Staats- und Verwaltungsrecht (1914)
Mitglied des Herrenhauses und Kronsyndikus
I. Das Reich
In den letzten Wintertagen des Jahres 1888 war der erste, in den letzten Frühlingstagen des gleichen Jahres war der zweite Kaiser des neuen Deutschen Reiches heimgegangen in die Wohnungen des ewigen Friedens. Das durch Hohenzollernkraft und Hohenzollernweisheit geschaffene Reich der Siegeshelden Wilhelms des Großen und Friedrichs des III. trat ein in die neue Epoche Wilhelms des II. In starker Wehr und gesicherten inneren Verhältnissen ging das Reich aus der Hand der beiden Kaiser, die es im Kriege geschaffen hatten, im Frieden über an den dritten Kaiser. Das Vierteljahrhundert der Regierung Wilhelms II. war eine Epoche innerer Entwickelung, wie sie ähnlich bedeutend die Geschichte des deutschen Volkes nur in wenigen Abschnitten, wie sie insonderheit für Handel und Wandel, für das gesamte Erwerbsleben des Volkes, die deutsche Geschichte überhaupt in keiner früheren Zeitperiode aufzuweisen hat. Diese Entwickelung gibt der im folgenden zu besprechenden Gesetzgebung des Reiches und seiner Präsidialmacht Preußen in dieser Zeitperiode den charakteristischen Stempel.
1. Die Reichsverfassung und die Grundlagen des Reiches
Die Verfassung, welche seit 1. Juli 1867 das unendlich schwierige Problem des deutschen Bundesstaates mit preußischer Hegemonie und kaiserlicher Spitze gelöst hatte, blieb im wesentlichen unverändert. Die Entwickelung seit 1867 hatte, insbesondere seit und durch Erlaß des sog. Stellvertretungsgesetzes vom 17. März 1878, das dem Reichskanzler verantwortliche Staatssekretäre hinzufügte, feste Linien gezogen, in denen auch in der Regierungszeit Wilhelms II. das Staatsleben des Reiches sich sicher und stetig weiterentwickelte.
1. Das Reichsgebiet.
Gebietsveränderungen des Reiches erfolgten nicht in erheblichem Umfange; es sind hier nur mehrfache Grenzfeststellungen an der österreichischen, schweizerischen und dänischen Grenze zu nennen; ferner ist zu erwähnen die Aufhebung des merkwürdigen schwedischen Pfandrechtes, in dem die mecklenburgische Stadt Wismar bis 1905 stand. Nur eine Gebietsveränderung von [140] Bedeutung ist hervorzuheben: die Erwerbung von Helgoland. Die kleine Insel, den Schlüssel der Elbmündung, in englischem Besitz zu wissen, war eine tiefschmerzliche Empfindung für jedes deutsche Herz und ein Gefühl der Beschämung bei jedem Blick auf die Karte. Seit 1890 ist Helgoland kraft eines vom Reiche mit England abgeschlossenen Staatsvertrages deutsch; die Insel wurde dem preußischen Gebiete an- und dem Provinzialverband von Schleswig-Holstein eingefügt und ist inzwischen durch starke Befestigungen zu einem gewaltigen Stützpunkte der deutschen Marine, insbesondere für Untersee- und Torpedoboote, gestaltet worden. Im Zusammenhang mit den großen Grundfragen des Gebietsbestandes des Deutschen Reiches steht auch die Herstellung des großen Seeweges auf deutschem Staatsgebiete, des Nordostseekanals – schon unter Wilhelm I. – zur Verbindung von Ost- und Nordsee. Es besteht selbstverständlich kein Zweifel, daß der Nordostseekanal, obwohl eine Fahrstraße von Meer zu Meer, in vollem Umfange und in jeder Beziehung der deutschen Staatsgewalt unterliegt. Mit großer Sorgfalt wurde der Nordostseekanal fortwährend verbessert, gesichert und erweitert.
2. Elsaß-Lothringen.
Eine bedeutsame Veränderung hat die Reichsverfassung erfahren durch die Neugestaltung des elsaß-lothringischen Staatsrechtes im Jahre 1911. Man ist berechtigt, den zusammenfassenden Gedanken dieser Gesetzgebung mit dem Satze auszudrücken: Elsaß-Lothringen hat durch diese Neugestaltung im wesentlichen den Charakter eines deutschen Einzelstaates erhalten. Diese staatsrechtliche Neugestaltung ist das Ergebnis der Entwickelung, die mit dem ersten Organisationsgesetz von 1871 einsetzte. Die Bevölkerung Elsaß-Lothringens ist teils alamannischen, teils fränkischen Stammes, nur in einem Bezirk (Chateau-Salins) überwiegend (60%) französisch; das Land, einst durch Gewalttat Ludwig XIV. von Deutschland losgerissen, ist seit 1870 wieder der deutschen Entwickelung eingefügt, der es nach Geschichte und Bevölkerung angehört. Der Gedanke, das wiedereroberte Land ganz oder in Teilen anderen deutschen Einzelstaaten einzuverleiben, blieb unausgeführt; die einheitliche staatliche Gestaltung des Landes unter kaiserlicher Regierung durch das Organisationsgesetz von 1871 mußte mit Notwendigkeit zur allmählichen Herstellung eines Einzelstaates Elsaß-Lothringen führen. Diese Entwickelung vollzog sich stufenweise: 1874 wurde das Land der Reichsverfassung und dem Reichstag eingegliedert, seit 1877 hatte es eigene Volksvertretung im Landesausschuß, seit 1879 eigne Landesregierung durch einen vom Kaiser ernannten Statthalter, dem auch landesherrliche Machtbefugnisse durch den Kaiser übertragen werden konnten und zu erheblichem Teile übertragen wurden. Durch Aufhebung des sog. Diktaturparagraphen 1902 gemäß höchstpersönlichem Eingreifen des Kaisers war das Prinzip des Mißtrauens gegenüber dem Reichsland beseitigt worden.
Die Gesetzgebung von 1911 hat nunmehr, unter grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Kaisergewalt als der landesherrlichen Gewalt (kraft reichsgesetzlichen Auftrages) eine eigene Landesgesetzgebung durch den Kaiser und einen aus zwei Kammern bestehenden Landtag – unter Ausschaltung des Bundesrates – geschaffen und dem [141] Lande drei Stimmen im Bundesrate gegeben (RV. Art. 6a). Der Umstand, daß 1. diese neue Verfassung durch Reichsgesetz geschaffen und nach wie vor vom Staatswillen des Reiches beherrscht ist, 2. daß die Mitgliedschaft Elsaß-Lothringens im Bundesrat durch das Reichsgesetz von Bedingungen (Fortbestand der Kaisergewalt und Stellvertretung durch den Statthalter, der die Bevollmächtigten zum Bundesrat ernennt und instruiert) abhängig gemacht ist, 3. daß die elsaß-lothringischen Stimmen im Bundesrat in gewissen Fällen, nämlich a) bei Verfassungsänderungen und b) wenn von ihnen die Entscheidung im Sinne der Präsidialmacht Preußen abhängen würde, nicht gezählt werden – macht das staatsrechtliche Verhältnis Elsaß-Lothringens zum und im Reiche verwickelt und schwierig. Da es nicht Aufgabe dieser Darlegungen sein kann, Kritik zu üben, sei hier nur die Bemerkung beigefügt: für den regelmäßigen Gang des Staatslebens im Reiche ist Elsaß-Lothringen heute Einzelstaat des Reiches mit drei Stimmen im Bundesrat, und es würde lediglich von der Einsicht der Elsaß-Lothringer selbst abhängen, daß die oben gekennzeichneten Schranken dieser Stellung beseitigt und damit die volle „Autonomie“, wie sie die übrigen Einzelstaaten im Rahmen des deutschen Reichsstaatsrechtes haben, hergestellt würde. Daß dieser Rahmen für Elsaß-Lothringen eine endgültige welthistorische und eine zweifellose rechtliche Tatsache ist, bedarf keiner Erörterung. – Eine besondere Regelung hat für Elsaß-Lothringen die Verhängung des Belagerungszustandes durch Gesetz von 1892 erfahren. Die Vorschriften dieses Gesetzes finden ihre Rechtfertigung in den besonderen Verhältnissen des Grenzlandes.
3. Der Reichstag. Aufhebung der Diätenlosigkeit.
Eine weitere Umgestaltung hat das Staatsrecht des Reiches erfahren durch eine grundsätzliche Veränderung der Grundlagen des Reichstages im Jahre 1906. Bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates am 1. Juli 1867 war die Vertretung „des ganzen deutschen Volkes“ (RV. Art. 29), der Reichstag, verfassungsmäßig, ebenso wie das englische Parlament, auf dem Grundsatz der Diätenlosigkeit aufgebaut worden. Man wünschte und hoffte, in diesem Grundsatze ein Gegengewicht gegen den Grundsatz des allgemeinen und geheimen Wahlrechtes der Verfassung eingefügt zu haben. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch und so wurde, insbesondere auch wegen der häufigen und andauernden Beschlußunfähigkeit des Reichstags, im Jahre 1906, wie dies der Reichstag selbst von Anfang an stets gefordert hatte, in Abänderung des Art. 32 RV., an Stelle der Diätenlosigkeit eine durch das Reich festgesetzte und vom Reiche zu bezahlende Entschädigung von 3000 Mark jährlich für die Mitglieder des Reichstages eingeführt, und diese Entschädigung zugleich in zweckmäßiger Weise als eine Art Zwangsmittel für den Besuch des Reichstages (Führung von Präsenzlisten und Abzug von 20 Mark bei Nichtteilnahme an einer Sitzung) gestaltet. Daß diese Umgestaltung des Reichstagsrechts von gutem praktischen Erfolge für die Teilnahme an den parlamentarischen Arbeiten begleitet war, wird nicht geleugnet werden können. Ferner wurde den Mitgliedern des Reichstages kraft Gesetzes freie Eisenbahnfahrt auf allen deutschen Eisenbahnen während der Sitzungsperiode, also einschließlich der etwaigen Vertagungszeit, gewährt.
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Sonstige Veränderungen des Reichstagsrechts.
Außerdem erfolgten noch andere Veränderungen des Reichstagsrechtes, so behufs Verstärkung des Schutzes des Wahlgeheimnisses (1903); ferner hat der Reichstag selbst kraft der ihm verfassungsmäßig zustehenden Autonomie (RV. Art. 27) seine Geschäftsordnung in einigen Punkten abgeändert, so durch Einführung des Ausschlusses von einer Sitzung als Disziplinarmittel gegen Abgeordnete, die sich schwere Verletzungen der Ordnung zuschulden kommen lassen (seit 1895), und Ausgestaltung der parlamentarischen Anfragen an die Regierung (sog. kleine Anfragen, Zulassung von Anträgen im Anschluß an die Besprechung von Anfragen). Erhebliche Bedeutung haben diese Änderungen des Parlamentsrechtes trotz der lebhaften Verhandlungen, die ihnen vorangingen, kaum zu beanspruchen; immerhin liegt in den letztgenannten Vorschriften eine nicht unbedeutende Verstärkung der Macht des Parlamentes. – Daß der deutsche Reichstag in der Art seiner Zusammensetzung und infolge davon auch in der Art seiner Arbeit im Laufe der Zeit eine wesentliche Umwandlung erfahren hat, unterliegt für den ruhigen Beobachter, der auf die ganze Zeit des gesamtdeutschen Staatslebens seit dem 1. Juli 1867 zurückblicken kann, keinem Zweifel. Die Schaffung des deutschen Reichstages war die Folge großer historischer Tatsachen. Eine Veränderung der Grundlagen der Vertretung des deutschen Volkes würde auch nur die Folge großer historischer Tatsachen sein können. Ein Reichstag, dessen Mehrheit nicht mehr auf den Grundlagen der heutigen Reichsverfassung stände, würde notwendig sofort die Daseinsfrage von Reichsverfassung und Reich aufrollen müssen.
4. Schiffahrtsabgaben.
Eine bedeutsame Abänderung hat ferner 1911 der Artikel 54 der RV. in seinen die Wasserstraßen und die auf solchen zulässigen Schiffahrtsabgaben betreffenden Abschnitten erfahren. Artikel 54 bildet die Grundlage der einheitlichen deutschen Handelsmarine und überträgt die gesetzlichen Aufgaben des Staates für die Handelsmarine dem Reiche. Was die von der Schiffahrt zu erhebenden Abgaben betrifft, so hatte der ursprüngliche Art. 54 gemäß den seinerzeit auf dem Wiener Kongresse vereinbarten Grundsätzen die Norm aufgestellt, daß Schiffahrtsabgaben auf natürlichen Wasserstraßen nur erhoben werden dürften für „besondere Anstalten, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind“ und daß sowohl bei natürlichen wie bei künstlichen Wasserstraßen des Staates jene Abgaben „die zur Unterhaltung und gewöhnlichen Herstellung der Anstalten und Anlagen erforderlichen Kosten nicht übersteigen dürfen“.
Im Zusammenhang mit dem groß angelegten Plane des Ausbaues des künstlichen und natürlichen Wasserstraßennetzes in Preußen (Gesetz vom 1. April 1905), dessen gewaltige Kosten teilweise durch Schiffahrtsabgaben aufzubringen ein selbstverständlicher Gedanke war, erfolgte durch Gesetz vom 24. Dezember 1911, um dem verwirrten Streit über den Begriff „besondere Anstalten“ ein Ende zu machen, eine Abänderung des Art. 54 der RV. dahin, 1. daß statt der „besonderen“ Anstalten gesetzt wurde: „Anstalten (Werke und Einrichtungen), die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind“; 2. daß als Höchstmaß der Abgaben bestimmt wurde bei staatlichen und kommunalen Anstalten: [143] die „zur Herstellung und Unterhaltung erforderlichen Kosten“; 3. daß für „Anstalten, die nicht nur zur Erleichterung des Verkehrs, sondern auch zur Förderung anderer Zwecke und Interessen bestimmt sind“ die Kosten gleichfalls durch Schiffahrtsabgaben aufgebracht werden dürfen, jedoch nur „zu einem verhältnismäßigen Anteile“; 4. daß die oben zu 1–3 angegebenen Vorschriften auch Anwendung finden auf „Abgaben, die für künstliche Wasserstraßen und für Anstalten an solchen sowie in Häfen erhoben werden“; 5. daß sie ebenso Anwendung finden auf die Flößerei, insoweit diese auf schiffbaren Wasserstraßen betrieben wird. Der Begriff der Herstellungskosten wurde dahin bestimmt, daß darunter die Zinsen und Tilgungsbeträge für die aufgewendeten Kapitalien zu verstehen sind. Die Höhe der Schiffahrtsabgaben darf unter Zugrundelegung der Gesamtkosten für eine Wasserstraße, ein Stromgebiet oder ein Wasserstraßennetz festgesetzt werden. Auf dieser neuen verfassungsmäßigen Grundlage wurden durch Reichsgesetz für Rhein, Weser und Elbe Strombauverbände der an diesen Strömen beteiligten deutschen Einzelstaaten mit dem Recht der Erhebung von Schiffahrtsabgaben eingerichtet, vermittelst deren bestimmte, gesetzlich – § 3 enthält die hochinteressanten Vorschriften hierüber – vorgeschriebene „Anstalten zur Erleichterung des Verkehrs (Schiffbarmachung, Kanalisierung, Fahrwassertiefe)“ hergestellt werden sollen. Die Verwaltung der Angelegenheiten der Strombauverbände erfolgt durch staatliche Verwaltungsausschüsse, denen gewählte Strombeiräte – für den Rhein 92, für die Elbe 56, für die Weser 24 Mitglieder – zur Seite stehen. Die Grundsätze für den Tarif der Schiffahrtsabgaben („Befahrungsabgaben“) sind gesetzlich festgelegt, für die Hinterziehung von solchen sind gesetzliche Verwaltungsstrafen bestimmt. Die den Vorschriften des Gesetzes entgegenstehenden landesrechtlichen Vorschriften der oder unter den deutschen Einzelstaaten treten außer Kraft; dagegen bleiben die mit Österreich, den Niederlanden und der Schweiz bestehenden Verträge vorerst in Kraft und wird die notwendige Regelung der Verhältnisse mit den genannten fremden Staaten vorbehalten.
5. Finanzwesen.
Die weitere Abänderung der Reichsverfassung bezieht sich auf das Finanzwesen des Reiches (RV. Art. 70). Durch Gesetz vom 14. Mai 1904 erhielt der ursprüngliche Art. 70 eine abgeänderte Fassung, kraft deren zwar die „Matrikularbeiträge“ beibehalten werden, aber ihre Deckung finden sollten: 1. durch „Überweisungen“ des Reiches, 2. durch Rückzahlungen des Reiches insoweit „als die übrigen ordentlichen Einnahmen des Reiches dessen Bedarf übersteigen“. Siehe über die ganze verwickelte Materie unten Abschnitt III.
6. Die Zuständigkeit des Reiches.
Die durch die Reichsverfassung (Art. 4) dem Reiche als dem deutschen Gesamtstaate übertragenen Staatsaufgaben sind im Laufe der Jahrzehnte durch eine angestrengte und intensive gesetzgeberische Tätigkeit erfüllt und dadurch um die deutschen Staaten und Stämme ein immer festeres und engeres Band geschlungen worden. Eine der letzten Aufgaben, die nach dieser Richtung zu lösen waren, war der Erlaß eines Vereinsgesetzes (RV. Art. 4 Z. 16). Das große und schwierige Problem, das die ältere Theorie und mit ihr die [144] preußische Verfassungsurkunde (Art. 29, 30) als eines der wichtigsten „Grundrechte“ behandelt hatte, wurde durch die Gesetzgebung von 1908 (Gesetz vom 19. April) gelöst. Die Lösung erfolgte durchaus im Sinne der Freiheitsgedanken, die in der preußischen Verfassung ihren Ausdruck gefunden hatten, im Sinne der Vereins- und Versammlungsfreiheit. Die durch die Notwendigkeiten der Staatsordnung gebotenen Polizeivorschriften für Überwachung von Vereinen und Versammlungen wurden auf das geringste Maß beschränkt.
Einer der wichtigsten Einzelpunkte dieser Gesetzgebung war die Sprachenfrage. Auch in anderen Zusammenhängen (Rechtspflege, Elsaß-Lothringen, Postwesen, Schulwesen) mußte die Sprachenfrage mehrfach erörtert werden. Da weder die Reichs- noch die preußische Verfassung Vorschriften über die vom Staat und im amtlichen Verkehr mit dem Staate anzuwendende Sprache enthalten, ergaben sich auf verschiedenen Gebieten des Staatslebens zahlreiche und zum Teil peinliche Streitfälle in den gemischtsprachigen Bezirken. Der ursprüngliche Regierungsentwurf des Vereinsgesetzes wollte die Durchführung des „Grundrechtes“ der Vereins- und Versammlungsfreiheit einfach unter den – der weitaus großen Mehrzahl der Deutschen selbstverständlichen – Grundsatz der deutschen Staatssprache gestellt wissen. Leider war es nicht möglich, diesen Grundsatz in dem endlich errungenen deutschen Bundesstaate von vorneherein als einen zweifellos feststehenden zur ausschließlichen Geltung zu bringen: der Widerspruch der fremdsprachigen Bestandteile des heutigen deutschen Staatsvolkes, sowie die den Grundsatz der deutschen Staatssprache als allgemeinen Rechtsgrundsatz verneinende Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichtes, hatten zur Folge, daß für das Gebiet des Vereins- und Versammlungsrechtes dem neuen Gesetze mehrere tiefgreifende Einschränkungen des Prinzipes zugunsten fremdsprachiger Versammlungen eingefügt wurden, die die Regierung, um nicht das ganze hochwichtige Gesetz zu gefährden, annahm. Es steht zu hoffen und ist dringende Staatsnotwendigkeit, daß weiterhin für alle Zweige des Staatslebens, einschließlich öffentlicher Versammlungen, in denen Staatsangelegenheiten verhandelt werden, der Grundsatz der deutschen Staatssprache im deutschen Nationalstaate zur vollen und uneingeschränkten Anerkennung gelangt.
7. Die Kolonien. – Erweiterung des Kolonialbestandes.
Was die Reichsnebenländer, die deutschen Kolonien, für die immer noch der unzutreffende Ausdruck „Schutzgebiete“ Amtsbezeichnung ist, angeht, so hat seit 1888 der deutsche Kolonialbestand eine sehr erhebliche Erweiterung erfahren. Zu den Kolonien der ersten Epoche (Südwestafrika, Ostafrika, Togo, Kamerun, Neu-Guinea und Marschall-Inseln) traten unter der Regierung Wilhelms II. hochwichtige neue Kolonialerwerbungen hinzu, nämlich Kiautschou, Samoa, Karolinen und Neu-Kamerun. Kiautschou, ein wichtiger Hafen des nordchinesischen Gebietes, ging auf Grund eines für 99 Jahre abgeschlossenen Pachtvertrages mit China 1898 in deutsche Staatshoheit und Verwaltung über. Diese ostasiatische Kolonie fand, insbesondere in ihrem Hauptorte Tsingtau, eine ganz besonders intensive Entwickelung, sowohl in militärischer Hinsicht [145] wie in Sachen der Rechtspflege und Zivilverwaltung, vor allem des Schulwesens. Durch hervorragende deutsche Staatstätigkeit ist die ostasiatische Kolonie des Deutschen Reiches zu einer vorbildlichen Anlage geworden, die für die Kulturentwickelung des gewaltigen, in der größten inneren Umwandlung begriffenen, chinesischen Reiches ein wichtiger Faktor sein wird. Eine rechtliche Besonderheit stellt Kiautschou insofern dar, als es auch heute noch, nicht wie die übrigen Kolonien dem Reichskolonialamt, sondern dem Reichsmarineamt unterstellt ist, wodurch auch rechtlich sein Charakter als Hauptstützpunkt der Marine in Ostasien zum Ausdruck gebracht ist.
Die Karolinen-Inseln wurden durch Staatsvertrag von Spanien 1899 an das Deutsche Reich abgetreten und dadurch der wichtige Südsee-Inselbesitz Deutschlands erheblich erweitert. Diesem Südseebestandteil des deutschen Kolonialreiches gehört endlich auch seit 1899 die schöne Insel Samoa an. Endlich hat das deutsche Kolonialgebiet noch eine erhebliche Erweiterung gefunden durch den Staatsvertrag mit Frankreich von 1911, kraft dessen Frankreich an das Deutsche Reich ein erhebliches Stück seines westafrikanischen Kongogebietes abtrat. Dieses Gebiet ist grundsätzlich mit dem angrenzenden Gebiete der alten Kolonie Kamerun als Neu-Kamerun vereinigt worden.
