Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Im märchenhaftesten Indien
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Gleich den wasserdampfenden Teakholz-Waldungen Unter-Birmas und dem regenfeuchten Südwesten Ceylons trieft auch die Westküste Südindiens vom Überfluß des fruchtfördernden Himmelssegens, den der Südwestmonsun[WS 1] in klotzigen Wolkeneimern von Afrika her über den Indischen Ozean nach Indien hinüberschleppt, wo diese an den Häuptern des Nilgiri-Gebirges[WS 2] anprallen, umkippen und ihre Wassermassen über diese Westküste Indiens, die Malabar-Küste[WS 3], verschütten.
Die Ost- oder Koromandelküste[WS 4] und der Süden Indiens werden dabei jedoch überaus stiefmütterlich bedacht und sind auf die kärglichen, unzuverlässigen Regenspenden angewiesen, die der Nordostmonsun bringt. Deshalb ist hier seit alten Zeiten künstliche Bewässerung im Gange, so daß man den überall in die Augen fallenden Schöpfbrunnen als ein wesentliches Merkmal Südindiens ansehen könnte. Wo Menschenkraft so billig zu haben ist, kann es nicht wundernehmen, daß bei jedem Acker ein, zwei oder drei Kulis nichts weiter zu tun haben, als beständig auf der einen Hälfte eines Schwebebaumes hin und her zu laufen, von dessen einem Ende eine Bambusstange mit einem Schöpfer in die Tiefe des „Pikotta“-Brunnens[WS 5] hinabtaucht, während am anderen Ende ein schwerer Lehmklumpen als Gegengewicht wirkt; aus seichteren Brunnen wird dagegen das Wasser von je zwei Arbeitern in Schöpfgefäßen empor befördert, die an Stricken auf die terrassenförmig angelegten Felder von Stufe zu Stufe emporgeschwungen werden.
In den südindischen Tamulendörfern stehen die grauen, unscheinbaren Hütten der Eingeborenen dicht zusammengeschart, während auf Ceylon die behaglicheren Behausungen der Sinhalesen weit voneinander gebaut sind, weil [69] dort jeder Sinhalese gern für sich und seinen engsten Familienkreis lebt. Nähert man sich jedoch größeren Orten Südindiens, z. B. Madura[WS 6], der ersten Großstadt, die wir auf unserem Wege von Süd nach Nord antreffen, so bemerkt man inmitten der mageren, hier auf Aloe und Euphorbien[WS 7] beschränkten Vegetation, die von dem roten Staube der mit Laterit makadamisierten[WS 8] Landstraßen dick überpudert ist, schon aus weiter Ferne auffallende wunderliche Baulichkeiten als Wahrzeichen eines von Ceylon wie von Birma völlig verschiedenen Landes. Ragten dort schneeweiß getünchte, glatte Glockenformen buddhistischer Dagobas in die Lüfte, so scheint hier das Brahminentum durch auffallende kühne Riesentürme verkünden zu wollen, daß seine Macht hier noch ebenso stolz und ungeschwächt fortbesteht, wie sie im grauen Altertum blühte, und daß sie sowohl den Reformationsdrang des Buddhismus wie den Ansturm des Islam siegreich überdauert hat. Jene halbkugelförmigen Reliquienschreine der Dagobas in Ceylon standen klar, einfach und schmucklos wie die ursprüngliche Lehre Buddhas vor uns, erdrückend schwer und ungeheuerlich, wie eine Verkörperung der gewaltigen uralten Hierarchie des Brahminentums, starren uns hier diese „Gopura“-Türme[WS 9] entgegen, die sich neben und über den Eingangstoren zu den brahminischen Tempeln erheben; doch ebenso wie dieser Kultus durch allerlei fabelhafte Legenden und götzendienerische Gebräuche entartet ist, so sind auch sie mit architektonischem Ausputz überladen. Diese Gopuras stehen vor uns wie Ausrufezeichen, die uns melden, daß wir nunmehr in das märchenhafteste Gebiet Indiens gelangt sind, in ein Gebiet, das freilich, so denkwürdig es in historischer wie mythischer Beziehung auch ist, längst von seiner stolzen, kulturführenden Bedeutung heruntergesunken ist und in nichts mehr daran erinnert, daß hier schon zur Zeit der ersten römischen Kaiser kraftvolle Könige geherrscht haben.
