ADB:Lehrs, Karl
[1] 1802 in Königsberg in Preußen von jüdischen Eltern [153] geboren und führte bis zu seinem Uebertritt zum Christenthum den Vornamen Kaufmann. Sein Vater, Inhaber eines Engrosgeschäfts in Manufacturwaaren, sowie die (um 20 Jahre jüngere) Mutter werden als ruhige, milde Persönlichkeiten geschildert; ihre Bildung war die zu Anfang des Jahrhunderts in wohlhabenden jüdischen Familien gewöhnliche, der Vater las am liebsten Lessing. Von vier Geschwistern war nur ein Bruder älter, eine Schwester und zwei Brüder jünger. Einer der letzteren, F. Siegfried L., ein begabter Philologe, starb am 13. April 1843 im 37. Jahre in Paris, wo er für F. A. Didot die 1841 erschienene Ausgabe der griechischen Epiker besorgt hatte; die von ihm ebenfalls besorgte, fast druckfertig hinterlassene der griechischen Didaktiker (die zusammen mit den Bukolikern 1851 erschien) vollendete L., der auch die Vorrede dazu schrieb. – Das Leben der Familie war ein durchaus harmonisches; der behagliche Wohlstand, dessen sie sich erfreute, nahm erst in den zwanziger Jahren rasch ab. Doch während seiner Schul- und Universitätszeit war L. nicht nur jeder äußeren Sorge für seine Ausbildung überhoben, sondern genoß auch den Vorzug, in einer gebildeten Umgebung aufzuwachsen. Eine nicht ausgebreitete, doch heitere Geselligkeit belebte das Haus und es fehlte nicht an Zerstreuungen. Mit Vergnügen erinnerte sich L. noch in seinem Alter der regelmäßig im Sommer an Sonnabenden und Sonntagen unternommenen Spazierfahrten nach umliegenden Orten, die wohl den Keim des später bei ihm lebhaft entwickelten und innigen Naturgefühls in seine Seele gepflanzt haben mögen. Bis zum zehnten Jahre erhielt L. häuslichen Unterricht, dann wurde er in die Tertia des Friedrichs-Collegiums aufgenommen. Dies durch lange Vernachlässigung herabgekommene Gymnasium hatte 1810 durch W. v. Humboldt in F. A. Gotthold (Bd. IX S. 485), einem Schüler F. A. Wolf’s, einen Director erhalten, der mit eben so viel Eifer als Erfolg seine Regeneration unternahm. Trotz seiner Härten, Schroffheiten und Wunderlichkeiten übte er auf seine Schüler durch seine aufrichtige Begeisterung für das griechische Alterthum und den Ernst seines Strebens einen wohlthätigen Einfluß. Unter den Lehrern war Lachmann, der an der Anstalt 1815–1818 wirkte, ohne Vergleich der bedeutendste; er war gegen die Schüler freundlich und erlaubte ihnen auch, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Den Religionsunterricht ertheilte der später durch den sogenannten Muckerproceß bekannt gewordene J. Ebel (geb. 1784, vgl. Bd. V S. 519 ff.). Seine bedeutende Persönlichkeit scheint auf Lehrs’ religiöse Richtung nicht ohne Einfluß geblieben zu sein.
Lehrs: Karl L., einer der hervorragendsten Philologen dieses Jahrhunderts. Er wurde am 2. JanuarAuf der Universität, die L. zu Michaelis 1818 bezog, nachdem er sich schon auf der Schule für den zu wählenden Beruf entschieden hatte, war er so glücklich, den Unterricht des im besten Mannesalter stehenden Lobeck (geb. 1780, Professor in Königsberg seit 1814) zu genießen, dessen Aufmerksamkeit er durch seine ungewöhnliche Begabung und seinen ernsten Fleiß sogleich erregte. Lehrs’ erste Arbeit für das philologische Seminar war eine griechisch geschriebene Abhandlung, über welche der Senior des Seminars, Friedrich Ellendt (Verfasser des Lexicon Sophocleum, Bd. VI S. 47) griechisch mit ihm disputirte; nachdem beide gesprochen, nahm Lobeck selbst die Erörterung des Gegenstandes in derselben Sprache auf „und zwar in einer Weise, als ob es seine Muttersprache wäre“. Lobeck bewies L. während dessen ganzer Studienzeit nicht blos die förderndste Theilnahme an seinen Studien, sondern erwiederte auch die begeisterte Verehrung des Jünglings mit der wärmsten Freundschaft, und das schöne Verhältniß beider Männer hat in gleicher Innigkeit bis zu Lobeck’s Tode fortgedauert. Daneben erfreute sich L. eines vertraulichen Umganges mit Lachmann, und auch diese Freundschaft blieb eine dauernde, obwol zwei verschiedenere Naturen kaum gedacht [154] werden können; ihr lebhafter Briefwechsel (durch welchen Lachmann auch die Anregung zu den „Betrachtungen über die Ilias“ erhielt; vgl. Kammer, Ueber die Einheit der Odyssee, S. 15 ff.) wurde durch die großen politischen Differenzen, die namentlich seit 1848 zwischen ihnen hervortraten, nicht gestört. Auch mit Friedrich Jacob (Lachmann’s Nachfolger am Friedrichs-Collegium, Bd. XIII S. 557), „einer anima candida“, war L. als Student befreundet.
Wenn auch griechische Sprache und Litteratur den Hauptgegenstand von Lehrs’ Studien bildeten, so suchte er doch, wie es die Natur seines überall in die Weite und Tiefe strebenden Erkenntnißtriebes nicht anders zuließ, das ganze Gebiet der Alterthumswissenschaft kennen zu lernen, was bei ihrem damals so viel geringeren Umfange noch in viel höherem Grade möglich war als gegenwärtig. Auch war er weit entfernt, andere Fächer, deren Wichtigkeit für allgemeine Bildung er anerkannte, zu vernachlässigen; ja er scheint solchen Nebenstudien eine selbst damals ungewöhnliche Ausdehnung gegeben zu haben, da er sogar Vorlesungen über Mineralogie und Chemie hörte. Eine umfassende Beschäftigung mit den modernen Litteraturen war in der Bildungsatmosphäre, die ihn umgab, selbstverständlich; das für jene Zeit so charakteristische lebhafte Interesse für das Theater behielt er bis in sein hohes Alter; auch Musik scheint er getrieben zu haben. Nur gegen die Pädagogik, die damals in Königsberg von einem so hervorragenden Vertreter wie Herbart gelehrt wurde, der auch den Studirenden Gelegenheit bot sich durch praktische Uebungen darin auszubilden, verhielt er sich ablehnend: vollends „die Absicht, aus einem psychologischen Lehrbuch den Umgang mit Menschen zu erlernen, schien ihm die eines Unmündigen“. Herbart, dem diese stille Opposition eines von seinen Lehrern so hoch geschätzten Philologen nicht entgangen sein konnte, war dadurch so ungünstig gegen ihn gestimmt, daß er (1822) Alles that, um Lehrs’ Ernennung zum Lehrer an einer Bürgerschule (die dieser wünschte, um in Königsberg bleiben zu können) zu verhindern, was ihm auch gelang. – Uebrigens schloß sich L. von dem geselligen Verkehr mit Altersgenossen keineswegs ab: zu welchen unter Anderen die Astronomen Scherk (geb. 1798, später Professor in Halle und Kiel, seit 1852 Lehrer an der Gewerbeschule in Bremen) und Rosenberger (geb. 1800, später Professor in Halle) und der Mathematiker und Physiker Friedrich Strehlke (geb. 1797, später Director der Petrischule in Danzig) gehörten. Auch von jungen Mädchen, bei denen seine Schüchternheit ihm nicht schadete, war er gern gesehen und ein beliebter Tänzer; noch als älterer Mann ließ er sich bewegen, seine Fertigkeit in der Tanzkunst in befreundeten Familien zu zeigen. Er übte auch die Reitkunst, und daß er Besitzer eines Galanteriedegens war, läßt vermuthen, daß er auch an allgemeinen studentischen Unternehmungen Theil nahm.