Kolonialverwaltung und -Verfassung.
Die staatliche Einrichtung der deutschen Kolonien hat hinsichtlich der Zentralverwaltung ihren Abschluß gefunden in der 1907 unter schweren parlamentarischen Kämpfen, die zur Auflösung des Reichstags führten, erfolgten Errichtung des Reichskolonialamtes.
Das Reichskolonialamt ist das Kolonialministerium für alle Staatsangelegenheiten der Kolonien, ohne Rücksicht auf die Abgrenzung der Reichszuständigkeit nach RV. Art. 4; eine Einschränkung erfährt dieser Grundsatz nur territorial für Kiautschou (siehe oben), sowie sachlich für die Post- und Telegraphenangelegenheiten, die im Reichspostamt bearbeitet werden. Für die rein militärischen Angelegenheiten ist dem Kolonialamt ein besonderes Oberkommando der Schutztruppen angegliedert worden, das dem Reichskanzler untersteht.
Die Grundlage für die deutschen Staatseinrichtungen in den Kolonien, eine Art Verfassungsurkunde, bildet das 1886 erlassene „Schutzgebietsgesetz“, das im Jahre 1900 eine durchgreifende Neugestaltung erfuhr, die jedoch an den Grundlagen des bisherigen Rechtes, insbesondere an der kaiserlichen Gewalt, nichts änderte. Im Anschluß an das Marokkoabkommen mit Frankreich wurde in das Schutzgebietsgesetz 1912 die grundsätzliche Vorschrift aufgenommen, daß Erwerb und Abtretung von Kolonialgebiet, ausgenommen Grenzberichtigungen, nur durch Gesetz, also mit Zustimmung von Bundesrat und Reichstag, erfolgen kann.
Schutztruppe.
Der militärische Schutz der Kolonien hat gleichfalls eine erhebliche weitere Entwickelung erfahren. Der große Aufstand der Eingeborenen in Südwestafrika nötigte mehrere Jahre lang zu einer starken außerordentlichen militärischen und demgemäß finanziellen Kraftanspannung. Dauernde Schutztruppen [146] haben außer Kiautschou, das von Marinetruppen besetzt ist, Südwestafrika (seit 1895), Ostafrika (seit 1891) und Kamerun (seit 1895); die Rechtsverhältnisse der Schutztruppen sind durch eine besondere Gesetzgebung, die sich an die Gesetzgebung über das Reichsheer anlehnt, geordnet (neue Fassung 1896). Auch die Schutztruppen stehen selbstverständlich unter dem Oberbefehle des Kaisers; neuerdings (1909) ist auch das Militärstrafgesetzbuch für die Schutztruppen eingeführt worden. – Der Gedanke, die besonderen Schutztruppen einzelner Kolonien zu einer einheitlichen Kolonialarmee wie in Frankreich zusammenzufassen, scheint zurzeit noch nicht zu eingehender Erwägung reif zu sein. – Togo und die Südseekolonien haben vorerst nur Polizeimannschaften.
Kolonialbeamte.
Eine besondere Regelung haben die Verhältnisse der Kolonialbeamten durch Gesetz 1910 gefunden. Das Gesetz beruht auf den Grundgedanken des allgemeinen Reichsbeamtengesetzes von 1873 und gibt diesem nur die durch die besonderen Verhältnisse der Kolonien gebotenen Ergänzungen.
Landwirtschaftsbank.
Für Südwestafrika wurde 1913 durch kaiserliche Verordnung eine Landwirtschaftsbank errichtet zur Förderung der Landwirtschaft durch Gewährung von Darlehen nach Maßgabe der von Reichswegen erlassenen Satzungen; die Bank steht unter Aufsicht des Reichskanzlers und kann Schuldverschreibungen auf den Inhaber ausgeben.
Siehe im übrigen den Abschnitt „Kolonien“.
8. Auswärtige Angelegenheiten.
Die auswärtigen Angelegenheiten des Deutschen Reiches erfahren ihre Würdigung in anderem Zusammenhange. Insbesondere gilt dies von den beiden Staatsverträgen mit Frankreich, durch welche die brennende Marokkofrage im Herbst 1911 ihre friedliche Erledigung gefunden hat. Ebenso bedarf die Mitarbeit des Deutschen Reiches an den beiden großen Haager Friedenskonferenzen in den Jahren 1899 und 1907, deren äußeren rechtlichen Ausdruck eine Reihe von Staatsverträgen über verschiedene Materien bildet, einer besonderen Betrachtung. An dieser Stelle seien aus dem Gebiete der auswärtigen Angelegenheiten nur folgende einzelne Punkte, die mit der hohen Politik keinen Zusammenhang haben, hervorgehoben:
Konsularwesen.
Die Ausbildung des deutschen Konsularwesens hat einen von Jahr zu Jahr, entsprechend der gewaltigen Entwickelung der deutschen Industrie und des deutschen Handels, steigenden Umfang angenommen; insbesondere sind zahlreiche neue Berufskonsulate in allen Teilen des Erdkreises errichtet worden. Mit einer Reihe von Staaten sind besondere Konsularverträge zur Ordnung der Materie abgeschlossen worden. Die Konsulargerichtsbarkeit hat im Jahre 1900 im Zusammenhang mit den großen Neugestaltungen der Rechtspflege im Reiche selbst, die seit Erlaß des ersten Konsulargerichtsgesetzes (1879) erfolgt waren, eine Neuregelung erfahren, die allerdings an der bisherigen Organisation der Konsulargerichtsbarkeit [147] keine wesentliche Änderung brachte. Die besondere Ordnung der Konsulargerichtsbarkeit in Ägypten hat neue Vorschriften erfordert. In Tunis, Bosnien, Zypern, Serbien, Rumänien, Bulgarien, sowie vor allem in Japan ist die Konsulargerichtsbarkeit zugunsten der dortigen Staatsgerichte teils eingeschränkt, teils ganz aufgehoben worden; Marokko und Tripolis werden zweifellos demnächst folgen, und der Zusammenbruch der europäischen Türkei wird gleichfalls von großer Bedeutung für diese Frage sein. – Die seit lange als Bedürfnis empfundene Umarbeitung des alten Gesetzes über die allgemeinen Rechte und Pflichten der Konsuln (1867 erlassen) ist leider noch nicht zur Vorlage an die gesetzgebenden Organe gelangt. Ebenso hat die Frage der unbedingt notwendigen besonderen Vorbildung für das Konsularamt eine brauchbare Lösung bis jetzt noch nicht gefunden; die allgemeinen Befähigungsnachweise für Justiz und Verwaltung können als für das konsularische Amt ausreichend nicht anerkannt werden. Sowohl Frankreich als auch Österreich haben für die Vorbereitung zum Konsulardienst seit lange besondere Einrichtungen geschaffen, die dem Zwecke dienen, den Konsularbeamten die für ihre Aufgabe erforderliche besondere völkerrechtliche, volkswirtschaftliche und sprachliche Ausbildung zu geben.
Rechtszustand der Fremden.
Der Rechtszustand der Fremden im Staate, eine bei den heutigen Kultur- und Verkehrsverhältnissen täglich wichtiger werdende Angelegenheit, entbehrt bis heute der Regelung durch allgemeine internationale Rechtsgrundsätze; auch die Sondergesetzgebung der Staaten hat nur einzelne hierher gehörige Punkte geordnet. Ob der Zeitpunkt für eine allgemeine Regelung des Fremdenrechtes, etwa durch eine spätere Haager Friedenskonferenz, heute schon gekommen ist, muß dahingestellt bleiben; nicht wenige Einzelpunkte der Materie ließen sich wohl heute schon gemeinsam ordnen und der Staat, der in dieser Frage die Initiative ergreifen würde, würde sich dadurch zweifellos ein großes Verdienst und allgemeine Dankbarkeit erwerben.
Bemerkenswert ist jedenfalls, daß das Deutsche Reich mit mehreren Staaten besondere „Niederlassungsverträge“ hat zum Abschluß bringen können, die den Staatsangehörigen der Vertragsmächte in den beiderseitigen Staatsgebieten eine festgesicherte Rechtsstellung geben. Zuerst wurde mit der Schweiz (1890, erneuert und verbessert 1909) ein auf diesem Gedanken beruhender besonderer Niederlassungsvertrag abgeschlossen; ihm folgte 1906 ein analoger Vertrag mit den Niederlanden. Auch in vielen, besonders mit mittel- und südamerikanischen Staaten abgeschlossenen, Handelsverträgen finden sich Einzelbestimmungen dieser Art. Unzweifelhaft liegen in diesen Niederlassungsverträgen die hochbedeutsamen Anfänge einer allgemeinen internationalen Regelung des Fremdenrechtes, die vom allgemein kulturellen wie insbesondere vom wirtschaftlichen Gesichtspunkte aus als einer der größten Fortschritte der zivilisierten Menschheit betrachtet werden müßte.
Antisklavereiakte.
Einer besonderen Hervorhebung wert ist in diesem Zusammenhange noch das große Kulturwerk der Antisklavereiakte [148] vom 2. Juli 1890. Dem segensreichen Vorgehen Englands in dieser großen Menschheitsfrage seit Anfang des 19. Jahrhunderts folgend haben im Laufe des 19. Jahrhunderts alle zivilisierten Staaten, an ihrer Spitze die Großmächte, an der Bekämpfung der Sklavenjagden und des Sklavenhandels werktätigen Anteil genommen. Den heutigen Stand der Sache stellt die große Antisklavereiakte von 1890 dar, die für das Deutsche Reich ihre notwendige Ergänzung in den 1895 erlassenen Strafvorschriften über Sklavenraub und Sklavenhandel findet.
Mädchenhandel. Unsittliche Veröffentlichungen.
Allgemeinen Kulturinteressen der Menschheit dienen ferner die unter lebhafter Mitarbeit des Deutschen Reiches in Paris zustande gekommenen Staatsverträge (1904) über wirksame Bekämpfung des Mädchenhandels, sowie über die Verhinderung unsittlicher Veröffentlichungen (1910); kraft beider Abkommen wurden in allen Vertragsstaaten – mit wenigen Ausnahmen gehören sämtliche Staaten der Welt heute schon dem Verbande an, auch Rußland seit 1910 – besondere Behörden eingerichtet, die sich gegenseitig in dem Kampfe gegen Mädchenhandel und unsittliche Veröffentlichungen durch Vermittelung der erforderlichen Nachrichten zu unterstützen verpflichtet sind; kraft des ersten Abkommens verpflichteten sich die Staaten ferner, einen besonderen Überwachungsdienst auf Bahnhöfen, in Einschiffungshäfen und auf der Fahrt gegen verdächtige Personen einzurichten und von den Spuren „verbrecherischen Geschäftstreibens“ dieser Art sich gegenseitig Nachricht zu geben, auch die Opfer solchen verbrecherischen Treibens zu unterstützen und heimzubefördern; die Geschäfte, „die sich damit befassen, Frauen und Mädchen Stellen im Auslande zu vermitteln“, sollen „innerhalb der gesetzlichen Grenzen nach Möglichkeit“ überwacht werden.
Vogelschutz.
Gleichfalls allgemein menschlichen Interessen dient die vertragsmäßige Vereinbarung über den Vogelschutz von 1902, durch welche eine Anzahl von Staaten sich verpflichtet haben, die der Landwirtschaft nützlichen Vögel unter besonderen Schutz zu stellen „derart, daß es verboten sein soll, sie zu irgendeiner Zeit und auf irgendeine Art zu töten sowie ihre Nester, Eier und Brut zu zerstören“, insbesondere aber Veranstaltungen zum Massenfang oder der Massentötung solcher Vögel zu treffen. Dem Staatsvertrage ist ein hochinteressantes Verzeichnis sowohl der nützlichen als der schädlichen Vögel beigefügt. Die zur Durchführung dieser Vorschriften erforderliche Strafgesetzgebung hatte das Deutsche Reich bereits durch das Vogelschutzgesetz von 1888, neue Fassung von 1908, gegeben; für die Staaten, die eine solche Gesetzgebung noch nicht hatten, wurde im Staatsvertrag eine dreijährige Frist zu deren Erlaß bestimmt. Das deutsche Gesetz enthält ein generelles Verbot des Vogelfanges und gestattet nur bestimmte Ausnahmen für Vögel in Privateigentum, für die landesrechtlich als jagdbar anerkannten Vögel und für bestimmt aufgeführte schädliche Vögel. Von den Großmächten haben bis jetzt nur das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Frankreich, außerdem Belgien, Schweiz, [149] Spanien, Portugal, Schweden den Staatsvertrag angenommen; leider fehlen Italien, Rußland, England, Holland, Dänemark und die Balkanstaaten noch in diesem Werke.
Seuchenschutz.
Zum Schutze gegen Pest, Cholera und Gelbfieber war 1903 eine internationale Übereinkunft abgeschlossen worden, der die meisten Staaten beigetreten sind.
9. Auswanderung und Staatsangehörigkeit.
Auf das deutsche Staatsvolk als solches beziehen sich die Rechtsvorschriften über Staatsangehörigkeit und Auswanderung.
Die noch vor kurzer Zeit ziffernmäßig sehr bedeutende Auswanderung aus den Ländern des deutschen Reichsgebietes ist heute unbedeutend geworden; die Erwerbsmöglichkeiten innerhalb des Landes sind, mag auch fanatischer Parteihaß dies leugnen und bestreiten, heute so zahlreich und so gut, daß ein erheblicher Drang nach Auswanderung, um die Lebensverhältnisse zu verbessern, in Deutschland nicht mehr besteht. Wohl aber sind die großen deutschen Dampfergesellschaften die Vermittler der starken Auswanderung aus den osteuropäischen Ländern nach allen Richtungen des Erdkreises. Durch umfassende gesetzliche Vorschriften (1897) über das Gewerbe der Auswanderungsunternehmer und Agenten, Bau und Betrieb der Auswandererschiffe, sanitäts-, sitten- und verkehrspolizeiliche Überwachung der Auswanderungsplätze u. a. m. hat das Reich im Wohlfahrtsinteresse der Auswanderer seine Staatshoheit für diese Fragen in sehr energischer Weise betätigt.
Die Rechtssätze über die Grundlagen des deutschen Volkes, über Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, sind heute noch im wesentlichen die gleichen, die ihnen die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes 1870 gegeben hatte; ein neues Gesetz von 1913 hat an den Grundlagen des Rechtes der Staatsangehörigkeit nichts geändert. Die vielangefochtene Bestimmung über Verlust der Staatsangehörigkeit durch zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Auslande enthält das neue Gesetz nicht mehr, wohl aber sehr wichtige Vorschriften über Verlust der Staatsangehörigkeit bei Nichterfüllung der Wehrpflicht. Zu bedauern bleibt, daß auch in dem neuen Gesetze das Verhältnis zwischen Reichs- und Landesangehörigkeit nicht nach den richtigen Grundsätzen des Bundesstaates wie in den Vereinigten Staaten von Amerika geregelt sein wird.
Schon zur Zeit des Norddeutschen Bundes (1870) war die Fürsorge für verarmte Staatsangehörige einheitlich für den ganzen Bund geregelt worden; das Gesetz über den „Unterstützungswohnsitz“ war sodann zum Reichsgesetz erklärt worden, das nur für Bayern kraft der Versailler Verträge außer Geltung blieb. Das Gesetz erfuhr 1908 in wichtigen Punkten eine Abänderung, jedoch unter Festhaltung des 1870 eingerichteten Systems der öffentlichen Armenpflege durch die Gemeinden und wurde für Elsaß-Lothringen in Kraft gesetzt; über die Einwirkung von Armenunterstützung auf öffentliche Rechte erging 1909 ein Sondergesetz, das insbesondre die auf Grund der Reichsversicherungsgesetzgebung erfolgten Beihilfen von dem Begriff „Armenunterstützung“ ausschloß. Die wichtigste Veränderung durch das Gesetz von 1908 ist, [150] daß der Unterstützungswohnsitz schon durch einjährigen Aufenthalt nach zurückgelegtem 16. Lebensjahre erworben wird. Von weittragendster Bedeutung ist ferner, daß durch Gesetz von 1913 diese ganze Gesetzgebung auch für Bayern – zu einem vom Kaiser zu bestimmenden Zeitpunkte – eingeführt wurde.
10. Staat und Kirche.
Das Verhältnis von Staat und Kirche zu ordnen ist verfassungsmäßig Aufgabe der Einzelstaaten. Das Reich hat jedoch – schon als Norddeutscher Bund – den großen Grundsatz der Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Religionsbekenntnis gesetzlich festgelegt (1869). Ferner wurden die Beziehungen zum Jesuitenorden und den diesem Orden verwandten Orden und Kongregationen 1872 durch die Reichsgesetzgebung geregelt. Diese Regelung erfolgte durch folgende Sätze: 1. Verbot von Niederlassungen (Klöstern), 2. Verbot der Tätigkeit von Mitgliedern dieser Orden in Kirche und Schule, 3. Zulässigkeit der Anweisung oder Versagung des Aufenthaltes für bestimmte Orte. Die Reichsgesetzgebung im letzten dieser Punkte ist dem wiederholten Verlangen des Reichstages gemäß beseitigt (1904) und damit auch für deutsche Jesuiten das allgemeine Grundrecht der Freizügigkeit (Gesetz vom 1. November 1867) wiederhergestellt worden. Der erste Punkt – Verbot von Klöstern – besteht in vollem Umfange auch heute noch zu Recht. Im zweiten Punkte war in den verschiedenen deutschen Staaten eine, wie es scheint, nicht unerheblich verschiedene Praxis eingetreten, so daß ein bayrischer Erlaß vom März 1912 den Jesuiten eine ziemlich umfassende kirchliche Tätigkeit zu gestatten für zulässig hielt. Demgegenüber hat der Bundesrat mit Verordnung vom 28. November 1912 die den Jesuiten gestattete Tätigkeit erheblich enger begrenzt, nämlich durch das Verbot der Erteilung von Unterricht sowie „jeder priesterlichen oder sonstigen religiösen Tätigkeit gegenüber anderen“, ausgenommen nur stille Messen, Primizfeiern und die Spendung der Sterbesakramente; immerhin mit der regierungsseitig stark betonten Maßgabe, daß die Praxis in Beurteilung dieser Fragen keinen engherzigen Standpunkt einnehmen solle und werde.
Die Jesuitenfrage hat im Jahre 1912 die Geister in Deutschland lebhaft erregt und zu heftigen parlamentarischen Erörterungen geführt; der Reichstag hat wiederholt die Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes als eines „Ausnahmegesetzes“ verlangt. Jedenfalls wird die Frage zu neuen Kämpfen führen.
Ein Gesetz vom 4. Mai 1874, welches „wegen unbefugter Ausübung von Kirchenämtern“ Aberkennung der Staatsangehörigkeit und Ausweisung zuließ, ist in seinem ganzen Umfang aufgehoben worden durch Gesetz vom 6. Mai 1890.
11. Die Reichsbeamten.
Die Verhältnisse des zahlreichen Beamtenkörpers, dessen das Reich zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf, sind geordnet durch das große Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873 (neue Fassung von 1907). Diese Gesetzgebung hat sich vollkommen bewährt und war nur in einer Reihe von Einzelpunkten auszugestalten. Die Fragen, die einer gesetzlichen Erledigung noch bedurften, waren wesentlich materieller Natur und bezogen sich vorzüglich auf die [151] Erfüllung der Staatspflicht, die es den Beamten ermöglichen mußte, ihre Lebensverhältnisse in Einklang zu halten mit dem in kurzer Zeit so gewaltig gesteigerten Erwerbsleben der Nation und den dadurch bedingten Veränderungen des Geldwertes. In umfassender Weise ist diese Fürsorge erfolgt durch feste Ordnung der Besoldungsverhältnisse, der Ruhegehälter und der Bezüge von Witwen und Waisen (Besoldungsgesetz 1909, Hinterbliebenengesetz 1907). Die früher erhobenen Kautionen von Beamten, denen eine besondere Geldverwaltung oblag, wurden beseitigt und zurückbezahlt (1898). Durch eine besondere Gesetzgebung erfolgte 1910 die Übernahme der Haftung für materiellen Schaden infolge von Amtshandlungen der Beamten (BGB. § 839) auf das Reich, dem der Anspruch auf Schadensersatz gegen den schuldigen Beamten zusteht. Zahlreiche Einzelfragen des Beamtenrechtes erfuhren ihre zweckentsprechende Erledigung, sei es auf gesetzlichem Wege, sei es durch Verordnungen des Bundesrates.
2. Heer und Flotte
1. Grundlagen der militärischen Organisation.
Die großen Fragen des Heerwesens und der Flotte werden in besonderen Abhandlungen eingehende Erörterung finden. Nur die durch Verfassung und Gesetz festgelegten Grundlagen der militärischen und maritimen Organisation des Deutschen Reiches seien hier berührt. Die Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres, die verfassungsgemäß (RV. Art. 61) durch Gesetz zu bestimmen ist, umfaßt seit 1893 den Zeitraum von 5 Jahren; die letzte Feststellung erfolgte durch Gesetz im Jahre 1911, dessen Ziffer aber bereits 1912 erhöht wurde. Eine Neugestaltung dieser großen Lebensfrage der Nation im Sinne des Grundsatzes: Jeder Deutsche ist wehrpflichtig – RV. Art. 57 – hat uns endlich das große Erinnerungsjahr 1913 gebracht, das die Friedenspräsenzziffer auf 661 478 Mann (Gemeine und Gefreite) erhöhte. Den Grundsätzen des kirchlichen Rechtes, nach denen Kleriker, die die höheren Weihen empfangen haben, nicht mit der Waffe dienen dürfen, ist in weitgehendem Entgegenkommen reichsgesetzlich (1890) Rechnung getragen worden. – Die Pflicht der Unterstützung der Familien von Reservisten und Landwehrleuten, die zu militärischen Übungen einberufen sind, wurde reichsgesetzlich 1892 grundsätzlich anerkannt. – Die gesetzlichen Verpflichtungen für Natural-, Quartier- und anderweitige Leistungen in Friedens- und Kriegszeiten, wie sie bereits durch die frühere Gesetzgebung festgelegt waren (neue Fassung des Gesetzes über die Naturalleistungen im Frieden von 1898), wurden nach verschiedenen Richtungen weiter ausgestaltet; in besonders sorgfältiger Weise wurde durch unablässige Überwachung und entsprechende Anordnungen die durch die RV. Art. 47 ausgesprochene Rechtspflicht der Eisenbahnen für den Dienst des Heeres in Krieg und Frieden geregelt, und das Vorhandensein aller hierfür erforderlichen Einrichtungen überwacht. Der Umstand, daß der weitaus größte Teil des deutschen Eisenbahnnetzes unter Staatsverwaltung steht, was in Frankreich und England nicht der Fall ist, bietet nach dieser Richtung eine gar nicht hoch genug anzuschlagende Garantie für die erforderlichen militärischen Maßnahmen [152] und insbesondre ist hierdurch auch die Herstellung der erforderlichen Eisenbahnlinien für die Verteidigung der Grenzen und den Aufmarsch des Heeres gesichert.