Unter den fast hunderttausend dunkelfarbigen Einwohnern Maduras verschwinden die wenigen in dieser Stadt wohnenden Engländer vollständig; man kann tagelang auf den Straßen herumgehen, ohne den weißen Sonnenhut eines Europäers zu Gesicht zu bekommen. Die eingeborenen tamulischen Indier sehen ganz anders aus als die Hindus des nördlichen Indiens, die wir bereits auf Ceylon trafen und denen wir hier in größerer Anzahl begegnen. In Südindien haben wir überall drawidische[WS 10] Sprach-, Rassen- und Kulturerscheinungen der einstigen Urbevölkerung vor uns, im nördlichen Indien dagegen diejenigen der von Nordwesten hereingebrochenen arischen Eroberer und Einwanderer, deren Sprachen dem indogermanischen Stamme angehören, ein Unterschied, der am nachdrücklichsten durch die uns hier umgebenden drawidischen Bauten zu Tage tritt.
Vor dem Eingang zu dem größten Tempel Maduras, der dem furchtbaren Gott Schiwa oder Mahadeo[WS 11] und seiner Gemahlin geweiht ist, traf ich ein so lebhaftes Gedränge, daß mir nichts anderes übrig blieb, als auf das flache Dach eines gegenüberliegenden Bazargewölbes zu klettern, um ungestört Bilder des Tempeleinganges und des Torturmes aufzunehmen; einer der Kaufleute, die in der Halle ihre Verkaufsstände haben, ließ mir hilfsbereit ein Gitter [70] aus Bambusrohr, eine Art Leiter, herbeischleppen, auf der ich mich auf das Dach des Gewölbes hinaufschwang, das ursprünglich ein Mandapam[WS 12] war, wie man in Indien alle gastlichen Hallen für Wallfahrer und reisende Tempelsbesucher nennt, deren Dächer von künstlerisch bearbeiteten Säulen gestützt sind. Jetzt aber war jedes Winkelchen mit Verkaufsgegenständen vollgepfropft, und sein chaotisches, unsagbar malerisches Durcheinander von mehr oder weniger bekleideten Käufern und Verkäufern erfüllte die Halle, in der ein Geräusch wie Meeresbrausen widerhallte.
Der Wirrwarr phantastischer mythologischer Figuren zwischen dem von Säulengruppen getragenen Gebälk, geschweiften Wülsten oder sonstigen Bauverzierungen des Turmes und des Tores befremdet um so mehr, weil in der bunten Übertünchung dieser prahlerischen plastischen Ausschmückung rote Farbentöne überwiegen, so daß ein leuchtender Schimmer von Abend- oder Morgenröte auf diesen Bauten zu ruhen scheint.
Nach so prunkvollem Außenwerk hätte man volles Recht, zu erwarten, daß der eigentliche Tempel von unübertrefflicher, prachtstrotzender, fremdartiger Schönheit sein müsse, und erwartungsvoll betritt man den Durchgang.
Zunächst ist jeder Neuling erschreckt von den merkwürdigen Abzeichen der uns überall umdrängenden Schiwa-Anbeter; in Gestalt von drei dicken weißen [71] Horizontalstrichen sind diese Zeichen auf der Stirn und aus anderen Teilen ihres braunschwarzen Körpers ausgemalt, wodurch diese Leute in dem unheimlich düsteren, von phantastischen Figurenpfeilern getragenen Tempeltorbogen fast gespenstig aussehen. Überraschend ist namentlich die durch die langgezogenen Augen bewirkte Physiognomie-Ähnlichkeit dieser Figuren mit altägyptischen.