Im December 1822 machte L. das Gymnasiallehrerexamen, dessen Resultat ihm Lobeck, wie er in einem „an Herrn Studiosus Lehrs Hochedelgeboren“ gerichteten Billet sagt, voraussagen konnte. Kurz vorher war er zum Christenthum übergetreten. War der Zeitpunkt dieses Religionswechsels auch im Hinblick auf die demnächst anzutretende Laufbahn gewählt, so erfolgte er doch ohne Zweifel aus innerem Drange. Das Judenthum war in seiner Familie durch die Nachwirkungen des Rationalismus des 18. Jahrhunderts zum Deismus abgeschwächt. Auch setzten die Eltern diesem Uebertritt ebenso wenig Hindernisse entgegen als dem der Tochter (der 1825 „nach ihrem innigsten Wunsche“ erfolgte) und der anderen Söhne. Wenn sich übrigens auch in Lehrs’ tief religiöser Natur die Neigung zum Christenthum selbständig entwickelt haben wird, so wurde sie nicht blos durch den Einfluß Ebel’s, sondern auch durch den Lachmann’s befestigt.
[155] Nachdem L. am 7. März 1823 promovirt hatte, übernahm er zu Ostern d. J. die Vertretung des nach Italien gereisten Professors Schöler an dem Gymnasium zu Danzig, dessen Director Meineke (geb. 1790) war; er hatte auf den vier obersten Klassen fast ausschließlich im Griechischen zu unterrichten. Die in Danzig verlebte Zeit war für ihn eine in jeder Hinsicht glückliche. „Hier lernte man das Schulwesen in seiner wahren Gestalt kennen. Die vorherrschende Ansicht, den Lehrer als Künstler zu betrachten, dem man die Freude an seinem Werk nicht zu verkümmern habe, an den man aber berechtigt sei Anspruch zu machen auf stets zunehmende Vervollkommnung, verbreitete über die Lehrer eine freie Thätigkeit, deren wohlthätiger Einfluß auf die Schüler überging: und mit Vergnügen bemerkte man schon auf den niedrigeren Klassen einen wissenschaftlichen Geist und Fortschritte von Bedeutung.“ Der größte Gewinn entsprang für L. aus dem Verhältniß zu Meineke, der ihm „freundschaftlichsten Umgang, Anregung und Belehrung bot“ und die Benutzung seiner reichen Bibliothek in der zuvorkommendsten Weise gestattete. Auch zwischen ihm und L. entstand hier eine für das Leben währende innige Freundschaft.
Nachdem L. während des Winters 1823/24 einen häuslichen Unterricht ertheilt hatte, der ihm viel freie Zeit übrig ließ, nahm er zu Pfingsten 1824 eine Stelle am Gymnasium zu Marienwerder an. Das hier verbrachte Jahr war ein sehr unerfreuliches; auch abgesehen von der notorisch übeln Verfassung der Schule hatte L. unangenehme Erfahrungen zu machen. Man suchte ihn auf jede Weise herabzudrücken, gab ihm keinen Unterricht auf den oberen Klassen, dagegen den naturwissenschaftlichen auf Quinta und beschränkte ihn in der Benutzung der Bibliothek. Erholung von diesen Widerwärtigkeiten fand er in seinen Studien, die er freilich im Uebermaß trieb; schon damals gefährdete er durch anhaltende Nachtarbeiten seine Gesundheit. Er setzte das in Danzig begonnene Studium des Eustathius fort und brauchte als „Gegenmittel“ gegen diesen „ekelhaften Autor“ die Beschäftigung mit Plato: bei der Lesung des Philebus bedauerte er zum ersten Mal nichts von Philosophie zu verstehn. Neben Plato war es vor Allem Goethe, dessen Werken er Erquickung und Erhebung verdankte: wie ihm dort und damals in einer einsamen Nacht die ganze Herrlichkeit der Iphigenie aufgegangen war, das blieb ihm stets unvergeßlich.
Zu Ostern 1825 wurde L. mit einem Gehalt von 600 Thalern als fünfter Oberlehrer an das Friedrichs-Collegium in Königsberg berufen. Wegen seiner der Sitte gemäß im nächsten Schulprogramm veröffentlichten Selbstbiographie wurde er von zwei Seiten zur Verantwortung gezogen: über seine geringschätzige Beurtheilung des Studiums der Pädagogik beschwerte sich Herbart, über seinen Tadel des Gymnasiums zu Marienwerder der dortige Director. Seine sehr ruhigen und sachgemäßen Erwiderungen auf beide Beschwerden sind noch vorhanden.
L. war in seiner Stellung am Friedrichs-Collegium von Anfang an überbürdet. Er hatte 24 Stunden wöchentlich im Griechischen, Lateinischen und Deutschen in den drei obersten Klassen zu geben und eine sehr große Anzahl von zum Theil schwierigen Correcturen zu liefern; dazu kamen noch einige längere Vertretungen. Seine Gesundheit begann zu leiden, sein Arzt Dr. Sachs mahnte zur Schonung, und Lachmann rieth ihm brieflich, sich den unbilligen Zumuthungen des Directors Gotthold energisch zu widersetzen. Es kam zwischen L. und diesem zu einem sehr gereizten Briefwechsel; L. beschwerte sich 1830 beim Consistorium, das ihn aber auf Grund eines Berichts des Directors abwies. Der amtliche Verkehr der Lehrer mit ihren vorgesetzten Behörden wurde übrigens damals noch in einem sehr gemüthlichen Tone geführt. L. beklagte sich, daß der Director [156] den Unterricht zerstückle, um alle angenehmen Gegenstände sich vorzubehalten, so die Erklärung des Horaz: „Warum auch nicht? Was kann man angenehmeres auf dieser betrübten Erde thun, als den Horatius lesen?“ – Und in der Antwort des Consistoriums heißt es unter Anderem: „Was Andere vermögen, vermag der wackere L. gewiß auch.“
Mit der Zeit wurde das Mißverhältniß von L. und Gotthold immer schlimmer, und da Lehrs’ empfindlich organisirte Natur unter Feindseligkeiten stets sehr litt, wirkte dies mit der fortdauernden geistigen und körperlichen Ueberanstrengung, die er sich zumuthete, zusammen, um seine Gesundheit je länger je mehr zu untergraben; denn trotz seiner Ueberbürdung mit Schularbeiten setzte er seine Studien mit Zuhilfenahme der Nächte aufs energischste fort. Im J. 1831 habilitirte er sich als Privatdocent mit dem „Quaestionum Aristarchearum specimen“ und der Antrittsvorlesung „De ironia quatenus in historia studiorum Homericorum cernitur“, einem Produkt des anmuthigsten Humors (gedruckt in dem Programm der Königsberger Universität 1879, II), und schon 1833 erschien das auch durch die ungeheuren Massen des verarbeiteten Materials Staunen erregende Werk „De Aristarchi studiis Homericis“. Die Doppelstellung an der Schule und Universität steigerte natürlich noch die Arbeitslast. Im J. 1835 wurde L. zum außerordentlichen Professor an der Universität ernannt. Eine Eingabe an den Minister Altenstein, seine Lehrstunden an der Schule auf 12 herabzusetzen, und ihn von der Theilnahme an den Lehrerconferenzen zu entbinden, wurde, wenn auch in sehr freundlichem Tone, abschläglich beschieden. Dagegen wurde L. Urlaub zu Reisen behufs Wiederherstellung seiner Gesundheit wiederholt bewilligt: in den Jahren 1832, 1837 (wo er nach einer Kur in Franzensbad Prag, Wien und München besuchte) und 1844 (wo er nach einer Kur in Karlsbad den Rhein und die Schweiz bereiste und bis Mailand gelangte, in Zürich bei Sauppe einkehrte und auf der Philologenversammlung die längst ersehnte Gelegenheit fand, Gottfried Hermanns Bekanntschaft zu machen). Eine im J. 1842 erfolgte Wahl zum Director des Kneiphöfischen Gymnasiums in Königsberg lehnte er mit einem Hinweis auf die ihm wohlbekannte „schwierige und dornige Verpflichtung“ dieses Amtes ab. Endlich erreichte er im J. 1845 durch seine Ernennung zum ordentlichen Professor an der Universität die Möglichkeit, seine tief