Parallel der Besoldungsgesetzgebung für die Beamten ist auch für das Heer eine umfassende neue gesetzliche Ordnung des Besoldungs- und Pensionswesens, einschließlich des sog. Servistarifes erfolgt (Pensionsgesetze von 1906, das Gesetz über Versorgung der Kriegsinvaliden von 1911 u. a. m.).
2. Militärstrafgerichtsordnung.
Eine vollständige Neuordnung erfuhr im Jahre 1898 die Militärstrafgerichtsordnung unter Beseitigung der veralteten Gesetzgebung von 1845. Die vielfach befürchteten Gefahren einer Gefährdung der Disziplin durch diese Neuregelung der Militärstrafgerichtsbarkeit nach den modernen Grundsätzen der Öffentlichkeit und Mündlichkeit haben sich nicht bewahrheitet; das neue System der Militärstrafgerichtsbarkeit darf als bewährt bezeichnet werden. Die große Streitfrage bei Erlaß des Gesetzes, ob für Bayern kraft Reservatrechtes ein eigener oberster Gerichtshof zu errichten sei, wurde durch gegenseitiges Entgegenkommen dahin geordnet, daß ein besonderer bayrischer und vom König von Bayern zu besetzender Senat des Reichsmilitärgerichtes in Berlin (Sondergesetz von 1899) errichtet wurde.
3. Rechtliche Probleme der Luftschiffahrt.
Große und schwere neue Probleme militärischer und rechtlicher Art hat die Entwickelung der Luftschiffahrt gestellt. Die Lösung der rechtlichen Probleme dieses neuen Verkehrsmittels, das die größte technische Erfindung der Neuzeit darstellt, steht noch in den ersten Anfängen und wird nach vielen Richtungen kaum anders als in internationalen Rechtsformen erfolgen können. Als Grundlage des Luftschiffahrtsrechtes wird deutscherseits jedenfalls der Satz festgehalten werden müssen – entgegen der anfänglich besonders von französischer Seite vertretenen Rechtsanschauung, die Luft sei wie das Meer res communis omnium –, daß der Luftraum über dem Staatsgebiet als integrierender Bestandteil des Staatsgebietes zu gelten hat. Die Gesetzgebung des Reiches hat sich bis jetzt mit der Luftschiffahrt nur insoweit befaßt, als die Rechtspflicht des Reiches anerkannt wurde (1912), verunglückten militärischen Luftfahrern bzw. deren Hinterbliebenen Hilfe und Entschädigung zu gewähren (Luftdienstzulage).
4. Kriegsflotte.
Hinsichtlich der Kriegsflotte sei an dieser Stelle nur bemerkt, daß alsbald nach der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. im Jahre 1889 die bis dahin bestandene Verbindung von Kommandogewalt und Marineverwaltung im Reichsmarineamt (Kaiserliche Admiralität) aufgehoben und das Reichsmarineamt ausschließlich als oberste Verwaltungsbehörde der Kriegsmarine eingerichtet wurde, indes alle Angelegenheiten der Kommandogewalt, insbesondre die Stellenbesetzung, nur dem obersten Kriegsherrn vorbehalten blieben und hierfür eine besondere Arbeitsstelle in dem Marinekabinett des Kaisers geschaffen wurde. Der dermalige Stand der deutschen Kriegsflotte ergibt sich aus der Gesetzgebung von 1912, welche eine Zeitklausel, [153] analog derjenigen für das Landheer, nicht hat. Die große Entwickelung der deutschen Marine seit 1888, die dem deutschen Volk zum ersten Male in seiner Geschichte eine seinen Seeinteressen entsprechende Flotte schuf, ist an anderer Stelle darzulegen.
5. Genfer Konvention.
Die im Jahre 1864 abgeschlossene Genfer Konvention zum Schutze der Verwundeten und Kranken im Kriege hatte sich in mehreren Punkten als dringend revisionsbedürftig erwiesen. Zur Erledigung dieser Aufgabe berief die Schweiz im Jahre 1906 eine internationale Konferenz nach Genf, die in eingehenden und wertvollen Verhandlungen einen vollkommen neuen Staatsvertrag ausarbeitete, der allgemeine Annahme seitens der vertretenen Staaten fand. Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und von 1907 arbeiteten sodann einen analogen Staatsvertrag für den Seekrieg aus. Über den Gebrauch des durch diese Staatsverträge anerkannten Schutzzeichens des roten Kreuzes im weißen Felde sind von Reichs wegen bereits 1903 feste Grundsätze aufgestellt, nachdem schon 1902 ein Strafgesetz gegen den Mißbrauch dieses Schutzzeichens erlassen worden war. Ein internationales Abkommen über Abgabenfreiheit der Lazarettschiffe in Kriegszeiten war bereits 1904 zustande gekommen.
6. Haager Abkommen.
Auf den beiden Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 wurde ferner ein großes internationales Abkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges zustande gebracht, an dessen Feststellung das Deutsche Reich durch hervorragende Offiziere (von Schwarzhoff 1899, von Gündell 1907) ausgezeichneten Anteil nahm; die umfassende Kriegsrechtskodifikation von 1899 wurde auf der zweiten Friedenskonferenz 1907 in einigen Punkten abgeändert, der Gesamttext in neuer Fassung festgestellt, deutscherseits ratifiziert und steht in dieser Fassung heute in Kraft. Durch einige besondere Abkommen fand dann weiterhin auf der zweiten Friedenskonferenz noch eine Ergänzung des großen Abkommens statt; insbesondre wurden durch ein solches Abkommen die Rechte und Pflichten der neutralen Staaten in Kriegszeiten festgestellt. – Ferner beschäftigte sich die zweite Friedenskonferenz in sehr eingehender Weise mit den zahlreichen ungelösten Streitfragen des Seekriegsrechtes. Einige dieser Fragen wurden durch Sonderabkommen, die deutscherseits ratifiziert wurden und in Kraft traten, geregelt. Die wichtigste und schwierigste dieser Fragen aber, deren Behandlung auf der Konferenz zugleich von Deutschland und England angeregt worden war, die Frage eines internationalen obersten Prisengerichtes, führte zwar zur Feststellung eines hochinteressanten Entwurfes, der aber bis heute die Ratifikation und Durchführung nicht hat finden können. Der Hauptgrund, warum dieses hochbedeutsame Werk bis jetzt keinen Abschluß finden konnte, war der Mangel anerkannter internationaler Rechtsnormen, nach welchen die Rechtsprechung des internationalen Prisenhofes zu erfolgen hätte. Diesem Mangel abzuhelfen, trat im Dezember 1908 eine internationale Konferenz in London, bestehend aus Vertretern der Großmächte sowie von Spanien und Holland, zusammen, die den Entwurf einer „Deklaration“ des materiellen Seekriegsrechtes feststellte [154] und darin besonders die wichtigen Streitfragen des Rechtes der Konterbande und der Blockade regelte. Allein auch diese Deklaration konnte bis jetzt die Ratifikation von keiner Seite erhalten und demgemäß hat das Seekriegsrecht bis jetzt nur in wenigen Einzelpunkten eine internationalrechtliche Ordnung gefunden. An den einschlägigen Arbeiten hat das Deutsche Reich einen hervorragenden Anteil genommen.
3. Das Finanzwesen des Reiches
Grundlagen.
Das Finanzwesen des Reiches sollte nach der Reichsverfassung auf dem Grundgedanken beruhen, daß die Bedürfnisse des Reiches aufzubringen seien 1. durch die Erträge einiger vom Reiche übernommenen Verwaltungszweige; außer einigen Arten von Gebühren kamen hier besonders in Betracht die Post- und Telegraphengefälle sowie die Erträge der „Reichseisenbahnen“. Dazu kommen 2. die Zölle und die sog. indirekten Steuern (Bier, Branntwein, Rübenzucker, Salz, Tabak, Schaumwein), ferner 3. einige sog. Stempelsteuern (Wechsel, Spielkarten, Börse), 4. weiter die vom Reich geordnete Erbschaftssteuer (seit 1906), von deren Ertrag dem Reich ¾, seit 1913 4/5 zugewiesen wurde, 5. die seit 1909 eingeführten Steuern auf Leuchtmittel und Zündwaren. Reichten die eigenen Finanzquellen nicht aus, so sollten 6. „Matrikularbeiträge“ erhoben werden, eine einfache Kopfsteuer, die die Einzelstaaten ans Reich zu zahlen hatten.
Weitere Entwicklung.
Die Entwickelung des Reichsfinanzsystemes erfolgte in vier großen Evolutionen, 1879, 1887, 1909, 1913. Die große, in erster Linie von wirtschaftlichen Notwendigkeiten beherrschte Umgestaltung des deutschen Zollsystems im Jahre 1879 ergab, nebst der Neugestaltung der Tabaksteuer, eine so bedeutende Erhöhung der eigenen Reichseinnahmen, daß ein völliger Wegfall der Matrikularbeiträge hätte in Aussicht genommen werden können, wäre nicht aus politischen Gründen (Frankensteinsche Klausel) eine höchst künstliche dauernde Festlegung der Matrikularbeiträge erfolgt, die zu einer verwirrten Verrechnung zwischen Reich und Einzelstaaten und damit zu einer allgemeinen Verwirrung des Reichshaushaltes führen mußte. Immerhin war volkswirtschaftlich und staatsrechtlich durch die Gesetzgebung von 1879 ein großer Erfolg erzielt.
Als die wachsenden Bedürfnisse des Reiches zur Erschließung neuer Finanzquellen nötigten, erfolgte diese 1887 durch eine große Reform der Branntweinsteuer (Miquel), deren Ergebnis so bedeutend war, daß – trotz der leider auch jetzt festgehaltenen verwirrten Rechnung mit Überweisungen und Matrikularbeiträgen – in Wirklichkeit für eine Reihe von Jahren die Matrikularbeiträge nicht mehr existierten, sondern nur noch als künstliche Fiktion durch Aufrechnung von sog. „Überweisungen“ und Matrikularbeiträgen fortgeschleppt wurden. Leider wurde diese Fiktion verhängnisvoll.
Der zunehmenden gewaltigen Steigerung der Bedürfnisse des Reiches konnte dieses Finanzsystem bald nicht mehr genügen. Seit Mitte der 90er Jahre gerieten die Finanzen des Reiches in eine vollständige innere und äußere Verwirrung. Die eigenen Finanzquellen [155] des Reiches waren für Deckung der Bedürfnisse nicht mehr zureichend, die erforderliche Ergänzung mußte somit durch Matrikularbeiträge erfolgen, wie es die Verfassung vorschrieb. Die Einzelstaaten aber widersprachen einer Erhöhung der Matrikularbeiträge, die auch die Landesfinanzen gänzlich zu verwirren drohte. So entstand eine Anleihewirtschaft, die aller gesunden Finanzpolitik Hohn sprach, indem Jahr für Jahr zur Deckung laufender Bedürfnisse Anleihen aufgenommen wurden. Vergeblich suchte die Gesetzgebung von 1904 und 1906 eine Änderung dieses ungesunden Zustandes herbeizuführen.
Sein Ende fand dieser traurige Zustand erst, als die Finanznot aufs höchste gestiegen war, mit der großen Finanzreform von 1909, durch welche die größeren indirekten Steuern einen weiteren Ausbau erfuhren, überdies die Bewegung des mobilen und immobilen Kapitales in erheblichem Umfang zur Deckung der Finanzbedürfnisse des Reiches herangezogen, endlich zur Ergänzung eine Reihe von kleineren Steuern (siehe oben) dem Systeme angefügt wurde. Damit war der großen Finanznot des Reiches ein Ende bereitet und das Reich finanziell auf eigene Füße gestellt. Eine endgültige und grundsätzlich richtige Regelung des Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten war aber auch damit nicht gewonnen: diese konnte nur darin bestehen, daß die Matrikularbeiträge vollkommen beseitigt würden; der Hauptgrund für ihre Beibehaltung im Jahre 1879, die Stärkung des föderativen Systems, kann heute keine Bedeutung mehr beanspruchen, da das Staatsleben des deutschen Bundesstaates in seinen Grundlagen vollkommen sicher festgestellt ist. Daß überhaupt noch weiter einerseits „Überweisungen“ vom Reich an die Einzelstaaten erfolgen, andrerseits die Einzelstaaten Matrikularbeiträge an das Reich abführen, ist bei der heutigen Entwickelung weder allgemein staatsrechtlich noch finanzrechtlich zu rechtfertigen. Die Weiterführung der Reform von 1909 durch die Gesetzgebung von 1913 wird die Möglichkeit geben, die Matrikularbeiträge ganz zu beseitigen und damit ein gesichertes eigenes Finanzsystem des Reiches zu schaffen.
Wertzuwachssteuer.
Über die sog. Zuwachssteuer – Wertzuwachs eines Grundstückes, der ohne Zutun des Eigentümers entstanden ist – hatte das Reich 1911 ein umfassendes Sondergesetz erlassen; die Steuer beträgt 10–30 vom Hundert des Wertzuwachses; der Reichsanteil an dieser Steuer wurde 1913 wiederaufgehoben.
Besitzsteuer.
Durch die Gesetzgebung von 1913 wurde dem System des Reichsfinanzrechtes nach schweren parlamentarischen Kämpfen eine „Besitzsteuer“ vom Vermögenszuwachs als hauptsächlichste Deckung für die neuen großen Militärausgaben eingefügt. Auch das Reichsstempelgesetz von 1909 erfuhr 1913 eine erhebliche Verschärfung.
Schuldenwesen.
Das Schuldenwesen des Reiches war vom Anfang an nach dem Vorbild der preußischen Gesetzgebung, die sich voll bewährt hatte, geordnet worden. Dabei ist es auch bis heute geblieben.
[156] Auf dieser Grundlage beruhen die allgemeinen Vorschriften der Reichsschulden-Ordnung von 1900. Eine äußere Ergänzung fand die Gesetzgebung über das Schuldenwesen durch die, gleichfalls nach preußischem Muster, erfolgte Einführung eines Reichschuldbuches (Gesetz von 1891, neuer Text 1910).
Reichsbesteuerungsgesetz.
Die lebhaft umstrittene Frage, inwieweit das Reich verpflichtet sei, in den Einzelstaaten Staats- oder Gemeindesteuern zu entrichten, fand ihre Regelung 1911 durch das sog. „Reichsbesteuerungsgesetz“, das für Gerichtsgebühren und Staatssteuern jeder Art dem Reiche volle Freiheit gewährte, dagegen eine Heranziehung des Reiches zu Realsteuern und indirekten Steuern der Gemeinden in demselben Umfang gestattete, in dem die Einzelstaaten solchen unterworfen sind.
Rechnungshof.
Behufs Durchführung der Rechnungskontrolle über die Ausführung des Reichshaushaltsgesetzes gemäß RV. Art. 72 wurde für die Zeit von 1909–1914 durch Reichsgesetz (1910) die preußische Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Deutschen Reiches im Anschluß an das seit 1868 gesetzlich eingerichtete Verfahren neuerdings mit Vollmacht ausgestattet („Reichskontrollgesetz“).
Baarbestand.
Durch die Gesetzgebung von 1913 wurden für Fälle „außerordentlichen Bedarfes“ besondere Bestände von Gold- und Silbermünzen im Betrage von je 120 Millionen Mark gebildet und bei der Reichsbank zur Verwaltung niedergelegt; ihre Verwendung kann nur unter Zustimmung des Bundesrates erfolgen, bei dem Silberbestand überdies unter Mitentscheidung des Reichstages; die Verwaltung führt der Reichskanzler unter Aufsicht der Reichsschuldenkommission.
Wehrbeitrag.
Durch die Gesetzgebung von 1913 wurde ferner ein einmaliger „Wehrbeitrag“ zur Deckung der Kosten der Heeresvermehrung von rund einer Milliarde Mark angeordnet, zu erheben teils vom Vermögen, teils von höheren Einnahmen (über 10 000 Mark). Ohne erhebliche Schwierigkeit wurde diese ungeheure finanzielle Maßregel Gesetz.
4. Die Rechtspflege
Die die Rechtspflege betreffende Gesetzgebung ist wohl innerlich wie äußerlich das großartigste Stück der Reichsgesetzgebung im letzten Vierteljahrhundert.
Durch die großen Reichsjustizgesetze waren bereits 1879 die Einrichtungen der Rechtspflege im Deutschen Reiche einheitlich gestaltet worden. Zwar ist die Rechtspflege nach dem System dieser Gesetzgebung Sache der Einzelstaaten, jedoch mit der Maßgabe, daß die gesamte Gerichtsverfassung sowie das gerichtliche Verfahren vom Reiche geordnet sind, daß ferner auch das materielle Recht grundsätzlich vom Reiche gegeben, und daß als oberste Instanz der Rechtspflege ein Reichsorgan, das Reichsgericht [157] in Leipzig, eingesetzt wurde. Diese großartige Gestaltung war bereits durch die ältere Gesetzgebung durchgeführt worden. Vom materiellen Rechte gehört schon dieser älteren Periode an das Strafgesetzbuch (1872), sowie eine größere Anzahl von Einzelgesetzen. Dazu trat nun seit 1. Januar 1900 das gewaltige Werk des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, das in der Rechtsgeschichte aller Zeiten seinen Platz neben den analogen großen Gesetzbüchern des Allgemeinen Landrechtes, des Code Civil, des Österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuches einnehmen und behaupten wird. In einer besonderen Abhandlung ist diese großartige Entwicklung eines einheitlichen bürgerlichen Rechtes für das gesamte deutsche Volk selbständig zu würdigen. An dieser Stelle muß es genügen, den Abschluß dieses Werkes nach einer ungeheuren Vorarbeit von Jahrzehnten hervorgehoben zu haben und hinzuzufügen, daß eine Reihe von Einzelgesetzen den gewaltigen Bau des einheitlichen deutschen Rechtes noch weiter ausführten, so die Grundbuchordnung (1897), das Gesetz über die sog. freiwillige Gerichtsbarkeit, ein Gesetz über Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung (1897), ein strenges Wuchergesetz, ein Gesetz über unlauteren Wettbewerb (1896), das Scheckgesetz (1908), das Gesetz über Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft (1904), das Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen (1901) und andere Gesetze mehr.
Eine weitausgreifende Arbeit internationalen Charakters schloß sich auch an diese deutsche Gesetzgebung an, indem die wichtigsten Punkte des Familienrechtes – Eheschließung, Ehescheidung, Vormundschaft, weiterhin auch noch die Wirkungen der Ehe auf die persönlichen Rechte und Pflichten der Ehegatten sowie deren Vermögen, endlich die Entmündigung und gleichartige Fürsorgemaßregeln – durch umfassende Staatsverträge mit den wichtigsten Kulturstaaten des europäischen Kontinents zwar nicht einheitlich geordnet, aber doch unter grundsätzlichen und weitreichenden gegenseitigen Rechtsschutz gestellt wurden. Eine umfassende Reform des ganzen Strafgesetzbuches befindet sich zurzeit im Stadium der Ausarbeitung durch eine vom Reichstag eingesetzte Kommission von Gelehrten und Parlamentariern. Vgl. die besonderen Abhandlungen über diese Fragen.
5. Das Verkehrswesen
1. Die Eisenbahnen.
Die Gedanken des Abschnitts VII der Reichsverfassung, die für das Eisenbahnwesen die gleiche grundsätzliche Gestaltung wie für das Post- und Telegraphenwesen zwar nicht vorgeschrieben, aber ihrem Gesamtzusammenhange nach in Aussicht genommen hatten, hatten gegenüber dem Widerspruch der Mittelstaaten und auch des Reichstages nicht durchgeführt werden können. Eine Reichseisenbahnverwaltung besteht nur für Elsaß-Lothringen; im übrigen ist das Eisenbahnwesen Sache der Einzelstaaten verblieben, soweit die Verwaltung in Betracht kommt. Der dadurch bedingte überflüssige Aufwand von Zeit, Kraft und Geld wird für absehbare Zeit nicht abgestellt werden können. Mit kleinen Mitteln, so besonders der vielerörterten Güterwagengemeinschaft, hat man hier auf dem Vertragswege einige Abhilfe zu gewinnen sich bestrebt. Die elsaß-lothringische Reichseisenbahnverwaltung [158] wird in Verbindung mit der preußischen geführt, der sich freiwillig auf dem Vertragswege auch Hessen angeschlossen hat.
Dagegen hat der Bundesrat für die wichtigsten Punkte des Eisenbahnbetriebes eine bedeutende rechtsschöpferische Tätigkeit entfaltet, die in segensreichster Weise eine deutsche Eisenbahneinheit, von der sich auch Bayern nicht ausgeschlossen hat, für die Hauptmasse des Betriebes hergestellt hat. Der Bundesrat hat von Anbeginn diese Materien auf dem Verordnungswege unter Berufung auf Verfassungsvorschriften geregelt trotz der großen Schwierigkeiten, die ihm die von der staatsrechtlichen Wissenschaft aufgestellte Theorie der „Rechtsverordnungen“ bereitet hat. So steht der große Komplex von eisenbahnrechtlichen Verordnungen des Bundesrates, insbesondre die große, wiederholt verbesserte, Eisenbahnverkehrsordnung (die geltende seit 1. April 1909), dann die Signalordnung von 1907, Bau- und Betriebsordnung von 1904, heute in Geltung.
Auch auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens hat bereits eine erhebliche internationale Tätigkeit eingesetzt. Kraft besonderer Abmachungen der Verwaltungen erfolgt ein Austausch der Betriebsmittel (Personen- und Güterwagen) und eine Abrechnung der Fahrpreise unter fast allen Staaten des europäischen Kontinentes. Außerdem wurde schon 1890 unter den europäischen Kontinentalstaaten ein großer internationaler Frachtvertrag abgeschlossen, der die Grundlagen des Eisenbahnfrachtrechtes in weitem Umfange international regelt nach dem Vorbilde des Weltpostvereins. Auch über die Spurweite der Eisenbahnen ist unter fast allen Staaten des europäischen Kontinentes eine einheitliche Regelung erzielt worden.
Siehe im übrigen das besondere Kapitel dieses Werkes über Eisenbahnwesen.