Gelingt es uns, durch zahllose Höfe und Wandelgänge und Pfeilerhallen schließlich den oder richtiger die beiden Haupttempel zu erreichen, so werden wir mit Verstimmung gewahr, daß die zuerst so verblüffende architektonische Kunst des drawidischen Dombaumeisters doch nur recht äußerlich und inhaltsleer ist und durch die überladene Ausgestaltung der Außenwerke erschöpft scheint, wobei die wunderlichsten Handwerkskunststücke angewendet sind. Statt einen glorreichen Mittelpunkt der ganzen Anlage zu bilden, ist der Doppeltempel für das Götterehepaar nur durch die Vergoldung seiner Pyramidendächer von den anderen, willkürlich in- und aneinandergebauten Räumlichkeiten dieses riesigen Tempels zu unterscheiden. In diesem krankhaften, sinnverwirrenden Trachten nach erstaunlichen technischen Leistungen von noch nie dagewesener Art, jedoch ohne höheren Zweck und Sinn, in diesem Kokettieren mit allerdings nicht leichten Siegen über selbstgeschaffene, aber durchaus entbehrliche und vermeidbare Schwierigkeiten, in diesem Vergessen eines erhabenen Hauptzieles über dem völlig Nebensächlichen offenbart sich das Wesen dieser südindischen, drawidischen Kunst. Eine so ausgedehnte Tempelanlage mit Gängen und Hallen zu versehen, deren gewaltige Pfeiler aus dem massiven Granitgestein einst hier tief im [72] Sande vergrabener ungeheuerer erratischer Felsmassen herausgemeißelt werden mußten, war schon an und für sich eine kaum verständliche Erschwerung des Tempelbaues. Daß die figürliche Ausstaffierung dieser absonderlichen Pfeiler mit mythologischen Geschöpfen, mit dem hier immer wiederkehrenden Jali[WS 13], dem „Löwen des Südens“, oder mit Elefanten, den Sinnbildern göttlicher Weisheit, oder mit mythischen Heldenfiguren, fratzenhaften Göttergestalten und phantastisch überladenen Kapitälen das Tollste bot, was die schaffenseifrige Tamulenphantasie zu leisten vermochte, kann weniger wundernehmen, als die erstaunliche Tatsache, daß es den Tausendkünstlern von Baumeistern sogar gelang, Dinge in ihrem Bauwerk anzubringen oder darein zu verflechten, die allenfalls in ein Riesen-Raritätenkabinett, aber nun und nimmermehr in einen Tempel gehören. Eine lose, frei in dem fast geschlossenen Riesenrachen eines Jalilöwen bewegliche Steinkugel auszuarbeiten, einen ungeheueren Felsblock als Tempeldachfirst so geschickt wegzumeißeln, bis daraus schließlich eine steinerne Kette mit losen, beweglichen Gliedern wurde, und ähnliche technische Künsteleien, das waren die baulichen Probleme, die jene Künstler reizten, weil ihnen die flammend hehre Begeisterung fehlte, die nur aus einem geklärteren religiösen Empfinden hätte entspringen können. Das vorwiegende religiöse Gefühl dieser drawidischen Volksrasse ist und war stets nur die zitternde Angst vor Dämonen und entsetzlichen Gottheiten, besonders vor dem übermächtigen Schiwa, hier Sandarischwara[WS 14] genannt, verbunden mit dem Bestreben, unter dem Beistand der Priester diese Götter durch reichliche Opferspenden zu freundlichem Verhalten zu zwingen.
Die tyrannisch-eifersüchtige, skrupellos gebrauchte Macht der hier seit alter Zeit herrschenden brahminischen Priester erhellt aus der Annahme, daß selbst der hochherzige König Tirumal Najak[WS 15], dem der Tempel und seine Priester unendlich viel Wohltaten zu verdanken hatten, von diesen selben Brahmanen umgebracht wurde, sobald er anfing, dem in Südindien überaus gewandt und erfolgreich wirkenden Jesuitenmissionar Robert de Nobilibus[WS 16] steigendes Wohlwollen zuzuwenden. Wie die wohl aus Wahrheit beruhende dramatisch wirkende Sage berichtet, sind sie nicht davor zurückgeschreckt, den König unter dem Vorwande, ihm einen neu entdeckten Schatz zeigen zu wollen, heimlich in die unter dem Tempel befindlichen Gewölbe zu locken und darin durch riesige, vor den Ausgang gewälzte Steine lebendig zu begraben; sie folgten dabei buchstäblich dem brahminischen Verbot, menschliches Blut zu vergießen, und erstickten zugleich durch die Ausstreuung einer plötzlichen Himmelfahrt des Königs alle Nachforschungen über dessen Verbleib.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir in dieser wunderbaren Umgebung so seltsamen Überraschungen, daß uns schließlich die zahllosen Märchen und Sagen, die sich hier abgespielt haben sollen, nicht unglaublich erscheinen, und kaum wundert es uns noch, wenn mitten zwischen den Händlern und Schneidern, die in den geräuschvollen Tempelgängen ihre Geschäfte betreiben, urplötzlich riesenhafte Elefanten erscheinen, um uns so lange entsetzlich kreischende Töne [73] in die Ohren zu trompeten, bis wir einige Münzen zum Besten des Tempels in den begehrlich hin und her pendelnden Rüssel gesteckt haben.
