Vollmondzauber/Fünftes Kapitel

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aus: Vollmondzauber
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[84]
Fünftes Kapitel.

Das Jahr war vorbei – das Jahr und noch einige Tage darüber.

Zdenko Swoyschin sollte zu seinem Regimente zurückkehren, und zwar sollte er jetzt allen Ernstes die früher provisorisch von ihm ausgefüllte Stelle des Adjutanten bei dem Obersten übernehmen. Der frühere Adjutant war nach verschiedenen Versuchen, in harmloseren Sanatorien seinen havarierten Geisteszustand zu reorganisieren, in einem Irrenhaus gelandet, – die Bahn war frei.

Swoyschin freute sich über die dauernde Zusammengehörigkeit mit seinem alten Freund, die ihm der Posten sicherte, und er freute sich über verschiedenes an jenem letzten April, an dem er mit dem Schnellzug der Station Zdibitz zurollte, von wo er noch eine Stunde nach Breznitz zu fahren hatte.

Von fern grüßte ihn der sandige Exerzierplatz, zwischen dunklen Wäldern weißgelblich aufschimmernd. Wie ihn das anheimelte!

[85] Die Erinnerung an die bescheidene, alltägliche Tragödie, der er beigewohnt, in der er eine Rolle gespielt, hatte sich in seiner Seele verwischt. Er blickte mit ungetrübtem Auge in die Zukunft – eine Zukunft, die ihm irgend etwas Schönes zu versprechen schien.

Der Zug hielt – „Zdibitz, fünf Minuten Aufenthalt!“

Swoyschin stieg aus. Er wechselte ein paar lustige Worte mit den zwei alten Trägern, typischen Figuren der Zdibitzer Station, sprang in eine der klappernden Mietkutschen, die hinter dem Bahngebäude warteten, und fort ging’s.

Im Vorüberfahren warf er einen Blick nach dem Schloß, das von einem Hügel aus auf das Städtchen niedersah. Er merkte, daß die Fahne auf dem Turme wehte. War denn das Schloß jetzt bewohnt? Dann vergaß er, darüber nachzudenken, – seine Gedanken waren mit andern Dingen beschäftigt.

Er hatte das Städtchen hinter sich. Zwischen blühenden Apfelbäumen zog sich die Straße hin, neben der sich mit zartem Frühlingsgetreide bedeckte Felder bis an den Saum der schwarzen Wälder hinstreckten. Wie hübsch sich die rosigen Apfelblüten gegen den giftgrünen Hintergrund der sanft ansteigenden Felder abhoben!

Alles war still, nur die Abendglocken läuteten [86] in den Dörfern, und wenn die verklungen waren, hörte man Musik, die Musik, mit der die Menschen dem kommenden Mai entgegenjauchzten.

Jetzt bog der Wagen in den Waldweg ein. Das Gras in den flachen Straßengräben und an den breiten Waldrändern war weiß von Erdbeerblüten, die Fichten hatten grüne Kerzchen aufgesteckt, die Blätter auf den Laubbäumen waren noch wenig entwickelt. Jeder Baum hatte eine andre Farbe, und jeder hatte einen andern Duft. Der rötliche Abglanz der tiefstehenden Sonne schimmerte über der Straße, über dem Moos im Wald, und lange Schattenstreifen streckten sich dazwischen hin.

Zu Ende der langen, geraden Straßenperspektive, zwischen den grünen Waldcoulissen erblickte Zdenko die zwei Türme der wunderthätigen Marienkirche von Breznitz.

Die Schatten wurden blaß, – die Sonne war untergegangen.

Der Wald lag hinter ihm. Wieder blühende Obstbäume, Felder – der ganze Himmel eine blaßblaue Kuppel mit grünlichen, sich ins Topasfarbene verlaufenden Schattierungen am Horizont.

Durch die Luft zog etwas Feuchtes, wundersam Kühlendes – der Tau, der unsichtbar auf die Erde niedersank, und der Duft des Taus, dieser unbeschreiblichste, berauschendste aller Düfte. Es war, als sei [87] der Frühling selber leise über die Felder geschlichen und der Tauduft bezeichne seine Spur.

Die Brust des jungen Mannes hob und senkte sich in einem tief aufatmenden Glücksgefühl. Ach, wie war die Welt schön! Die Hoffnung verarbeitete die Erinnerungen, die er von daheim mitgebracht hatte, zu einem zwischen Zukunft und Vergangenheit hin und her schwebenden Traum.

„Wie schön das wäre nächsten Frühling, falls …“

Der Himmel färbte sich dunkler, die Sterne wurden sichtbar, der Tau duftete stärker …

Wie hübsch das wäre, mit ihr so ahnungsbeklommen dem neuen Heim entgegenzueilen, ihrem und seinem Heim, an einem Frühlingsabend wie heute! Ringsum Friede, Duft und keimendes Leben, alles still, nur in der Ferne die huschende Musik.

Der Wagen hielt vor dem Hause, das der Oberst bewohnte; ein altes Herrschaftshaus mit Standbildern auf dem Giebel und mit aus Sandstein geschnittenen, in Lorbeerkränzen eingefaßten Cäsarenköpfen unter den Fenstern. Man wußte nicht, wie es sich nach Breznitz verirrt hatte, an dessen äußerstem Rand es erbaut war.

Der Oberst stand auf der Schwelle und zog seinen Adjutanten ungestüm ins Haus hinein.

In dem hübschen Speisezimmer mit den geschnitzten Möbeln, die der Oberst einmal aus Venedig mitgebracht hatte, und auf die er sehr stolz war, stand [88] der Theekessel auf einem Tisch, der so blank und präzis gedeckt war, daß sich jede Hausfrau daran ein Beispiel hätte nehmen können; Schüsseln mit kaltem Fleisch und belegten Brötchen gruppieren sich darauf.

„Aber es kommt noch etwas Warmes, es kommt noch etwas Warmes,“ versicherte der Oberst, worauf der Diener etwas hereinbrachte, das, die Phantasie aufreizend, in einer gefalteten Serviette verborgen lag. Die Hängelampe verbreitete ein mildes Licht.

„Es ist wirklich zu gemütlich!“ rief Swoyschin gerührt, und dann setzte er hinzu: „Ich muß entschieden zwei Heimaten haben – heute morgen reise ich von einer Heimat fort, und abends kehre ich in die zweite Heimat zurück. Ich bin sehr reich, Herr Oberst!“

„Es freut mich, daß Sie sich so fühlen,“ versicherte dieser. „Wissen Sie, daß Sie ein andrer Mensch geworden sind in diesen zwölf Monaten, Swoyschin! Nicht ganz ein andrer, nicht ausgetauscht, nur vorteilhaft verändert. Sie sehen aus, als ob Sie sich wieder freuen gelernt hätten am Leben!“

„Das hab’ ich auch, Herr Oberst.“

Die Fenster standen weit offen, mit dem Frühlingsduft drang der Klang der Musik herein – nicht so leise, verschwommen, huschend, wie auf der Straße draußen, sondern deutlich, hüpfend und schleifend, jauchzend und jubelnd und doch mit etwas ahnungsvoll Wehmütigem darin.

[89] „Seltsam,“ murmelte der Oberst hinaushorchend, „etwas Elegisches klingt doch durch jede echte Tanzmusik hindurch, ’s ist wie der Geruch der trockenen Herbstblätter, der sich in den Frühlingsduft hineinmischt. Aber daran darf man nicht denken! Erzählen Sie mir lieber wie es zu Hause war … sehr schön, scheint’s.“

„Ja, sehr schön, Herr Oberst. Mama läßt Sie vielmals grüßen, läßt Ihnen danken für die Sorgfalt, die Sie ihrem Buben zuwenden.“

„So, hm! Und war Annie da?“ fragte der Oberst mit einem verschmitzten Augenblinzeln.

Die Blicke des jungen und des alten Mannes begegneten einander. Beide fingen mit einemmal an zu lachen. „Woher wissen Sie, daß Annie existiert?“ fragte Swoyschin.

„Sie selber haben es mir verraten,“ erklärte der Oberst, wobei er sich hütete, seinen jungen Freund zu erinnern, bei welcher Gelegenheit dies gewesen war.

„Hm!“ Swoyschin blickte schmunzelnd vor sich hin.

„Nun, darf man gratulieren?“ fragte der Oberst.

„Gratulieren? Wozu?“

„Zu einer fröhlichen Verlobung.“

„O, da stehen wir noch lange nicht.“

„So – na, also wo stehen wir denn?“

Das war alles sehr indiskret von seiten des [90] Obersten. Aber Indiskretionen, die aus warmer Teilnahme entspringen, werden demjenigen, der sie begeht, immer verziehen.

„Wo wir stehen?“ wiederholte Swoyschin. „Wo wir stehen? Sie weiß, daß ich sie gern habe, und es ist ihr nicht unangenehm.“

„So, das ist ja immerhin recht erfreulich,“ meinte der Oberst, „und ein Bild haben Sie nicht von der jungen Dame?“

„Sie bekommen doch alles aus mir heraus,“ scherzte Swoyschin. „Nun, bei Ihnen werden meine kleinen Geheimnisse gut aufgehoben sein. Eigentlich freu’ ich mich, mit Ihnen von Annie reden zu können. Da, Herr Oberst!“ Er zog ein kleines Etui aus der Tasche, öffnete es und reichte es dem alten Freund.

„Also das ist sie! Der Oberst versenkte sich in die Betrachtung der jungen Schönheit. Eigentlich war die Bezeichnung falsch, von einer sogenannten Schönheit konnte gar nicht die Rede sein. Eine niedrige Stirn, von der das volle, krause Haar einfach zurückgestrichen war, ein gerades Stumpfnäschen, ein etwas großer, aber hübscher, zugleich gutmütiger und charaktervoller Mund, zwei wundervolle Augen.