2. Kraftfahrzeuge.
Für das neueste Verkehrsmittel auf dem Erdboden, die Kraftfahrzeuge, wurde ein Reichsgesetz (1909) erlassen und eine umfassende internationale Abmachung (1909) getroffen; das Gesetz enthält Verkehrs-, Haftpflicht- und Strafvorschriften. Eine vollständige und dauernde Ordnung des Verkehrs mit Kraftfahrzeugen samt der hierfür erforderlichen internationalen Verkehrsordnung wird auf Grund der gemachten Erfahrungen schwerlich mehr lange auf sich warten lassen.
3. Postwesen.
Das Gebiet des Postwesens hat im letzten Vierteljahrhundert keine Neuerungen grundsätzlicher Art zu verzeichnen. Das ausgezeichnete Werk des ersten Generalpostmeisters Stephan besteht in voller Kraft unverändert weiter; nur in Einzelheiten waren hier Änderungen erforderlich. Auch das gewaltige, von Stephan 1874 begründete Werk des Weltpostvereins hat sich auf den damals gelegten Grundlagen in kraftvoller Weise weiterentwickelt (neueste Fassung mit 5 Zusatzverträgen von 1906). Daß die Post nicht handelsrechtlicher „Kaufmann“ ist, wurde 1897 gesetzlich ausgesprochen; aber auch die einzelnen Akte der Postverwaltung sind nicht Verträge im Sinne des Privatrechtes, sondern Akte der Staatsverwaltung. Die privaten Stadtpostanstalten wurden 1899 gegen Entschädigung aufgehoben und für die Zukunft verboten.
[159]
4. Telegraphenwesen und Fernsprecher.
Eine sehr erhebliche Neugestaltung hat in den letzten zwei Jahrzehnten das Telegraphenwesen erfahren. Schon bei Aufrichtung des Norddeutschen Bundes war das Telegraphenwesen in seinem damaligen Stande auf den Gesamtstaat übernommen worden, in organisatorischer Verbindung mit dem Postwesen. Dabei ist es bis heute geblieben. Eine gesetzliche Regelung wie das Postwesen fand das Telegraphenwesen zunächst nicht; doch wurde von Anbeginn auf dem Verwaltungswege das Telegraphenmonopol des Reiches mit Erfolg durchgesetzt. Erst im Jahre 1892 erfolgte dann die gesetzliche Regelung des Telegraphenwesens in engem Anschluß an die grundsätzliche Regelung des Postwesens; diesem ersten Telegraphengesetz folgte 1899 das sog. Telegraphenwegegesetz, durch welches eine Reihe von Fragen über Benutzung von Verkehrswegen und von privaten Grundstücken für die Anlage der staatlichen Telegraphen grundsätzlich ihre Erledigung fand. Das Telegraphenwesen hatte inzwischen eine großartige, nicht nur das Verkehrsleben, sondern auch das Privatleben der Menschheit wesentlich verändernde Fortbildung erfahren durch die Einrichtung des Fernsprechers (Telephon), der zunächst der persönlichen Nachrichtenvermittelung an Orten mit Telegraphenstationen diente, bald aber auch ausgedehnt werden konnte auf die Verbindung von Ort zu Ort und heute bereits weite Entfernungen verbindet, ohne in seiner technischen Entwickelung abgeschlossen zu sein.
Auch das Fernsprechwesen wurde wie das Fernschreibwesen sofort unter das Prinzip des Staatsmonopols mit gesetzlicher Regelung der Gebühren (1899) gestellt; beide beruhen auf der elektrischen Verbindung durch Draht. Eine gesetzliche Ordnung hat das in wenigen Jahren hochentwickelte Fernsprechwesen bis jetzt nicht gefunden.
Unterseeische Kabel.
Gleichfalls eine Entwickelung der Telegraphie durch Draht bilden die unterseeischen Kabel, die in großartiger Weise eine unmittelbare elektrische Verbindung durch das Meer hindurch mit überseeischen Ländern hergestellt haben. Ihre rechtliche Regelung muß der Natur der Sache nach in erster Linie auf internationalem Wege durchgeführt werden. Demgemäß erfolgte 1884 der Abschluß eines großen Staatsvertrages über den Schutz der unterseeischen Telegraphenkabel, auf dessen Grundlage dann die Schutz- und Strafvorschriften der einzelnen Staaten, so auch des Deutschen Reiches (1888) ergingen.
Funkspruch.
Zu diesen Einrichtungen der unmittelbaren Fernverbindung vermittelst des elektrischen Drahtes ist nunmehr die großartige Erfindung der Fernverbindung ohne Draht, durch Funkspruch, getreten. Schon 1906 konnte hierüber unter tätigster Anteilnahme des Deutschen Reiches ein großer Staatsvertrag unter 27 Kulturstaaten, an der Spitze die sämtlichen acht Großmächte, in Berlin vereinbart werden. 1912 fand dieser Vertrag eine umfassende Neugestaltung. Auf dieser Grundlage hat das Reich 1908 durch Gesetz auch die Funkentelegraphie als Staatsmonopol erklärt. Auch für den Betrieb der Funkentelegraphie auf fremden [160] Schiffen in deutschen Staatsgewässern sind auf dieser Grundlage bereits Anordnungen erlassen worden. In besonderer Darstellung ist diese großartige Entwickelung zu behandeln.
5. Münzwesen.
Das deutsche Münzwesen hat im letzten Vierteljahrhundert erhebliche Veränderungen nicht erfahren. Das auf der Gesetzgebung von 1873 beruhende System ist unverändert geblieben; formell ist allerdings an Stelle der alten Gesetzgebung 1909 ein neues Gesetz getreten. Nur in bezug auf Einzelheiten der Münzstücke (Beseitigung der 5-Markstücke aus Gold, der 20-Pfennigstücke überhaupt) erfolgten minder wichtige Veränderungen. Die durch das Münzgesetz von 1873 vorläufig unberührt gebliebene Münzkategorie des Talers ist nach langen parlamentarischen Kämpfen als Dreimarkstück unter die Scheidemünzen unseres Goldsystems aufgenommen worden. Das seit 1874 reichsgesetzlich zugelassene Aushilfsmittel des Geldverkehrs, die Reichskassenscheine, wurde beibehalten, nur seit 1906 dahin verändert, daß die Kassenscheine statt auf 20 Mark und 50 Mark auf 10 Mark und 5 Mark lauten. Für den durch die Gesetzgebung von 1913 geschaffenen Goldbestand von 120 Millionen Mark wurden abermals Reichskassenscheine im gleichen Betrag zu 5 und 10 Mark ausgegeben.
Eine große grundsätzliche, im Verkehr selbst allerdings kaum bemerkte Veränderung hat das Reichsgeldsystem dadurch erfahren, daß seit 1909 den Reichsbanknoten (nicht aber den Noten der übrigen noch bestehenden Notenbanken) in unbegrenzter Weise der Charakter als Geld, d. i. als gesetzliches Zahlungsmittel, wie den Goldmünzen eingeräumt wurde. Die gewaltige Entwickelung unserer Volkswirtschaft nötigte zu dieser, sowie anderen (besonders das Scheckgesetz) Maßregeln, da der enorme Geldverkehr unserer heutigen Volkswirtschaft in den engen (Gold-) Grenzen des deutschen Münzsystems nicht mehr abgewickelt werden konnte.
6. Maß- und Gewichtswesen.
Das deutsche Maß- und Gewichtssystem, das auf der Grundlage der internationalen Meterkonvention (zustande gebracht erst 1875) schon durch die Maß- und Gewichtsordnung von 1868 einheitlich für das ganze, im Reich zusammengefaßte deutsche Volk eingerichtet worden war, erfuhr gleichfalls eine grundsätzliche Veränderung nicht. Das Gesetz selbst bedurfte allerdings aus Gründen einer besseren Organisation dieses Verwaltungszweiges einer neuen Fassung (1908), durch welche die Ausführung der gesetzlichen Maßregeln (Eichung, Stempelung) besonderen Staatsbehörden, getrennt von der Kommunalverwaltung, übertragen wurde. Eine neue Eichordnung wurde 1911 erlassen. Am 1. April 1912 ist die neue Gesetzgebung in Kraft getreten, Über die elektrischen Maßeinheiten war 1898 ein Sondergesetz ergangen. Ebenso gilt eine besondere Schiffsvermessungsordnung.
7. Bankwesen.
Auch die gesetzlichen Grundlagen des deutschen Bankwesens haben eine grundsätzliche Veränderung seit ihrer ersten Feststellung im Jahre 1875 nicht erfahren. Die Reichsverfassung überträgt die Ordnung der „allgemeinen Bestimmungen“ über das Bankwesen dem Reiche. Das Reich hat derartige Bestimmungen für das gesamte Bankwesen zu erlassen bis jetzt keinen Anlaß genommen; ein Sondergesetz [161] von 1896 regelt die Pflichten der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere. Demgemäß steht das Bankwesen an sich unter den allgemeinen Regeln der Gewerbefreiheit und des bürgerlichen bzw. Handels- und Wechselrechtes. Nur zwei Kategorien von Banken wurden von Reichs wegen unter Sondervorschriften staatlicher Aufsicht gestellt, die sog. Notenbanken und die Hypothekenbanken.
Notenbanken.
Die Vorschriften über die Notenbanken finden sich in dem Bankgesetze von 1875 und stehen in innerem Zusammenhange mit der Errichtung der Reichsbank als eines vom Reiche geschaffenen und vom Reiche geleiteten Zentralinstitutes für die wichtigsten Zweige des Bankgeschäftes und insbesondre für die Ausgabe von Banknoten als anerkannten Geldwertzeichen. Durch das Gesetz wurden die Notenbanken unter strenge Staatsaufsicht bezüglich ihres Betriebes, Reservefonds, Bardeckung der Noten u. a. m. gestellt. Die Folge des Gesetzes von 1875 war, daß von den bestehenden 32 Notenbanken sofort 16, weiterhin noch 12 auf das Recht der Notenausgabe verzichteten, so daß heute nur mehr die Bayrische Notenbank, die Württembergische, die Badische und die Darmstädter Bank das Recht der Notenausgabe neben der Reichsbank haben; damit ist im wesentlichen eine Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Notenausgabe in der Reichsbank erzielt, auf Grund deren nunmehr der vorläufig letzte Schritt in dieser Entwickelung, die Ausstattung der Reichsbanknoten mit Geldcharakter, erfolgen konnte. In Zusammenhang mit dieser Maßregel steht es, daß Banknoten, die ursprünglich nur für höhere Beträge (von 100 Mark ab) ausgegeben werden durften, nunmehr auch in kleineren Beträgen (50 und 20 Mark) zugelassen wurden. Das zur Herstellung von Reichsbanknoten verwendete Papier genießt besonderen strafrechtlichen Schutz (1911).
Hypothekenbanken.
Eine besondere Staatsaufsicht hat sodann weiter das Reich noch über die Hypothekenbanken in Anspruch genommen und in eingehender Weise gesetzlich normiert (1899). Hypothekenbanken bedürfen der Genehmigung des Bundesrates (falls sie ihre Tätigkeit auf einen Einzelstaat beschränken, der Zentralbehörde dieses Staates); die Aufsicht wird durch die Einzelstaaten ausgeübt und erstreckt sich auf den gesamten Geschäftsbetrieb. Einzelpersonen, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, offenen Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften und eingetragenen Genossenschaften ist der Betrieb des Hypothekenbankgeschäftes untersagt.
Reichsbank.
Das durch die Gesetzgebung von 1875 geschaffene System der Reichsbank als eines vom Reiche betriebenen Geschäftes für Geldverkehr und Geldhandel und zugleich eines öffentlich rechtlichen Institutes für Sicherung der volkswirtschaftlichen Gesundheit des Geldverkehrs hat durch die gewaltige Entwickelung von Handel und Verkehr in Deutschland eine großartige Ausdehnung gefunden, gegen 400 Zweiganstalten der Reichsbank sind heute in allen Teilen des Reiches vorhanden; für sie gelten selbstverständlich alle gesetzlichen Vorschriften, die für die Reichsbank selbst erlassen sind; so hat sich dieser Zweig der Tätigkeit des Reiches mehr und mehr aus einem Handelsgeschäfte zu einem Zweige der Staatsverwaltung entwickelt.
[162] Das System der Reichsbank ist durch das Gesetz von 1875 zunächst für 10 Jahre geschaffen und dann immer wieder von 10 zu 10 Jahren erneuert worden (letzte Novelle von 1909). Angesichts der Entwickelung, die unsere gesamte Volkswirtschaft genommen hat, ist vielleicht der Zeitpunkt nicht mehr fern, an dem das Privatkapital von 180 Millionen Mark, das zurzeit noch die finanzielle Grundlage der Reichsbank bildet, vom Reiche selbst übernommen und dadurch das ganze System des Reichsbankwesens vollständig in den Rahmen der Staatsverwaltung übergeführt wird.
Börse.
Durch ein selbständiges Gesetz wurde ferner 1896 die Staatsaufsicht über die Börse eingehend geregelt (letzte Fassung von 1908); Börsen dürfen nur mit Staatsgenehmigung errichtet werden und sie werden, besonders was den Börsenterminhandel betrifft, von Staats wegen scharf beaufsichtigt.
Siehe im übrigen den Abschnitt über das Bankwesen.
6. Handel, Landwirtschaft und Gewerbe
1. Handelsgesetzgebung und Handelsverträge.
Die großen Erwerbszweige des deutschen Volkslebens, Landwirtschaft, Industrie und Handel, haben die Gesetzgebung des Reiches in umfassender Weise beschäftigt. Einen verhältnismäßig festen Abschluß hat diese Gesetzgebung für das Gebiet des Handels gefunden. Es ist zweifellos eine der interessantesten Erscheinungen unseres Verkehrslebens und der durch dieses geforderten Rechtsentwickelung, daß die Energie des deutschen Kaufmannes schon zu einer Zeit, als die staatliche Einigung des deutschen Volkes noch in weiter und ganz ungewisser Ferne stand, für das Gebiet des Handels ein einheitliches Recht, das als Notwendigkeit empfunden wurde, mit zäher Konsequenz durchsetzte. So entstand noch in Zeiten des alten deutschen Bundes das Deutsche Handelsgesetzbuch, dem sich alsbald auch die einheitliche Deutsche Wechselordnung anfügte. Diese großen und guten Gesetzgebungswerke wurden vom deutschen Gesamtstaate einfach übernommen und der modernen Verkehrs- und Rechtsentwickelung entsprechend weiter so ausgestaltet, wie sie heute in Kraft stehen und sich ausgezeichnet bewährt haben. Eine hochbedeutsame Neugestaltung des gesamten Handelsrechtes erfolgte im Jahre 1897. Der Gedanke, das Wechselrecht auf internationale Grundlagen zu stellen, hat vor kurzem zu interessanten Konferenzen im Haag geführt, die nicht nur die Möglichkeit der Internationalisierung des Wechselrechtes außer Zweifel stellten, sondern bereits zu einer formell rechtlichen Erledigung des Problems insoweit geführt haben, als bereits ein formeller Staatsvertrag eines Weltwechselrechtes zustande gebracht wurde, auf Grund dessen nunmehr die Gesetzgebung der einzelnen Vertragsstaaten vorzugehen haben wird. Dieses großartige internationalrechtliche Werk ist unter intensiver Mitwirkung des Deutschen Reiches zum Abschluß gelangt. Leider haben die beiden großen angelsächsischen Mächte England und die Vereinigten Staaten sich von diesem Werke bis jetzt ferngehalten.
An Einzelgesetzen, die den Handel betreffen, mögen besonders erwähnt werden: das Gesetz über die Errichtung besonderer Kaufmannsgerichte (1904) neben den bereits [163] nach dem Gerichtsverfassungsgesetz bestehenden Handelsgerichten; das Gesetz über die Statistik des Warenverkehrs (1906); das tief einschneidende Gesetz über den Kalibergbau und Kalihandel (1910); die Gesetze von 1901 und 1907 über Verlags- und Urheberrecht.
Durch zahlreiche Handelsverträge mit fremden Staaten hat ferner das Reich in umfassender Weise dem deutschen Handel freie Wege in der Welt herzustellen und zu ebnen sich bemüht. Zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst wurde in Bern 1886 ein großes internationales Abkommen (revidiert in Berlin 1908) geschlossen, dem die meisten Staaten der Welt – 1912 auch England – beigetreten sind; das Abkommen beruht auf dem Grundsatze des von allen Vertragsstaaten nach Maßgabe des durch die inländischen Gesetze gewährleisteten Rechtsschutzes allen „Urhebern“ aus dem Gebiete der Vertragsstaaten zugesicherten Schutzes für die Dauer ihres Lebens und 50 Jahre nach ihrem Tode. Ein internationales Bureau dieses Schutzverbandes wurde in Bern errichtet. Das zur Ausführung des Übereinkommens erforderliche Gesetz wurde 1888 resp. 1910 erlassen. Mit einzelnen Staaten, so mit Belgien, Frankreich und Italien, wurden noch besondere Zusatzabkommen geschlossen. Zum Schutze des gewerblichen Eigentums war bereits 1883 in Paris ein internationaler Verband errichtet worden, der 1900 in Brüssel eine Neugestaltung erfuhr; diesem Verbande ist das Deutsche Reich 1903 beigetreten; 1911 erfuhr der Staatsvertrag, der die Rechtsgrundlage des Verbandes bildet, eine neue Gestaltung und steht so heute in Kraft. Die nähere Erörterung der hier in Betracht kommenden Fragen muß den Kapiteln über Volkswirtschaft und Handelsrecht überlassen bleiben.
2. Landwirtschaft.
Der großartigen Kodifikation des Handelsgesetzbuches gegenüber vermag der theoretische Betrachter der deutschen Rechtsentwickelung ein Gefühl der Verwunderung nicht zu unterdrücken, daß der älteste, der dem deutschen Volke gewissermaßen angeborene Erwerbszweig unseres Volkes, die Landwirtschaft, es zu einer einheitlichen und einigermaßen erschöpfenden Gestaltung seines Rechtes bis zum heutigen Tage nicht gebracht hat. Es muß dahingestellt bleiben, ob dies in der Natur der Sache begründet ist und sich daraus erklärt oder ob lediglich äußere Gründe einer derartigen Kodifikation des Landwirtschaftsrechtes entgegenstehen. In indirekter Weise hat das Reich durch seine Gesetzgebung seine Fürsorge für die Landwirtschaft vielfach und hervorragend betätigt und den Bestand der deutschen Landwirtschaft auf gesunder Grundlage durch die gesetzgeberische Arbeit des letzten Vierteljahrhunderts gerettet und gesichert.
Im einzelnen ist hervorzuheben die Gesetzgebung des Reiches zum Schütze gegen Viehseuchen (1909), zur Bekämpfung der weitverbreiteten verbrecherischen Verfälschung von Nahrungsmitteln, über den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln (1897), über die Schlachtvieh- und Fleischbeschau (1900), sowie die besonderen Gesetze über Schutz und Sicherung des Weinbaues und Weinhandels (Weingesetz 1909); für Bekämpfung zweier Hauptschädlinge der Landwirtschaft, des Koloradokäfers und der Reblaus, (Gesetz von 1904) wurden internationale Vereinbarungen gewonnen, die den sicheren Boden für die vorbeugende und strafende Tätigkeit der Vertragsstaaten auf diesem Gebiete schufen.
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3. Seeschiffahrt.
In umfangreicher Weise hat ferner das Reich einen besonderen Zweig des Handels, die Seeschiffahrt, geregelt; doch hatten diese Dinge vor Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates keine erhebliche allgemeine Bedeutung, indes ihre Bedeutung in dem und durch den deutschen Gesamtstaat, ganz besonders aber in den letzten Jahrzehnten durch die unmittelbaren Anregungen des Kaisers ins Unermeßliche gestiegen ist. Vorbildlich für die Gesetzgebung auf diesem Gebiete war die bewährte englische Gesetzgebung.
Die Grundlage des heutigen deutschen Seerechtes bildet das Flaggengesetz, zuerst erlassen im Jahre 1868, in neuer Fassung ohne grundsätzliche Änderungen aus dem Jahre 1899. Durch das Gesetz wird die Staatsangehörigkeit aller Schiffe der deutschen Handelsmarine auf Grundlage der Verfassungsvorschrift, daß alle deutschen Kauffahrer eine einheitliche Handelsmarine bilden (RV. Art. 54), festgestellt; das äußere Zeichen der Staatsangehörigkeit ist die deutsche Flagge und deren rechtliche Folge ist der Schutz durch das Deutsche Reich bis an die Enden der Erde (RV. Art. 3, Abs. 6). Das Gesetz beruht auf dem Grundgedanken, daß nur Schiffe, die im Eigentum von Deutschen stehen, zur Führung der deutschen Flagge berechtigt sind; über alle deutschen Kauffahrer („zum Erwerb durch die Seeschiffahrt bestimmt“) werden amtliche Verzeichnisse durch die Seemannsämter geführt. Bevor der Bau eines Schiffes erfolgt, müssen die Pläne nach Maßgabe der deutschen Schiffsvermessungsordnung (Fassung von 1895) hergestellt, amtlich geprüft und genehmigt werden. Umfassende und auf Grund der Erfahrung wiederholt abgeänderte Vorschriften hat das Reich erlassen über die Befähigung als Schiffsführer, Steuermann, Lootsen und Maschinisten auf Dampfschiffen sowie über die Besetzung von Kauffahrteischiffen mit Kapitänen und Schiffsoffizieren; durch strenge Bestimmungen dieser Art wurde der deutschen Handelsmarine ein hervorragend ausgebildetes Personal gesichert, das in Kriegszeiten zur Bemannung der Kriegsschiffe herangezogen werden kann. Eine besondere Lootsensignalordnung (1907) regelt den Lootsendienst. Das Gesetz über die Untersuchung von Seeunfällen ist bereits aus dem Jahre 1877; eine Neugestaltung ist in Vorbereitung. Behufs Feststellung einheitlicher Regeln 1. über den Zusammenstoß von Schiffen, 2. über Hilfsleistung und Bergung in Seenot waren 1910 in Brüssel internationale Verträge abgeschlossen worden, die das Deutsche Reich 1913 in Kraft setzte. Die Rechtsverhältnisse der Mannschaften der Kauffahrteischiffe sind geregelt durch die große Seemannsordnung, die – erlassen 1872 – im Jahre 1902 eine völlige Neugestaltung, noch ergänzt durch mehrere seerechtliche Einzelgesetze und Verordnungen, so über die Besetzung von Seefischereifahrzeugen mit Schiffsführern und Maschinisten (1904/13), erfahren hat. Über die gestrandeten Schiffe zu leistende Hilfe und die aus dieser Hilfe erwachsenden Rechtsansprüche bestimmt in eingehender Weise die Strandungsordnung (1902). Zur wissenschaftlichen Erforschung aller das Meer und die Meeresschiffahrt betreffenden Verhältnisse und zu deren praktischer Nutzbarmachung für Staats- und Handelsschiffe wurde in Hamburg 1875 die Seewarte eingerichtet und durch ausgezeichnete Männer zu einem der ersten wissenschaftlichen Institute der Welt entwickelt. Endlich wurde noch in zahlreichen Handelsverträgen durch Vereinbarung über Einzelpunkte mit einzelnen Staaten das Interesse der deutschen Handelsseeschiffahrt in sorgsamer [165] Weise wahrgenommen. – Die hohe See ist nach feststehenden völkerrechtlichen Grundsätzen keiner Staatsgewalt unterworfen; jedes Schiff ist Träger seiner eigenen Staatsgewalt auf hoher See. Daraus folgt, daß der Erwerb durch Fischerei auf hoher See – anders in den Küstengewässern – jedermann erlaubt ist. Zwingende Gründe haben trotzdem die Staaten der Nordseeküsten – Deutsches Reich, England, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien – veranlaßt, bestimmte Rechtsgrundsätze über die Ausübung der Fischerei in der Nordsee aufzustellen und die Ausführung dieser Vorschriften durch scharfe Aufsicht, gehandhabt von Staatsschiffen, zu sichern. Diese Vorschriften sind zusammengefaßt in dem großen und hochinteressanten Staatsvertrag über die Ausübung der Nordseefischerei (1892), dem sich ergänzend der Staatsvertrag über Bekämpfung des Branntweinhandels in der Nordsee (1887, in Kraft 1894) anschließt, zu dessen Ausführung ein besonderes Gesetz erging.