Nicht weit von dem Allerheiligsten des erwähnten Tempels, unter dessen Steinfliesen König Tirumal sein Leben ausgehaucht hat, befindet sich ein von einem Kreuzgang umgebener Teich, wie solche in jedem Tempelbezirke für die täglichen religiösen Waschungen der Hindus angelegt sind. An diesem Tempelteich in Madura stand einst die berühmte Marmorbank, auf der nur die 48 Mitglieder der drawidischen Dichterakademie zu sitzen das Recht hatten; diese durften sogar im Tempel wohnen, da ihre 48 Mitglieder nach der Legende als 48 Teile der Göttin Saraswati[WS 17] betrachtet wurden, die von ihrem Gemahl, dem Weltschöpfer Brahma[WS 18], zu 48 irdischen Existenzen verurteilt worden war, weil sie an den Liedern eines Barden zu viel menschliches Wohlwollen gefunden hatte, und die aus ganz besonderer Gnade diese 48 Existenzen in der genannten Verkörperung gleichzeitig statt nacheinander verbüßen durfte. Diese Sage ist für die Sinnlichkeit und Phantastik bezeichnend, die alle, selbst die religiösen Anschauungen dieser drawidischen Hindus umkleidet, aber ebenso märchenhaft- charakteristisch ist auch ihre drollige Fortsetzung. Die Tamulen sind nämlich überzeugt, daß ihr größter Dichter Tiruwalluwar[WS 19], der längere Zeit vergeblich versucht hatte, auf der Dichterbank ein bescheidenes Plätzchen zu erringen, eines Tages mit seinem Hauptwerk, dem Kural[WS 20], vor den bereits auf der Bank sitzenden göttlichen Kollegen erschienen sei und, ohne viel Worte zu machen, nur sein Buch auf eine Ecke der Marmorbank gelegt habe, worauf diese sogleich dermaßen zusammengeschrumpft sein soll, daß nur dies Buch darauf liegen blieb, die 48 lieben Kollegen aber Mann für Mann in den Tempelteich rutschten.
Das Getriebe in den südindischen Tempeln kann einen unerfahrenen Besucher so verblüffen, erschüttern und betäuben, daß er wie ein Fieberkranker oder Nachtwandler herumschwankt. Die ungewöhnlichen Gestalten fanatischer Büßer und religiöser Bettler, die kreischenden Krüppel und Blödsinnigen, die feilschende, hastende, schnatternde oder vor unsauberen Götzen blutige Tieropfer darbringende bunte Menge, die trompetenden Tempelelefanten, deren Zweck der Fremdling zunächst gar nicht einsieht, und das warnende Geschrei ihrer Treiber, das Geklingle, Getute und Tamtam-Gepauke der Priester, dazu die widerwärtige Mischung von Gerüchen nach mit Senföl eingeriebenen schwitzenden Menschen, nach rußenden Öllampen und den durchdringenden Düften von tropischen Blumen oder Rosenölwasser inmitten der märchenhaften Szenerie – fürwahr, kein nach Sensationen dürstender Maler kann wildere Träume haben, als das Schauspiel, das hierin beständig und rasch wechselnden Bildern und noch dazu in geheimnisvollem Halbdunkel vorbeizieht!
Der bereits erwähnte kunstliebende König Tirumal mußte den Brahmanen zuliebe für die zahlreichen Tempel und Gopuras, die er in Südindien erbaute, die überlieferten, altdrawidischen Bauformen beibehalten. Beim Bau seines Palastes schuf er dagegen mit Hilfe der wichtigsten drawidischen Skulpturformen, z. B. des südindischen Löwen Jali, aus gotischen Baumotiven und sarazenischen [74] Bogen einen südindischen Renaissancestil, dessen ruhige und edle Schönheit wohltuend gegen die krankhaft üppige Eigenart der altdrawidischen Bauleistungen absticht. Liegt Tirumals Palast[WS 21] auch größtenteils in Trümmern, so sind doch gegenwärtig außer dem von stattlichen Säulenhallen umgebenen Hof einige Säle und Räume wiederhergestellt, die als Gerichts- und Verwaltungskanzleien benutzt werden.
Die Reste des großen Königs Tirumal sind in einem stattlichen, einer Gopura ähnlichen Mausoleum auf einer Insel inmitten des Tempelteiches Teppu Kulam beigesetzt. Auf dem Bilde dieses Tempelteiches schreitet gerade ein durch seine weiße über die linke Schulter gelegte Baumwollenschnur als Brahmane kenntlicher Mann die Stufen zu dem trüben, aber durch Zusatz von Gangeswasser geheiligten Bade hinunter, der ein zusammengerolltes Tuch unter dem Arm trägt, um dies während des Bades mit dem getragenen Hüftenschurz auszuwechseln. Sobald die bereits Badenden die vielsagende weiße Schnur erblicken, weichen sie ehrerbietig aus oder ziehen sich ganz zurück, um dem Brahmanen auch im Wasser die ihren verschiedenen Kasten vorgeschriebenen Respektsschritte vom Leibe zu bleiben. Diese Maßregel des Fernhaltens der unteren Volksschichten wurde aber von den Brahmanen wohl nicht allein aus [75] religiösem Stolz und Machtgefühl angeordnet, sondern mag der Erfahrung entsprungen sein, daß die in Indien endemisch grassierenden ansteckenden Krankheiten vorzugsweise die schlecht genährten, widerstandsunfähigen niederen Klassen heimsuchen und durch diese weiterverbreitet werden.