Herzig, reizend, das war die Kleine im vollsten Maße, aber das, was man so gewöhnlich eine Schönheit nennt, nicht. Vielleicht gerade darum, weil sie nämlich gar nicht das war, was man so recht eigentlich [91] eine Schönheit nennt, konnte der Oberst sich gar nicht sattsehen an ihr. „Donnerwetter!“ murmelte er ein Mal ums andre, „Donnerwetter!“

Der sehr auffällige Beifall, mit welchem der ältere Freund das Bildchen betrachtete, rührte den jungen Mann, schmeichelte auch ein wenig seiner Eitelkeit, die in solchen Fällen selbst bei dem edelsten Liebhaber nicht ganz aus dem Spiel bleibt.

„Nicht wahr, sie ist ein lieber Kerl!“

„Allerliebst, ganz allerliebst!“ bestätigte der Oberst.

„Und wissen Sie,“ erzählte Swoyschin, „das Bildchen hat sie mir heimlich zugesteckt zum Abschied; sie ist extra nach Wien gefahren mit der Kammerjungfer, zum Zahnarzt, um bei dieser Gelegenheit das Etui zu kaufen. Wie mich das gefreut hat, können Sie sich denken, und die lieben, vergnügten, mutwilligen, zärtlichen Augen, mit denen sie mir nachgeblickt hat, als ich wegfuhr auf die Bahn!“

„Na, ich kann nur sagen, ich gratuliere,“ erklärte der Oberst, „gratuliere von Herzen! Wenn ihr Inneres hält, was ihr Gesichtchen verspricht, so ist Annie gerade die Frau, die Sie brauchen. Nerv, Energie, ein fester Charakter, ein weiches Herz, ein heiteres Temperament, ein heller, zum Praktischen geneigter Verstand, und dabei ein feines Empfindungsvermögen, das es versteht, den alltäglichsten Dingen des Lebens eine poetische Seite abzugewinnen.“

[92] „Das ist so richtig, aber so richtig!“ rief Swoyschin. „Sie schildern sie, als ob Sie sie jahrelang gekannt hätten.“

„Ich versteh’ mich auf Physiognomieen,“ schmunzelte der Oberst. „Aber jetzt, zu was die Ziererei und Bummelei? Eins, zwei, drei in die Kirche!“

„Ja, wenn davon die Rede sein könnte!“ Der junge Offizier blickte sehnsüchtig vor sich hin, während er das Bildchen von neuem in seiner Brusttasche verbarg.

„Bah, wo liegen die Hindernisse?“ Der Oberst brachte der ganzen Angelegenheit ein unglaubliches Interesse entgegen. In einem gewissen Alter freut man sich daran, sich bescheiden und uneigennützig an einem fremden Jugendfeuer zu wärmen, sich, von allen selbstsüchtigen Wünschen absehend, in eine fremde Liebesgeschichte hineinzuträumen.

An wirkliche Hindernisse glaubte er nicht, aber leider waren doch solche und zwar ziemlich ernster Natur vorhanden. Zdenkos Vater, seit Jahren gelähmt, außerdem sehr nervös und gänzlich von seiner Frau beherrscht, durfte durch keinen Verdruß aufgeregt werden. Die Mutter schätzte Annie wohl, aber – das war nun einmal ihre Idiosynkrasie – sie hatte eine absolute Abneigung gegen arme Bräute. Ihre Söhne mußten ihrer Ansicht nach reich heiraten, besonders der jüngere. Sie hatte im gräflichen Taschenbuch [93] die reichen Komtessen alle rot angestrichen. Und Annie war nicht reich, im Gegenteil ganz arm, eine Cousine im dritten Glied; sie sagten sich „du“, weil sie sich von Kindesbeinen an kannten, sonst war’s mit der Verwandtschaft nicht weit her. Sie lebte seit Jahren in dem Hause seiner Eltern, wo sie die fehlende Tochter ersetzte, sozusagen die Hauskomtesse machte.

Sie wurde sehr geschätzt von seinen Eltern, seit ihrem fünfzehnten Jahre lebte sie bei ihnen, führte jetzt das ganze Haus. Alle hatten sie gern, aber an eine Heirat war vorläufig nicht zu denken.

„Ich darf mir auch gar nichts anmerken lassen vor der Mama,“ schloß Swoyschin seine vertraulichen Mitteilungen. „Wenn meine Mama ahnen würde, daß ich mich für Annie interessiere, gibt sie das Mädel aus dem Haus, und das wäre für unsre arme, lustige Annie, die gar keine Lust hat, Hof- oder Stiftsdame zu werden, fatal. Na, vorläufig sind wir gute Freunde! Es wär’ was wert, so einen Sonnenstrahl neben sich zu haben, der einem alle Schatten aus der Seele herausleuchtet!“

Seine Augen wurden plötzlich feucht. Der alte Oberst klopfte ihm auf die Schulter und meinte: „Na, Kopf oben, mein Junge, es wird noch alles gut werden. Vielleicht gelingt es mir, den Mittler zu machen. Das wär’ eine Freud’! Sapperlot!“

[94] Damit hob der Oberst die Tafel auf, um sich mit dem jungen Freund in das Rauchzimmer zu begeben.

„Ich hoffe, Sie sind noch munter, spüren die Reise nicht,“ bemerkte der Oberst, „ich habe nämlich einen Teil meiner Herren eingeladen, die uns helfen sollen zur Feier Ihrer Ankunft eine Maibowle zu leeren. Die meisten derselben sind aber vor zehn Uhr nicht disponibel. Sie waren zu einem Diner in der Umgebung geladen.“

„Bei wem?“

„Bei den Zells in Zdibitz. Das Schloß ist samt der Jagdbarkeit für den Sommer vermietet an ein sehr nettes Ehepaar, Graf und Gräfin Zell. Sie kennen sie vielleicht?“

„Ich hab’ von ihnen gehört. Also die wohnen in Zdibitz? Hm! hm!“ sagte er sinnend. „Die Zells interessieren mich nicht weiter, aber Zdibitz interessiert mich. Ich hab’ Ihnen schon gesagt, daß es eine von den Herrschaften ist, um die mein Vater prozessiert, und falls wir den Prozeß gewinnen, sind wir reiche Leute, die sich ein Vergnügen leisten dürfen!“ In seinen Augen schimmerte es vielsagend.

Der Oberst teilte ihm mit, daß er sich den Besuch, den er bei Zells zu machen beabsichtigte, bis zu seiner Ankunft aufgespart habe, und fragte, ob er ihn nicht demnächst nach Zdibitz begleiten wolle.

[95] Unten hörte man Sporen- und Säbelgeklirr, und wenige Minuten später war das ganze Rauchzimmer des Obersten voll Cigarrendampf und Offizieren.

* * *

Nachdem die gegenseitigen Begrüßungen vorüber waren, drehte sich das Gespräch natürlich um die neuen Nachbarn. Besonders die Offiziere, die nicht eingeladen gewesen waren, erkundigten sich nach allen Einzelheiten des Diners. Wer war alles dort gewesen, wie hatte man gegessen? Besonders der dicke Major Falb war unersättlich im Fragen.

„Eine famose Idee, das Schloß zu vermieten,“ versicherte Bärenburg seinem Vetter. „Ich weiß nicht, von wem sie ausgegangen ist, aber wir profitieren alle dadurch. Sind scharmante Leute, die Zells.“

„Hm!“ räusperte sich achselzuckend der stets mit seiner nüchternen Beurteilung von allem Aristokratischen prahlende Drewinsky. „Ist noch zum Aushalten. Die Gräfin ist schwatzhaft, umständlich, beschränkt, aber gutmütig. Er war, glaub’ ich, zum Schluß seiner Laufbahn Gesandter bei einem kleinen deutschen Hof und trat dann aus der Carriere, weil er den Posten in Petersburg, auf den er sich, weiß Gott, warum, gefaßt gemacht hatte, nicht erhielt. Ist ein bißchen ledern, aber man gewöhnt’s.“

„Also, wenn weder Zell noch seine Frau die Anziehungskraft [96] des Hauses bilden, so möcht’ ich wohl wissen, wer sie ausmacht?“ fragte Swoyschin.

„Ach, wie soll ich das sagen,“ meinte Bärenburg. „Die Hauptsache … die Hauptsache ist das Haus selbst, die Art, wie es geführt wird, die Luft, die man darin atmet, die Umgebung. Jetzt hat sich übrigens noch ein ganz besonderer Magnet dort festgesiedelt, eine Verwandte der Zells, die schöne Gina Ginori!“

„So? Es soll ein interessantes Mädchen sein,“ bemerkte Oberlieutenant von Zewusky, ein Pole, der es auf eine gute Partie abgesehen hatte.

„Ja, interessant ist die schöne Gina, aber unheimlich,“ erklärte Bärenburg.

„Wieso unheimlich?“ fragte einer von jenen, die nicht eingeladen gewesen waren.

„Ach, sie hat so Zustände!“ Bärenburg, der für gewöhnlich durch seine gesunden Nerven gegen alle Unheimlichkeiten der Welt gefeit war, schüttelte sich ein wenig.

„Was für Zustände?“ fragte man.

„Ach, sie soll manchmal plötzlich zum Scheintod erstarren. Wenn sie dann erwacht, erzählt sie die sonderbarsten Dinge, die sich, wer weiß wo, zugetragen haben an Orten, von denen sie unmöglich eine Nachricht erreicht haben konnte. Es scheint, daß, solang der kataleptisch-hysterisch-magnetisch-mysterische Schlaf [97] dauert, ihre Seele, vom Körper getrennt, frei herumspaziert.“

„Wer hat dir den Bären aufgebunden?“ fragte Swoyschin.