Auch mit der Flußschiffahrt hat die Reichsgesetzgebung in eingehender Weise sich beschäftigt und die Materie nach ihrer zivilrechtlichen wie verwaltungsrechtlichen Seite durch große Gesetzgebungswerke über Binnenschiffahrt (1895), Flößerei (1895) und Wasserstraßen (1911) geordnet; eine eingehende Behandlung dieses großen und hochwichtigen Gebietes des neuen deutschen Verkehrslebens ist in dem Kapitel über die Wasserstraßen zu geben.
4. Gewerbe.
Kein einziger Gegenstand hat die Reichsgesetzgebung nach Umfang und Inhalt in so ausgiebiger Weise beschäftigt, wie das Gewerbewesen, eine ganze Anzahl von Bänden würde die Zusammenstellung dieser reichsrechtlichen Vorschriften ergeben. Gleichwohl besteht zurzeit noch äußerlich eine große Zersplitterung des Rechtes auf diesem Gebiete und wir können kaum die Hoffnung hegen, daß diese unruhige und massenhafte Gesetzgebung sich in nächster Zeit zu einem einheitlichen Gesetzbuche, analog etwa dem Handelsgesetzbuche, werde zusammenfassen lassen. Es handelt sich hier um den rechtlichen Niederschlag der größten und schwersten Frage unseres heutigen wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens, der sozialen Frage. In anderen Abschnitten dieses Werkes werden die Probleme der sozialen Frage nach allen ihren verschiedenen Richtungen zur Erörterung gelangen. An dieser Stelle ist lediglich eine Skizze der formalen Rechtsbildung auf diesem Gebiete zu geben.
Von der ursprünglichen Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes (1868) sind heute nur mehr wenige Paragraphen übriggeblieben. Das ungeheure deutsche Arbeitsleben, das mit Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates in allen Teilen Deutschlands einsetzte und auf das jeder Deutsche mit berechtigtem hohem Stolze blicken muß, hat die engen Vorschriften der ersten Deutschen Gewerbeordnung bald gesprengt. Und dazu kam ein zweites: das Prinzip der Gewerbefreiheit, das die erste Gewerbeordnung beherrschte, hat innerlich wie äußerlich für die große Entwickelung nicht ausgereicht und mußte in weitem Umfange dem Gedanken eines nicht nur beaufsichtigenden, sondern organisatorischen Eingreifens des Staates weichen.
Die Entwickelung der deutschen Gewerbegesetzgebung seit 1888 wird durch folgende Feststellungen gekennzeichnet:
[166] a) Eine Reihe von Gesetzen bezog sich auf einzelne Gewerbebetriebe, sei es aus Gründen der Staatssicherheit, sei es zum Schutze der Gesundheit des Volkes, sei es behufs Wahrung der geschäftlichen Moral; der ersten Gruppe sind zuzurechnen die Gesetze über den Handel mit Dynamit (1891), das Gesetz über amtliche Prüfung der Läufe und Verschlüsse von Handfeuerwaffen (1891), die zahlreichen Anordnungen zur Durchführung der gesetzlichen Vorschriften über die sog. „gefährlichen Anlagen“ sowie über Dampfkessel. Zur zweiten Gruppe gehören besonders die Vorschriften über den gewerblichen Verkehr mit Arzneimitteln sowie die bereits oben erwähnten Gesetze gegen Verfälschung von Nahrungsmitteln; die dritte Gruppe bilden die Gesetze über unlauteren Wettbewerb, gegen den Wucher (1893) und über die Abzahlungsgeschäfte (1894), die ebenfalls bereits Erwähnung gefunden haben; auch das Stellenvermittelungsgesetz (1910) ist zu dieser Gruppe zu rechnen.
b) Einen erhöhten Rechtsschutz auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens bezweckt das bereits aus früherer Zeit stammende, aber auf Grund der gemachten Erfahrungen, sowie im Hinblick auf das enorme Wachstum des gewerblichen Lebens völlig umgestaltete Gesetz über die besonderen Gewerbegerichte (neueste Fassung von 1901), deren Zusammensetzung die Gewähr bieten soll, daß Gewerbestreitigkeiten nicht lediglich aus formal juristischen, sondern auch aus Gesichtspunkten gewerblicher Sachkunde und Erfahrung entschieden werden.
c) Aus den gleichen Gründen wie das Gewerbegerichtsgesetz soll auch die ältere Gesetzgebung über gewerblichen Urheber- und Erfinderschutz (1901), das Patentgesetz (1891) und die Gesetzgebung über Schutz der Gebrauchsmuster (1904) und Warenbezeichnungen (1894) eine gründliche Umarbeitung erfahren, die in neuen Gesetzentwürfen demnächst die Öffentlichkeit beschäftigen wird. Überall auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens tritt uns sowohl von seiten der Reichsregierung wie des Reichstages das ernste und erfolgreiche Bestreben entgegen, die gemachten Erfahrungen für die möglichste Vollendung der Gesetzgebung zu verwerten und der ungeheuren Entfaltung deutscher Arbeit im letzten Vierteljahrhundert die richtigen gesetzlichen Grundlagen zu geben.
d) Eine der hauptsächlichsten Aufgaben, die zu lösen die Gesetzgebung des Deutschen Reiches in den letzten Jahrzehnten sich mit größter Anstrengung und höchstem sittlichen Ernste bemüht hat, war die Frage des Arbeiterschutzes. Mehr und mehr wurde die Sonntagsarbeit beschränkt und der Tag dürfte nicht mehr fern sein, der dem deutschen Volke die vollständige Sonntagsruhe, wenn auch nicht in der Vollständigkeit des englischen und amerikanischen Volkslebens bringt; gegenüber dem großen wirtschaftlichen und sittlich religiösen Gedanken, der hier für unser Volk durchgesetzt werden muß, müssen alle kleineren Bedenken zurücktreten.
Sehr zahlreiche Vorschriften ergingen ferner zur Einschränkung der Kinder- und Frauenarbeit; über Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben bestimmte 1903 ein umfassendes Sondergesetz. Auch auf diesem für die äußere und innere Gesundheit des Volkes hochwichtigen Gebiete ist zwar bereits vieles erreicht, ein Abschluß der gesetzgeberischen Arbeit aber bis jetzt noch nicht gewonnen. Kleine Bedenken müssen auch hier [167] schweigen gegenüber der großen Pflicht für die leibliche und moralische Gesundheit des deutschen Volkes. Ein besonderes Gesetz erging 1911 zur Regelung der gewerblichen Arbeit in Werkstätten, die sich eng an die Familie anschließen, das sog. Hausarbeitsgesetz.
Auch die Fragen des Gewerbewesens haben, insoweit ihnen allgemeine soziale Bedeutung zukommt, schon mehrfach internationale Regelung gefunden, so in dem Berner Staatsvertrag (1906) über das Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phoshpor zur Anfertigung von Zündwaren; von Reichs wegen war bereits 1903 ein Strafgesetz hiergegen erlassen worden. Ein weiteres internationales Abkommen von 1906 bezieht sich auf das Verbot der Nachtarbeit für gewerbliche Arbeiterinnen.
5. Reichsversicherungsordnung.
Eines der allergrößten Werke deutscher Gesetzgebung ist endlich die Reichsversicherungsordnung. Das Werk, das mit der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1881 seinen Anfang nahm, hat nunmehr in der großen Kodifikation der Reichsversicherungsordnung von 1911 seinen großartigen – vorläufigen – Abschluß gefunden. Der allgemeinen Versicherungsordnung trat als hochwichtiges Sondergesetz im gleichen Jahre noch hinzu das Versicherungsgesetz für Angestellte nach der näheren Bestimmung dieses Begriffes, die in § 1 des Gesetzes gegeben ist. Das Deutsche Reich ist in dieser Gesetzgebung, die als eines der gewaltigsten Kulturwerke aller Zeiten bezeichnet werden muß, vorbildlich für die Welt geworden. Ein besonderer Abschnitt dieses Werkes wird die Entwickelung dieser Gesetzgebung im einzelnen zu schildern haben.
Ein fast übergroßer Reichtum an gesetzgeberischer Arbeit erfüllt das letzte Vierteljahrhundert deutschen Lebens. Das „fervet opus“, das dieses deutsche Leben kennzeichnet, hat eine Fülle neuer Probleme gestellt, an deren Lösung die gesetzgebenden Faktoren des Reiches ein gewaltiges Maß von Arbeit gewendet haben. Der Geschichtsschreiber dieser Zeit wird der Reichsregierung und dem Reichstag gerechterweise das Zeugnis geben müssen, daß im ersten Vierteljahrhundert der Regierung Kaiser Wilhelms des II. eine gesetzgeberische Arbeit von einem Umfang und einer Bedeutung bewältigt worden ist, wie – ausgenommen nur die Gründung des Reiches selbst – in keiner Zeitepoche des deutschen Volkslebens je zuvor. Diese Gesetzgebung war und ist Ursache und Folge zugleich des ungeheuren Aufschwunges des gesamten deutschen Arbeits- und Erwerbslebens, der seinen äußeren und inneren Grund hat in der Aufrichtung des Deutschen Reiches.
II. Preußen
1. Die Preußische Verfassungsurkunde und die Grundlagen des Staates
Die Verfassungsurkunde des preußischen Staates, wie sie als Abschluß der Bewegungen des Jahres 1848 am 31. Januar 1850 von Friedrich Wilhelm IV. als Grundgesetz des Staates gegeben und verkündigt wurde, hat bis heute eine große und grundsätzliche [168] Veränderung nur dadurch erfahren, daß durch preußische Staatsweisheit und preußische Waffen das Deutsche Reich geschaffen wurde. Preußen ist der Grund- und Eckstein des Deutschen Reiches; von der Gesundheit und Kraft Preußens hängt allein die Gesundheit und Kraft des Deutschen Reiches ab.
Eine formelle Abänderung hat die preußische Verfassung bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates nicht gefunden; daß durch die Reichsverfassung eine ganze Anzahl von Artikeln der preußischen Verfassung außer Kraft getreten und durch Vorschriften der Reichsverfassung ersetzt sind, steht staatsrechtlich außer Zweifel.
1. Abänderungen der Verfassungsurkunde.
Anderweitige Abänderungen der Verfassungsurkunde Preußens im letzten Vierteljahrhundert sind nur wenige erfolgt. Die ursprüngliche Zahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von 350 wurde gemäß wiederholter Änderung des Art. 69 VU., besonders infolge der großen Gebietserweiterung von 1866, 1906 auf 443 festgestellt. Durch dasselbe Gesetz wurde eine Reihe von Wahlbezirken verändert und die Wahlorte mehrfach neu bestimmt. Ferner wurde durch ein zweites Gesetz vom gleichen Datum für Gemeinden, deren Zivilbevölkerung mindestens 50 000 beträgt, die Abstimmung bei der Wahl der Wahlmänner in einer nach Anfangs- und Endtermin festzusetzenden Abstimmungsfrist (Fristwahl im Gegensatz zur Terminwahl in gemeinschaftlicher Versammlung der Urwähler zu bestimmter Stunde) festgesetzt; jedoch kann der Minister des Innern auf Antrag des Gemeindevorstandes auch für solche Gemeinden die Beibehaltung der bisherigen Terminwahl oder auch für Gemeinden mit geringerer Bevölkerungsziffer Fristwahl anordnen. Ferner kann der Minister des Innern bestimmen, daß in Wahlbezirken mit mehr als 500 Wahlmännern die Wahl der Abgeordneten in Gruppen der Wahlmänner oder daß auch diese Wahl in der Form der Fristwahl vorzunehmen ist. Die für das Wahlgeschäft erforderlichen Ehrenämter (Wahlvorsteher, Protokollführer, Beisitzer) müssen von den Urwählern bzw. Wahlmännern übernommen werden bei Strafe bis 300 Mark, es sei denn, daß einer der im Gesetz bezeichneten Ablehnungsgründe vorhanden ist. –
Die – an sich recht geringfügigen – juristischen Streitfragen über die Regelung des Schulwesens durch Gesetz – ob nur ein Gesamtgesetz oder auch Einzelgesetze zulässig seien – haben im Jahre 1906 vor Erlaß des großen Volksschulunterhaltungsgesetzes (s. unten) zur Aufhebung der Artikel 112 und Abänderung des Art. 26 geführt. Dadurch wurde klargestellt, daß auch Spezialgesetze auf dem Gebiete des Unterrichtswesens zulässig seien, und daß es „bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung“ bei dem geltenden Rechte zu verbleiben habe. Selbstverständliche Dinge wurden in eine juristisch zweifelsfreie Form gekleidet.
2. Wahlrecht.
Das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhause bildete im Jahre 1910 den Gegenstand erregtester öffentlicher Erörterung und heftigster parlamentarischer Kämpfe. Ein gesetzgeberischer Abschluß wurde nicht erreicht. Die über den Gegenstand in die Verfassung selbst aufgenommenen Vorschriften (Art. 70–72 sind [169] bis zu dieser Stunde nicht in Kraft getreten. An ihrer Stelle gilt die ursprünglich als sog. Notverordnung erlassene, durch die Zustimmung der Kammern mit Gesetzeskraft ausgestattete Verordnung vom 30. Mai 1849. Diese Verordnung beruht auf dem Dreiklassenwahlsystem, d. h. nach der Steuerleistung werden in den einzelnen Wahlbezirken – ganz kleinen Personaleinheiten (bis zu 1800 Seelen) – die sog. Urwähler, d. i. die Wahlberechtigten in drei Klassen eingeteilt behufs Wahl der Wahlmänner, die sodann die Abgeordneten wählen. Über die bei der Berechnung in Betracht kommenden Steuern („direkte Staats-, Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern“) wurde nach der großen Miquelschen Steuerreform 1893 ein besonderes Gesetz erlassen. Im übrigen blieb das Wahlsystem unverändert. Ein Gesetzentwurf der Regierung schlug in der ihm durch das Abgeordnetenhaus unter Zustimmung der Regierung gegebenen Fassung eine Änderung dieses Systemes dahin vor, daß
1. an Stelle der öffentlichen künftig geheime,
2. an Stelle der indirekten direkte Wahl zu treten habe und
3. für das, auch künftig in drei Klassen zu gliedernde Wahlrecht, außer den Steuern auch noch andere Momente (die sog. „Kulturträger“) in Betracht kommen sollten. Die parlamentarischen Gegensätze hatten wie bemerkt im Abgeordnetenhause schließlich zu einem Ausgleich gebracht werden können, den aber das Herrenhaus mit erheblicher Mehrheit ablehnte. Daß die Frage der Wahlreform früher oder später wieder aufgenommen werden muß, kann nicht bezweifelt werden. Die Wahl des hierfür geeigneten Zeitpunktes wird unter vorsichtiger Abwägung aller in Betracht kommenden staatlichen Gesamtinteressen des Reiches wie Preußens der Weisheit der Regierung vorbehalten werden müssen.
3. Staatshaushalt.
Zur Ausführung der Verfassungsvorschrift über das Staatshaushaltsgesetz wurde 1898 in Preußen ein sog. Komptabilitätsgesetz erlassen, das genaue Vorschriften für die Einrichtung des Staatshaushaltes und die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen enthält.
Dieses Gesetz stellt den Abschluß langer parlamentarischer und wissenschaftlicher Kämpfe dar und entscheidet die vielumstrittene Frage über die Rechtsnatur des Staatshaushaltes in dem Sinne, daß die volle Gesetzeskraft des Staatshaushaltes keinem Zweifel mehr unterliegen kann. Das Gesetz gibt eingehende Vorschriften über die Gliederung der Einnahmen und Ausgaben im Etat; es stellt ferner den hochwichtigen Grundsatz fest, daß Privatrechte durch den Etat weder begründet noch beseitigt werden können; es schreibt für die ausführenden Behörden besondere Kassenetats auf Grund des Hauptetats vor und ordnet die Frage der außeretatsmäßigen Einnahmen und Ausgaben. Alle Einnahmen werden, bestimmte Ausnahmen vorbehalten, erhoben als Deckungsmittel für den Gesamtbedarf des Staates; die Nichterhebung gesetzlicher Einnahmen im Einzelfall kann nur kraft gesetzlicher Erlaubnis oder königlicher Bestimmung erfolgen. Die zu zahlenden Besoldungen müssen auf gesetzlicher Grundlage beruhen; Remunerationen oder Unterstützungen dürfen nur aus den hierfür bestimmten Fonds gegeben werden; die Berechnung der Dienstwohnung erfolgt nach [170] Maßgabe gesetzlicher Vorschriften. Der Abschluß bei der Generalstaatskasse hat innerhalb dreier Monate nach Schluß des Etatsjahres zu erfolgen; die Übernahme von Ausgaben und Einnahmen in das folgende Etatsjahr kann nur nach Maßgabe der hierfür gegebenen gesetzlichen Vorschriften geschehen. Nach Abschluß des Etatsjahres ist dem Landtag eine Übersicht aller wirklich gemachten Einnahmen und Ausgaben, nebst Mitteilung der Etatsüberschreitungen und der außeretatsmäßigen Ausgaben, vorzulegen. Das gesamte die Feststellung und Ausführung des Staatshaushaltsgesetzes betreffende Material ist sodann der Oberrechnungskammer zu überweisen behufs der ihr durch Art. 104 verfassungsmäßig übertragenen Prüfung, auf Grund deren die verfassungsmäßige Entlastung zu geschehen hat. Die näheren Vorschriften für diese Tätigkeit der Oberrechnungskammer – historisch eines der größten Erbstücke des großen Verwaltungskönigs Friedrich Wilhelm I. – sind in der älteren Gesetzgebung (1872) enthalten; ein Sondergesetz von 1912 ergänzt die älteren Vorschriften insofern, als Rechnungen von geringer Bedeutung nicht regelmäßig geprüft zu werden brauchen, geringe Beträge niedergeschlagen werden dürfen und der Begriff der „Etatsüberschreitung“ gesetzlich fest umgrenzt wird.
Der in der Wissenschaft so heftig geführte Streit, ob der Staatshaushalt nur „formell“ Gesetz oder voll wirksames „materielles“ Gesetz mit allen Rechtswirkungen eines solchen sei, ist durch die oben skizzierte Gesetzgebung im letzteren Sinne entschieden: die den Staatshaushalt ausführenden Staatsorgane sind an das erlassene Gesetz rechtlich gebunden und die hieraus sich ergebenden rechtlichen Wirkungen sind im einzelnen durch den Gesetzgeber so genau, als dies nach der Natur der Dinge möglich ist, festgelegt worden.
4. Staatsgebiet.
Hinsichtlich des Staatsgebietes ist lediglich zu bemerken, daß die von England dem Deutschen Reiche abgetretene Insel Helgoland mit Preußen und zwar mit der Provinz Schleswig-Holstein vereinigt wurde (1890–1891), und daß an den Grenzen gegen fremde Staaten sowohl wie gegen andere deutsche Staaten mehrfach Gebietsveränderungen von geringer Bedeutung erfolgten. In diesem Zusammenhange sei auch erwähnt, daß 1892 die Aufhebung der Beschlagnahme des Vermögens des vormals hannoverschen Königshauses und die Rückgabe dieses Vermögens an die Erben des Königs Georg V. erfolgte.
5. Auswärtiges. – Waldeck.
Die auswärtigen Angelegenheiten Preußens sind fast vollständig im Reiche aufgegangen; nur die Gesandtschaft beim päpstlichen Stuhle ist preußische Gesandtschaft, die einzige im Ausland, verblieben. Außerdem hat Preußen zahlreiche Staatsverträge über Eisenbahnen in den Grenzgebieten mit fremden Staaten abgeschlossen. Mit den nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten hat Preußen die bereits früher eingeleitete Politik fortgesetzt, den deutschen Kleinstaaten durch Staatsverträge preußische Staatseinrichtungen in umfassender Weise zur Verfügung zu stellen; es ist dies für die verschiedensten Staatsaufgaben geschehen, teilweise auch in der Form der Errichtung gemeinsamer Behörden (Rechtspflege, Zollwesen). Die umfassendste staatsrechtliche Gestaltung dieses Gedankens enthält der Staatsvertrag, [171] durch den Preußen die gesamte Verwaltung von Waldeck dauernd kraft des sog. Akzessionsvertrages bereits seit 1867 übernommen hat. Insbesondere hat Preußen für alle deutschen Kleinstaaten Eisenbahnverbindungen hergestellt. Der mit den thüringischen Staaten bestehende Zoll- und Handelsverein wurde 1890 erneuert und erweitert.