Bereits wenige Jahre nach dem geheimnisvollen Tode Tirumals ließ sein Sohn und Nachfolger[WS 22], eifersüchtig auf seines Vater Ruhm und Schöpfungen, den Palast zerstören und das kostbare Baumaterial, die riesigen Granitsäulen und Marmorquadern nach der nördlich gelegenen Festung Tirisirapalli[WS 23] schaffen, deren Name von den Engländern jetzt in Tritschinopolis verballhornt ist; Jahre hindurch hatten unaufhörliche Züge endloser Ochsenkarren mit diesem Transporte zu tun.
Die Stadt Tritschinopolis verkündet sich schon aus weiter Ferne durch drei gewaltige weiße Felsmassen, von deren Gipfel und Flanken hellgetünchte Säulenhallen und Tempelmauern zu den Befestigungswerken hinunterschimmern, die aus den Steinen des Palastes in Madura als Bollwerk gegen die andringenden Mohammedaner errichtet wurden.
Jenseits des Kaweristromes beginnt ein durch Kanäle sorgfältig bewässertes und deshalb sehr fruchtbares Gebiet. An dem von Bambusgebüsch gesäumten Kanal plaudern badende Frauen, die sich bei unserem Nahen völlig in die [76] noch triefend nassen Umschlagtücher einwickeln und in diesen glatt anliegenden Hüllen davonrennen.
Hier in diesem wahrhaft paradiesischen Gebiet erhebt sich als Haupt- und Lieblingssitz der Brahmanen in Südindien eine Tempelstadt, die sie sehr bezeichnend „Himmlische Wollust“ oder Srirangam[WS 24] nannten, was die Engländer Seringham schreiben, und die wirklich einen Inbegriff märchenhaften Brahmanenlebens vorstellt.
Wir schreiten durch die enge Öffnung eines ungeheueren Stadttores, an dessen Außenwand zahllose Säulen mit wunderlichen, drawidischen Kapitälen prangen; dasselbe ist jedoch nur das unterste Stockwerk einer unvollendeten Gopura, von denen eine ganze Anzahl in der vor uns liegenden Straße, eine hinter der anderen, emporragt; am besten läßt sich dies von dem flachen Dache irgend eines Hauses aus wahrnehmen, wobei auch die Anlage der Stadt in sieben konzentrisch ineinander gefügten, von Mauern umgebenen Höfen auffällt, deren Durchgangstore stets durch einen der genannten hochragenden, mit bunten Tonfiguren übersäten Gopuras ausgezeichnet sind.
Daß diese ganze Stätte nicht wie der
große Tempel zu Madura dem Kultus des
Schiwa geweiht ist, sieht der Kenner aus der
über dem Gopuradurchgang in
einer Nische angebrachten, lang
ausgestreckten Figur des Gottes
Wischnu[WS 25] und an den hier ganz
anders geformten Abzeichen auf
den Stirnen der Gläubigen und
der Elefanten. An diesen überaus wichtigen Stirnzeichen, deren
Sinn zu begreifen viele der in
Indien lebenden Europäer nicht
einmal der Mühe für wert halten,
kann man die Glaubensanschauungen der brahminischen Hindus
erkennen und unterscheiden; dafern sie nicht zur untersten Kaste zählen; dann
tragen sie solche Zeichen niemals, ebensowenig wie die mohammedanischen
Indier.
[77]
Sobald ein brahminischer Hindu sein rituelles Morgenbad mit den vorgeschriebenen Rücken-, Kopf- und Schultergüssen genommen hat, geht er zu
einem inmitten von Farbentöpfen nahe dem Badeplatz hockenden Brahmanen,
kauert vor ihm nieder und läßt sich von dem kunstfertigen Priester das seiner
Kaste oder Sippe zukommende Stirnzeichen, das Tilak oder Nama[WS 26], auf die
Stirn schminken, auf daß jedermann wisse, welchen Gottes Verehrer er ist.