„Die Gräfin Zell selbst,“ erklärte Bärenburg mit einem gewissen Stolze. „Wie es scheint, hat’s die schöne Gina voriges Jahr als Geisterseherin in Rom bis zu einer Lokalberühmtheit gebracht. Die Gräfin bedauerte sehr, daß sie Gina noch nie während eines Anfalls beobachten konnte.“

„Die Eitelkeit spielt bei hysterischen Zuständen immer eine aufreizende Rolle. Es wäre besser für das Mädel, wenn man ihre Zustände ignorieren würde,“ bemerkte der Oberst.

Und der dicke Major von Falb sagte: „Heiraten soll sie, dann hört der ganze Schwindel auf!“ und er schob drei von den belegten Butterbrötchen, die der Oberst zur Erfrischung der Herren hatte vorbereiten lassen, auf einmal in seinen großen Mund. Der Major kurierte alle weiblichen Verkehrtheiten immer mit dem Heiraten.

„Schau, daß du ihre Eroberung machst, Zdenko!“ rief Bärenburg lustig. „Ganz dein Fall – bildhübsch, und soll mordmäßig viel Schotter haben.“

„Danke bestens,“ erklärte Swoyschin mit einer lustig abwehrenden Handbewegung, und dabei trat ein sehr sympathisches Lächeln auf seinen Mund, ein [98] Lächeln, durch das es wie liebliche Erinnerungen, hoffnungsvolle Träume huschte. Der Oberst konnte nicht umhin, ihm verständnisvoll zuzublinzeln.

„Schade!“ behauptete mit wichtigem Ernst Bärenburg, „sie interessiert sich entschieden für dich.“

„Aber Tapsch!“ rief Swoyschin ärgerlich. Tapsch war der Spitzname Bärenburgs. Man hatte ihm denselben noch im Theresianum beigelegt, seiner lustigen Tappigkeit halber, die an diejenige junger Hunde erinnerte. Der Name hatte ihn ins Leben hinausbegleitet. Er hörte viel lieber darauf als auf den ihm offiziell in der Taufe beigelegten, welcher „Joseph“ lautete.

Seiner oftmals energisch ausgedrückten Ansicht gemäß gab es auf der Welt wenig, das lächerlicher war, als „Joseph“ zu heißen, und wie man den Namen auch verunstaltet und verblümt als Seppl, Peppi, Pips oder Pepsch, pflegte er elegisch zu seufzen, der Joseph klingt doch durch.

„Tapsch hin, Tapsch her, es ist, wie ich dir’s sage,“ entgegnete der Vetter. „Sie kennt dich, wenn sie mir auch nicht verraten wollte, wo sie dich bereits gesehen hat. Gehört hatte sie jedenfalls sehr viel von dir, aber ihrer Ansicht nach noch lange nicht genug. Denn sie fragte mich nach dir aus, wie, na, wie ein Polizeikommissar nach einem Anarchisten. Dann plötzlich – ja, das ist demütigend, ich weiß aber nicht, [99] ob für dich oder für mich –, aber mitten in unsrer Konversation über dich fielen ihr die Augen zu. Sie mußte sie mit Gewalt aufreißen, dann verschwand sie.“

„Da hat sie jedenfalls ganz merkwürdige Beweise von Interesse an meiner Person gegeben,“ erklärte Swoyschin lustig. „Deine Geschichte erinnert mich lebhaft an den Herrn, der unlängst um eine Cousine von mir anhielt, und als meine Mutter ihn fragte, ob er denn eine Ahnung habe, daß ihm ihre Nichte geneigt sei, erwiderte: ‚O ja, sie geht jedesmal aus dem Zimmer, wenn ich erscheine.‘“

Über diese Anekdote lachte man natürlich; Bärenburg lachte auch, machte aber zugleich sehr schmale Augen, mit denen er den Vetter neugierig fixierte.

„Welche Cousine war denn das, Zdenko?“ fragte er. „Die Annie Binsky, nicht?“

„Ja,“ sagte Swoyschin kurz.

An diesem Punkt fiel der Major ein: „Wenn ich mir nur das Rezept von der Mehlspeise (er sagte Möllspeis) verschaffen könnt’, die heute im Schloß serviert worden ist, ich sag’ dir, Herr Oberst, dos wer dir ein Mehlspeis’!“ – er schnalzte mit den Lippen – „wenn die die Kasinoköchin zusammenbrächte!“

Bald darauf zogen sich die Herren zurück.

„Träum von der Gina Ginori,“ rief Bärenburg seinem Vetter zu.

[100] „Möcht’s besorgen, wenn ich nur wüßt’, wie sie ausschaut,“ erwiderte Swoyschin.

„Rotes Haar bis an die Fersen, große, grüne Augen, junonische Figur, – o, ein Prachtweib sag’ ich dir!“

„Hm! mein lieber Tapsch, das sollte ja doch eigentlich dein Geschmack sein,“ entgegnete Swoyschin, „ich habe nie eine besondere Vorliebe für rote Haare und junonische Weiber an den Tag gelegt.“

„Für mich ist sie zu exotisch, zu interssant, ist mir mit einem Wort zu hoch,“ erklärte Bärenburg. Nichts auf der Welt wirkte auf Bärenburg so abstoßend bei einem Mädchen, als wenn selbes, wie er sich ausdrückte, zu „hoch“ für ihn war. „Uebrigens ganz abgesehen davon,“ fuhr er fort, „hat sie mir gegenüber eine Gleichgültigkeit an den Tag gelegt, eine Art, mir über den Kopf hinüberzuschauen! … Das Unglück teile ich mit allen meinen Kameraden; die Herren müssen gestehen, daß es ihnen mit der schönen Ginori nicht besser gegangen ist, und das ist mir ein Trost!“

„Famose Möllspeis!“ murmelte der dicke Major.

„Gute Nacht, Herr Oberst!“

„Gute Nacht allerseits!“

* * *

Heiter und müde zog sich Swoyschin in sein [101] Schlafzimmer zurück. Kaum, daß er sich auf seinem eisernen Bett ausgestreckt hatte, fielen ihm die Augen zu. Er träumte von „zu Haus“, von Annie Binsky, von der Zukunft, von seinem Hochzeitstag.

Der Frühling duftete aus Bäumen und Sträuchern, und in der Luft war ein großes, feierliches Glockengeschwirr, und Annie ging neben ihm in einem weißen Kleide und mit einem Kranz auf dem Kopf. Sie sagte ihm etwas Liebes, aber er konnte nicht genau verstehen, was – die Glocken schwirrten zu laut.

Er ärgerte sich über die Glocken, eine von ihnen war gesprungen, das hörte er ganz deutlich, es brachte einen Mißklang in die dröhnende, schwirrende Feierlichkeit. Die Glocken riefen ihm etwas zu, einen Namen. Jetzt vernahm er es deutlich, immer denselben Namen, immer denselben: „Gina Ginori, – Gina Ginori!“

Und dann schwiegen die Glocken, und durch die stumme Frühlingsnacht glitt etwas Eigentümliches, ein rätselhafter Laut, leise, wie aus weiter Ferne, dann näher, immer näher. Eine seltsame Melodie, ein Lied ohne Worte, mit einer immer wiederkehrenden chromatischen Figur, in viertel, nicht in halben Tönen – magisch, aufreizend, unabweisbar, anlockend …

Näher … ganz nah, er hörte etwas wie ein leises Pochen an seiner Fensterscheibe. Endlich öffnete er die Augen. Sein Zimmer war voll matten Silberglanzes [102] … dann … er schrak zusammen, sein Herz pochte laut … neben seinem Bett stand eine schlanke Gestalt, ein Mädchen in einem blaßlila Gewand, das faltig und weich an ihren Gliedern niederfloß.

Das Gesicht der Fremden war bleich, die vollen Lippen eher dunkel veilchenblau als rot, dazu eine kurze Nase und sehr große, tiefliegende Augen, die fast dieselbe Farbe wie die Lippen hatten und zwischen rötlichbraunen, dicht und dunkel umwimperten Lidern starr auf ihn niederblickten.

Ohne sich dermaßen zu wundern, wie es anbetrachts der merkwürdigen Erscheinung zu erwarten gewesen wäre, fragte er sich doch, wie sie hereingekommen war, und was sie bei ihm wolle.

Da kniete sie nieder neben seinem Bett, schlang die Arme um seinen Hals und murmelte: „Ich heiße Gina Ginori!“

Ihre Arme waren eiskalt, ebenso der Hauch, der von ihren Lippen kam und seine Wange streifte. Dann drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund, und auch die Lippen waren kalt wie Eis. Mit einemmal fingen sie an, auf seinem Munde zu brennen …

„Mein!“ flüsterte die Fremde, „mein!“

* * *

„Swoyschin, Swoyschin, es ist Zeit. – Weiß Gott, ich gönn’ Ihnen Ihren schönen, jungen Schlaf, [103] aber es ist doch Zeit, daß wir endlich auf den Exerzierplatz kommen.“

Swoyschin fuhr auf: neben ihm stand der Oberst wohlwollend lächelnd, die Cigarette in der Hand, was bedeutete, daß er schon gefrühstückt hatte.

„Zu Befehl, Herr Oberst!“ Der Adjutant rieb sich schlaftrunken die Augen.

„Es ist die höchste Zeit. Ihr Diener meldete mir soeben, daß er trotz aller Anstrenung Sie nicht habe wecken können,“ sagte der Oberst.

Swoyschin griff sich an die Stirn. „Gleich, gleich, Herr Oberst – nein, wie ich so verschlafen konnte! Ihre Bowle hat mir’s angethan. Ich hab’ so sonderbar geträumt! Zu merkwürdig!“

„Von Annie?“ fragte der Oberst schlau.