6. Ausführung von Reichsgesetzen.
In weitem Umfange mußte die preußische Gesetzgebung tätig werden zur Ausführung von Reichsgesetzen, sei es, daß deren Vollzug vom Reiche allgemein in Selbstverwaltung der Einzelstaaten gegeben worden war, sei es, daß Reichsgesetze einer landesrechtlichen Ergänzung bedurften. So mußte Preußen 1899 umfassende Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuch, zum neuen Handelsgesetzbuch, zum Reichsgesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit, zum Reichsgesetz über Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung, zur Zivilprozeßordnung erlassen; in denjenigen Teilen der Monarchie, in denen das Grundbuch eine vollkommene Neuerung darstellte, also in den gesamten westlichen Landesteilen, mußten landesrechtlich die erforderlichen Anordnungen und Einrichtungen für Herstellung von Grundbüchern unter Aufhebung der bisherigen Hypothekenämter getroffen werden; für Ausführung des Reichsunfallversicherungsgesetzes für Land- und Forstwirtschaft wurden landesgesetzlich Berufsgenossenschaften für den Umfang der Provinzen mit Sektionen für den Umfang der Kreise gebildet; zur Durchführung der Reichsgesetzgebung über die Unterdrückung der Viehseuchen bedurfte es einer umfassenden Landesgesetzgebung; das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz fand eine wichtige Ergänzung seiner landesrechtlichen Ausführungsvorschriften 1912 durch neue gesetzliche Bestimmungen über die Unterbringung Hilfsbedürftiger in Arbeitsanstalten sowie über Heranziehung Unterhaltungspflichtiger zu den Armenlasten; für Durchführung der Maß- und Gewichtsordnung des Reiches (1908) mußte landesrechtlich der erforderliche Behördenapparat und zwar in Trennung von den Kommunalbehörden geschaffen sowie die Dienstaufsicht geregelt werden. Die landesrechtliche Tätigkeit zur Aus- und Durchführung von Reichsgesetzen ist in der Entwickelung des deutschen Bundesstaates immer bedeutsamer geworden, und es hat sich dabei gezeigt, wie richtig es seinerzeit war, bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates diesen Gedanken der einzelstaatlichen Selbstverwaltung von Reichsangelegenheiten in unser Reichsstaatsrecht aufzunehmen und immer weiter auszugestalten. Das Staatsleben des Gesamtstaates und der Einzelstaaten wird dadurch immer enger verbunden, ja verwächst in so hohem Grade ineinander, daß eine Trennung geradezu zur Unmöglichkeit wird. Das staatsrechtliche Prinzip, für viele Gebiete der Reichsgesetzgebung nicht eine „eigene und unmittelbare“ Reichsverwaltung zu schaffen, sondern sie in „Selbstverwaltung“ der Einzelstaaten zu geben – dem schweizerischen und nordamerikanischen Bundesstaatsrecht ursprünglich fremd und erst unter deutschem Einfluß aufgenommen – hat für die Festigung der Einheit des deutschen Bundesstaates die segensreichsten Folgen gehabt.
Insbesondre haben diese Grundsätze Anwendung gefunden für die Gestaltung der Rechtspflege innerhalb des Reiches. Der Erleichterung und Verbesserung der Rechtspflege dienten außerdem zahlreiche gesetzliche Maßnahmen organisatorischer Natur auf [172] dem Gebiete der Gerichtsverfassung, so besonders eine weitere Ausgestaltung des Gerichtswesens für Berlin, die Neuerrichtung eines Oberlandesgerichtes in Düsseldorf und eine große Zahl von neugeschaffenen Amtsgerichten. Das preußische Gerichtskostengesetz sowie die Gebührenordnung für Notare, beide von 1895, erfuhren 1910 eine wesentliche Abänderung. Mit den thüringischen Staaten wurde bezüglich mehrerer Landgerichte und des Oberlandesgerichtes Jena Vereinbarung behufs gemeinsamer Rechtspflege getroffen. Auch die Hinterlegungsordnung von 1913 mag in diesem Zusammenhange Erwähnung finden.
2. Die Verwaltungsorganisation
1. Allgemeines.
Die Verwaltungsorganisation des preußischen Staates, wie sie aus großer Zeit überkommen war, hat eine erhebliche Veränderung in den letzten Jahrzehnten nicht erfahren und wird trotz aller hierüber gepflogenen parlamentarischen und literarischen Erörterungen eine solche schwerlich finden. Weder sind die Grundlagen der Staatsverwaltung, wie sie in Weiterbildung der Gesetzgebung Friedrich Wilhelms I. und des Reichsfreiherrn vom Stein zuletzt durch das Landesverwaltungsgesetz von 1883 festgestellt wurden, noch sind die Grundlagen der Selbstverwaltung, wie sie durch die Steinsche Städteordnung von 1808 geschaffen und weiterhin durch die Kreisordnung (1872) und Provinzialordnung (1875) in großartiger Weise ausgestaltet wurden, abgeändert worden. Nur in Einzelpunkten sind diese durch die Geschichte festgelegten preußischen Verwaltungseinrichtungen ergänzt worden; so wurde 1910 die Medizinalverwaltung vom Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten abgetrennt und dem Ministerium des Innern zugeteilt; dem Handelsministerium wurde 1890 das gesamte Bergwesen mit seinen großen Aufgaben, insbesondre bezüglich der Arbeiterverhältnisse, überwiesen, unter Trennung vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten; ferner wurde im Handelsministerium behufs einer intensiveren Bearbeitung der gewerblichen Unterrichtsangelegenheiten 1905 ein besonderes Landesgewerbeamt und ein ständiger technischer Beirat für das gewerbliche Unterrichtswesen und die Gewerbeförderung geschaffen; das Oberverwaltungsgericht mußte bei dem stetig anwachsenden Umfang seiner Aufgaben insbesondere durch Einrichtung eines besonderen Disziplinarsenates (1889) sowie eines besonderen Steuersenates (1893) erweitert werden; für die Vorbildung zum höheren Verwaltungsdienst wurden 1906 neue und schärfere Vorschriften gegeben; für die Tierheilkunde wurde beim landwirtschaftlichen Ministerium ein besonderes Landesveterinäramt mit einem ständigen Beirat für das Veterinärwesen errichtet. Die altbewährten Provinzialsteuerdirektionen wurden 1908 ohne grundsätzliche Änderung ihres Wirkungskreises in Oberzolldirektionen umgewandelt. Den Bezirksregierungen wurden 1891 besondere Gewerberäte beigegeben und diesen Gewerbeinspektionen unterstellt. Ein neuer Regierungsbezirk Allenstein wurde 1905 in Ostpreußen geschaffen.
2. Posen und die Ostmarken.
Eine besondere Schwierigkeit bieten für die Verwaltung nach wie vor die von überwiegend polnischer [173] Bevölkerung bewohnten Landesteile. Zwar in Westpreußen konnten die Einrichtungen der Staats- und Selbstverwaltung in derselben Gestaltung wie in den übrigen Provinzen eingerichtet und aufrechterhalten werden; in Posen dagegen war nach Lage der Verhältnisse eine erhebliche Modifikation der allgemeinen Verwaltungseinrichtungen – sie erfolgte durch Gesetz von 1889 – erforderlich: die Polizei auf dem platten Lande wird in dieser Provinz durch rein staatlich ernannte Beamte, die Distriktskommissare, verwaltet und für die Einrichtungen der Selbstverwaltung der Provinz wie der Kreise mußte statt der reinen Wahl ein staatliches Ernennungs- (Kreisausschuß) oder Bestätigungsrecht (Provinzialrat, Provinzialausschuß, Bezirksausschuß) vorbehalten werden.
Zur Durchdringung der polnischen Landesteile mit deutschen Elementen wurde seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts (1886) in großzügiger Weise von Staats wegen eine Ansiedelung deutscher Bauern und Arbeiter in diesen Gebieten in die Wege geleitet. Das Werk konzentriert sich unter Aufsicht des Staatsministeriums in der Ansiedelungskommission (1908), die durch Ankauf von Gütern, insbesondere aber Parzellierung von Großgrundbesitz deutsche Dorfansiedelungen herzustellen in angestrengter Arbeit und mit gutem Erfolge bemüht ist; im Verlaufe von 27 Jahren wurden 21 000 deutsche Familien auf dem Lande angesiedelt, große Flächen dauernden deutschen Besitzes festgelegt (2300 qkm), und etwa 200 000 Deutsche dem Lande zugeführt; erhebliche Summen (bis 1912 726 Millionen Mark) wurden hierfür von Staats wegen wiederholt (1886, 1898, 1902, 1908, zuletzt 1913) bereitgestellt und als äußerstes Mittel behufs Weiterführung des großen Werkes seit 1908 die gesetzliche Möglichkeit der Enteignung gegen volle Entschädigung von hierfür geeignetem Grundbesitz im Gesamtumfang bis zu 70 000 ha ausdrücklich vorgesehen. Daß es sich bei diesen Enteignungen um „Gründe des öffentlichen Wohles“ im Sinne der Verfassungsurkunde, nämlich um den Schutz und die Stärkung des preußischen und deutschen Nationalstaates handelt, kann einem Deutschen nicht zweifelhaft sein.
Der Gedanke der Festigung und Stärkung des Deutschtums in Verbindung mit dem Gedanken der Förderung des Kleingrundbesitzes fand weiterhin 1912 auch gesetzliche Ausprägung für die „national gefährdeten Teile“ der Provinzen Ostpreußen, Pommern, Schlesien und Schleswig-Holstein; die als „national gefährdet“ zu betrachtenden Bezirke wurden durch Königliche Verordnung vom 12. März 1913 bestimmt; der Staat stellte für diese Gebiete 1912 die Summe von 100 Millionen Mark bereit zur Förderung des Kleingrundbesitzes durch deutsche Landwirte und Arbeiter; zugleich wurde in dem Gesetz Fürsorge dahin getroffen, daß der mit diesen Mitteln zu errichtende deutsche Kleingrundbesitz als solcher dauernd rechtlich gesichert bleibe in der Form von Rentengütern mit Anerbenrecht nach Maßgabe der hierfür erlassenen besonderen Gesetze.
Eine weitere gesetzliche Vorschrift zum Schutze des Deutschtums erging ferner 1904 dahin, daß bei Gründung neuer Ansiedelungen in den Provinzen Posen, Westpreußen, Schlesien, Ostpreußen sowie für die pommerschen Regierungsbezirke Stettin und Köslin, endlich für den brandenburgischen Regierungsbezirk Frankfurt a. O. die Genehmigung des Regierungspräsidenten für notwendig erklärt wurde; diese Genehmigung ist zu versagen, wenn die beabsichtigte Ansiedelung in Widerspruch steht mit den Gesetzen zum [174] Schutze des Deutschtums. Es war somit die bestimmte Absicht des Gesetzgebers, in den vorbezeichneten Gebieten die weitere Gründung von polnischen Niederlassungen auszuschließen.
3. Rechtsverhältnisse der Beamten.
Die Rechtsverhältnisse der Beamten haben in materieller Beziehung eine den geänderten Lebens- und Wirtschaftsverhältnissen entsprechende Neuregelung erfahren, sowohl was die Besoldungen als die Ruhegehälter, als die Fürsorge für Witwen und Waisen betrifft. Der Wohnungsgeldzuschuß wurde 1910 für die unmittelbaren Staatsbeamten, einschließlich der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen nach einem neuen Tarife geregelt. Die Amtskautionen wurden 1898 aufgehoben. Besondere Gesetze ergingen über die Reisekosten der Staatsbeamten, 1907 über die Besoldung der Richter, 1902 über Betriebsunfälle von Beamten. Die materielle Haftung für Amtspflichtverletzungen der Beamten bei Ausübung der öffentlichen Gewalt gemäß BGB. § 839 wurde grundsätzlich vom Staate übernommen. Die Anstellung und Versorgung der Kommunalbeamten wurden 1899 in ihren Grundlagen gleichfalls durch die Staatsgesetzgebung analog den Verhältnissen der Staatsbeamten geregelt; den mittelbaren Staatsbeamten wurden auch die Beamten der öffentlichen Feuerversicherungsanstalten angereiht.
Die Prinzipien des altpreußischen Beamtenrechtes, die heute noch auf der ausgezeichneten Gesetzgebung Friedrich Wilhelms I. beruhen, sind unverändert geblieben.
4. Immediatkommission.
Die gewaltige Entwickelung des deutschen Wirtschaftslebens seit 1866 stellt an die Staatsverwaltung heute wesentlich andere und sehr viel höhere Anforderungen, als dies früher der Fall war. Zur Prüfung der Frage, ob diesen neuen und erhöhten Anforderungen des Lebens der dermalige Verwaltungsorganismus noch gewachsen sei, wurde durch Allerhöchste Anordnung eine besondere Immediatkommission berufen. Aus dem Umstande, daß diese Immediatkommission trotz mehrjähriger Arbeit ein der Öffentlichkeit bekannt gewordenes, bedeutsames Ergebnis nicht gezeitigt hat, darf die erfreuliche Folgerung gezogen werden, daß die altbewährte preußische Verwaltung auch den großen Forderungen einer neuen Zeit durchaus gewachsen ist und einer Reform im großen nicht bedarf. Um so lebhafter möchte wohl der Wunsch sich geltend machen, daß in einer Reihe von äußeren organisatorischen und materiellrechtlichen Fragen von geringerer Bedeutung – Vereinheitlichung der überaus zersplitterten Selbstverwaltungsgesetzgebung, Vereinfachung des übermäßig kompliziert gewordenen Verwaltungsapparates der Verwaltungsbehörden einschließlich der Verwaltungsgerichte, Beseitigung veralteter Polizeivorschriften – die Gesetzgebung eine energische Tätigkeit behufs formeller und materieller Vereinfachung des preußischen Verwaltungsrechtes entwickeln sollte.
5. Die Städte.
Im Zusammenhang mit der gewaltigen Entwickelung des deutschen Wirtschaftslebens hat sich auf der Grundlage der Steinschen Städteordnung eine Blüte des preußischen – und des gesamten deutschen – Städtewesens [175] entfaltet, die an die Blütezeit der deutschen Städte in der ersten Hälfte des Mittelalters erinnert, ja sie wohl noch übertrifft. Eine umfassende neue Gesetzgebung war hierfür nicht erforderlich; nur für Hessen-Nassau mußte eine vollständige Städteordnung 1897 erlassen werden; in Einzelpunkten allerdings erfolgte eine Veränderung der bisherigen Gesetzgebung, so mußte insbesondere durch neue Gesetzesvorschriften 1900 das Recht der Stadtverordnetenwahl in Einklang mit der neuen Steuergesetzgebung gebracht werden; für die Bildung der drei Wählerabteilungen ist auch in den Gemeinden der Betrag der direkten Staats-, Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern zugrunde zu legen.
Einen erheblichen Umfang hat im Gesamtzusammenhang der wirtschaftlichen Entwickelung die gesetzgeberische Tätigkeit angenommen bezüglich der Bildung von Stadtkreisen und der Eingemeindung umliegender Gebiete in die Stadt, die selbst die völlige Aufhebung von Landkreisen (Mülheim a. d. Ruhr, Frankfurt a. M.) zur Folge hatte. Als besonders bemerkenswert mag die Vereinigung der drei Städte Saarbrücken, St. Johann und Malstadt-Burbach zur einheitlichen Großstadt Saarbrücken hervorgehoben werden (1909). Der Gedanke der Kreisordnung, daß die größeren Städte – nach Maßgabe der Bevölkerungsziffer, die in den verschiedenen Kreisordnungen verschieden bemessen ist – selbständige Kreise bilden, in denen die städtische Kommunalverwaltung zugleich die Geschäfte der Kreisverwaltung zu besorgen hat, hat durch die Zunahme der Bevölkerung eine immer wachsende Bedeutung für die Gesamtverwaltung des Staates gewonnen. Jede der 12 preußischen Provinzen zählt heute eine größere Anzahl von solchen „kreisfreien“ Städten, von „Stadtkreisen“. Das wohlverständliche Bestreben der Städte, ihrer Verwaltung die breitere Grundlage eines größeren Gebietes zu geben, das zusammentraf mit verwaltungstechnischen Notwendigkeiten, insbesondere für Zwecke der Polizeiverwaltung, hat zu zahlreichen Eingemeindungen in allen Teilen der Monarchie Veranlassung gegeben; man darf behaupten, daß die Frage der notwendigen oder wenigstens zweckmäßigen Eingemeindungen ein Problem des allgemeinen Verwaltungsrechtes geworden ist. Zurzeit erfolgen diese Eingemeindungen durch Einzelgesetze; ob es sich empfehlen würde, allgemein gesetzliche Normativbestimmungen hierüber zu erlassen, werden Regierung und Volksvertretung erwägen müssen.
6. Polizeiverwaltung.
Hinsichtlich der Organisation der Polizeiverwaltung ist seit 1900 eine Änderung dahin erfolgt, daß in Celle, Göttingen, Marburg die aus vorpreußischer Zeit bestehende staatliche Polizeiverwaltung als nicht erforderlich aufgehoben wurde und an deren Stelle städtische Polizeiverwaltung trat. Dagegen wurde andrerseits staatliche Polizeiverwaltung eingerichtet in den schwierigen Industriebezirken Essen und Gelsenkirchen. Die Grundlage hierfür bietet ein Gesetz von 1911, das in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg, Münster die Übertragung der Sicherheitspolizei an Staatsorgane auch für solche Orte gestattet, an welchen die allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen für Einrichtung staatlicher Polizei nicht gegeben sind. Auch auf den Regierungsbezirk Oppeln wurde dieser Grundsatz übertragen und noch auf die Gesundheits-, einschließlich der Veterinärpolizei ausgedehnt.
[176]
7. Die Landgemeinden.
Während die Verhältnisse der Städte in der ganzen Monarchie, ja für ganz Deutschland, im wesentlichen einheitlichen Charakter auf der Grundlage der Steinschen Städteordnung tragen, ist dies für die Landgemeinden nicht der Fall. Die Landgemeindeordnung von 1891 für die östlichen Provinzen hat an den tatsächlichen Zuständen keine erheblichen Änderungen hervorgebracht und eine Vereinheitlichung des Landgemeinderechtes durch Annäherung der östlichen Einrichtungen an die des Westens nicht zu bewirken vermocht. Zwar bestehen für die eigentlichen Landgemeinden, die Bauerndörfer, in ganz Deutschland ziemlich gleiche Verhältnisse; die Verwaltungseinrichtungen des Ostens sind für die Dörfer sogar noch selbständiger als in einem großen Teile des Westens, wo die napoleonischen Verwaltungsgrundsätze in der Form der, übrigens trefflich bewährten, Landbürgermeistereien der Rheinprovinz und der „Ämter“ in Westfalen die Organisation und Verwaltung der Landgemeinden beherrschen. Aber die auch heute noch in sämtlichen östlichen Provinzen – in der Zahl von zirka 16 000 – bestehenden besonderen Gemeindeeinrichtungen für den großen Grundbesitz, die „selbständigen Gutsbezirke“, lassen eine einheitliche Organisation der ländlichen Verwaltung in diesen Landesteilen nicht zu. Diese Verhältnisse sind das Ergebnis einer langen Geschichte und nur eine lange Geschichte wird sie ändern können; durch Parlamentsreden oder Zeitungsartikel gegen veraltete „feudale“ Zustände lassen sie sich nicht beseitigen. Und wer historisch denken zu müssen angesichts der großen Geschichte des preußischen Staates sich verpflichtet fühlt, der wird nicht vergessen, daß die großen Krisen dieses preußischen Staates im Siebenjährigen Kriege und dann wieder in den Freiheitskriegen nur deshalb nicht zu unheilbaren Katastrophen wurden, weil der große Grundbesitz durch seine oft die Leistungsfähigkeit übertreffende Opferfähigkeit in erster Linie das historische Verdienst beanspruchen darf, die Überwindung dieser Krisen ermöglicht zu haben. Auch volkswirtschaftlich wird der Großbetrieb in der Landwirtschaft im ganzen immer ertrags- und erfolgreicher sein als der Kleinbetrieb.
Demgegenüber steht die Notwendigkeit, bei steigender Bevölkerungsziffer der kleinen Landwirtschaft freie Bahn zu schaffen. Die Strömung der Zeit ist dem Großgrundbesitz nicht günstig, ja sie ist nicht selten direkt ungerecht gegen ihn.
Durch Aufteilung von hierzu geeigneten Domänen, Urbarmachung und Erschließung von bisher ertragsunfähigem Boden (Moorschutzgesetz von 1913), Erleichterung der Bildung von Kleingrundbesitz in Form von Rentengütern und durch andere Maßnahmen befördert der Staat das Bestreben der Herstellung und rechtlichen Sicherstellung von kleinem Bauernbesitz; aber der Staat wird in seinem eigensten Interesse dafür Sorge tragen müssen, daß auch der Großgrundbesitz lebensfähig bleibt und die richtige Mischung von Groß- und Kleingrundbesitz nicht verloren geht.
8. Zweckverband.
Ein neuer verwaltungsrechtlicher Gedanke wurde dem preußischen Verwaltungsrecht eingefügt im Zweckverband. Eine besondere Ausgestaltung fand dieser Gedanke für die Stadt Berlin, für „Groß-Berlin“. Im übrigen wurde durch Gesetz ein allgemeiner verwaltungsrechtlicher Rahmen des [177] Zweckverbandes dahin gezogen, daß für bestimmte verwaltungsrechtliche Aufgaben – Verkehrswesen, besonders Straßenbauten, Versorgung mit Elektrizität, Armenpflege, Erhaltung von Wiesen und Wäldern u. a. m. – sich verschiedene kommunalrechtliche Gebilde bis zum Kreis hinauf durch Beschluß des Kreis- bzw. bei Beteiligung von Städten und Landkreisen des Bezirksausschusses zur Erfüllung festbestimmter Aufgaben zusammenschließen können; es sind dann Satzungen aufzustellen und bestimmte im Gesetz vorgeschriebene Verbandsorgane (Verbandsausschuß, Verbandsvorsteher) zu bestellen und die Staatsaufsicht nach Maßgabe des Gesetzes wie über Kommunalverbände auszuüben. Die Zweckverbände haben das Recht, Steuern und Gebühren nach dem Kommunalabgabengesetze zu erheben. Daß die Bildung solcher Zweckverbände einem vielfach als dringend empfundenen kommunalen Bedürfnis Abhilfe schaffen wird, steht heute schon außer Zweifel; die gewaltige Entwickelung unseres Erwerbs- und Verkehrslebens hat solche Zweckverbände geradezu zur Notwendigkeit gemacht; die Gefahr, daß dadurch eine Lockerung der einheitlichen Kommunalverwaltung erwachsen könne, kann allerdings auch nicht gering bewertet werden.