Doch nicht genug damit. Auch die in den Dienst der Tempel gestellten Zugtiere,
die Elefanten, die bei festlichen Umzügen die Götterbilder auf schwerfälligen
Karren durch die staubigen oder kotigen Straßen schleppen, müssen allmorgendlich
vor dem priesterlichen Maler niederknien, um ihren Stirnstempel zu erhalten,
nachdem sie mittelst Besen und faseriger Kokosnußschalen in der Schwemme
gründlich abgescheuert wurden. Ja selbst leblose Kultusgeräte und sogar die
Wände und Tore der Tempel verkünden durch derartige Zeichen, welcher
Gottheit die Stätte geweiht ist.
Von den 300 Millionen Bewohnern Vorderindiens sind etwa 250 Millionen brahminische Hindus. Diese stattliche Religionsgemeinschaft erkennt zwar Brahma als unbestrittenen Weltschöpfer an, zollt demselben aber als einem Gotte, der seine Aufgabe längst erledigt hat, keine sonderliche Verehrung mehr, sondern gliedert sich in zahlreiche Sekten, die aber alle entweder dem gütigen Welterhalter Wischnu oder dem auf Weltzerstörung bedachten Schiwa die höhere Machtstellung einräumen. Diese beiden Hauptgottheiten treten jedoch ebenso wie ihre Gemahlinnen in vielfältigen Verkörperungen unter ebenso vielen verschiedenen Namen auf, und um jede dieser Inkarnationen bildet sich eine Verehrergruppe, die der von ihr bevorzugten Lieblingsgottheit besonders kräftiges Beistehen in allen Lebensfragen zutraut. Da es außerdem nach der brahminischen Götterlehre noch 330 Millionen untergeordneter Gottheiten gibt, kann es nicht wundernehmen, daß sich die beiden Heerlager der Wischnuiten und Schiwaiten[WS 27] aus sehr verschiedenen Sekten mit kleinen Unterschieden in ihren Wappenschildern oder Stirnzeichen rekrutieren.
Ein Hindu, der schlecht und recht dem guten Gotte Wischnu seine religiöse Verehrung zuwendet — wozu ihn natürlich niemals freie Überzeugung, sondern allein die in seiner Kaste seit uralten Zeiten herrschende Ansicht bestimmt —, läßt sich vom Hausbrahmanen, dem Guru, oder bei Familienfesten von den nächsten Verwandten ein Namazeichen in Gestalt eines unten abgestumpften römischen V auf die Stirn malen.
Dies Wischnuzeichen wird von den verschiedenen Sekten verschieden gedeutet, denn die einen erklären es für die beiden Fußsohlen des Gottes, und andere begnügen sich, darunter nur einen Fußabdruck desselben zu verstehen. Durch die Verschiedenheit der Länge und Neigungswinkel beider Seitenlinien dieses Stirnzeichens, durch fehlende, verzierte oder geradlinige Verbindung derselben drücken die Wischnuiten die verschiedene Verklausulierung ihrer Anerkennung Wischnus aus. Will z. B. der Inhaber eines solchen Zeichens zu verstehen geben, daß seine Hochachtung sich in gleichem Maße auf die bessere Hälfte [78] dieses „guten“ Gottes erstreckt, d. h. auf die liebevolle Glücksgöttin Lakschmi, dann erhält das Zeichen noch eine Mittellinie, so daß es einer Heugabel ähnelt und so aussieht: V. Der Hindu malt diese galante Aufmerksamkeit als brennend rote Linie, während die anderen Linien des Wischnu-Tilak mit einer schneeweißen Farbe aufgetragen werden, die aus deckendem mineralischen Weiß, aus gebrannten Opfermuscheln, aus Asche verbrannten Düngers von heiligen Kühen und aus wohlriechendem Sandelholzpulver gemischt wird.
Eine andere Sekte dieser Wischnuanhänger, die Ramavat-Sadhus[WS 28], zeigt durch Bemalung ihres ganzen Körpers mit den Attributen des Gottes, mit Lotosblumen, Opfermuscheln, Schleudern und Keulen, an, daß sie die von Wischnu in seiner Menschwerdung als Dämonentöter Rama bewiesenen heldenhaften Eigenschaften ganz besonders hochschätzt und durch diese Zeichnungen zu würdigen sucht.