erschütterte Gesundheit wieder herzustellen und seinen Studien zu leben, ohne sie aufs neue zu gefährden. Es war hohe Zeit. Er machte damals den Eindruck eines siechen, hinfälligen, vor der Zeit gealterten Mannes, bei dem man nur noch auf eine kurze Lebensdauer rechnen konnte. Auch verging noch manches Jahr, bis er seine körperlichen Leiden und die durch sie hervorgerufenen trüben Stimmungen ganz los wurde. Zu der Faustischen Empfindung der Nichtigkeit aller wissenschaftlichen Bestrebungen gesellte sich bei ihm noch ein sehr bitteres Gefühl. Wie spät war er aus einer kaum noch erträglichen Lage durch eine Stellung erlöst worden, die ihm längst vor anderen gebührte und die er so manche Mittelmäßigkeit mühelos erreichen gesehen hatte. Es ist wenigstens erklärlich, daß er nach soviel widrigen Erfahrungen auch von Anwandlungen der Menschenverachtung nicht frei blieb. „Ich glaubte“, sagte er damals einmal, nachdem er die Biographie Beethoven’s von Schindler mit leidenschaftlichem Antheil gelesen hatte, „wer sich solche Musik vormachen konnte, habe nie ganz unglücklich sein können: doch freilich, er hatte die Erbärmlichkeit der Menschen zu sehr kennen gelernt.“
Uebrigens hatte L. sein Schulamt trotz aller damit verbundenen Widerwärtigkeiten nicht blos mit der größten Gewissenhaftigkeit, sondern auch mit glänzendem Erfolg verwaltet. Er war eine durch und durch pädagogische Natur [157] im Sinne Fr. A. Wolf’s, dessen Forderung „Habe Geist und wisse Geist zu wecken!“ er wie selten ein Lehrer erfüllte. Er legte durch seinen Unterricht in den beiden obersten Klassen einen sicheren und umfassenden Grund in der Kenntniß der alten Sprachen und führte zugleich seine Schüler in das Verständniß des Homer und Horaz (von dem er die Satiren und Episteln mit Vorliebe interpretirte) ein, er legte Werth darauf sie durch Ciceronische Schriften mit der griechischen Philosophie bekannt zu machen; er brach sich eine Extrastunde ab, um mit Vorgeschritteneren Terenz zu lesen. Obwol er streng, zuweilen schroff war und gelegentlich von den Primanern „unser Tyrann“ genannt wurde, hing die Mehrzahl doch sehr an ihm. Man fühlte durch, daß ihm die Bildung seiner Schüler wirklich am Herzen lag, auch imponirte seine Gelehrsamkeit gewaltig, und sein zuweilen barockes Wesen (z. B. Versinken in Minuten langes Nachdenken) störte diesen Eindruck nicht im Geringsten. Seine Abhängigkeit von Sympathieen und Antipathieen zeigte sich freilich auch hier; er hatte entschiedene Lieblinge, andere konnte er nicht leiden und behandelte sie zuweilen mit verletzendem Hohn. Aufzeichnungen in seinem Nachlaß, die gerade aus der letzten Zeit seiner Thätigkeit an der Schule stammen, zeigen, mit wie tiefem Ernst er seine Pflicht als Lehrer auffaßte. „Was das heute für ein griechisches Abiturientenexamen war, sagt er in einem dieser schriftlichen Selbstgespräche im September 1843, nachdem ich das ganze Jahr unermüdlich hinterher gewesen! Sie lernen nichts, weil sie nichts lernen wollen!“ Und nun macht er sich Punkt für Punkt die Gründe dieser Erscheinung klar. Andere dort aufgezeichnete Betrachtungen zeigen, wie ihm in pädagogischen Fragen auch das Geringste wichtig erschien: so über nachlässige Haltung (der Schüler und der Lehrer) während des Unterrichts, über das Tragen von Abzeichen bei Schülern, über Versuche, einen Studentencomment in die Prima einzuführen. Alle diese Erörterungen sind in einer Weise durchdacht und ausgeführt, daß man auch hier sieht, wie er mit ganzer Seele Lehrer war.
Auch nach Lehrs’ Entfernung von der Schule blieb sein Interesse für sie ein sehr lebhaftes. Desto mehr schmerzte es ihn, daß an die Stelle der Anschauung Wolf’s und W. v. Humboldt’s von der Aufgabe des Gymnasialunterrichts eine andere getreten sei, nach welcher das Gymnasium „nicht angesehen werde, was jene wollten, als griechische Idealschule, sondern als lateinische Trainirschule.“ (Pop. Aufs.2 S. 496). Die Resultate des Gymnasialunterrichts erschienen ihm je länger desto unbefriedigender, und er kam allmählich zu der Ansicht, daß in der Realschule erster Ordnung durch Lectüre der englischen und der mit dem Geist der griechischen Kunst erfüllten deutschen Dichter mehr Bildung erworben werden könne als durch die der klassischen Dichter im Original, wie sie jetzt betrieben werde. Auch befürwortete er eifrig die Zulassung der Realschulabiturienten zur Universität. Als Examinator der Candidaten des höheren Schulamts legte er 1854 sein Amt aus Unmuth über die Prüfungsordnung nieder, in welcher er die Tendenz fand, Mittelmäßigkeiten heranzuziehen und aus denselben Gründen 1869 die Mitdirection des philologischen Seminars. Die Wirksamkeit an demselben sei ihm verleidet, heißt es in seiner Eingabe an den Cultusminister, seit das Prüfungsreglement die Bildung der Schulamtscandidaten „nicht mehr auf wissenschaftliches Eindringen und wissenschaftliche Erhebung, sondern auf normative Einschulung gestellt habe“, und „der Standpunkt der nunmehr unter einen sehr wirksamen Studienzwang gestellten jungen Männer ein ganz anderer geworden sei als früher.“
Seine hohe pädagogische Begabung bewährte L. auch als Universitätsdocent in vollstem Maße. „Richtiges Verständniß der antiken Welt und ihres Geistes auch bei Anfängern zu erwecken, sie für ihr Studium zu erwärmen und zu begeistern, [158] hat schwerlich jemals ein Lehrer besser verstanden als er. Von der mächtigen Energie und der Tiefe der Empfindung, die sein ganzes Wesen durchdrang und auch weniger empfängliche Gemüther mit sich fortriß, blieben die wenigsten unberührt. Schon durch die völlig zwanglose und vom Gewohnten abweichende Art seines Vortrags übte L. einen eignen Zauber. Seine lebhafte Natur litt ihn nicht lange auf dem Katheder, meist schritt er während des Sprechens auf und ab, oft lebhaft gestikulirend, nur von Zeit zu Zeit in seine, auf zerknitterte Blätter geschriebenen Notizen blickend. Der Vortrag war fast immer frei, häufig durch Nachsinnen unterbrochen, aber gerade weil er nicht den Eindruck des Fertigen, Ausgearbeiteten machte, empfanden die Zuhörer das unmittelbare Werden seiner Darstellung in jedem Moment lebendig und fühlten sich in die Geistesarbeit des Lehrers mit hineingezogen. Ein gewisser natürlicher Adel des Denkens und Empfindens, die Genialität seiner Anschauung und Behandlung, die eigenthümliche, zuweilen gräcisirende Ausdrucksweise, die kräftige und wohltönende Stimme erhoben seine Vorlesungen in jeder Beziehung über das Gewöhnliche. Nicht selten vergaß L. auch hier seine ganze Umgebung; sein Vortrag glich einem Selbstgespräch, einem lauten Denken; abgewandt von der Sinnenwelt schienen seine in ungewöhnlichem Glanz leuchtenden Augen sich in eine geistige Welt zu versenken, und nie war seine Beredtsamkeit hinreißender als gerade in solchen Augenblicken.“
Die Gegenstände der wichtigsten Vorlesungen von L. waren: Encyklopädie und Geschichte der Philologie, griechische Litteraturgeschichte, griechische Alterthümer, griechische Syntax, Metrik; ferner Erklärungen des Hesiod, Aeschylus, Sophokles, Pindar, Aristophanes, des Thucydides und Plato.