9. Kommunalabgaben.
Die Erhebung der Kommunalabgaben wurde 1893 durch eine umfassende Spezialgesetzgebung, die der Kreis- und Provinzialabgaben durch Sondergesetz von 1906 neu geregelt und in Einklang mit der Staatssteuergesetzgebung gebracht.
10. Berlin.
Eines der schwersten Probleme des preußischen Verwaltungsrechtes bildet die verwaltungsrechtliche Stellung der Stadt Berlin. Der bereits in der Steinschen Gesetzgebung enthaltene Grundsatz, daß Berlin eine eigene Provinz bilden müsse, ist bis heute noch nicht verwirklicht. Durch das Zweckverbandsgesetz für Groß-Berlin, d. i. die Stadtkreise Berlin, Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf, Deutsch-Wilmersdorf, Lichtenberg, Spandau, sowie die Landkreise Teltow und Nieder-Barnim dürften die Hauptpunkte des Problems erledigt sein.
Der Zweckverband Groß-Berlin hat die Aufgabe
- 1. der Regelung des Verhältnisses zu öffentlichen, auf Schienen betriebenen Transportanstalten, ausgenommen die Staatseisenbahnen;
- 2. der selbständigen Mitwirkung bei den Bebauungs- und Fluchtlinienplänen sowie den Baupolizeiverordnungen;
- 3. der Erwerbung und Erhaltung größerer von der Bebauung freizuhaltender Flächen (Wälder, Parke, Wiesen, Seen, freie Plätze).
Die näheren Vorschriften hierüber sind im Gesetze selbst enthalten. Im übrigen sind Organisation und Rechte des Zweckverbandes Groß-Berlin nach dem Vorbilde des allgemeinen Zweckverbandsgesetzes geordnet. Die Staatsaufsicht führt der Oberpräsident von Brandenburg, in höherer Instanz der Minister des Inneren im Benehmen mit dem Finanzminister und dem Minister der öffentlichen Arbeiten; eine besondere, dem Bezirksausschuß nachgebildete, Beschlußbehörde unter Vorsitz des Oberpräsidenten hat die Aufsichtsfunktionen des Bezirksausschusses gegenüber dem Zweckverband wahrzunehmen.
[178] Der Polizeibezirk Berlin hat durch eine Reihe von Sondergesetzen eine besondere territoriale und sachliche Ausgestaltung gefunden und stellt allerdings auch heute schon eine weit über den Kommunalbezirk Berlin hinausreichende selbständige große Polizeiprovinz dar.
11. Verwaltungszwang.
Die Verwaltungsexekutive hat eine weitere Entwickelung gefunden durch neue Vorschriften über Verwaltungsstreitverfahren, Verwaltungszwangsverfahren und Verwaltungsstrafverfahren.
Das Verwaltungsstreitverfahren hat allerdings eine grundsätzliche Veränderung gegenüber den seit 1875, zuletzt durch die Gesetzgebung von 1883, geschaffenen Einrichtungen nicht gefunden; insbesondre ist der dreifache Instanzenzug Kreisausschuß, Bezirksausschuß, Oberverwaltungsgericht bis jetzt beibehalten worden. Der große Umfang, den die Arbeit des Oberverwaltungsgerichtes angenommen hat, führte 1911 zum Erlaß eines Gesetzes über die Bestellung von Hilfsrichtern bei dem obersten Verwaltungsgerichtshofe. Daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Fülle schwieriger und noch ungelöster Probleme in sich schließt, ist keinem Kundigen zweifelhaft und daraus folgt, daß die Gesetzgebung genötigt sein wird, sich zum gegebenen Zeitpunkte neuerdings eingehend mit dieser wichtigen Materie zu beschäftigen. Zweifellos hat die seit 1875 ergangene Gesetzgebung, insbesondre durch die im ganzen ausgezeichnete Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes, der gesamten Verwaltung und damit dem Staatsleben überhaupt eine erhöhte Sicherheit der Rechtsgrundlage gegeben, im einzelnen aber wird eine erhebliche Verbesserung durch Vereinfachung der dermaligen Einrichtungen sich als notwendig und auch als möglich erweisen; dabei wird als leitender Grundsatz streng festzuhalten sein, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Gewährung erhöhter Rechtssicherheit die Verwaltung stärken muß, nicht aber durch formalistische Eingriffe die Kraft der Verwaltung schwächen darf.
Das Verwaltungszwangsverfahren ist für alle Abgaben und anderweitigen Geldbeträge, die durch Verwaltungszwang beizutreiben sind, in einer umfassenden Königlichen Verordnung 1899 vollständig neu geregelt worden. Über das Verwaltungsstrafverfahren bei Zuwiderhandlungen gegen die Zollgesetze und die Vorschriften über indirekte Reichs- und Landesabgaben erging 1897 ein Gesetz, welches insbesondre die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und der ordentlichen Gerichte abgrenzt und ersteren auch die Entscheidung überträgt, insoweit es sich um Geldstrafen und Einziehung von Sachen handelt; zuständig hierfür sind die Hauptzoll- und Steuerämter bei geringeren, die Oberzolldirektionen bei schwereren Fällen. In welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die ordentlichen Strafgerichte einzutreten haben, ist gesetzlich bestimmt.
3. Die materielle Verwaltung
1. Das Schulwesen.
Das in der Verfassung vorgesehene allgemeine Schulgesetz hat bis jetzt nicht erlassen werden können. Wiederholte Versuche, dies große Gesetzgebungswerk zustande zu bringen, scheiterten, zuletzt im Jahre 1890. [179] Wohl aber sind eine Reihe von Sondergesetzen über das Elementarschulwesen ergangen. Die Gesetzgebung der letzten Zeit hat sich insbesondre mit den materiellen Grundlagen des Elementarschulwesens beschäftigt. Das große und schwere Problem der Unterhaltungspflicht für die Elementarschulen ist durch die ausgezeichnete und sehr eingehende Gesetzgebung von 1906 dahin gelöst worden, daß diese Pflicht grundsätzlich den Gemeinden obliegt, daß aber von Staats wegen für Schulzwecke erhebliche Zuschüsse an die Gemeinden geleistet werden. Der bisherigen Rechtszersplitterung auf diesem Gebiete und den zahllosen Streitfragen, die die Folge veralteter Rechtsvorschriften waren, ist mit der Gesetzgebung von 1906 ein Ende gemacht worden. Im Anschluß an dieses Gesetz erging 1909 ein vollständiges Gesetz über das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen. Die staatlichen Aufwendungen für das Schulwesen betrugen 1888 noch 62 Millionen Mark, 1913 dagegen rund 223 Millionen Mark.
Fortbildungsschulen.
Außer der großen finanziellen Neugestaltung des Elementarschulwesens hat auf dem Gebiete des Schulwesens zu gesetzgeberischem Eingreifen noch das Problem der sog. Fortbildungsschulen geführt. Das preußischdeutsche Schulwesen beruht auf dem Prinzipe des Schulzwanges für alle Kinder ohne jede Ausnahme vom vollendeten 6. Lebensjahre ab für die Dauer von 8 Jahren. Nach der Schulentlassung erfolgt bei der weitaus größten Zahl der Kinder der Eintritt in das Erwerbsleben des Volkes. Mit dem 20. Lebensjahre beginnt dann eine zweite Periode staatlicher Zwangspflicht für den größten Teil der männlichen Jugend, die Zeit der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht. Eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung zu weiterem Schulunterricht nach Entlassung aus der Volksschule besteht zurzeit nicht. Es hat sich nun, zuerst in den Städten und auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens, das starke Bedürfnis geltend gemacht, sog. Fortbildungsschulen zu errichten, sei es zu fachlicher Ausbildung junger Leute, sei es zur Förderung allgemeiner Bildung. Durch ein kraftvolles Zusammenwirken der staatlichen Verwaltung im Handelsministerium mit zahlreichen städtischen Verwaltungen hat dieser Gedanke der gewerblichen Fortbildungsschulen auf der Grundlage der fachlichen Ausbildung eine starke Entwickelung in der Rechtsform gefunden, daß den Städten durch Gesetz gestattet wurde, eine Verpflichtung zum Besuche dieser Fortbildungsschulen durch Ortsstatut aufzustellen.
Inzwischen hatten aber auch auf anderen Gebieten sich gleiche Bedürfnisse geltend gemacht, insbesondre in dem weiten Bereiche der Landwirtschaft, und es wurde diesen Bedürfnissen in ähnlicher Weise wie durch die gewerblichen Fortbildungsschulen der Städte durch ländliche Fortbildungsschulen Rechnung getragen. Die einschlägige Gesetzgebung erging für einzelne Provinzen und ihre Ausführung wurde den Gemeinden, teilweise auch den Kreisen auf statutarischem Wege freigegeben. (Schlesien 1910, Hannover 1909, Hessen-Nassau 1904, Westpreußen und Posen 1886–1898, für die übrigen Provinzen 1913.)
Bei dieser Entwickelung der Dinge konnte es nicht ausbleiben – und es geschah dies zuerst im Herrenhause durch den Feldmarschall Graf Häseler – daß sich die Frage erhob, ob nicht das gesamte Fortbildungsschulwesen, gewerbliches wie [180] landwirtschaftliches wie etwa sonst noch vorhandenes, auf eine einheitliche Grundlage für die ganze Monarchie zu stellen sei, derart, daß für alle aus der Volksschule Entlassenen, weiblichen wie männlichen Geschlechtes, für die auf die Entlassung unmittelbar folgende Zeit eine Einheits-Fortbildungsschule, die nicht technischfachlichen, sondern allgemeinen Bildungs- und vaterländischen Interessen zu dienen habe, eingerichtet werden müsse. Die ernsten Zeichen der Zeit mußten eine starke Mahnung in diesem Sinne sein, um nicht die deutsche Jugend verderblichen Einflüssen rettungslos anheimfallen zu lassen. In diesem Sinne ist auch eine „Jugendpflege“ in großem Stile gefordert und in Angriff genommen worden; staatliche, kirchliche, private und Vereinsbestrebungen wirken für diesen großen Zweck. Leider scheint die Entwickelung dieser Frage vorerst nicht in die richtigen Bahnen zu kommen; parlamentarische Erörterungen scheinen sie mehr geschädigt als gefördert zu haben. Daß es sich in dieser Frage um eine der größten Aufgaben für die Zukunft unseres Volkes und Staates handelt, ist ohne weiteres klar. Nicht „gewerbliche“ oder „landwirtschaftliche“ Interessen gilt es zu schützen, sondern nicht mehr und nicht weniger, als die Zukunft unseres ganzen Volkes. Von diesem Gesichtspunkte aus wird eine einheitliche gesetzliche Grundlage des Fortbildungsschulwesens in der ganzen Monarchie gefordert werden müssen; die Fortbildungsschule muß in der Rechtsform staatlichen Zwanges – nicht nach Ortsstatut! – das Mittelglied bilden zwischen dem staatlichen Zwange der Elementarschule und dem staatlichen Zwange der Erfüllung der Wehrpflicht. Nur so kann das Problem seine richtige und segensreiche Lösung finden; die Berücksichtigung „gewerblicher“ Interessen braucht dabei keineswegs ausgeschlossen zu werden, muß jedoch gegenüber der großen Staatsaufgabe sittlicher und vaterländischer Art, die gelöst werden muß, in zweiter Linie stehen. Die Grundsätze für Einrichtung und Ausgestaltung dieser einheitlichen Fortbildungsschule, der in erster Linie die „Jugendpflege“ obliegt, müßten durch Gesetz oder vom Staatsministerium aufgestellt werden.
Hochschulen.
Die glänzende Blüte der preußischen Hochschulen dauerte auf den bisherigen Grundlagen in unveränderter Weise fort. Den alten Universitäten sind infolge neuer Verhältnisse und Bedürfnisse besondere technische Hochschulen, sowie Hochschulen für Bergwesen, Veterinärwesen, Forstwesen ergänzend zur Seite getreten. Den technischen Hochschulen sowie der tierärztlichen Hochschule (1910) wurde durch Allerhöchste Erlasse das Promotionsrecht gewährt. Durch Gesetz wurden 1898 die Disziplinarverhältnisse der Privatdozenten geregelt und dieses Gesetz 1908 auch auf die technischen Hochschulen ausgedehnt.
Fürsorgeerziehung
An dieser Stelle ist auch zu nennen das Gesetz von 1900 über zwangsweise Fürsorgeerziehung von Personen unter 18 Jahren in geeigneten Familien oder besonderen Fürsorgeanstalten gemäß Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen; die Ausführung des Gesetzes ist den Provinzialverbänden überwiesen unter Aufsicht des Ministers des Innern.
[181]
Blinde und Taubstumme.
Für Beschulung blinder und taubstummer Kinder erging 1911 ein besonderes Gesetz.
Daß das Schulwesen in seinen verschiedenen Graden und Arten einen der glänzendsten Zweige der preußischen Staatsentwickelung in Geschichte und Gegenwart bildet, ist wohl im Auslande noch in viel höherem Maße anerkannt, als in Deutschland selbst; als äußeres Zeichen dieser Wahrheit mag nur erwähnt werden, daß die des Lesens und Schreibens unkundigen Personen aus dem Heere fast ganz verschwunden sind.
2. Staat und Kirche.
Eine quantitativ überaus umfassende Tätigkeit hat die preußische Gesetzgebung der letztvergangenen Jahrzehnte entfaltet für das Gebiet der evangelischen Kirche in den mehrfachen Rechtsgestaltungen, die diese Kirche in den verschiedenen Teilen des heutigen Staates Preußen darstellt. Da auch die evangelische Kirche sich heute seit und kraft der Gesetzgebung der 70er Jahre der verfassungsmäßigen Selbständigkeit gegenüber dem Staate, jedoch unter Festhaltung des aus der Reformation historisch überkommenen landesherrlichen Kirchenregiments, erfreut, kann es sich bei der Staatsgesetzgebung in Dingen der evangelischen Kirche nur um äußere Angelegenheiten handeln. In Dingen der Verfassung und Verwaltung erfolgten grundsätzliche Änderungen nicht. Ein neuer Gedanke fand Aufnahme in das Verfassungsrecht der beiden großen christlichen Kirchen in der Form der Parochialverbände, d. i. der Zusammenfassung mehrerer Gemeinden zu einheitlicher Verwaltungsgemeinschaft für bestimmte Zwecke (Bau von neuen Kirchen, Anlage von Friedhöfen u. a. m.), insbesondre in großen Städten. Für die materiellen Grundlagen der evangelischen Kirche wurden in sehr umfassender Weise staatliche Geldmittel bereitgestellt und ihre Verwendung gesetzlich zuletzt im Jahre 1909 durch Pfarrbesoldungsgesetze, Ruhegehaltsordnungen und Fürsorgegesetze für Witwen und Waisen für die verschiedenen „Landeskirchen“ geregelt. Es bestand hierfür ein um so dringenderes Bedürfnis, als durch die neuere Kirchen- und Staatsgesetzgebung die sog. Stolgebühren für kirchliche Amtshandlungen grundsätzlich aufgehoben wurden. Gemäß dem streng gewahrten Prinzipe der Parität erfolgte eine Neuordnung in analoger Weise auch für die katholische Kirche. Weitere oder anderweitige gesetzliche Maßnahmen für das Verhältnis von Staat und Kirche zu treffen, war im letzten Vierteljahrhundert keine Veranlassung. An innerkirchlichen Schwierigkeiten fehlte es zwar weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu einem Eingreifen des Staates in diese inneren Fragen des kirchlichen Lebens aber bestand keine Notwendigkeit; Staat und Kirche lebten im ganzen in friedlicher, von gegenseitigem Wohlwollen getragener Eintracht. Eine Reihe von rechtlichen Beschränkungen der sog. Altlutheraner wurde durch ein Sondergesetz von 1908 aufgehoben. Das kirchliche Besteuerungsrecht fand durch verschiedene Sondergesetze, so insbesondere auch für die katholischen Diözesen, durch Staatsgesetze von 1903 und 1906 eine weitere Ausgestaltung.
Im übrigen siehe die besonderen Kapitel dieses Werkes über die evangelische und katholische Kirche.
[182]
3. Das Medizinalwesen.
Die staatliche, seit 1. April 1911 an das Ministerium des Inneren übergegangene Medizinalverwaltung besteht nach der geltenden Reichsgesetzgebung wesentlich nur in Handhabung von Staatsaufsicht. Der Staat hat sich zu diesem Zwecke besondere Organe von Sachverständigen geschaffen. Vor allem gehören hierher die seit 1899 eingerichteten und durch Gesetz von 1904 weiter ausgestalteten Ärztekammern und die aus ihnen gebildeten ärztlichen Ehrengerichte; neben den allgemeinen Ärztekammern wurde 1912 eine besondere Zahnarztkammer gebildet. Schon 1901 war auch eine Standesvertretung für die Apotheker in den Apothekerkammern und dem Apothekerkammer-Ausschuß eingerichtet worden.
Staat und Ärzte.
Eine eigentliche Medizinalverwaltung besteht im übrigen nur, insoweit es sich um Ausübung der Heilkunde in staatlichen oder gemeindlichen Anstalten handelt, was allerdings in großem Umfange und auf verschiedenen Gebieten der Fall ist. In die allgemeine Staatsverwaltung sind in Preußen nur die Kreisärzte seit 1899 eingefügt als „staatliche Gesundheitsbeamte“ des Kreises und technische Berater des Landrates in unmittelbarer Unterordnung unter den Regierungspräsidenten; die Kreisärzte sind zugleich Gerichtsärzte ihres Bezirkes. In Gemeinden von mehr als 5000 Einwohnern sind besondere Gesundheitskommissionen zu bilden. Die Zukunft wird lehren, ob für die ärztliche Tätigkeit weiterhin der Gedanke des freien Gewerbebetriebes oder die Wiederangliederung an die Staatsverwaltung das maßgebende Prinzip sein wird; durch die Kassenärzte des Reichsversicherungsrechtes hat der letztere Gedanke eine neue Anwendung und weitere Stärkung erfahren.
Feuerbestattung.
In diesem Zusammenhange mag auch das Gesetz über die Feuerbestattung kurze Besprechung finden. Unter heftigen Kämpfen der öffentlichen Meinung fand dieses Gesetz in Preußen 1912 seinen gesetzgeberischen Abschluß, nachdem bereits anderwärts in Deutschland die Feuerbestattung gesetzlich zugelassen worden war. Daß dies Gesetz nicht gegen die Lehren des christlichen Glaubens verstößt, ist allgemein zugegeben; wohl aber steht es im Widerspruch mit den Ordnungen der katholischen Kirche. Demgemäß hat niemand daran gedacht, eine allgemeine obligatorische Feuerbestattung einzuführen; vielmehr ist die Wahl dieser Bestattungsart völlig dem freien Belieben anheimgestellt. Feuerbestattungsanlagen herzustellen ist nach dem preußischen Gesetz Sache der Gemeinden, deren Beschlüsse hierfür einer erhöhten Mehrheit bedürfen; der Wille, diese Bestattungsart zu wählen, muß ausdrücklich und formell erklärt werden; im Interesse der Rechtspflege sind strenge Garantien vorgesehen.
Übertragbare Krankheiten.
Über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten war 1905 ein besonderes Gesetz erlassen worden, das in Anschluß an das hierüber erlassene Reichsgesetz von 1900 für bestimmte Krankheiten [183] die Anzeigepflicht, die Feststellung der Krankheitsursache und bestimmte Schutzmaßregeln nebst Entschädigungs- und Strafvorschriften feststellt.
4. Das Eisenbahnwesen.
Das preußische Eisenbahnwesen hat auf den seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre gelegten gesetzlichen Grundlagen von Jahr zu Jahr eine größere Ausdehnung und Ausbildung erfahren. Zahlreiche neue Linien wurden eröffnet, das Staatsbahnnetz wurde durch den Erwerb von Privatbahnen stetig erweitert, der internationale Durchgangsverkehr fortwährend verbessert und erleichtert – es sei hier nur an die Herstellung der direkten Verbindung mit Schweden durch die Eisenbahn-Dampfer-Verbindung Saßnitz–Trelleborg seit 1908 erinnert –, der Betrieb gemäß den gemachten Erfahrungen stetig verbessert – ein gewaltiges System wirtschaftlicher Verkehrseinheit, das in seinen unter ausgezeichneter Leitung täglich sich steigernden Fortschritten einzig in der Welt dasteht und geradezu vorbildlich für die Welt geworden ist. An das große Netz der Haupteisenbahnen schließt sich in fortwährend steigendem Umfange ein Netz von Neben- und Kleinbahnen (Gesetz von 1892), das selbst in den wirtschaftlich schwächeren Landesteilen unter andauernder verständnisvoller Fürsorge des Staates bereits einen sehr großen Umfang angenommen hat. Alle diese Erfolge sind das, gewissermaßen durch die Natur der Dinge vorgezeichnete Ergebnis des großen, von Bismarck unternommenen und von Maybach durchgeführten, Gesetzgebungswerkes der Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen seit 1878, das von den hervorragenden Nachfolgern Maybachs in großartiger Weise weiterentwickelt wurde. Durch den Anschluß von Hessen an das preußische Eisenbahnsystem 1896 fand dieses eine hochwichtige Abrundung, so daß dermalen das preußisch-hessisch-elsaßlothringische Eisenbahnnetz als einheitliches Verwaltungsgebiet den weitaus größten Teil des Reichsgebietes beherrscht. Eine besondere Hervorhebung verdient hier die Fürsorge Preußens für die deutschen Kleinstaaten; in geradezu einzigartiger Weise hat Preußen im Laufe der letzten Jahrzehnte die deutschen Kleinstaaten mit zweckmäßigen Eisenbahnverbindungen ausgestattet. Die dermalige Organisation dieses gewaltigen Eisenbahnkomplexes beruht auf der, durch die spätere Entwicklung allerdings vielfach abgeänderten Verwaltungsordnung von 1895 (neueste Fassung von 1907); die Verwaltung wird geführt durch Eisenbahndirektionen in den Provinzen und das Eisenbahnzentralamt (seit 1907) in Berlin; oberste Instanz ist das Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Durch Gesetz von 1892 (jetzige Fassung 1910) bereits waren der Staatsverwaltung sachverständige Beiräte aus den Kreisen des Erwerbslebens im Landes-Eisenbahnrat für die Zentralverwaltung, in den Bezirks-Eisenbahnräten für die einzelnen Direktionsbezirke beigeordnet worden. Die Eisenbahneinnahmen betragen nach dem Staatshaushalt von 1912 die ungeheure Summe von 2 Milliarden und 331 Millionen Mark, denen eine Ausgabe von fast 2 Milliarden gegenübersteht, so daß immer noch ein gewaltiger Überschuß der Einnahmen für allgemeine Staatszwecke verfügbar bleibt und der Eisenbahnetat geradezu zum Mittelpunkt der preußischen Staatsfinanzen geworden ist. Für Zwecke der Eisenbahnverwaltung wurde 1903 durch Gesetz ein Ausgleichfonds von 200 Millionen Mark gebildet. Im übrigen siehe die besondere Darstellung.