Begreiflicherweise zählt der Schreckensgott Schiwa weit mehr opferbereite Anhänger, als der milde Wischnu, und zu ihnen gehört auch die Mehrzahl jener berüchtigten religiösen Bettler und Büßer, der Jogis, Sanyasis, Bairagis, Agoris[WS 29] u. s. w. über deren wunderbares Tun ich im zweiundzwanzigsten Kapitel berichten werde. Diese Schiwaiten malen ihr Tilak in Gestalt dreier dicker weißer horizontaler Linien auf die Stirn, und wenn sie, wie die von uns im Tempel von Madura getroffenen Fanatiker, in religiösen Dingen zu der äußersten Rechten gehören; auch auf Oberarme, Brust und Leib. Nähert sich ein derartig wie mit-weißen Rippen bemalter frommer Mann, so erschrickt man und vermeint ein aus der Ferne heranwanderndes Gerippe zu sehen, zu dem der in der Regel fanatische Ausdruck des ausgemergelten Schiwaitengesichtes ganz vortrefflich paßt.
In einer der Pilger-Rasthallen zu Seringham, deren Stützpfeiler durch außergewöhnlich eindrucksvolle, riesengroße, aus dem soliden Gestein herausgemeißelte Fabelwesen geschmückt sind, die sagenhafte Kämpfe zwischen indischen Helden und Halbgöttern mit götterfeindlichen Dämonen darstellen sollen und deren Aussehen nicht anders als durch das Wort „märchenhaft“ wiederzugeben ist, traf ich eine Gruppe von Brahmanen an. In deren Gesellschaft befand sich ein hübsches Hindumädchen von etwa sechzehn Jahren, die sich bei meinem Erscheinen verhüllen und die Flucht ergreifen wollte, wie dies leider die meisten Hindumädchen, denen ich begegnet bin, zu tun pflegten, und die ich nur schwer zu bewegen vermochte, mir zu der beigefügten Photographie zu sitzen, auf der die sie umgebenden Brahmanengestalten mit ihrer gemessenen Haltung und dem malerischen Toga-Faltenwurf klassischen Römerfiguren ähneln; jedoch meine ich damit nicht den beleibtesten dieser Priester, der es für nötig befunden hatte, seinen ganzen Oberkörper mit dicken Wischnuzeichen zu bemalen, während den beiden jüngeren zwei ganz dünne Linien als Stirnzeichen genügten.
Dieses junge Mädchen gehörte ebenfalls zum Tempelpersonal und wurde von den Brahmanen ausgebildet, um bei den großen Tempelfesten als Dewa Dasi[WS 30] zu wirken. Die gewöhnlichen, auf allen Straßen oder bei den abendlichen [79] Nautschunterhaltungen[WS 31] ihre Künste darbietenden Tänzerinnen dürfen die festlichen Reigen um die Götterbilder nicht ausführen; für diese feierlichen Tänze wählen die Brahmanen unter den Töchtern der Ortsbewohner diejenigen aus, die sie für würdig erachten, Tempeltänzerinnen zu werden. Da nun aber keine Indierin unvermählt bleiben darf, so werden die Dewa Dasis der Tempelgottheit angetraut, wobei die Brahmanen die mit einer Ehe verbundenen Pflichten dem Götterbilde abnehmen und für den Unterhalt der göttlichen Ballerina sorgen.
Beim Verlassen dieses merkwürdigen Wallfahrtsplatzes Srirangam fiel mir ein mit dicken Guirlanden aus gelben Blumen behangener Elefant auf, der nicht weniger als vier Reiter trug; der vorderste lenkte das Tier wie üblich, indem er seine Füße hinter dessen Ohren stemmte, der zweite schwenkte eine rote Fahne, und der letzte hielt seinen Vordermann fest, damit dieser, zwar noch ein Kind aber der Held des ganzen Aufzuges, nicht von seiner stolzen Höhe herunterpurzelte. Der festliche Umzug dieses Knirpses zeigte allen guten Freunden und getreuen Nachbarn an, daß er heute vermählt worden war; natürlich handelt es sich dabei zunächst nur um eine durch die Eltern der jungen Leutchen abgeschlossene Verlobung, der aber die tatsächliche Hochzeit folgen muß, sobald das Pärchen die dazu nötigen Jahre erreicht hat. Neuerdings hat die englische Regierung diese Jahresgrenze mit 16 für Mädchen und 18 für Knaben gesetzlich festlegen lassen, um die früher durch zu frühe Heiraten vorgekommenen Übelstände, unter denen sogar Todesfälle nicht selten waren, zu beseitigen.