Das Streben, seine Schüler in die Denk- und Anschauungsweise des Alterthums einzuführen, bewog ihn, sie soviel als möglich mit Aeußerlichkeiten zu verschonen, die ihre Aufmerksamkeit von Wichtigerem ablenken und sie verführen konnten, den Schein an die Stelle des Wesens zu setzen. Ebensowenig als auf den Schein der Vollständigkeit legte er Werth auf äußerliche Regelmäßigkeit, und die Philologie in abgegrenzte Fächer abzutheilen widerstrebte ihm durchaus. Die Mittheilung nackter Thatsachen, litterarischer Notizen und Quellenangaben beschränkte er aufs äußerste, oft zu sehr. Man konnte aus seinen Vorlesungen nicht viel Schwarz auf Weiß nach Hause tragen, und vollends zur Vorbereitung auf das Gymnasiallehrerexamen waren deren Nachschriften wenig beliebt. „Vielwissen bildet den Geist nicht“ war für L. auch beim Unterricht der oberste Grundsatz. Die so oft sich aufdrängende Wahrnehmung, daß das Verfahren der Meister in der Hand ihrer Nachtreter so oft zum dürren Schematismus und zur Schablone wird, von deren Anwendung die Geistlosigkeit allein das Heil erwartet, erfüllte ihn je länger je mehr mit einer Art von Haß der so viel gemißbrauchten Worte „Methode“ und „System“. Daß Haupt sich als Ziel gesetzt hatte „Methode zu lehren“ blieb ihm unverständlich. Eines der „Zehn Gebote für klassische Philologen“, die er bei seinem 50jährigen Doctorjubiläum (7. März 1873) drucken ließ (und die nicht, wie Ribbeck [F. W. Ritschl II. 450] angibt, von ihm in Gemeinschaft mit Ritschl, sondern von ihm allein verfaßt sind) lautet: „Du sollst den Namen Methode nicht unnütz im Munde führen.“ „Es ist immer noch die Art des Fabricius“, sagte er von manchen vielgepriesenen Arbeiten, in denen ein weitschichtiger, anspruchsvoller Apparat mit peinlicher Befolgung technischer Regeln ausgelegt ist, ohne daß damit ein nennenswerthes Resultat erzielt wird. Ueber jene Art von Ehrfurcht vor der Ueberlieferung der alten Texte, die deren Buchstaben über den Geist stellt, dachte er wie Bentley. „Erst kommt der gesunde Menschenverstand, sagte er wol gelegentlich scherzend, dann kommt der [159] gesunde Menschenverstand noch einmal, und dann kommen die Codices – noch lange nicht“; und eines der erwähnten Zehn Gebote lautet: „Du sollst nicht vor Handschriften niederfallen“. Von diplomatischer Kritik bekamen seine Zuhörer wenig zu hören. Dagegen machte er gern auf Thema’s aufmerksam, die eine gründliche Behandlung verdienten und war unermüdlich in der Unterstützung und Ermunterung solcher, die Fleiß und guten Willen zeigten, und auch diejenigen, welche die Universität bereits verlassen hatten, fanden ihn zu Rath und Hülfe stets bereit. Zwischen ihm und seinen Schülern entwickelte sich nicht selten ein dauerndes persönliches Verhältniß, und die Zahl derer, die mit unbegrenzter Liebe an ihm hingen, war nicht klein. Und er, der wie einsame Menschen oft für Beweise von Liebe und Verehrung sehr dankbar war (wie sie ihm namentlich sein 50jähriges Doctorjubiläum von Nah und Fern in reichem Maße brachte), erwiderte diese Zuneigung stets von ganzem Herzen; und da er überall, wo ein gemüthlicher Antheil sein Urtheil beeinflußte, nicht objectiv zu sein vermochte, überschätzte er zuweilen die Arbeiten seiner Schüler und glaubte dann, daß ihnen die verdiente Anerkennung nur darum fehle, weil sie nicht von dem Haupte einer großen Schule mit einer für weite Kreise maßgebenden Autorität ausgesprochen werde. An der Anerkennung der Arbeiten seiner Schüler lag ihm sehr viel mehr als an der seiner eigenen, und nichts konnte ihn tiefer verletzen, als eine wirklich oder scheinbar ungerechte Geringschätzung derselben.
Lehrs’ schriftstellerische Thätigkeit hatte sich bis zu seinem Uebergange zur Universität so gut wie ausschließlich auf dem Gebiete der griechischen epischen, vor Allem der Homerischen Poesie und der wissenschaftlichen Behandlung derselben durch die Alexandriner bewegt. Sein Buch „De Aristarchi studiis Homericis“ (1833) war ein in dreifacher Hinsicht Epoche machendes. Es erschloß zuerst die Erkenntniß der wahren Bedeutung der Alexandrinischen Gelehrsamkeit, und vor Allem des größten Philologen des Alterthums, die auch F. A. Wolf nur geahnt hatte, und zeigte ihn als das, was er war, einen Bentley durchaus ebenbürtigen Mann ersten Ranges. Es wies ferner den Weg zur Behandlung der großen Scholienmassen, zu deren Trennung in ihre ursprünglichen Bestandtheile und ihrer Zurückführung auf ihre alten Quellen. Es legte endlich einen neuen Grund für die homerische Exegese (deren von Aristarch richtig erkanntes Princip, Homer nur aus sich selbst zu erklären, der späteren Philologie so völlig verloren gegangen war, daß es nach 2000 Jahren wieder entdeckt werden mußte); und ebenso legte es einen neuen Grund für die Homerische Textkritik, auf den zunächst Immanuel Bekker seine erste Homer-Ausgabe (1845) stellte. Der Masse des philologischen Publikums blieb Lehrs’ Leistung lange so gut wie unbekannt und sie ist auch nur sehr langsam in weitere Kreise gedrungen. Die erste Auflage dieses Buchs, das jedem Philologen, vor Allem jedem Homer interpretirenden Gymnasiallehrer unentbehrlich sein sollte, war erst nach einem Menschenalter vergriffen; und daß auch die zweite (1865 bei Hirzel erschienene, im Wesentlichen durchaus unveränderte, aber mit zahlreichen deutsch geschriebenen Aufsätzen vermehrte) verhältnißmäßig wenig gelesen worden ist, geht daraus hervor, daß Bücher, deren Verfasser L. ausgeschrieben haben, noch immer neben dem seinigen als gleichwerthig genannt werden. – Von den 1837 erschienenen „Quaestiones epicae“ sagte G. Hermann, daß von diesen fünf Abhandlungen die letzte keine kleine, die vier anderen wahre Herkulesarbeiten seien und daß das Buch zu denen gehöre, die noch nach Jahrhunderten ihren Werth behalten. Dennoch ist von demselben noch nicht einmal die erste Auflage ganz vergriffen. Einen noch kleineren Leserkreis haben die beiden letzten, demselben Gebiete angehörenden Arbeiten von L. gefunden. Den [160] Gegenstand der „Herodiani Scripta tria minora“ (1848) bildete die Herstellung dreier Ueberreste der überaus umfangreichen schriftstellerischen Thätigkeit eines der größten Alexandrinischen Philologen, denen eine Anzahl von Abhandlungen verwandten Inhalts beigegeben ist. Lehrs’ letzte größere Arbeit „Die Pindarscholien. Eine kritische Untersuchung zur philologischen Quellenkunde“ (1873) schließt sich jenen früheren vollkommen ebenbürtig an.