„Ja … nein! … Ach, verzeihen Sie, Herr Oberst, wie hat doch Tapsch diese rätselhafte Ginori beschrieben? Rothaarig, junonisch, nicht wahr?“

„So gut ich mich erinnere …“

„Ja, die Sirene in der Kunstausstellung einer Provinzhauptstadt. Das stimmt entschieden nicht!“

„Stimmt nicht – womit?“

„Ich werd’s Ihnen später einmal erzählen, Herr Oberst.“

Swoyschin hatte indessen summarisch Toilette gemacht und bereitete sich vor, mit nüchternem Magen sein Pferd zu besteigen. Schon im Weggehen wandte [104] er sich noch einmal um. „Herr Oberst, entschuldigen Sie, ich habe etwas vergessen.“

Das Bildchen seiner Cousine war’s, er pflegte sich nie davon zu trennen; bei Tag trug er es bei sich, in der Nacht stellte er es auf seinen Betttisch.

Er hätte geschworen, daß er es auch gestern dorthin gestellt habe. Aber es war nicht zu finden, er mußte ohne seinen Talisman ausrücken.

Erst auf dem Exerzierplatz erinnerte er sich dessen, daß die blasse Erscheinung, die sich unter dem Namen Gina Ginori bei ihm eingeführt, das Bildchen mit einer Gebärde der Eifersucht vom Nachttisch hinuntergestoßen und in einen Winkel geschleudert hatte.

Als er nach Hause kam, suchte er es an der Stelle, die der Traum ihm angab. Das Bildchen lag richtig dort, das Glas der kleinen Photographie war zerbrochen.

* * *

„Sonderbar … recht sonderbar!“ Der Traum gab ihm zu denken, er hätte immerhin gern gewußt …

Nicht ohne Spannung sah er dem Besuch in Zdibitz entgegen. Erinnern mochte er den Obersten daran nicht, irgend eine ihm selber ganz unerklärliche Befangenheit hinderte ihn daran.

Eine Woche verging. Der Oberst hatte viel zu thun, da mußte der Adjutant natürlich mithalten. [105] Die raschen, lustigen und langwierigen täglichen Übungen auf dem Exerzierplatz und schließlich ein langer Brief von seiner Cousine, ein Brief voll drolliger Einfälle auf einem Hintergrund von uneingestandener Zärtlichkeit, verdrängten Gina Ginori aus seinen Gedanken.

Er war eben im Begriff, den Brief von Annie zu beantworten, mit schlauer Vorsicht, so daß sein Schreiben der strengen Mama in die Hände fallen könne, ohne Annie zu schaden, als der Oberst zu ihm trat und ihm zurief: „Swoyschin, wenn Sie es über sich bringen, sich von Ihrer Schreiberei zu trennen, so könnten wir heute endlich den Besuch in Zdibitz machen.“

* * *

Und so machten sie denn endlich ihren Besuch in Zdibitz.

Der Oberst fuhr den Adjutanten selbst auf einem neuen Kutschierwagen, bespannt mit zwei wundervollen, leicht gebauten Schimmeln, die einem berühmten ungarischen Gestüt entstammten.

Er hatte sich mit der Zusammenstellung dieses „Zeugels“ nicht wenig Mühe gegeben. Besonders wegen der leichten Brustgeschirre hatte er lange mit einem Wiener Sattler korrespondiert. Die waren aber auch mustergültig ausgefallen in ihrer zweckentsprechenden [106] Knappheit und Einfachheit. Und wie sie die feinen Knöpfe hielten, und wie sie ausgriffen, immer im Takt – man glaubte, anstatt acht Hufe nur zwei zu hören, die im leichten Staccato über die glatte Straße, die sogenannte „Kaiserstraße“, dahinflogen.

Swoyschin sparte den Schimmeln gegenüber nicht mit seiner Anerkennung. Der Oberst freute sich wie eine eitle Mutter, der man ihre Kinder lobt. „Noch zwei solche, etwas kleinere, als Vorauspferde zu einem Postzug,“ meinte er, „dann hoff’ ich die Ehre zu haben, nächstes Frühjahr Ihre Frau mit dem Gespann von der Bahn zu holen.“

Zdenko lachte. „Hübsch wär’s,“ meinte er „und Annie hat so eine Liebe für Pferde, auch Verständnis, was die Liebe bekanntermaßen nicht immer mit sich bringt.“

„Sie muß überhaupt ein Schatz sein, die Annie,“ erklärte der Oberst, der das längst zu seiner eigenen Genugthuung festgestellt hatte.

„Das ist sie, weiß Gott!“ gestand Swoyschin, „ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich manchmal nach dem kleinen Racker sehne! Ein Sonnenstrahl, Herr Oberst, ich versichere Ihnen, ein Sonnenstrahl! Ich kenne kein zweites Mädchen, das ohne alle Ausgelassenheit – notabene, ich kann ausgelassene Mädel nicht leiden – so lustig wäre wie unsre Annie. In unserer Familie geht die Sage, wenn Annie an [107] einer Trauerweide vorüberspaziert, so steckt die Trauerweide alle Äste in die Höh’.“

Der Oberst lächelte; er fragte nach allem möglichen, besonders wo und wie Annie erzogen worden sei, welcher Art ihre Eltern gewesen wären. Im Laufe der Fahrt rückte Swoyschin mit der ganzen Biographie seiner herzigen Cousine heraus.

Annies Eltern waren ihrer Zeit die zwei schönsten Menschen in Österreich gewesen, aber um ihren Hausstand zu gründen, hatten sie nichts gehabt als ihre herzliche Liebe und ein Gut in Südtirol, das dem jungen Ehemann gehörte, und von dem die beiden gehofft hatten, daß es etwas tragen würde. Es hatte nichts getragen, wenigstens nicht viel, nur gerade genug, um sich ungestört lieben und ein halbes Dutzend Kinder in die Welt setzen zu können. Die Kinder wurden von einem alten Engländer erzogen, der, im Lauf seiner Reisen eines Tages zufällig von den Schönheiten des cypressenumstandenen Schlößchens gefesselt, sich darin eingemietet hatte. Da ihm die Luft sehr gut bekam, blieb er in dem Eulennest bis an sein seliges Ende. Anstatt Kostgeld zu zahlen, unterrichtete er die Kinder. Infolgedessen waren sie samt und sonders ungewöhnlich gebildet. In den Sommermonaten waren sie vielfach barfuß gelaufen, aber sie hatten alle den Shakespeare in der Originalsprache gelesen. Das Barfußgehen hatte ihnen übrigens nicht [108] geschadet. Die Gesundheit der sämtlichen Kinder war vortrefflich, und Annie hatte ein Füßchen …

Das Gespräch wurde jäh unterbrochen, man war angekommen.

* * *

Das Zdibitzer Schloß erhebt sich, aus einer alten Abtei umgestaltet, auf einem Hügel, von dem aus es die ganze Gegend übersieht. Es ist ein langer, grauer Bau, an dem sich wilde Weinranken hinaufschlingen. Auf der vorderen Fassade ruht ein niedriger Giebel, den altmodische Statuen mit rostigen Heiligenscheinen schmücken. Etwas altväterisch Gemütliches hatte das ehrwürdige Gebäude, und altväterisch und gemütlich mutete die Atmosphäre jeden an, sobald er den Fuß über die Schwelle setzte.

Bärenburg hatte recht, das Haus übte einen sympathischen Zauber auf die Besucher aus. Alles darin war anheimelnd, von dem freundlichen Gesicht des grauhaarigen Kammerdieners, der die Herren an der Treppe unten empfing, bis zu der nach Primeln und Veilchen duftenden Luft, die sämtliche Gemächer durchwehte. Große Fehler hatte das Schloß nebstbei allerdings, zum Beispiel war es recht unbequem in langen Enfiladen gebaut, so daß die Herren mehrere Zimmer durchschreiten mußten, ehe sie dasjenige erreichten, in dem sich die Hausfrau aufhielt.

[109] Diese Zimmer waren alle groß und luftig, mit tiefen Fensternischen, glattgewichsten Parketten, fast ohne Teppiche und mit wenig zahlreichen, aber bequemen und soliden Möbeln, meistens im Stil des ersten Kaiserreichs, ausgestattet.

Der Oberst betrachtete alles mit Wohlgefallen und Interesse.

„Hm, wär’ ganz famos, wenn Sie den Prozeß gewännen!“ raunte er seinem Adjutanten zu, „ein reizendes, poetisches Nest für ein junges Paar!“

Swoyschin schien nicht zuzuhören. Er war entschieden zerstreut; der Gedanke, ob sein nächtlicher Besuch ein einfacher Traum oder wirklich etwas Übernatürliches gewesen war, erregte ihn.

Ein paar Sekunden später befanden sich die beiden Herren in dem Allerheiligsten der Gräfin Zell, einem Eckzimmer, das aus vier Fenstern ins Grüne sah. Trotzdem zwei dieser Fenster offen standen, brannte im Kamin ein hellloderndes Holzfeuer, aus dem es bisweilen wie Pistolenschüsse herauskrachte.

Neben dem Kamin saßen zwei alte Damen, von denen die eine, mittelgroß, stark, sehr gerade in ihrer Haltung, mit einem freundlichen Gesicht unter grauen Scheiteln, sich bewillkommend erhob und den Herren eine winzige, wie aus weißem Atlas und Rosenblättern fabrizierte Hand entgegenstreckte.

Sie versicherte den Herren, daß sie sich sehr [110] freue, ihre Bekanntschaft zu machen, und bedauerte unendlich für ihren Mann, welcher gerade ein paar Tage zu irgend einem Freund gereist war, um Auerhähne zu schießen, daß er um das Vergnügen des liebenswürdigen Besuchs gekommen war. Dann wurden sie der zweiten Dame neben dem Kamin vorgestellt – einer Gräfin Ronitz, die mit dem Taufnamen Rosin’ hieß und eine Jugendfreundin der Hausfrau war.

