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ADB:Ritter, Carl

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Artikel „Ritter, Karl“ von Friedrich Ratzel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 679–697, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ritter,_Carl&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 04:36 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 679–697 (Quelle).
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Ritter: Karl R., hervorragender Geograph, geb. am 7. August 1779 zu Quedlinburg, † am 28. September 1859 zu Berlin. Ritter’s Vater war der fürstliche Leibmedicus Friedrich Wilhelm R., ein trefflicher, in weiteren Kreisen seiner Zeitgenossen verehrter Mann, der, im Alter von 38 Jahren abgerufen, sechs Kinder hinterließ, deren jüngstes unser Karl R. war. Seine Wittwe bewies sich in der Erziehung dieser Kinder als eine Frau von seltenem Verstande und Charakter; die Art, wie sie mit Hülfe des jungen Guths Muths (s. A. D. B. X, 224) dieselbe ordnete, erschien sogar dieser in Erziehung schwer sich genugthuenden Zeit als ein ganz besonders sorgsame und durchdachte. Es sind Theile des Briefwechsels erhalten, welchen sie mit diesem hervorragenden Pädagogen über die Erziehung ihrer Kinder unterhielt; dieselben sind ein schönes Denkmal einer frommen, ideal gestimmten Seele, deren ganzes Trachten in dem einzigen Wunsche aufging, „daß meine Kinder einmal der Welt nützliche Menschen und Gott wohlgefällige Christen werden möchten“. R. verlor diese Mutter in seinem 21. Jahre. Sie hatte lange genug gelebt, um Keime seinem Gemüthe einzupflanzen, die nicht mehr untergingen, so lange er lebte. Seine echte Frömmigkeit, seine vom idealsten Sinne getragene Lebensführung bezeugten bis an sein Ende die Vortrefflichkeit der Frau, die bis in sein Jünglingsalter hinein nicht bloß den erziehenden Einfluß der Mutter, sondern auch den veredelnden der Freundin auf ihn geübt hatte, den Einfluß, der ins Tiefste sieht, dem nichts unvertraut bleibt. Lange Zeit war Guths Muths, der Erzieher, welchen Ritter’s Vater schon als Gymnasiast in sein Haus genommen hatte, der Einzige, welcher in diesen Einfluß mit der Mutter sich theilte, und neben ihr gebührt ihm der größte Antheil an der Erziehung des Knaben und des Jünglings. Dieser Mann, der den Naturen, in die er sich ganz eingelebt hatte, im Innersten verwandt war, so daß ein [680] familienhafter Zug ihn mit denselben verband, hat auch noch auf die spätere Entwicklung Ritter’s, selbst auf seine wissenschaftliche Richtung einen Einfluß geübt. Nun wollte es ein eigenthümliches Schicksal, daß der junge Karl der Fürsorge dieses Erziehers mehr als die andern Kinder anheim gegeben werden mußte. Als nämlich Salzmann 1784 das kleine Landgut Schnepfenthal am Fuß des Thüringer Waldes gekauft hatte, um hier in ländlicher Einsamkeit eine Erziehungsanstalt nach Grundsätzen der Naturgemäßheit zu begründen, und es sich darum handelte, erst noch die hinreichende Zahl von Schülern zu gewinnen, vernahm er zufällig den Tod des Leibmedicus R. in Quedlinburg und daß derselbe eine Wittwe mit sechs unmündigen Kindern hinterlassen habe. Er ließ Karl, als den jüngsten prüfen, fand ihn geeignet zur Aufnahme und mit ihm trat nun Guths Muths als Lehrer in die junge Anstalt ein. Später kam auch ein älterer Sohn der Wittwe Ritter zu Salzmann und Guths Muths erhielt nach dem dort herrschenden Brauche, der jedem von den Lehrern ein Paar von den Schülern zu besonderen Erziehung überwies, auch hier wieder seine geliebten früheren Zöglinge.