In Seringham wie in Tritschinopolis kann jeder Reisende die ortsüblichen Kuriositäten um billiges Geld erwerben: zierliche, aus dem schneeweißen Mark der am Kaweri wachsenden Sumpfpflanzen[WS 32] geschnitzte federleichte Modelle von Tempeln und Gopuras, Bilder, die auf dünne Scheiben aus dem in den Kalkfelsen von Tritschinopolis eingesprengt vorkommenden Marienglas gemalt sind, prächtige tamulische Hochzeitsgewänder für Frauen, sogenannte Tandschor-Arbeiten[WS 33] [80] d. h. Kupfergeräte, die mit gehämmerten Hochreliefs aus Zinn oder Silber besetzt sind, und dergleichen; bedauerlich ist dabei nur, daß den Fremden gewöhnlich von Hausierern allerlei geringwertige Ware aufgehängt wird, während der reelle indische Kaufmann aufgesucht sein will und es für unter seiner Würde hält, seine besseren Waren aufdringlich auszubieten oder sie gar dem Fremden zur Ansicht ins Haus zu tragen, bedeute dies Haus nun ein Zimmer im Hotel, den Wartesaal einer Eisenbahnstation, oder ein Zimmer in einem Bungalo[WS 34], d.h. einem der einfachen Rasthäuser, die für reisende Beamte oder andere Europäer in jedem größeren Orte errichtet sind, die man aber selten leer, sondern gewöhnlich bereits durch früher eingetroffene Reisende besetzt findet.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ WS: Vorlage: Süwestmonsun.
- ↑ WS: Nilgiri: vergleiche Nilgiri-Berge
- ↑ WS: Malabar: vergleiche Malabarküste
- ↑ WS: Koromandel: vergleiche Koromandelküste
- ↑ WS: Pikotta: doppelarmiger Schöpfbrunnen, vgl. Dr. Georg Buschan: Illustrierte Völkerkunde in zwei Bänden, 1923, Seiten 496/526 Digitalisat
- ↑ WS: Madura: vergleiche Madurai
- ↑ WS: Aloe und Euphorbien: Sukkulenten, vergleiche Aloen und Wolfsmilch
- ↑ WS: mit Laterit makadamisiert: vergleiche Laterit und Makadam
- ↑ WS: Gopura: vergleiche Gopuram
- ↑ WS: drawidisch, Drawide: vergleiche Draviden
- ↑ WS: Schiwa/Mahadeo: vergleiche Shiva/Mahadeva
- ↑ WS: Mandapam: vergleiche Mandapa
- ↑ WS: Jali: vergleiche Yali (Mythologie)
- ↑ WS: Sandarischwara: Sandarishvara, andernorts rezipiert auch als Göttin und Gemahlin des Shiva
- ↑ WS: Tirumal Najak: Thirumalai Nayak (en) regierte 1623-1659, über eine Ermordung ist dort nichts bekannt, vermutlich ist Boeck falsch unterrichtet gewesen
- ↑ WS: Robert de Nobilibus: vergleiche Roberto de Nobili (1577-1656)
- ↑ WS: Saraswati: vergleiche Sarasvati
- ↑ WS: Brahma: vergleiche Brahma
- ↑ WS: Tiruwalluwar: vergleiche Tiruvalluvar
- ↑ WS: Kural: vergleiche Tirukkural
- ↑ WS: Tirumals Palast: vergleiche Thirumalai Nayakkar Mahal (en)
- ↑ WS: Tirumals Sohn: Chokkanatha Nayak (en) regierte 1662-1682 und war Enkel Thirumalais.
- ↑ WS: Tirisirapalli, Tritschinopolis: vergleiche Tiruchirappalli
- ↑ WS: Srirangam/Seringham: vergleiche Srirangam
- ↑ WS: Wischnu: vergleiche Vishnu
- ↑ WS: Tilak, Nama: vergleiche Tilaka (de), Naamam (en)
- ↑ WS: Wischnuiten, Schiwaiten: vergleiche Vishnuismus, Shivaismus
- ↑ WS: Ramavat-Sadhus: vergleiche Ramavats (en); Sadhu (de)
- ↑ WS: Jogis, Sanyasis, Bairagis, Agoris: vergleiche Yoga; Sannyasin, Bairagi Caste (en), Aghori
- ↑ WS: Dewa Dasi: vergleiche Devadasi
- ↑ WS: Nautsch: vergleiche Nautch (en)
- ↑ WS: Vorlage: Sumpfflanzen
- ↑ WS: Tandschor-Arbeit: Miniaturmalerei aus Thanjavur (Tanjore), vergleiche Thanjavur, Kunst und Kultur
- ↑ WS: Bungalo: vergleiche Bungalow