Sie hatte einen Schnurrbart und sprach mit einer rauhen, tiefen Stimme wie ein alter Mann. Alles, was sie sagte, war entweder sauer oder giftig. Sie war Stiftsdame, das heißt alte Jungfer. Anstatt die zahlreichen Vorteile ihrer Lage ruhig zu genießen, hörte sie nie auf, mit dem Schicksal zu hadern. Ihr Anzug machte im Gegenteil zu dem der Gräfin Zell Anspruch auf Modernität. Den tiefen Diener der beiden Herren beantwortete sie nur mit einem kaum merklichen Kopfnicken. Dann setzte sie ihr kurzes, altmodisches, in Gold gefaßtes Lorgnon an die Augen, betrachtete einen der Herren nach dem andern, ließ das Lorgnon, das ihr an einer aus Haaren zusammengeflochtenen Kette um den Hals hing, fallen und kreuzte die Arme über der Brust, worauf sie in ungeduldigem Tempo mit ihren langen, hageren Fingern auf ihren Unterarmen den Radetzkymarsch zu trommeln begann. Sie ärgerte sich offenbar über die Ankunft der zwei Dragoner. Die Gräfin Zell mußte [111] gerade im Begriff gewesen sei, ihr eine spannende Geschichte zu erzählen, und war durch den Besuch unterbrochen worden. Natürlich fühlte Gräfin Zell sich verpflichtet, höflich gegen die Herren zu sein. Sie neckte den Obersten mit seiner Menschenscheu, lächelte Swoyschin freundlich zu und versicherte ihn, daß sie in ihrer Jugend viel mit seinem Vater getanzt habe, der vor dreißig Jahren der beste Walzertänzer in Wien gewesen sei.

„Hm! wirklich!“ fiel ihr hier die Gräfin Ronitz ins Wort, „das möcht’ ich nicht unterschreiben, mir hat er einmal so auf den Fuß getreten, daß ich mich heute noch nicht davon erholt habe. Na, vielleicht hat er’s mit Fleiß gethan. Es sei ihm verziehen; jetzt wird er wahrscheinlich nicht mehr Walzer tanzen, infolgedessen keine Gelegenheit haben, seine Tänzerinnen zu maltraitieren.“

„Der Arme!“ seufzte die Gräfin Zell, welche von seinem kontrakten Zustande erfahren hatte, mitleidig.

„Ja, ja, ich bedauere ihn von Herzen,“ fertigte die Gräfin Ronitz das Thema ab, „aber jetzt, meine liebe Marietta, erzähle mir doch weiter von Gina. Ist es wahr, was man von ihr sagt, daß sie nach einem ihrer Schlafanfälle so merkwürdige Dinge zu erzählen weiß – Dinge, die am andern Ende der Welt vorgefallen sind, und über die sie inzwischen keine Nachrichten [112] erhalten haben konnte, nicht einmal durch das Telephon?“

„Es handelt sich um eine Nichte von mir, der man diese sonderbare Eigenschaft zuschreibt,“ erklärte freundlich die alte Hausfrau den beiden Herren. Dann sich der neugierigen Freundin zuwendend: „Ich kann dir nicht sagen, ob es wahr ist. Neulich hatte sie den Anfall, aber den nächsten Tag war sie still und in sich gekehrt und wollte mit der Farbe nicht heraus.“

„Und wie benimmt sie sich während des Anfalls? Spricht sie aus dem Schlaf, kann man Fragen an sie stellen?“ forschte die Stiftsdame weiter.

„Ich habe sie während des Anfalls nicht gesehen, niemand hat sie gesehen. Emma läßt niemand zu ihr, während sie, wie Emma sich ausdrückt, krank ist. Emma ist wie ein Tiger!“

„Schade – hm – da hast du also gar nichts davon,“ brummte die Ronitz.

„Wovon denn?“ fragte die Gräfin Zell und rückte an der goldenen Nadel, mit der ihr schwarzes Spitzenhäubchen auf ihren grauen Scheiteln befestigt war.

„Na, von dem Besuch. Du hast doch Gina hauptsächlich eingeladen, weil du neugierig warst.“

„Nein, nein, Rosin’, du gehst zu weit,“ wehrte lachend die Freundin.

[113] „Das wird einem immer gesagt, wenn man jemand mit der Wahrheit an den Leib rückt,“ gab die liebenswürdige Stiftsdame zurück. „Gesteh’s nur ein, du warst neugierig. Du bist Spiritistin und suchst Belege für deine Theorieen, sagen wir für deine Wünsche. Denn im Grunde haben die Spiritisten keine stichhaltigen Theorieen, sie haben nur sehr, sehr unvernünftige Wünsche. Du hast, wer weiß was erwartet und bist jetzt enttäuscht. Welcher Art diese Zustände deiner Nichte sind, ob hysterisch oder epileptisch oder noch etwas andres, das weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich, daß alle damit verbundenen Übernatürlichkeiten – die Ahnungen und Weissagungen – Schwindel sind. Es gibt keine Trennungen von Seele und Körper bei lebendigem Leib, das glaub’ ich nicht und werd’s nie glauben!“ Sie grunzte noch einmal energisch und schob ihr breites, stoppliges Kinn in die Höhe, mit einer Miene, als ob sie hätte sagen wollen: „Ich möcht’ doch wissen, ob jemand den Mut hat, mir auf meine Weisheit etwas zu entgegnen!“

Die Gräfin Zell lachte. „Du magst glauben, was du willst, jedem Tierchen sein Pläsierchen,“ sagte sie, „jedenfalls ist die Gina ein recht merkwürdiges Geschöpf. Das Sonderbarste an ihr ist ihre Leidenschaft für Leichen und Kirchhöfe. Neulich ist unten im Städtchen eine Müllerstochter angeblich an unglücklicher Liebe verschieden. Gina war nicht zu halten. Sie [114] soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab’s erst später erfahren, sonst hätt’ ich’s nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof.“

In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. „Ach, kommst du endlich?“ rief die Gräfin Zell. „Wir haben Besuch bekommen.“ Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: „Meine Nichte Marchesina Ginori!“

Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht.

Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend.

Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen – kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem [115] Vetter erlaubt, in dem er die Marchesina hübsch genannt hatte, im übrigen stimmte seine Schilderung mit den Thatsachen überein – groß, rothaarig, mit grünen Augen.

Hingegen erinnerte das Mädchen in nichts an Zdenkos nächtliche Vision. An etwas andres erinnerte es ihn, aber an was oder vielmehr an wen denn?

Ja, richtig, jetzt wußte er’s. Zu seltsam – an eine Wärterin, die vor längerer Zeit eine geisteskranke Verwandte seiner Mutter gepflegt hatte.

Sie war wegen ihrer Energie und Verläßlichkeit sehr gerühmt worden, aber daß Gina Ginori, von der seine Phantasie ihm ein so interessantes Bild entworfen hatte, gerade der nüchternen, sachlichen Marie Holoubeck ähnlich sehen sollte, das war doch eigentlich etwas komisch!

Man sprach von gleichgültigen Dingen. Die Marchesina Ginori hatte eine sehr geschmacklose, in violette und rote Carreaus eingeteilte Handarbeit mitgebracht, an der sie eifrig, fast ohne aufzublicken, stickte.

Plötzlich fragte die Gräfin Ronitz: „Ich bitte dich, Emma – du weißt, daß ich mich für Magnetismus und Geisterseherei und Klopferei interessiere, freilich nur aus der Opposition, weil es mich reizt, den schwachen Punkt von allen Belegen für Spiritismus aufzudecken. Es gibt immer einen schwachen Punkt … [116] Sag mir, wie lang hat neulich der Anfall deiner Schwester gedauert?“

Die Marchesina hob den Kopf, ein finsterer Ausdruck trat in ihre Augen. „Ich weiß von keinem Anfall,“ sagte sie. „Den Abend nach dem kleinen Diner am letzten April fühlte sich meine Schwester müde und legte sich früher nieder als sonst.“

„Aber Emma! Du weißt doch …“ rief fast ärgerlich die Gräfin Zell. Es war ihr nicht darum zu thun, als eine erfinderische Prahlerin dazustehen, nachdem sie bereits so viel von den Eigentümlichkeiten der Nichte berichtet hatte.

„Ich weiß nur, was ich sage, nichts mehr,“ erklärte Emma herb.

„So, aber Gina selbst …“ warf die Gräfin ein.

„Ach, Gina macht sich wichtig, redet Unsinn,“ erwiderte immer in derselben nüchternen, sachlichen Art Emma Ginori, „wenn man ihr nicht zuhörte, würde sie’s aufgeben!“

„Wo bleibt denn übrigens die Gina? Wir werden ja gleich Thee trinken,“ erklärte die Gräfin.

„Sie ist hinuntergegangen auf den Kirchhof, um einen Kranz auf das Grab des armen Mädchens niederzulegen, für das sie sich so lebhaft interessiert hat. Wenn du es wünschest, Tante, werde ich sie holen.“

„Ich bitte dich, die Herren begleiten dich vielleicht, der Weg durch den Park ist sehr schön.“

[117] Emma erhob sich, von den beiden Herren gefolgt. Noch im Hinausgehen hörte Swoyschin, wie die Gräfin ihrer Freundin zuraunte: „Hab’ ich dir’s nicht gesagt – Leichen und Gräber – um etwas andres kümmert sie sich nicht!“

Es gab also zwei Ginoris – eine, von der man sprach, und eine, von der man es nicht der Mühe wert fand, zu reden. Die Sache fing nun doch an, dem jungen Offizier unheimlich zu werden. Mit fast atemloser Spannung wartete er auf den Moment, wo er die zweite Ginori kennen lernen sollte.

Emma ging indessen, den beiden Männern voran, die Treppe hinab. Swoyschin machte die Wahrnehmung, daß trotz ihrer großen knochigen Gestalt und ihres energischen Wesens ihr Gang sehr leicht war. Man hörte ihren Schritt kaum, auch darin erinnerte sie an die Wärterin Marie Holoubeck.