Doch Sprachforschung, Kritik und Exegese war für L. niemals Zweck, sondern stets nur Mittel zum Eindringen in die geistige Welt des griechischen Alterthums. Hier war für ihn die wahre Heimath, nach der er wie ein an eine ferne Küste Verschlagener „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ sein Leben lang hinstrebte; und alles, was außerhalb dieser Welt lag, war für ihn Fremde und Barbarenthum. Das leidenschaftliche Verlangen nach dem Anschauen idealer Schönheit, das ihn ganz erfüllte, fand seine vollste Befriedigung durch die Schöpfungen des griechischen Geistes. Seine Manifestationen in Kunst und Poesie, in Religion und Philosophie, sowie im Staatsleben in ihrem wahren Wesen zu erkennen, sich immer aufs neue in sie zu vertiefen, durch die Kraft der hier gewonnenen Anschauungen sich über alle einengenden und ausschließenden Schranken in die Welt der Ideen zu erheben – das war das Streben, das bis zu seinem letzten Athemzuge auch seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen Ziele und Richtung gab.
Das Verständniß des griechischen Staatswesens erschloß ihm erst Grote’s Geschichte von Griechenland. Das Erscheinen dieses Werkes, das ihm die hochwillkommene Ueberzeugung gab, daß die Aufgaben des Staates von der Athenischen Demokratie in relativ vollkommener Weise gelöst worden seien, war für ihn ein Ereigniß. In dieser Ueberzeugung bestärkte ihn die lebhafte Zustimmung des von ihm auch als Staatsmann hochverehrten Ministers Theodor v. Schön († 1856), der über „das zunftgerechte, aber beschränkte“ Urtheil der Berliner Philologen spottete, die (wie sein Freund Meineke ihm mittheilte) den Werth des Grote’schen Werkes vollkommen anerkannten, „aber nicht weil Grote der erste Staatsmann ist, welcher als solcher uns ein Bild von Griechenland gibt, sondern weil er ein gutes Quellenstudium gemacht habe.“ (Briefe von Th. v. Schön an K. Lehrs, mitgetheilt von Fr. Rühl. Altpreußische Monatsschrift Bd. XV S. 632–641.) Uebrigens hatte L. auch für die politischen Zustände und Entwickelungen der Gegenwart ein geradezu leidenschaftliches Interesse. Seine Grundanschauung war ein abstrakter Radikalismus, mit dem er jedoch unter dem Einfluß starker Antipathieen und Sympathieen in wesentlichen Punkten, zeitweise oder für die Dauer in den entschiedensten Widerspruch gerathen konnte. Daß er kein Politiker war, wußte er sehr wohl.
Mit der antiken Philosophie beschäftigte sich L. nur, weil und insofern sie ihm zum Verständniß des griechischen Geisteslebens unentbehrlich war; daß Bergk eine Geschichte der griechischen Litteratur mit Ausschluß der griechischen Philosophie hatte schreiben können, das gehörte ihm zu den größten Unbegreiflichkeiten. Ein philosophischer Kopf war er ebenso wenig als ein politischer; von neueren Philosophen studirte er außer Spinoza nur Kant. Er war (wie Schön, der letzte lebende Schüler Kant’s) ein eifriges Mitglied der Königsberger Kantgesellschaft, bei deren jährlichen Festmahlen an Kant’s Geburtstage er nicht zu fehlen pflegte; leider hat sich eine von ihm als Bohnenkönig bei einem solchen 1849 gehaltene Rede „Die Philosophie und Kant gegenüber dem Jahr 1848“ nicht erhalten. Doch am unwiderstehlichsten zog ihn Plato an; denn „diejenige Weltanschauung, welche das ganze Leben unter die Begriffe des Schönen und der Liebe stellt, welche in dem sehnenden und liebenden Aufstreben nach der Schönheit der Idee [161] die Verklärung des Lebens findet“, war auch die seine. Die beiden Dialoge, in welchen diese Weltanschauung ihren künstlerisch vollendetsten Ausdruck findet, Phädrus und das Gastmahl, gab L. in deutscher Uebersetzung 1869 mit einer schönen Einleitung über Plato und Sokrates heraus.
In die griechische Poesie und Kunst hatte L. sich so eingelebt, daß die dort angeschlagenen Töne am reinsten in seiner Seele wiederhallten, ihm ihre Gestalten ebenso nahe, ja näher standen als die der modernen Dichtung, daß alles, was dort das moderne Gefühl in der Regel fremdartig berührt, für ihn das naturgemäße geworden war. Er stand den griechischen Dichtern wie ein antiker Mensch gegenüber und ebenso wenig als einem solchen war es ihm möglich, sich die Ilias als ein aus Einzelliedern entstandenes Conglomerat zu denken. Er war vielmehr wie das ganze Alterthum von der Ueberzeugung durchdrungen, daß „diese Planmäßigkeit eines großen Gedichts, diese religiöse und moralische Größe, diese wohlthätige Beruhigung, in welche durchweg alle Disharmonieen unfreundlicher Erscheinungen sich auflösen, nie einer Masse, nur Einzelnen, den Begabtesten und Edelsten unseres Geschlechts gegönnt gewesen sind.“ Je mehr er die Urtheile der neueren und neuesten Homerischen Kritiker über die ganzen Gedichte oder deren einzelne Theile „erschreckend“ fand, desto mehr lag es ihm am Herzen, daß seine Ansicht immer von neuem eindringlich vorgetragen werde. Bei einer gelegentlichen Erwähnung der W. v. Humboldt’schen Aeußerung, daß noch im Momente des Todes einige Homerische Verse, selbst aus dem Schiffskataloge, ihm mehr das Gefühl des Ueberschwankens aus der Menschheit in die Gottheit geben würden, als irgend etwas aus einem anderen Volke, erklärte er, buchstäblich dasselbe auch von sich sagen zu können, und dies war weder Scherz noch Phrase. Selbst diejenigen Dichter, deren Verständniß für Moderne am schwersten ist, wie Pindar, waren für ihn die Quelle eines unmittelbaren Genusses in einem Grade, wie es seit dem Untergange des Alterthums wol nur bei wenigen der Fall gewesen ist. Freilich haben es auch wenige mit dem Verständniß der antiken Poesie so ernst genommen. Noch in seinem 72. Jahre klagte er, wie das Verständniß großer Geister so langsam aufgehe, wie er im Aeschylus von der Tiefe einer Stelle in einer Weise wie nie vorher erfaßt worden, einer Stelle, die er doch wol fünfzig Mal gelesen. Die Gewinnung des richtigen Verständnisses für den künstlerischen Werth der antiken Poesie betrachtete er allerdings als eine der wichtigsten Aufgaben der Philologie. Auf gute Uebersetzungen legte er, wie W. v. Humboldt, großen Werth und hielt auch das Uebersetzen für das beste Mittel zum vollen Erfassen des Originals.
