke zugebracht und war einundvierzig Jahre alt geworden, ehe es mit seinem Avancement rascher vorwärts ging. Er wurde 1861 Oberst; in den österreichischen Krieg zog er als Generalmajor und nach Frankreich als Generallieutenant. Im Jahre 1872 wurde er zum Generalinspector der Artillerie ernannt, und im folgenden Jahre erhielt er den Rang eines Generals der Cavallerie.
Der letzte des October war auch der letzte Tag seines Lebens. Der Tod hätte fast den alten Soldaten auf dessen Morgenritte überrascht. Kaum heimgekehrt, traf den Fünfundsechszigjährigen ein Herzschlag, und der Mittag fand ihn entseelt. – Dem um das Vaterland verdienten Helden legen wir dankbar dieses Blatt auf das Grab.
- ↑ * Vergl. Wilhelm Bauer’s Ansicht und Versuche, Jahrg. 1876, S. 106.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: anf
- ↑ Kamma Rahbek, Vorlage: Strabek’s