Im Vestibül unten nahm sie einen großen, flachen braunen Strohhut von einem Nagel, setzte ihn, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, auf den Kopf, dann schritt sie mit den beiden Herren in den Park hinaus.

Die Büsche und Bäume waren noch durchsichtig, aber ein grüner Hauch schimmerte bereits über allem. Emma Ginori redete mit den jetzt neben ihr her gehenden Herren von allem möglichen, nur nicht von ihrer Schwester, und so sehr sich der Oberst auch bemühte, [118] vermochte er nicht, sie zu veranlassen, das Thema zu berühren. Swoyschin verhielt sich stumm.

Endlich hatten sie den Kirchhof erreicht. Er ragte, von niedrigen Mauern umfaßt, aus den grünen Wiesen auf, die sich zu Füßen des Hügels ausbreiteten, den das Schloß krönte und an dem der Park herunterlief.

Emma schob das eiserne Thürchen auf, das rostig in seinen Angeln hin. „Gina … Gina!“ rief sie in den Friedhof hinein.

Zufällig streifte der Oberst seinen Adjutanten mit dem Blick – er wunderte sich über den unruhigen, gespannten Ausdruck, den er auf dem Gesicht des jungen Mannes wahrnahm. Plötzlich schrak Zdenko auffällig zusammen.

Auf einem Grabhügel, leicht gegen ein Kreuz gelehnt, den Kopf über ein Buch, das auf ihren Knieen ruhte, gebeugt, saß ein blasses Mädchen. Ihr biegsamer Körper beschrieb eine komplizierte und doch wieder stilvolle Linie, die an gewisse englische Bilder erinnerte – aus der Schule von Rossetti und Burne Jones. Auch ihr Kleid, das in einfachen geraden Falten um ihre Glieder floß, erinnerte an jene Bilder. Es war von matter blaßlila Farbe.

Ein Kranz von Frühlingsblumen schmückte das eiserne Kreuz zu Häupten des Grabes, auf welchem sie saß, und eine sehr alte Trauerweide, die hinter [119] dem Kreuz emporragte, senkte ihre müden Äste über die phantastische Gestalt.

„Gina, was fällt dir ein, ich habe dich schon so oft gebeten, dir diese Bizarrerieen abzugewöhnen!“ rief, auf sie zutretend, die Schwester in strengem, ermahnendem Ton. „Du kannst deiner Vorliebe für englische Dichter doch anderswo als auf Gräbern frönen!“

„Du weißt, mich schrecken die Gräber nicht,“ erwiderte Gina. Ihre Stimme hatte einen merkwürdigen metallischen und zugleich heiseren Klang – den Klang einer leicht gesprungenen Glocke – einer von den Glocken, die Swoyschin in jener denkwürdigen Nacht immer denselben Namen zugerufen hatte: Gina Ginori! – Gina Ginori! – Gina Ginori!

„Es gibt keine Toten für mich!“ setzte sie trotzig hinzu.

Sie hob den Kopf, schlug die Augen auf – blaue Augen zwischen breiten, rötlichbraunen Augenlidern – abgrundtiefe Augen, in denen ein dumpfes Feuer aus dunklen Schatten hervorglühte. Ihr Blick fiel auf Zdenko, wurde starr und senkte sich dann plötzlich zu Boden. Ein dunkles Rot überzog ihre Wangen. Das Buch fiel ihr aus der Hand, und während er sich bückte, um es aufzuheben, richtete sie sich wie von einer Feder geschnellt empor. Sie machten den Eindruck, als ob plötzlich Leben in sie [120] hineingekommen wäre – den Eindruck einer Blume, die ein Sonnenstrahl aus ihrer herben Knospenhülle gelockt hat.

Während die Schwester den Obersten und seinen Adjutanten vorstellte, sah Gina – sei’s aus Koketterie, sei’s aus Befangenheit – von den Herren weg und machte sich mit dem Kranz auf dem Kreuz zu schaffen, den sie zurecht rückte.

Ein langer, schräger Nachmittagssonnenstrahl schimmerte auf den goldenen Buchstaben der Grabschrift. Swoyschin las die Worte:

Kein Bursch um sie warb,
Das Mägdelein starb,
Hat Lieb’ nie gekannt,
Ist das Herz ihr verbrannt.
Ist der Todesengel gekommen,
Hat’s in die Arme genommen,
Hat’s auf die Lippen geküßt,
Und als sein Liebchen begrüßt!

„Du könntest doch endlich aufhören, dich mit der liebeskranken Müllerin zu beschäftigen,“ sagte indessen Emma fast barsch.

„Was willst du, sie thut mir leid!“ murmelte Gina, „sterben, ohne das große Glück des Lebens kennen gelernt zu haben! Es ist schrecklich!“

Der Oberst kam sofort zu der Überzeugung, daß Gina Ginori nichts andres sei als eine schauderhafte Poseuse! Etwas ironisch fragte er: „Was nennen Sie das große Glück des Lebens?“

[121] „Das Glück, sich selber für einmal gänzlich vergessen zu können!“ erklärte sie. Dabei sah sie von dem Obersten weg und heftete den Blick von neuem auf Zdenko Swoyschin. Worauf der Oberst zu einer zweiten Überzeugung kam, zu der nämlich, daß Gina nicht nur eine Poseuse sei, sondern auch eine unheimliche Person, ganz und gar unheimlich, und eine Kokette!

„Beeile dich, wir müssen nach Hause!“ rief Emma, „es wird gleich Zeit sein zum Thee.“ Das auffällige Betragen Ginas verdroß augenscheinlich die Schwester, deren Bestreben dahin zu gehen schien, die Excentricitäten Ginas zu vertuschen, wo sie nicht vermochte, sie einzudämmen. Sie verwickelte Swoyschin sofort in ein Gespräch, nur damit er sich nicht dem phantastischen Mädchen widmen könne. In sonderbare Gedanken versunken, folgte der Oberst dem voranschreitenden Paar.

Die Luft war weich und warm, ringsum rauschte, flüsterte und duftete der Frühling. Plötzlich, ganz plötzlich bemächtigte sich des vernünftigen, ruhigen, gefaßten Mannes ein unbeschreiblich beängstigendes, fröstelndes Gefühl, als ob ihm eine Leiche sehr nahe wäre. Er sah auf – neben ihm schritt Gina Ginori.

* * *

Die beiden Herren blieben natürlich über den Nachmittagsimbiß, der in Zdibitz nach alter österreichischer [122] Sitte „Jause“ und nicht „five o clock“ hieß.

Immerhin hatte man dem Zeitgeist auch in Bezug auf diesen Imbiß eine Konzession gemacht, indem man ihn im Salon, die Tasse auf den Knieen oder in der Luft haltend, einnahm.

Gina saß mit finsterem Gesicht etwas abseits, wobei sie nicht aufhörte, lange, verträumte Blicke nach Swoyschin zu werfen, den die Gräfin Ronitz in ein tiefsinniges Gespräch über die neuesten nationalen Streitigkeiten verwickelt hatte. Der Oberst, welcher Gina aufmerksam beobachtete, verurteilte ihr Benehmen immer strenger als außerordentlich kurios, und ihre Zudringlichkeiten wunderten ihn um so mehr, als nach allem, was er durch seine Offiziere von Gina Ginori gehört, dieselbe von irgend welcher Koketterie bis dahin auch nicht die geringsten Beweise geliefert, ja dem männlichen Geschlecht gegenüber nicht einmal eine aufreizende Opposition, sondern einfach die entmutigendste Gleichgültigkeit gezeigt hatte.

Der Oberst dachte an Annie und gleich darauf an die schwache Seite im Charakter seines Adjutanten. Was wird daraus werden? fragte er sich und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

Während die Ronitz fortfuhr, mit ihren politischen Fragen Zdenko zu behelligen, näherte sich die Italienerin dem Flügel, griff erst stehend ein paar [123] mißtönige Accorde, setzte sich dann und begann zu spielen.

Es war kein neues Klavier, über dessen Tasten sie ihre blassen Finger gleiten ließ, sondern ein bereits überspielter Bechstein, den die Gräfin Zell für den Sommer von einer bekannten Klavierniederlage gemietet hatte, aber es war doch ein Bechstein und hatte die singende, verklingende Weichheit und Süßigkeit des Tons, welcher allen Bechsteins eigen ist. Der Anschlag Ginas war übrigens zauberisch. Sie spielte erst ein paar Präludien, dann ein Notturno von Chopin. Es klang wie das Schaudern und Beben des jungen Laubes, das der Frühlingswind streichelt, es klang wie das Lachen der Nixen, die sich an einem Unglück freuen.

Swoyschin hörte auf, die Fragen der Gräfin Ronitz zu beantworten. Von der Musik wie von einem Zauber angezogen, erhob er sich und näherte sich dem Flügel. Gina hielt ein wenig inne in ihrem Spiel, als er ihr gegenüber; die eine Hand auf dem Klavierdeckel, stehen blieb, und ihn aus ihren eigentümlichen Augen voll ansehend, fragte sie: „Haben Sie es für eine Pose gehalten oder für eine Verrücktheit, als Sie mich heute lesend auf dem Kirchhof fanden?“

Er zögerte einen Moment, bis er mit einem langsamen Lächeln, dem Lächeln, mit der er allen [124] Frauen den Kopf verdrehte, sagte: „Keines von beiden. Mir erschien Ihr Betragen nicht anders als die sonderbare Laune eines sehr eigenartigen Geschöpfs.“

Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, wußte er ganz instinktiv jeder Frau gegenüber gerade den Ton anzuschlagen, den sie am liebsten hörte.