Dem Wunsche zur richtigen Schätzung der antiken Poesie beizutragen und zugleich dem lebhaften Interesse für die Schule verdankt auch das subjectivste Buch von L. „Q. Horatius Flaccus. Mit vorzugsweiser Rücksicht auf die unächten Stellen seiner Gedichte“ (1869) seine Entstehung. So sehr „sein Herz und Sinn von jeher an den Satiren und Episteln gehangen hatte“, so gering schätzte er die Oden. Seit wir durch Goethe und auch durch Heine den vollen Begriff wahrer lyrischer Poesie erhalten, sei die früher für sie gehegte unbedingte Bewunderung nicht mehr erlaubt. Daß man in den Gymnasien die Lectüre des Dichters vorzugsweise auf die Oden beschränkte, darin sah er das Streben, seine Wirkung zu vernichten: „denn Horaz ist nicht in den Oden“. Er fühlte sich hier zu einem energischen Protest herausgefordert. Je mehr er die feine Bildung, den Geist und Geschmack des Horaz bewunderte, um so weniger konnte er sich entschließen, ihm so viele matte und nüchterne, gemachte und geschmacklose Stücke, wie die Oden sie enthalten, zuzuschreiben. Wie auf allen Kunstgebieten, fühlte er sich auch hier in seinem ästhetischen Urtheile so vollkommen sicher, [162] daß er sich getraute, die Nachahmungen und Zusätze überall vom Original zu unterscheiden. Die Wenigsten werden seine Kritik im Princip gut heißen, oder auch im Einzelnen seinen Entscheidungen über „Horaz und Nichthoraz“ beipflichten; doch die Einsichtigen werden erkennen, mit wie viel tiefer eindringendem Verständniß er diese Kritik geübt und in wie ganz anderer Weise er die ästhetische Würdigung dieser Odenpoesie gefördert hat, als Hofmann-Peerlkamp.
Doch ohne Vergleich am wichtigsten erschien L. die Gewinnung einer richtigen Erkenntniß der griechischen Religion (das Wort „Mythologie“ war ihm zuwider); nicht blos weil sie die ganze griechische Poesie durchdringt, sondern auch weil in ihm das religiöse Element so stark war. Dem Christenthum entfremdete er sich erst in Folge der gewaltsamen und künstlichen Restaurationsversuche im Anfang der Regierung Friedrich Wilhelm IV., dann aber je länger je mehr, so daß er ihm zuletzt feindlich gegenüberstand. „Aus seinen Aeußerungen über das Christenthum in den ‚Populären Aufsätzen‘ spricht etwas wie der verhaltene Haß des Enttäuschten, der sich den Gegenstand seiner Liebe ganz anders vorgestellt hat, als er sich ihm nachher enthüllte.“ Ein Materialist ist er aber nie geworden. Er war ein zu tiefer Geist, um sich mit der Ersetzung eines Dogma durch ein anderes zu begnügen: „daß es gelungen sei Gott in die Zelle zu comprimiren“, dadurch fand er sich in seiner Erkenntniß nicht gefördert, und ebenso wenig befriedigte ihn der „Alte und der neue Glaube“ von Strauß. Dagegen lebte er sich allmählich in die Anschauungen, aus denen heraus „Die Götter Griechenlands“ gedichtet sind, in einer Weise ein, wie es wol selten ein moderner Mensch vermocht hat. Immer aufs neue vertiefte er sich mit einer Art andachtsvollen Entzückens in die Herrlichkeit der griechischen Götterwelt. Wenn L. zu den Rationalisten unter den Erklärern der griechischen Mythologie gerechnet worden ist, so ist ein größeres Mißverständniß überhaupt nicht denkbar. Die scherzhafte Aeußerung seines damaligen Collegen K. W. Nitzsch, „er sei ein pietistischer Heide“, ist insofern zutreffend, als sie die Innigkeit und Innerlichkeit seines Verhältnisses zu dem griechischen Polytheismus andeutet. Auch die griechische Anschauung von Weltordnung und Weltgesetz war in ihm in hohem Grade lebendig und er suchte die Lösung der Räthsel des Lebens auf den von den Griechen gewiesenen Bahnen. Alle Versuche, die in vollendeter Schönheit und Großartigkeit vor seiner Seele stehenden Göttergestalten auf ihre embryonischen Urformen zurückzuführen, waren ihm in tiefster Seele zuwider; und die vergleichende Mythologie war ihm (auch abgesehen von ihren Extravaganzen und Verirrungen) ebenso antipathisch wie die Symbolik: es war für ihn eine Art von Entweihung eines Heiligthums. Denn die Grundlagen der nach seiner Ueberzeugung einzig wahren Erkenntniß der griechischen Religion waren ihm in gewissem Sinne so theuer wie Heilswahrheiten; gegen Ansichten, die diese Erkenntniß „verbauten“, hatte er nicht blos die nervöse Empfindlichkeit des Musikers gegen den Mißklang, sondern auch etwas von dem Ingrimm des Glaubenseifrigen gegen Irrlehren. Wo er solchen Ansichten begegnete, fühlte er sich zurückgestoßen, und selbst Gelehrte, die er hochschätzte, konnten ihm dadurch, daß sie sich in diesem Punkt als „Ungriechen“ zeigten, entfremdet werden. Je isolirter er mit seinen Anschauungen war, je weniger er hoffen durfte damit durchzudringen, desto leidenschaftlicher vertrat er sie und ging in seiner Polemik oft über das Maß hinaus. Ganz vorzugsweise beschäftigte ihn das Verhältniß der griechischen Religion zur Ethik. Die ethisch-religiösen Ideen der Griechen sich zu erklären, oder „lieber zu verklären“, wie den Glauben an den Neid der Götter, die Nemesis, die Hybris, die Ate: dies waren für ihn Aufgaben von der höchsten Wichtigkeit, und die Oberflächlichkeit, mit der er diese schwierigen Fragen als nebensächliche [163] erledigen sah, war ihm schon allein ein Beweis, daß das wahre Verständniß der griechischen Religion den meisten Mythologen fehlte. Seine „Populären Aufsätze aus dem Alterthum, vorzugsweise zur Ethik und Religion der Griechen“ (1856, in zweiter sehr vermehrter Ausgabe 1875), ein vielleicht von der großen Mehrzahl der Fachgenossen nur mit Kopfschütteln oder Achselzucken aufgenommenes Buch, hielt er selbst wol für seine werthvollste Arbeit.