[184]
5. Handel und Gewerbe.
Die Handel und Gewerbe betreffende Gesetzgebung liegt in der Hauptsache in den Händen des Reiches. Die zur Wahrung der Interessen von Handel und Gewerbe teilweise schon seit langer Zeit bestehenden landesrechtlichen Sachverständigenorgane, die Handels- und Gewerbekammern, haben durch die Gesetzgebung eine weitere Ausgestaltung erfahren; demgemäß erfolgte eine Neuredaktion des Handelskammergesetzes im Jahre 1897. Ein umfassendes Sondergesetz hat 1910 die Rechtsverhältnisse des Geschäftsbetriebes der öffentlichen Feuerversicherungsanstalten neu geregelt, von dem Grundsatze ausgehend, daß diese Anstalten nur dem gemeinen Nutzen, nicht Erwerbszwecken zu dienen haben. Eine besondere Warenhaussteuer, die 1900 eingeführt wurde, bezweckte in erster Linie den Schutz der kleinen Gewerbetreibenden gegen den erdrückenden Wettbewerb der großen Warenhäuser, deren Warenumsatz 400 000 Mark übersteigt.
Die alte Seehandlung Friedrichs des Großen fand 1904 eine gesetzliche Neugestaltung als Preußische Bank unter Erhöhung des Betriebskapitals um 65 Millionen Mark. Auch sonst trat der preußische Staat in den Wettbewerb von Handel und Industrie ein, so insbesondere durch Beteiligung an der Bergwerksgesellschaft Hibernia mit 70 Millionen Mark. Das Monopolrecht des Staates für Aufsuchung und Gewinnung von Erdprodukten erfuhr 1910 – in Abänderung des Allgemeinen Berggesetzes von 1865 – eine Neuordnung dahin, daß Erdöl, Steinsalz, Kali-, Magnesia- und Borsalze diesem Monopol unterstellt wurden: eine gesetzgeberische Maßnahme von allergrößter grundsätzlicher Bedeutung, die auf der Grundlage der Reichsgesetzgebung erfolgte. Über den gewaltigen Aufschwung von Handel und Industrie des privaten Erwerbslebens, der dem letzten Menschenalter für Deutschland geradezu die Signatur gibt und in der deutschen Geschichte keine Parallele hat, wird an anderer Stelle dieses Werkes berichtet werden.
Auch die Gesetzgebung über die Arbeiterverhältnisse gehört in erster Reihe zur Zuständigkeit des Reiches. An der staatlichen Fürsorge für Arbeiter hat sich die preußische Gesetzgebung seit 1895 in besonderer Weise betätigt durch wiederholte Gewährung staatlicher Mittel zur Herstellung guter und billiger Arbeiterwohnungen für staatlich beschäftigte Arbeiter sowie gering besoldete Beamte sowie durch Beförderung der Einrichtung von Wanderarbeitsstätten durch die Provinzen. Ferner erging im Jahre 1909 ein umfassendes Gesetz über Handhabung der Aufsicht in Bergwerken, insbesondere auf Steinkohlen-, unterirdisch betriebenen Braunkohlen- und Erzbergwerken sowie auf Kalisalzbergwerken (Sicherheitsmänner und Arbeiterausschüsse) in Abänderung der Vorschriften des Allgemeinen Berggesetzes. Zur Erledigung von Bergarbeiterstreitigkeiten waren schon 1906 Knappschaftsschiedsgerichte und als höhere Instanz ein Oberschiedsgericht geschaffen worden.
6. Landwirtschaft.
Dagegen ist die Regelung der Rechtsverhältnisse der Landwirtschaft im wesentlichen der Landesgesetzgebung verblieben und zahlreiche preußische Gesetze der letzten Zeit beziehen sich hierauf.
Die großen Daseinsfragen der Landwirtschaft in richtiger Weise zu beantworten, [185] war allerdings Sache der Reichsgesetzgebung, die – insbesondere durch Zollschutz für die landwirtschaftliche Produktion und durch hierauf begründete Handelsverträge – diesem wichtigen Problem in gewissenhafter Weise ihre Arbeit widmete. Die Einzelfragen der landwirtschaftlichen Verwaltung dagegen verblieben dem Landesrecht. Die preußische Gesetzgebung hierüber läßt sich in folgender Weise gliedern.
a) Allgemeinen Interessen der Landwirtschaft dient die 1894/95 im Anschluß an bisherige Einrichtungen gleichheitlich durchgeführte Organisation der Landwirtschaftskammern als Standes- und Interessenvertretungen der Landwirtschaft in den einzelnen Provinzen.
b) In Weiterführung des seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung begonnenen Werkes der richtigen Gestaltung des Grundbesitzes ergingen Gesetze über Regulierung der gutsherrlichbäuerlichen Verhältnisse, Ablösung von Grundlasten, Auseinandersetzungen, Teilung und Zusammenlegung von Grundstücken; mehrfach erfolgte durch Staatsgesetze insbesondere auch die Regelung der zwangsweisen Umlegung von unbebauten Grundstücken in großen Städten, „aus Gründen des öffentlichen Wohles zur Erschließung von Baugelände sowie zur Herbeiführung einer zweckmäßigen Gestaltung von Baugrundstücken“, so zuerst in Frankfurt (1902/07); die für Frankfurt (lex Adickes) erlassenen Gesetze wurden weiterhin auch auf andere Städte übertragen, so auf Posen, Cöln, Wiesbaden; die Umlegung erfolgt durch besondere vom Regierungspräsidenten zu bestellende Umlegungskommissionen mit Vorbehalt des Rechtsweges bezüglich der zu leistenden Entschädigungen.
c) In großem Maßstabe beschäftigte sich die Gesetzgebung mit der „inneren Kolonisation“ durch Schaffung von Kleingrundbesitz.
Für die polnischen Landesteile erfolgte diese großzügige Bauernansiedelung zugleich im Interesse der Ausbreitung des Deutschtums, wie dies oben bereits besprochen wurde. Aber auch in den übrigen Landesteilen ergingen Gesetze zur Förderung dieser inneren Kolonisation, so die Gesetze über Rentengüter 1890/91 und Zwischenkredit bei Rentengutsgründungen (1910), über Höferollen, über das Höchstmaß der Verschuldung des Kleingrundbesitzes (1906), allgemein, ausgenommen die Stadt Berlin, eingeführt vom 1. Juli 1913.
d) Der Pflege der Jagd diente das besondere Wildschongesetz von 1905, das 1907 eingefügt wurde in die vollständige Regelung der nach vielen Richtungen schwierigen und streitigen Materie des gesamten Jagdrechtes durch die Jagdordnung, die in der ganzen Monarchie, ausgenommen Hannover, Helgoland und Hohenzollern, gilt.
e) Auf dem Gebiete der Fischerei erging 1911 ein besonderes Gesetz, das die Erwerbung von Fischereiberechtigungen für den Staat vorsah in Gewässern, die durch Wasserbauten des Staates betroffen werden.
f) Auf das Wegewesen bezieht sich das Gesetz, das die Reinhaltung öffentlicher Wege (1912) als Gemeindepflicht erklärte; außerdem wurden für einzelne Provinzen vollständige Wegeordnungen (Ostpreußen 1911, Westpreußen 1905, Sachsen 1891, Posen 1907) erlassen und durch Sondergesetz die Grundsätze über Vorausleistungen für öffentliche Wege 1902 festgestellt zur Ausgleichung der durch besondere Verhältnisse [186] (Fabriken, Bergwerke) veranlaßten außerordentlichen Abnutzung und Schädigung solcher Wege.
g) Eine bessere Gestaltung der Tierheilkunde bezweckte die Verordnung (1911) über Einrichtung einer besonderen Standesvertretung der Tierärzte durch Tierärztekammern, die für jede Provinz errichtet und mit Disziplinargewalt über die Tierärzte der Provinz ausgestattet wurden, sowie eines Tierärztekammerausschusses für den ganzen Staat. 1910 war bereits ein Landesveterinäramt nebst einem ständigen Beirat für Veterinärwesen errichtet worden.
h) Behufs Erfüllung der reichsgesetzlichen Versicherungspflicht auf dem Gebiete der Landwirtschaft wurden 1902 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften für jede Provinz, eingeteilt in Sektionen für den Umfang des Kreises, errichtet und 1912 gemäß der neuen Versicherungsordnung umgestaltet.
i) Dem ästhetischen Interesse an der Erhaltung schöner Landschaftsbilder dienen die Gesetze von 1902 und 1907, durch welche Fürsorge dahin getroffen wurde, daß durch polizeiliche Maßregeln die Verunstaltung der Landschaft durch Bauten, Reklameplakate und dgl. untersagt werden kann.
k) Endlich hat die Staatsgesetzgebung die Fürsorge für den landwirtschaftlichen Kredit in umfassender Weise betätigt durch Errichtung einer Zentralgenossenschaftskasse (1895), deren Kapital 1896 auf 20, 1898 auf 50, 1909 auf 75 Millionen Mark festgesetzt, und deren Tätigkeit der Aufsicht der Oberrechnungskammer unterstellt wurde; ihre Aufgabe ist die Gewährung von Kredit an Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, land- und ritterschaftliche Darlehnskassen und ähnliche von den Provinzen errichtete Institute, die ihrerseits den Einzelkredit an Landwirte zu vermitteln haben. Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen, durch die Gesetzgebung des Staates mächtig gefördert, hat sich von 500 Genossenschaften i. J. 1888 auf über 26 000 gesteigert.
7. Das Wasserwesen.
In höchst umfassender Weise waren in letzter Zeit die Wasserverhältnisse im Staate Gegenstand der Landesgesetzgebung teilweise im Zusammenhang mit gesetzgeberischen Maßnahmen des Reiches, die auf Grund der Reichsverfassung erfolgten.
a) In Ergänzung der staatlichen Verwaltungstätigkeit werden „zur beratenden Mitwirkung bei dem Bau und Betriebe der nach dem Wasserstraßengesetz vom 1. April 1905 herzustellenden und auszubauenden Wasserstraßen“ Beiräte aus Sachverständigen eingerichtet und für das ganze Wasserstraßennetz des Staates ein Gesamtwasserstraßenbeirat gebildet. In Analogie der Eisenbahnräte sollen diese Wasserstraßenbeiräte alle Fragen des Wasserverkehrs beraten und der Regierung die erforderlichen Vorschläge hierfür machen.
b) Der Verkehr auf den großen Wasserstraßen wurde durch Gesetze und Staatsverträge verbessert und erleichtert, so besonders durch einen großen Staatsvertrag mit Hamburg (1908) über Regulierung der Elbe und die Schiffahrt auf der Elbe nach Hamburg, Altona und Harburg, sowie Staatsverträge mit Bremen (1904, 1906) über die Schiffahrt auf der Weser.
[187] c) Der Schutz der „natürlichen oder künstlich erschlossenen Mineral- und Thermalquellen, deren Erhaltung ihrer Heilwirkung wegen aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohles notwendig erscheint“, wurde durch Gesetz von 1908 sichergestellt.
d) In umfassender Weise wurde das Kanalwesen auszustatten unternommen. In Herstellung dieser Wasserwege war Preußen zurückgeblieben; die rapide Steigerung des Verkehrs war nunmehr Anlaß, das Werk in großem Maßstabe aufzunehmen. Grundlage für das systematische Vorgehen der Staatsgesetzgebung in dieser großen Verkehrsfrage war die Gesetzgebung von 1886 über den Dortmund–Emskanal. Das Wasserstraßengesetz von 1905 ordnete dann in großzügiger Weise die preußischen Kanalbauten.
Für den Rhein-Weser- und den Lippekanal ist durch Gesetz von 1913 das Schleppmonopol des Staates aufgestellt worden, soweit es sich um Fahrzeuge handelt, die nicht von Menschen oder Tieren gezogen werden oder nicht mit eigener Kraft fahren.
e) Gegen die Hochwassergefahren, die besonders in Schlesien viel Unheil angerichtet hatten, wurde zuerst eine Reihe gesetzlicher Maßnahmen aus unmittelbaren Anlässen getroffen; weiterhin wurde 1905 eine umfassende Gesetzgebung zu dauernder Sicherung des Landes gegen Hochwasser zustande gebracht. Das Gesetz schreibt vor, daß durch den Oberpräsidenten ein Verzeichnis der bei Hochwasser gefahrdrohenden Wasserläufe festzustellen sei, daß ferner die Feststellung des Überschwemmungsgebietes zu erfolgen habe, und daß in diesem Gebiete besondere staatlich vorgeschriebene Schutzmaßregeln durchzuführen seien, insbesondere Genehmigung bei bestimmten baulichen Anlagen, gibt endlich die erforderlichen Strafvorschriften.
Auf der Grundlage der allgemeinen Vorschriften wurden noch mehrere Sondergesetze erlassen für einzelne Stromgebiete (Havel 1904, obere und mittlere Oder 1905, Nogat 1910). Mit großer Sorgfalt haben Staatsregierung und Volksvertretung sich gemeinsam in angestrengter Arbeit und unter Aufwendung bedeutender Staatsmittel bemüht, die Hochwassergefahren durch große Wasserbauten auf ein geringeres Maß zurückzuführen.
f) Im Industriegebiet des Westens wurde 1904 durch Staatsgesetz die Grundlage geschaffen für eine Wassergenossenschaft besonderen Charakters, die Emschergenossenschaft. Es handelt sich hierbei um die zwangsweise Zusammenfassung von Gemeinden und Fabrikanlagen zum Zwecke, einerseits Überschwemmungsgefahren durch gemeinsame Vorkehrungen abzuwenden, andererseits das Wasser zu schützen gegen die gesundheitsgefährlichen Stoffe, die ihm durch industrielle Anlagen zugeführt werden. Demgemäß ist diese Emschergenossenschaft ein großangelegtes und großzügig durchgeführtes Unternehmen zum Schutze des für die menschliche Gesundheit erforderlichen Wassers. Ob aus den hier in kleinem Kreise gemachten Erfahrungen sich allgemeine gesetzgeberische Grundsätze werden ableiten lassen, muß dahingestellt bleiben. Ein analoges Spezialgesetz wie für die Emscher wurde 1913 für das Rawagebiet erlassen. Zahlreiche Entwässerungsgenossenschaften zur Ordnung der Wasserverhältnisse in engeren Kreisen wurden errichtet und durch staatliche Genehmigung ihrer Statuten unter staatliche Förderung [188] und Aufsicht gestellt. Eine umfassende Genossenschaft dieser Art wurde 1913 für das linksniederrheinische Industriegebiet durch Sondergesetz geschaffen.
g) Endlich wurde 1913 nach jahrzehntelangen schwierigen Arbeiten in verschiedenen Ministerien und nach gründlicher parlamentarischer Beratung das große Wassergesetz zum Abschluß gebracht, das an die Stelle eines überaus zersplitterten, teilweise völlig veralteten und im ganzen jedenfalls sehr unzureichenden Rechtszustandes ein einheitliches, der heutigen Rechts- und Kulturentwicklung entsprechendes Wasserrecht für die ganze Monarchie schuf, zweifellos eines der hervorragendsten Gesetzgebungswerke der Neuzeit, das in erster Linie einen Ruhmestitel des Landwirtschaftsministeriums bildet.
4. Das Finanzwesen
Staatssteuern.
Die in der ganzen Welt sprichwörtlich gewordene altpreußische Sparsamkeit ist einer der größten Ruhmestitel des alten brandenburgischpreußischen Staates. Ihr typischer Vertreter ist, ebenso wie für die meisten anderen Zweige der Verwaltung, der große „innere König“ Friedrich Wilhelm I. Nur durch diese strenge Sparsamkeit war die Möglichkeit gegeben, daß das alte Preußen mit seinem von der Natur nur kärglich ausgestatteten Staatsgebiete den welthistorischen Weg gehen konnte, der zur Aufrichtung des Deutschen Reiches führte.
Die Aufrichtung des Reiches stellte das neue schwere Problem der Teilung der Finanzquellen des Staates zwischen Reich- und Einzelstaaten. Die Reichsverfassung gibt zur Lösung dieses Problems zweifellos den allgemeinen Grundsatz: dem Reiche die Zölle und indirekten Steuern, den Einzelstaaten die direkten Steuern. Aber daß dieser Grundsatz von Anfang an nicht als ein streng ausschließlicher betrachtet wurde, beweisen die Worte „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ im ursprünglichen Wortlaut der norddeutschen und der Reichsverfassung Art. 70, die der Vorschrift über die Erhebung von Matrikularbeiträgen beigefügt sind und diese letzteren ganz zweifellos als einen nur vorläufigen, demnach sobald als möglich zu beseitigenden Bestandteil des Reichsfinanzrechtes erklärten.
Nach mehrfachem Schwanken und Experimentieren, wodurch die Grundsätze der strengen altpreußischen Finanzwirtschaft zeitweise in schwere Gefahr kamen, erfolgte der große Neubau des preußischen Finanzsystems durch die Steuergesetzgebung des Finanzministers Miquel seit 1891, fortgeführt von seinen hervorragenden Nachfolgern, eines der großartigsten und ruhmvollsten Werke der preußischen Gesetzgebung überhaupt. Die – im einzelnen an anderer Stelle dieses Werkes gewürdigten – Gesetze sind: das Gesetz, durch das die kleinen Einkommen steuerfrei gestellt wurden; das große Einkommersteuergesetz, dem ergänzend das Gewerbesteuergesetz sowie das Gesetz über die sog. Ergänzungssteuer (ein unmittelbarer Vermögensbeitrag an den Staat) zur Seite traten.
Im Anschluß an diese Neuordnung der Staatssteuern erging sodann das Gesetz über die Gemeindebesteuerung 1893, ergänzt durch das Gesetz über die Erhebung von Kreis- und Provinzialabgaben (1906); die Gemeindebesteuerung von Militärpersonen [189] wurde in besonderer Weise geordnet. Weiterhin erfolgte 1895 eine umfassende, 1909 mehrfach abgeänderte, Neuregelung der sog. Stempelsteuern, soweit diese nicht vom Reich für sich in Anspruch genommen worden waren. Die Heranziehung der Beamten, Elementarlehrer und unteren Kirchendiener zur Gemeindeeinkommensteuer wurde 1909 neu geregelt unter Aufhebung der bisherigen Privilegien, die nur für die im Amt stehenden Personen auf Lebenszeit beibehalten wurden. Die Gesetzgebung über die Erbschaftssteuer von 1873 erfuhr 1891 eine erhebliche Neugestaltung, auf Grund deren ein neuer Text des ganzen Gesetzes veranstaltet wurde.
Staatslotterie.
Die vom sittlichen Standpunkte nicht unbedenkliche preußische Staatslotterie kann auf Grund der durch eine zweifellose Erfahrung gegebenen Lehren nicht beseitigt werden. Um den unausrottbaren Spieltrieb der Menschen nicht zum Gegenstand gewissenloser Ausbeutung durch fremdstaatliche Unternehmungen werden zu lassen, hat Preußen seine in maßvollen Grenzen gehaltene Staatslotterie beibehalten; durch Staatsverträge mit den übrigen deutschen, zuletzt 1912 auch den süddeutschen Staaten und Elsaß-Lothringen (1910), ist das preußische System jetzt auf ganz Deutschland ausgedehnt worden, unter erheblicher Strafandrohung gegen das Spielen in fremden Lotterien und den Vertrieb von fremden Losen.
Kosten der Polizeiverwaltung.
Eine neue gesetzliche Normierung hat 1908 die Frage gefunden, in welchem Umfange die Gemeinden beizutragen haben zu den Kosten der in den großen Städten der Monarchie eingerichteten staatlichen Polizeiverwaltung; in den meisten Städten ist die Polizeiverwaltung städtischen Organen übertragen und werden ihre Kosten demgemäß aus städtischen Mitteln gedeckt; zu den „unmittelbaren“ Kosten der staatlichen Polizeiverwaltungen haben die Gemeinden grundsätzlich ein Drittel beizutragen.
Schuldenwesen.
Das Staatsschuldenwesen in Preußen hat eine Veränderung nur dahin erfahren, daß das für Preußen seit 1883 eingerichtete Staatsschuldbuch – analog dem für das Reich eingeführten – wesentliche Umgestaltungen zur Erweiterung und Erleichterung seiner Benutzung erfuhr (jetziger Gesamttext des Staatsschuldbuchgesetzes von 1910).
Ausblick.
Die neueste Reichsgesetzgebung (1913) hat nunmehr behufs Deckung der erhöhten Militärlasten den Grundsatz, daß die direkten Steuern den Einzelstaaten verbleiben sollen, in sehr viel weiterem Umfange durchbrochen, als dies bisher der Fall gewesen war. Daß hierdurch die Grundlage der Reichsverfassung verletzt oder die Selbständigkeit der Einzelstaaten im Rahmen der Reichsverfassung in besonderer Weise gefährdet worden sei, wird nicht behauptet werden dürfen. Aber die Abgrenzung der Reichs-, Einzelstaats- und Gemeindebesteuerung wird sicherlich eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme der nächsten deutschen Zukunft bilden müssen.
[190]
Preußen und das Reich.
Das Reich ist von Preußen geschaffen worden. Alle Vorteile wirtschaftlicher und Vorzüge politischer Natur, die in überreicher Fülle seit 1867 dem ganzen deutschen Volke zugeflossen sind, sind das Ergebnis der preußischen Staats- und Heereskunst. In edlem Wetteifer nehmen heute nicht nur in Bundesrat und Reichstag, sondern im Gesamtleben der Nation alle Stämme und Volksteile an der gewaltigen Arbeit teil, die das neue deutsche Leben dem ganzen deutschen Volke zur Pflicht gemacht hat; kein Stamm oder Staat kann sich in träger Ruhe dieser fast fieberhaft angespannten Arbeit entziehen. Aber die granitene Grundlage dieses neuen deutschen Lebens ist Preußen. Darum ist es nicht allein – wenn auch in erster Linie – Sache der Preußen, sondern die Sache aller Deutschen, Sorge zu tragen, daß die Festigkeit des Staates Preußen, den die Hohenzollern und ihr ostelbisches Volk geschaffen haben, nicht erschüttert werde. Denn die Stärke Preußens ist die Stärke des Staates, den Preußen zum Heile des ganzen deutschen Volkes geschaffen hat: des Reiches.