„Laune!“ Sie zuckte die Achseln, aber offenbar nicht unzufrieden. „Laune, meine Vorliebe für Gräber ist keine Laune, es ist eine Leidenschaft. Mich dauern die armen verlassenen Toten, die keine Toten sind für mich.“

Zdenko stutzte. Hatte er eine durchtriebene Kokette und Komödiantin oder eine Wahnsinnige vor sich? Doch ob Komödiantin, ob Irrsinnige, jedenfalls war sie ein Weib von seltenem, wenn auch krankhaftem Liebreiz.

Nach einer kleinen Pause fragte er: „Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, daß es keine Toten für Sie gibt, Gräfin?“ Man nannte die Mädchen immer einfach Gräfin, weil der Titel Marchesina etwas zu Exotisches hatte für eine österreichische Konversation.

„Was ich damit meine?“ gab sie ihm zur Antwort. „Ich hätte einfach sagen sollen, daß ich die Scheidewand, welche im allgemeinen zwischen den Toten und den Lebenden besteht, nicht kenne. Ich sehe alle Toten wieder. Sie haben nicht dieselbe Scheu vor mir wie vor andern Menschen. Manchmal [125] denke ich mir, ich mute sie fast wie ihresgleichen an.“

Sie lachte ein Lachen, das an das Knistern von dürren Blättern und auch an das Zusammenklirren von Eisstücken erinnerte. Den jungen Mann überlief es kalt.

„Denken Sie,“ fuhr sie fort, „jahrelang meinte ich von einem Tag zum andern, ich müßte sterben! Von Kindheit an war ich krank. Man fürchtete die Schwindsucht für mich. Dann später wurde mir besser. Jetzt glaube ich fast, daß ich ganz gesund werden könne, aber nur unter der Bedingung, daß ich das Leben lieben lernte! Bis jetzt war mir meine Existenz so schrecklich gleichgültig.“ Dann, viel leiser, so leise, daß er seine Ohren anstrengen mußte, um sie zu verstehen, sagte sie: „Ich weiß, derjenige, der mich das Leben lieben lehrt, der macht mich lebendig – oder …“ sie stockte.

„Oder?“ – er lehnte sich etwas fester auf den Klavierdeckel und beugte sich weiter zu ihr vor – „oder?“ wiederholte er. Aber sie antwortete nicht. Sie hatte von neuem angefangen zu spielen, leise, träumerisch, aufreizend – und plötzlich … Zdenko erschrak, unter ihren Fingern glitten Töne hervor, die noch niemand einem Klavier entlockt hatte, aufreizend, klagend und doch wieder süß verheißend wie die Stimme des Frühlingswindes, wenn er über die [126] kahle Erde fährt und neues Leben aus den alten Gräbern lockt – jetzt ein-, zweimal die chromatische Figur.

Eine tiefe Falte zwischen den Brauen, trat Emma Ginori auf die Schwester zu. „Hör auf mit dieser Katzenmusik,“ rief sie zurechtweisend, „du weißt, daß ich diese Melodie nicht leiden kann!“

Gina erhob sich und lachte ihr freudloses, an zusammenklirrende Eisstückchen erinnerndes Lachen. Dann warf sie halblaut über ihre Schulter hinüber Swoyschin die Worte zu: „Erkennen Sie das Lied?“

– – – – – – – – – – –

Es war spät geworden, Oberst und Adjutant begaben sich auf die Heimfahrt. Der gelbe Schein der tiefstehenden Sonne vergoldete die Welt, lange Schatten streckten sich dazwischen. In den Duft der blühenden Obstbäume mischte sich der herbe, würzige Atem der den Horizont umdunkelnden Wälder. Ein kühlender, erfrischender Hauch schwebte aus dem fruchtbaren Boden empor.

Längere Zeit blieben die beiden Männer stumm. Der Oberst war unzufrieden mit seinem Adjutanten, gründlich unzufrieden. Was hatte der im Herzen erklärte Bräutigam Annies mit dieser italienischen Faxenmacherin zu liebäugeln? Was hatte ein Mensch, der durchgemacht hatte, was Swoyschin durchgemacht, überhaupt leichtsinnig mit irgend einem weiblichen [127] Wesen anzubandeln?! Die Sache machte ihm schwere Sorgen. Er war davon überzeugt, daß Swoyschin sich wieder einmal für viel Verdruß und wenig Pläsier „eintunken“ würde, und trachtete vorzubeugen.

„Swoyschin!“ begann er in bedeutsamen Ton aus seinem gedankenvollen Schweigen heraus.

„Ja, Herr Oberst!“ entgegnete etwas beunruhigt der Adjutant, der offenbar schon ahnte, was ihm bevorstand.

„Hm! hm!“ Der Oberst räusperte sich, dann hub er von neuem an: „Sagen Sie mir, was halten Sie von der Italienerin? Ist sie einfach eine Erzkokette, oder ist sie wirklich gestört?“

Zdenko sann einen Augenblick nach, nahm seine Cigarette von den Lippen und blies langsam den Rauch in die feuchte, goldschimmernde Luft. „Darüber bin ich mir selber nicht klar,“ sagte er langsam.

„Nun, ich auch nicht,“ erwiderte ihm der Oberst, „aber über das eine herrscht bei mir kein Zweifel – darüber, daß Sie wieder einmal im Begriff stehen, Unheil anzurichten, mein lieber Swoyschin. Nehmen Sie sich in acht; besonders in Ihrer jetzigen Lage wär’s nicht angenehm für Sie, zwischen zwei Stühle zu geraten.“

Swoyschin nagte unruhig an seiner Oberlippe. Seine auffällige Empfindlichkeit bewies in diesem Fall deutlich, daß er kein ganz reines Gewissen habe. Er [128] fühlte infolgedessen doppelt das Bedürfnis, sich zu verteidigen, sich zu entschuldigen.

„Lieder Herr Oberst, Sie werden doch nicht einen Augenblick denken, daß mir’s einfallen könnte, dieser Italienerin wirklich den Hof zu machen? Sie interessiert mich auch gar nicht wie ein Geschöpf von Fleisch und Blut, sie interessiert mich wie ein Gespenst.“

Der Oberst starrte den Adjutanten an, als ob dieser plötzlich verrückt geworden wäre.

„Den Blick verdien’ ich nicht,“ versicherte kopfschüttelnd Swoyschin. „Ich bin nun einmal überzeugt, daß mit Gina Ginori etwas Unheimliches verbunden ist, etwas, von dem die Schwester mehr weiß als Gina selbst, weshalb Emma es verbergen möchte, während Gina damit prahlt. Urteilen Sie selbst, Herr Oberst!“

Hiermit schilderte Swoyschin seinem Vorgesetzten den seltsamen Besuch, der ihm in der Nacht nach seiner Rückkehr in Breznitz zu teil geworden war, und den er sich erst als einen Traum ausgelegt hatte.

„Es ist auch nichts andres gewesen als ein sonderbarer Traum und ein sonderbarer Zufall,“ erklärte der Oberst barsch. Er konnte keine Phantastereien leiden und machte allem spiritistischen Unfug fast mit derselben Vehemenz Opposition wie die Gräfin Ronitz.

„Aber wie erklären Sie sich’s, daß die nächtliche [129] Erscheinung Zug für Zug Gina Ginori glich?“ fragte eigensinnig der Oberlieutenant.

Sein Vorgesetzter dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Sie müssen sie doch schon früher einmal gesehen haben; es bleiben so manches Mal Dinge in unsrer Seele abphotographiert, ohne daß wir das deutliche Bewußtsein davon haben, und unter gewissen Bedingungen treten die Bilder zu Tage.“

„Ich habe sie nie gesehen,“ behauptete Swoyschin fast verdrießlich.

„Ich merke, Sie lehnen jede natürliche Erklärung der Situation ab, weil Sie sich durchaus Ihren geisterseherischen Nimbus bewahren möchte,“ erklärte der Oberst. „Wenn Sie sich durchaus interessant vorkommen wollen, so kommen Sie sich meinetwegen interessant vor, aber wenn Sie meinem Rat folgen, so lassen Sie’s jetzt dabei bewenden, stöbern Sie nicht weiter in der dunklen Psychologie dieser verrückten Italienerin herum, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Mögen Sie sich hundertmal hinter das Bewußtsein Ihrer guten Absichten zurückziehen, etwas Schuld hat ein Mann doch immer, wenn ihm aus Weibergeschichten Scherereien herauswachsen. Ein guter Kerl sind Sie ja, aber das kompliziert die Sache nur, denn nebstbei sind Sie eitel und neugierig. Sie wollen kein Unglück anrichten, aber es schmeichelt Ihnen doch, wenn sich ein Mädchen stark mit Ihnen beschäftigt. [130] Sie stecken die Hand ins Wasser, um sich zu vergewissern, ob die Temperatur steigt. Die Temperatur steigt in solchen Fällen immer. Da Sie sich schon mehr als einmal die Hand tüchtig verbrüht haben, könnten Sie sich in acht nehmen. Ihre Erfahrungen waren unangenehm; aber es könnten noch unangenehmere kommen. Mit der Gina Ginori wär’s nicht leicht auszubandeln, wenn man einmal angebandelt hätte! Ich warne Sie!“

Warnungen nützen in den seltensten Fällen etwas. Gewöhnlich sind sie nur Wegweiser zur Versuchung. –

* * *

Das, was er gewünscht hatte, erreichte der Oberst durch seine weitläufigen Ermahnungen nicht, aber er erreichte andre, ihm weit weniger erwünschte Dinge: daß Zdenko nicht mehr ganz so offen mit ihm war, daß er ihm nicht mehr so viel Zeit widmete wie früher, ja ihm manches Mal geradezu auswich, daß er seine Briefe an Annie nicht mehr in dem Rauchzimmer des Obersten und unter derselben Lampe schrieb, bei deren Licht der Oberst Napoleons Feldzug von 1814 studierte, und daß er ihm nicht mehr unbefangen plaudernd von jeder Viertelstunde in seinem Tag Rechenschaft gab.