Will man von Lehrs’ ganzer wissenschaftlicher Thätigkeit ein richtiges Bild gewinnen, so ist es unmöglich, den Menschen vom Gelehrten zu trennen. Sein Verhältniß zu seiner Wissenschaft glich dem eines Künstlers zu seiner Kunst, die Forschung war bei ihm keine rein geistige Thätigkeit, er legte immer auch etwas von seiner Seele hinein. Was Goethe von der Kunst gesagt hat, daß sie sich ohne Enthusiasmus nicht begreifen lasse, galt in seinen Augen auch vom griechischen Alterthum: der Enthusiasmus unterschied ihm auch hier die Geweihten von den bloßen Thyrsosschwingern. Unablässig strebte er seinen Horizont zu erweitern, neue Begriffe, neue Anschauungen zu gewinnen. In der Allseitigkeit seines wissenschaftlichen Interesses hat er kaum seines Gleichen gehabt; bis zu seinem Lebensende blieb es ihm Bedürfniß, „überall hin seine Fühlhörner auszustrecken“, jede bedeutende Erscheinung auch auf den ihm fernliegendsten Gebieten der Alterthumswissenschaft kennen zu lernen. Wenn von irgend Jemand gesagt werden konnte, daß er „immer lernend alt wurde“, so war er es; das Lernen, nicht das Wissen, war für ihn der Zweck des Lebens.
Ebenso unmöglich wie die specialistische Beschränkung auf ein noch so großes Gebiet seines Fachs war für ihn auch die zünftlerische auf seine Wissenschaft: vielmehr blieb die Thatsache des Zusammenhanges aller Kultur der Leitstern, den er auch bei seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen nie aus den Augen verlor. So gab es für ihn auch keine Scheidewand zwischen Wissenschaft und Leben. Daß der in Frankreich und England längst ausgeglichene Gegensatz zwischen Gelehrten und Schriftstellern bei uns noch fortbesteht, ja nicht selten den Charakter der Feindseligkeit annimmt, empfand er als einen schweren Mangel unserer Kultur. „Bei Völkern, die Verstand brauchen, sagt er (Pop. Aufs. 2 S. 450), wird Gelehrsamkeit zur Bildung. Das große Reservoir der Gelehrsamkeit versumpft nicht, sondern gibt ab und erfrischt sich.“ Die dünkelvolle Beschränktheit, die jedes wissenschaftliche Buch, das sich an einen größeren Leserkreis als den der Fachgenossen wendet, ignorirt oder mit Mißtrauen betrachtet, verachtete er. Je länger je mehr neigte er zur Unterschätzung der Fachgelehrsamkeit, da „die Kritik, d. h. nämlich Gabe des Urtheils und Kunst des Urtheilens, den Menschen selten, den Gelehrten seltener vergönnt ist“ (a. a. O. S. 487). Er meinte, daß der Blick der nicht in Schuldoctrinen und Traditionen befangenen Laien auch in wissenschaftlichen Dingen oft richtiger sei als der der Gelehrten. Von den übeln Eigenschaften, die diesen nachgesagt zu werden pflegen, als Aufgeblasenheit, Rechthaberei, Kleinlichkeit, war er völlig frei, am wenigsten war eine Spur von Pedanterie in ihm. Seine Bescheidenheit war eine fast demüthige. Für fremde Leistungen hatte er nicht blos stets die neidloseste, freudigste Anerkennung, sondern neigte im Allgemeinen dazu, insofern sie nicht gegen seine innersten Ueberzeugungen verstießen, sie zu überschätzen. Unter den mitlebenden Philologen stand ihm nach dem Tode von Lobeck, Meineke und Lachmann, Ritschl am nächsten; er war der ihm in vieler Beziehung congenialste und nach seiner Ansicht gesündeste von allen. (Vgl. Ribbeck, F. W. Ritschl II. 449 u. 556 ff.). Aber auch ganz heterogene Naturen, wie Haupt, den er sehr hoch schätzte, vermochte er ebenso vollkommen zu würdigen, wie sein eigner soviel reicherer und größer angelegter Geist für Haupt und seines Gleichen incommensurabel blieb.
[164] In allen Schriften von L. empfängt der Leser den Eindruck einer bedeutenden und eigenartigen Persönlichkeit. In seinen früheren, lateinisch geschriebenen Büchern bewundert man die imponirende Energie im Bewältigen von Massen, die Schärfe und Strenge der stets gerade auf ihr Ziel losgehenden Untersuchung, die Ruhe, Sicherheit und Reife und zugleich die Knappheit der Darstellung: man versteht es, daß J. Stuart Blackie (Homer and the Iliad I. 362) den Verfasser des Buchs über Aristarch one of the most masculine of German scholars nannte. Seine Abneigung gegen das Lateinschreiben (obwol er es correcter schrieb als das Deutsche) nahm allmählich immer mehr zu. Je mehr er, dem es Herzenssache war von der erkannten Wahrheit andere zu überzeugen, das Bedürfniß hatte, auch seiner Sprache die lebhafte Bewegung seines Innern mitzutheilen, desto weniger genügte ihm das Latein mit seinem disciplinirten, die subjective Freiheit einengenden, übrigens auch für die Begriffssphären, in denen er sich zu bewegen liebte, ganz unzureichenden Ausdruck. Obwol seine deutschen Schriften Stellen von hinreißender Beredtsamkeit und vollendeter Schönheit enthalten, so verleitete ihn doch oft das Streben, alles was ihn erfüllte, so eindringlich als möglich vorzutragen, in Wortbildungen und -stellungen sowie im Satzbau der Sprache Gewalt anzuthun; auch glaubte er manches wagen zu dürfen, was nur im Latein und Griechischen erlaubt ist. – Seine geistige Regsamkeit nahm im Alter eher zu. Bis zu seinem Lebensende blieb er unermüdlich Ansichten zu bekämpfen, die ihm falsch und gefährlich erschienen, zu jeder Erweiterung richtiger Anschauungen seine freudige Zustimmung auszusprechen, namentlich in zahlreichen Artikeln, Aufsätzen und Recensionen, die in Schade’s „Wissenschaftlichen Monatsblättern“ erschienen. Noch auf dem Sterbebette corrigirte er für den Druck und bei seinem Tode fanden sich einige Abhandlungen fast oder ganz druckfertig vor. Die Wärme, Frische und Energie in der Behandlung wie im Ausdruck ist auch in diesen Arbeiten des Siebzigers eine wahrhaft jugendliche. Eine Sammlung seiner kleinen Schriften ist von Professor A. Ludwich zu erwarten.
Für seinen Schönheitsdurst suchte L. in der Poesie aller Zeiten und Völker Befriedigung. Im Wesentlichen war sein Kunstgefühl durch die in der Zeit unserer klassischen Litteratur, in welcher seine ganze Bildung wurzelte, herrschenden Richtungen bestimmt. Inniger und wärmer als seine Liebe und Verehrung für Goethe kann kaum die eines Mitgliedes der „stillen Gemeinde“ gewesen sein. In die Probleme der Shakespearischen Tragödien vertiefte er sich immer von neuem, doch liebte er auch Byron enthusiastisch. Seine Vorliebe für die englische Litteratur, die eben so groß war als seine Abneigung gegen die französische, hing mit seinem Hange zusammen, alles Englische zu bewundern, der ihn zuweilen zur Unterschätzung des Werths deutscher Institutionen und Leistungen verführte und ihn trotz seines Radikalismus in der englischen Verfassung eine annähernde Verwirklichung seines Staatsideals erblicken ließ. Die Kunst, die auf der Reproduktion mittelalterlicher Empfindungsweise beruht, blieb ihm immer fremd oder antipathisch, auch Uhland mochte er nicht. In der Musik war seine Genußfähigkeit fast unerschöpflich; für den geistvollen Vortrag eines klassischen, besonders Beethoven’schen Stückes, das ihm ein neues Verständniß eröffnete, war er stets sehr dankbar, und es gereichte der Königsberger philosophischen Facultät in seinen Augen zur Ehre, daß sie (1842) Franz Liszt das Doctordiplom ertheilt hatte. Seine musikalische Bildung bahnte ihm den Weg zum Verständniß der griechischen Metrik. Als das Grundprincip, aus dem heraus sich allein das Wesen der griechischen Versmaße erklären lasse, erkannte er den Tact und somit die Nothwendigkeit der Annahme verschiedener tactischer Werthe der Längen und Kürzen, sowie von Pausen. In den bildenden Künsten, wo es ihm an Anschauungen [165] sehr fehlte, war er der strengste Idealist. Seine Verehrung für Cornelius war eine fast grenzenlose und durch den Eindruck der Person des Meisters, der ihn einmal in seinem Atelier umhergeführt hatte, noch verstärkt worden. Von Winckelmann’s Ansichten sich zu entfernen, erschien ihm stets gewagt, und jede Einwendung gegen die unbedingte Bewunderung des Apoll von Belvedere erregte ihm Mißbehagen.