Karl R. ist in Schnepfenthal geblieben[WS 1], bis er zur Universität ging; er hat sich hier all’ das erworben, was Erziehung und Unterricht in dieser damals viel bewunderten Musterschule zu bieten vermochten. Die Erziehung aber war die Hauptsache. Er wurde ein Jüngling von hervorragender Kraft und Gewandtheit, entwickelte Fertigkeiten im Rechnen und Zeichnen, gewann Kenntnisse in den neueren Sprachen, in der Geschichte und ganz besonders in der Geographie. Er zeigt von Anfang an gute Gaben und empfängt das Lob eines „ungemein glücklichen Kopfes“. Im Sommer 1787 schreibt Guths Muths über ihn: „Karl ist fleißig, behält ungleich leichter als sein Bruder, ist sehr achtsam in den Lectionen, für seine Jahre schon weit in gutem, richtigen Urtheile, sehr theilnehmend, lustig und munter, gefällig, aber, wenn’s d’rauf ankommt, auch wohl unordentlich. Die Erwerbslust schlummert noch tief in ihm (es gehörte zu den Erziehungsgrundsätzen Schnepfenthals, die Knaben durch Gewöhnung an kleine Handelsgeschäfte mit Papier, Federn, Bleistiften u. s. w. möglichst früh in die Praxis des Lebens einzuführen) und darüber kann ich nun eben nicht böse sein, denn er ist noch zu jung, zu unschuldig, zu flatterhaft dazu. Er macht unter vielen, selbst großen Zöglingen die besten Landkarten“. In der Geographie gibt ihm Guths Muths das beste Lob, er meint, es sei eine Freude, ihn zu unterrichten und stellte ihm scherzhafterweise sogar das Prognostikon, daß er einmal Professor der Geographie werden müsse. Salzmann, der mit der Sicherheit des Enthusiasten auch die schwierige Aufgabe der Berufswahl für seine Schüler zu lösen pflegte, legte einseitigen Werth auf die von Karl bewiesene Neigung und Gabe zu Kunst- und Handfertigkeiten, als er ihm vorschlug, Maler oder Kupferstecher zu werden, während Guths Muths mit der Ueberlegenheit des tieferen Blickes in die Seele des jungen Freundes ihn auf den Weg des Erziehers von gelehrter Bildung wies. R. bezog 1796 die Universität Halle, um sich nach einem klar vorgezeichneten Plane zum Erzieher heranzubilden. Er war das Jahr vorher mit dem Frankfurter Kaufmann Hollweg in Gotha zusammengetroffen und hatte diesem Mann, der einen Erzieher für seine Knaben suchte, so gut gefallen, daß derselbe beschloß, ihn zu diesem Berufe eigens ausbilden zu lassen. Die Vorbildung mochte in der philologischen Richtung Lücken lassen, die Charakterbildung war auf gutem Wege und die allgemeine Schulbildung, mit welcher R. die Universität bezog, bereitete passend auf die Vielseitigkeit der Studien vor, denen er nun obzuliegen hatte. Jene Lücke aber hat später der Mann, der mit 30 Jahren noch auf den Schülerbänken des Frankfurter Gymnasiums Griechisch trieb, auszufüllen verstanden, als es Zeit war. [681] In dem Streben, seiner pädagogischen Zukunft einen breiten Boden zu bereiten, hat R. keinen fachgemäßen Studiengang absolvirt. Der Form nach als Cameralist inscribirt, hörte er bei F. A. Wolf Vorlesungen über griechische und römische Litteraturgeschichte, bei Niemeyer Moral und Pädagogik, bei M. C. Sprengel Geschichte und Statistik, bei Anderen logische, mathematische, physikalische, chemische Vorlesungen. Reinhold Forster las zu dieser Zeit nicht mehr und starb, ehe R. Halle verließ. R. empfand lebhaftes Bedauern darüber, daß er des berühmten Reisenden, des vielseitigen Natur- und Völkerkundigen Collegien über seine Lieblingswissenschaft nicht mehr hören konnte.