Einmal fuhr er nach Zdibitz hinüber, zu einer Lawn-Tennis-Partie, die der Oberst abgesagt hatte, [131] und das erfuhr der Oberst erst durch die Neckereien, mit welchen die Kameraden Swoyschin nachträglich verfolgten, oder mit denen sie vielmehr seinen allerneuesten Sieg betonten. Besonders Bärenburg, der aus guten Gründen auch nicht im mindesten auf seinen Vetter eifersüchtig war – seine eigenen Eroberungen gaben ihm ganz genug zu thun –, leistete Ausgiebiges hierin.

„Schade, daß Sie nicht dabei waren, Herr Oberst,“ bemerkte er zu diesem, als er am Abend jenes Tages bei einer freundschaftlichen Partie Billard im Offizierskasino mit ihm zusammentraf, „es hätte Ihnen Spaß gemacht, zu sehen, wie sich unser liebenswürdiger Zdenko wieder einmal in der Lilienknickerei geübt hat.“

„Aber so schweig doch, Tapsch, du bist unausstehlich!“ rief Swoyschin, der sich offenbar vor dem Obersten genierte, mit blitzenden Augen.

„Welche Lilie hat er denn neuerdings geknickt?“ fragte der Oberst, indem er mit strafender Miene an Swoyschin vorbeisah. Er wußte es nämlich ganz gut, um welche Lilie es sich handelte, aber er that nur so unschuldig, weil er auf Swoyschin böse war und ihn beschämen wollte.

„Nun, die Gina Ginori! Das Mädel benimmt sich ja rein wie verrückt!“ erklärte lachend Bärenburg. „Zu komisch!“ fuhr er fort. „Gegen uns verhielt sie sich so, daß wir geneigt waren, sie nicht [132] nur für eine ausgemachte Männerfeindin, nein, für ein absolutes Neutrum anzusehen. Ihre Gleichgültigkeit grenzte ans Unnatürliche! Dem Zdenko hingegen hat sie sich geradezu an den Kopf geworfen.“

„Tapsch!“ schrie Swoyschin wütend.

„Nichts für ungut,“ erklärte Bärenburg mit großer Ruhe dem aufgeregten Swoyschin, „die Thatsache läßt sich nicht leugnen; sie hat sich auf den ersten Blick in dich verliebt, und wenn sich eine so bildhübsche passionierte Italienerin mir aus freien Stücken an den Kopf werfen wollte, so versichere ich dir, daß ich meinen Namensbruder in Ägypten den Tugendpreis nicht streitig machen würde. Übrigens, stille Wasser sind tief, Herr Oberst, einen neuen Paletot braucht sich der Zdenko auch noch nicht zu bestellen. Sie hätten ihn heute mit dieser hübschen Gina Ginori Süßholz rapseln sehen sollen!“

Swoyschin zerbrach den Billardstock, den er in der Hand hielt, über seinem Knie und verließ wütend das Zimmer.

Die Hände in den Hosentaschen, blickte der Oberst vor sich hin. „Hm! Sie, Bärenburg,“ brummte er, indem er jetzt die Hände aus den Taschen zog und die langen Enden seines Schnurrbarts durch seine Finger gleiten ließ, „die Geschichte ist mir nicht recht – gefällt mir gar nicht!“

„Ach, Herr Oberst, Sie sehen zu schwarz.“

[133] „Ich sehe, daß Swoyschin unverbesserlich ist,“ erklärte der Oberst.

„Sie sind sehr streng, er kann wirklich nichts dafür,“ verteidigte Bärenburg den Vetter.

„Man kann immer dafür,“ entgegnete verdrießlich der Oberst.

„Nun, Herr Oberst“ – Bärenburg kraute sich nachdenklich den Kopf –, „es ist ja richtig, daß man mit ausdauernder Tugend selbst die unwiderstehlichste Unwiderstehlichkeit besiegt, aber ob sich diese Tugendprotzerei bei einem Mann gut ausnehmen würde, frag’ ich mich. Bitte, denken Sie sich so einen Mann, der sich vor ein in ihn unerwünschterweise verliebtes Mädchen hinstellt und dasselbe anpredigt:

‚Jungfrau, treue Bruderliebe,
Widmet Euch dies Herz,
Fordert keine andre Liebe,
Denn es macht mir Schmerz!‘

Es ist ja möglich, daß dieses Verfahren die Jungfrau von ihren thörichten Gefühlen gründlich heilen würde, ich für meinen Teil nehme dies als wahrscheinlich an; aber finden Sie im Ernst, daß dergleichen von einem Mann zu verlangen ist, Herr Oberst?“

Sie waren ganz allein in dem großen niedrigen Billardsaal, in dem das Licht durch kleine, viereckige Fenster hereinbrach. Der Oberst begann unruhig auf [134] und ab zu gehen. Bärenburg löste mit großer Geschicklichkeit schwierige Billardprobleme. Das Zusammenprallen und Weiterrollen der Kugeln unterbrach allein die Stille.

Jetzt blieb der Oberst vor dem Billard stehen. „Hm! Wissen Sie, Bärenburg, das dümmste ist, daß Swoyschin, wenn er bei seinen Abenteuern nicht mit der Verteidigungspredigt aus dem ‚Toggenburg‘ anfängt, doch eigentlich immer mehr oder minder damit aufhört! Er gehört zu dem gefährlichsten Don Juan-Typus – dem Typus, der am meisten Unheil anstellt – dem Typus des Don Juan, der stecken bleibt.“

„Das ist allerdings richtig,“ gab Bärenburg zu, „er sticht immer frisch und fröhlich mit seinem Liebesschifflein in See, und sobald das Wetter stürmisch wird, verläßt er das Schifflein, um sich auf die Insel der strengen Gewissenhaftigkeit – vor nachträglichen Vorwürfen zu retten. Es gelingt ihm geradezu großartig, sich die Vorwürfe vom Leibe zu halten. Darin ist er mir am merkwürdigsten.“

„Allerdings ist er darin recht merkwürdig!“ bekräftige der Oberst mit wegwerfender Betonung, und zornig fügte er hinzu: „Hol ihn der Teufel!“

„Herr Oberst, sagen Sie das nicht so laut,“ erwiderte ihm Bärenburg lachend, „niemand würde es mehr bedauern als Sie, wenn Sie der Teufel beim Wort nähme!“

[135] „Ach, ob ich es laut sage oder nicht,“ murmelte der Oberst finster, „das wird nichts an der Sache ändern. Rächen wird sich das Unheil, welches er immer wieder heraufbeschwört, an ihm doch früher oder später – und dann fürchterlich.“

„Sie meinen, der ‚Kommandeur‘ bleibt nicht aus,“ sagte Bärenburg, „vielleicht haben Sie recht. Und es ist doch so schrecklich schade! Komisch, daß ich Ihnen gegenüber den Zdenko verteidigen muß, Herr Oberst. Sie sind eben ein wenig enttäuscht. Ich kenn’ ihn schon länger und weiß, was ich von ihm zu erwarten habe. Sie haben nur von den zwei traurigen Fällen gehört, Lydia Böckel und der Doktorin; nun, ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von Liebeleien Zdenkos aufzählen, die, wenn nicht alle mit dem Tod, doch alle tragisch geendet haben.“

„Und da ist er noch nicht kuriert!“ brummte der Oberst.

„Den wird nichts kurieren,“ behauptete Bärenburg. „Wie soll den etwas kurieren, da er sich nie einer bösen Absicht bewußt wird. Er ist nun einmal mit einer wunderbaren Fähigkeit geboren, dem Instrument der weiblichen Seele Töne zu entlocken, die diesem Instrument kein andrer zu entlocken versteht. Er spielt auf dem Instrument als Künstler allerersten Rangs. Eine solche Fähigkeit läßt sich nicht unterdrücken. Ich bitte, stellen Sie sich das vor: [136] sperren Sie Paganini oder Wieniawsky, oder wie die Kerle alle heißen, in ein Zimmer, in dem so und so viele Geigen an der Wand hängen, und verbieten Sie ihm bei Todesstrafe, darauf zu spielen. Ehe eine Woche vorüber ist, wird er die Todesstrafe vergessen haben und wird auf einer der Geigen spielen. Das ist nun einmal seine Natur!“

„Bah! – wenn es sich nicht um eigenes, sondern um fremdes Unglück handelt, dem man vorbeugen soll, kann man seine Natur Mores lehren,“ ereiferte sich der Freiherr, „man ist verpflichtet dazu, und ich kann’s nicht begreifen, daß ihm solche Katastrophen wie die, um die es sich handelt, keinen tieferen Eindruck machen.“

„Aber sie machen ihm ja einen tiefen Eindruck – einen sehr tiefen Eindruck. Jedesmal nach einer derartigen Katastrophe bekommt er ein Nervenfieber oder einen Anfall von Influenza oder irgend einen andern mit gastrischen Erscheinungen komplizierten Zustand. Nach ein paar Wochen, manchmal Monaten, ist er ganz gesund und hat die feste Überzeugung erlangt, daß er gar nichts dafür gekonnt hat. Und sagen Sie, was Sie wollen, bei alledem bleibt er rasend sympathisch.“

„Ihnen vielleicht,“ schnaubte der Oberst, „bei mir hat er ausgespielt, total ausgespielt.“

„Wollen’s abwarten,“ lachte Bärenburg. „Sie [137] werden sehen, nicht vierzehn Tage dauert Ihre Antipathie. Unter Männern ist er musterhaft, der verläßlichste Freund, der schneidigste Kamerad, kennt keinen Neid, keine Kleinlichkeit, immer bei der Hand, wenn man was braucht, mag’s ihm noch so unbequem sein, ein guter Ratgeber, taktvoll, besonnen …“

„Strengen Sie sich nicht weiter an,“ unterbrach ihn der Oberst unwirsch, „ich hab’s Ihnen schon einmal gesagt, bei mir hat er ausgespielt.“