Lehrs’ äußeres Leben verlief seit seiner Ernennung zum ordentlichen Professor überaus gleichförmig. Im J. 1849 wurde er (hauptsächlich auf Haupt’s Veranlassung) unter sehr vortheilhaften Bedingungen auf den durch G. Hermann’s Tod erledigten Lehrstuhl nach Leipzig berufen; er lehnte diesen Ruf ab, hauptsächlich weil er in allzu großer Bescheidenheit glaubte, nicht an die Stelle des von ihm am höchsten verehrten Philologen treten zu dürfen. Seines Mangels an Befähigung für jede rein praktische, namentlich jede geschäftliche Thätigkeit war er sich sehr wohl bewußt und entzog sich daher auch soviel als möglich der Bekleidung von Universitätsämtern. Jedes Streben nach Einfluß, nach Auszeichnungen oder Vortheilen lag ihm fern. Seine sämmtlichen Vorlesungen hielt er stets unentgeltlich. Von seiner Berufung nach Leipzig hat er dem preußischen Kultusministerium niemals eine Anzeige gemacht. Sein Wahlspruch war der epikurische, im Verborgenen zu leben. Seine allmählich hergestellte Gesundheit blieb bei einer streng geregelten Lebensweise bis zu seinem Lebensende ungestört. Seit 1844 verließ er Ostpreußen nicht mehr. Im Sommer pflegte er einige Wochen an dem wildschönen, herrlich bewaldeten Samländischen Ostseestrande oder auf dem Gute seines Freundes und ehemaligen Schülers, Herrn v. Fahrenheid (geb. 1816), Beynuhnen in Litthauen, zu verbringen, wo derselbe eine im Privatbesitz in ihrer Art vielleicht einzige, namentlich an Gypsabgüssen nach Antiken überaus reiche Kunstsammlung gebildet und mit künstlerischem Geschmack in Haus, Garten und Park aufgestellt hat. Die Freundschaft, die beide Männer verband, entsprang aus der gleichen Begeisterung für das Griechenthum, seine Kunst und Poesie.
Unter seinen übrigen Freunden stand ihm in seinem früheren Mannesalter der geistvolle, eine Zeit lang zur Ebel’schen Secte gehörende Arzt und Universitätskliniker Sachs († 1849) und der große, auch philologisch fachmäßig gebildete Mathematiker K. G. Jacobi (geb. 1804, † 1851), in seinen späteren der edle, unendlich liebenswürdige Rosenkranz († 1879) am nächsten. Für den Mangel einer eigenen Häuslichkeit fand er einen Ersatz in einer befreundeten Familie, an die ihn besonders die lebendige und verständnißvolle Theilnahme fesselte, welche die Hausfrau all seinen Beschäftigungen und Interessen entgegen brachte. Er pflegte dort regelmäßig die Abende zuzubringen und als diese Familie einige Jahre vor seinem Tode Königsberg verließ, war sein Leben ein sehr einsames. Der Verkehr mit Frauen zog ihn besonders an. Daß er auf das Zusammenleben mit seiner Schwester (die sich 1832 verheirathete) hatte verzichten müssen, war für ihn sehr schmerzlich gewesen. Er war nicht blos für den Eindruck weiblicher Liebenswürdigkeit und Anmuth sehr empfänglich, sondern schätzte auch die Richtigkeit der weiblichen Empfindung und des weiblichen Urtheils sehr hoch. „Das Frage nur bei edlen Frauen an, sagt er in einem seiner Briefe, ist ein wahres und weitgehendes Wort zur Prüfung und Rectificirung unserer oft durch die Ecken des Lebens angestoßenen Seelen“. Der immer aufs neue schmerzlich empfundene Gegensatz zwischen Idee und Wirklichkeit machte ihm das Leben bei dem tiefen Ernst, mit dem er es auffaßte, schwer. „Ich bin“, so schrieb er 1870 an einen Freund, – „leider – gewiß kein geringerer Pessimist als Sie. Aber mich zu verlieben in den Pessimismus, davor nehme ich mich, soviel ich kann, in Acht. Und zwar liegt das darin, weil in meinem Innersten denn doch [166] ein unausrottbarer Hintergrund des Optimismus liegt – so sehr die schlechte Realität oft dagegen die Oberhand behält – wie er in den Menschen überhaupt unausrottbar liegt. Er liegt auch in jedem Einzelnen, der, und so lange er einen Unterschied zwischen recht und unrecht, gut und böse statuirt.“ – In Lehrs’ scharf ausgeprägten Gesichtszügen war der jüdische Typus unverkennbar, sie belebten sich wunderbar durch jede geistige Anregung, und das Auge erhielt dann einen strahlenden Glanz. Das Profil erinnerte an das Porträt Savonarola’s von Fra Bartolommeo. Seine Haltung war gebückt, sein Anzug verrieth, namentlich im Winter, gleich sehr sein Wärmebedürfniß und seine Gleichgültigkeit gegen den Eindruck seiner äußeren Erscheinung. Er erlag am 9.Juni 1878 einem lange schleichenden, doch von ihm so gut wie gar nicht empfundenen Blasenleiden nach zehntägiger Krankheit.
- Vgl. O. Schade, Prof. Dr. Karl Lehrs †, in dessen Wissenschaftlichen Monatsblättern 1878, Nr. 6, S. 86–96 (wo auch L.’s Selbstbiographie aus dem Michaelisprogramm des Friedrichs-Collegiums von 1826 abgedruckt ist); Ed. Kammer, Karl Lehrs, ein Rückblick auf seine wissenschaftlichen Leistungen in Bursian’s Jahresberichten über die Fortschritte d. klass. Alterthumswissenschaft, 1879; Arthur Jung, Zur Erinnerung an Karl Lehrs, wissenschaftliche Beilage des Programms des kgl. Gymnasiums zu Meseritz, Ostern 1880. F. v. Fahrenheid, Briefe von Karl Lehrs an einen Freund. Königsberg 1878. Der ungedruckte Briefwechsel von L. war mir nur zum geringsten Theil zugänglich. Dagegen konnte ich außer eignen, mehr als vierzigjährigen Erinnerungen, Mittheilungen von L.’s Schwester, Frau Henriette Wolf in Berlin und von seinem Jugendfreunde Friedrich Strehlke benutzen. Die Schilderung L.’s als Docent verdanke ich meinem Collegen Prof. A. Ludwich.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 152. Z. 1 v. u. l.: 14. (st 2.) Januar. [Bd. 18, S. 796]