Der Bildungsgang und die Thätigkeit eines Erziehers der Jugend gewähren die größte Aussicht auf Vielseitigkeit des Wissens, welche nicht nothwendig mit Oberflächlichkeit verbunden ist, sie sind daher eine gute Vorschule des Geographen. Man betrachte diesen durch viele Jahre sich hinziehenden und nach den verschiedensten Seiten hin ausbiegenden Bildungsgang. Mit seinen Schülern und im Interesse derselben, aber ebenso stark auch immer getrieben durch eigenen Wissensdurst, verbringt er die Jahre von 1798 bis 1820 in ununterbrochenem Lernen, das zur Geographie und Geschichte immer wieder zurückkehrte, aber nothwendig ein vielseitiges blieb. Begleitet man ihn in diesem langen empfangenden Abschnitte seines Lebens, der hart an den Beginn der schöpferischen Lehrthätigkeit in Berlin grenzt, so sagt man sich, diesen Mann hat das Leben zum Geographen heranreifen lassen. Und immer ist es in erste Linie zu stellen, wenn man Ritter’s wissenschaftliches Wesen und Wirken verstehen will, daß der große Geograph aus dem sehr bedeutenden Pädagogen, dem Schüler, Freund und Mitarbeiter der Salzmann, Guths Muths und Pestalozzi sich ganz naturgemäß herausentwickelt hat. Als 1798 R. von Halle nach Frankfurt übersiedelte, hatte er ebensowohl die Vorbildung eines Weltmannes als diejenige eines Lehrer und Erziehers empfangen. Von den vielen Fäden, welche er hier angeknüpft, ließ er auch keinen fallen. Man fand ihn für künstlerische und ästhetische Interessen stets ebenso offen wie für naturwissenschaftliche, geographische, geschichtliche, und er war ein ebenso guter Turner wie Zeichner, ein leidenschaftlicher „Naturmensch“, wie er[WS 2] sich selbst nennt, tief durchdrungen von dem Rousseau’schen Satze, der damals Vielen als ein Evangelium erschien: „A tout âge l’étude de la nature émousse le goût des amusements frivoles, prévient le tumulte des passions, et porte à l’âme une nourriture, qui lui profite en la remplissant du plus digne objet de ses contemplations“. Als er Köln zum ersten Male besuchte, erschien es ihm wie „ein deutsches Herculanum und Pompeji, wo sich plötzlich ein Schatz offenbart hat, der für deutsche Kunst und Geschichte nicht wichtiger sein konnte“. In Vogt und Weitzel’s Rheinischem Archiv für 1810 ist von ihm ein Aufsatz „Die Ruinen am Rhein. Ueber die Alterthümer von Köln“ abgedruckt, welcher Zeugniß ablegt von seiner Begeisterung und seinem feinen Verständiß für mittelalterliche Kunst. R. war einer der Ersten, die damals die Augen ihrer Landsleute auf die Herrlichkeiten ihres Kunstalterthums zu richten suchten, wie sie in den Gemäldesammlungen von Wallraff, Boisserée und Bertram vereinigt waren. Wie bezeichnend, daß R. es war, welcher in einem feinsinnigen Nekrologe die Frankfurter jener Zeit, ein nach seinen Schilderungen wenig anmuthendes Geschlecht, das einerseits in reichsbürgerlichem Egoismus erstarrt war, andererseits dem Franzosenthum charakterlos entgegenkam, auf den vortrefflichen Maler C. Prestel, einen alten Mitbürger, aufmerksam machen mußte. Als auf Ritter’s Nachruf hin der Fürst Primas den Kindern des Verstorbenen für 1200 Thaler Bilder abkaufte, „ward es nun auch Mode, von dem guten alten Prestel und von seinem Werthe zu sprechen, indeß man ihn hier fast hatte verhungern lassen“. Ritter’s unveröffentlichte ausführliche [682] Tagebücher aus dieser Frankfurter Zeit müssen ein sehr interessantes Bild der Geistes- und Charakterverfassung in den höheren Kreisen einer der bedeutendsten deutschen Städte bieten. R. fand in Frankfurt Anklänge für viele Seiten seines geistigen und gemüthlichen Lebens, nur mit seinem Vaterlandsgefühl, welches etwas vom preußischen Nerv in sich hatte, stand er vereinsamt. Nach dem Zusammenbruche Preußens war er beschämt, aber nicht verzweifelt. Fichte’s Reden an die deutsche Nation, Jean Paul’s Friedenspredigt, Schleiermacher’s und Villers’ Schriften über die deutschen Universitäten klangen hohe Töne in seiner Seele an. Man bietet ihm eine glänzende Stellung in Weimar die er ablehnt. Er schreibt darüber an seinen Bruder: „Ich erwarte nämlich in unserer gegenwärtigen Lage von den Fürsten und Obrigkeiten gar nichts. So wenig es ein Recht ist, wenn die Gewalt das Recht einsetzt, so wenig kann da etwas Edles entstehen, wo alles vom Gemeinen, vom Unwürdigen, vom Erniedrigten ausgeht. Ich werde mich nie als ein Werkzeug von der Hand der Unwürdigen zu den Zwecken des Tages gebrauchen lassen und alles abschlagen, was mit diesem Glauben streitet. Mein Vertrauen ist auf den Adel des Privatmannes gerichtet; ich selbst glaube, daß von dem Privatmann die Veredelung des Geschlechts ausgehe, daß der Baum des Guten von neuem von der Wurzel aus bis zur Krone sich gestalten muß. Eine alte Zeit ist vorüber und eine neue beginnt“.

Was R. zwischen 1798 und 1818 auf dem Felde der Wissenschaft geleistet hat, ist alles Episode seines eigentlichen Berufes, der in der Erziehung der ihm anvertrauten Kinder bestand. Langsam entfalteten sich seine geographischen Gedanken und Pläne aus der pädagogischen Praxis. Die Schule, welche der Knabe in Schnepfenthal durchlief, ist von eingreifender Wirkung auf die Richtung gewesen, welche sein Geist späterhin nahm, sobald er zu selbständigem Denken gereift war. Die Art, wie Geographie dort gelehrt wurde, hat die natürliche Neigung und Befähigung zu dieser Wissenschaft in ihm genährt. Der Geograph R. hat in der Salzmann’schen Schule seine ersten Wurzeln. Anderes, was er hier gelernt, ließ er später fallen, als seine Gesinnung in andere Bahnen lenkte; aber an der Geographie die er hier betrieben, hielt er fest, und die Methode, nach der sie gelehrt ward, gab ihm den Stoff zu seinen ersten litterarischen Arbeiten, welche gleichzeitig auch seine ersten geographischen sind. Es ist die Reform des geographischen Unterrichtes gewiß eines der unanzweifelbarsten Resultate, welche der auf den Rousseau’schen Ideen fortbauende Philanthropismus Basedow’s und Salzmann’s für die pädagogische Praxis gehabt hat. In Schütz’ Methodenbuch (1783), das aus dieser Richtung hervorging, findet sich die erste ausführliche Anleitung zu einem naturgemäßen geographischen Unterricht. Bis dahin war Geographie in erstickend trockener Manier gelehrt worden. Man forderte nun an Stelle der seitherigen Gedächtnißüberladung gründliches Erfassen vor allem des Nächsten, von dem aus dann in die Ferne gegangen werden sollte. Dementsprechend wurde in Schnepfenthal der geographische Unterricht belebend und praktisch betrieben; man lernte die Grundbegriffe in der Natur selbst auf Spaziergängen und größeren Fußreisen; man beschrieb und zeichnete das Gesehene, man prägte sich durch Kartenzeichnen und häufiges Aufsuchen auf dem Globus und den Karten die fremden Länder, Gebirge u. s. w. ein, hörte Interessantes von ihren Bewohnern und Erzeugnissen und das Lesen der Reisebeschreibungen, die ja erst durch die Philanthropisten der Jugend recht zugänglich gemacht worden sind, brachte spielend noch manche Kenntniß und Anregung herbei. Die Jugend vertauschte einen ertödtenden Unterricht gegen einen anregenden und erfrischenden, und diese Neuerung war eine große Wohlthat, welche nicht vergessen werden sollte. Es ist Ritter’s Verdienst, [683] wenn diese Neuerung auf dem pädagogischen Gebiete ein entsprechendes Leben und Regen später auch in der wissenschaftlichen Geographie hervorgerufen hat.

Die erste Beziehung, welche dann eine fürs Leben dauernde Verbindung ward, gewann R. zu diesen erneuernden Bestrebungen durch J. C. F. Guths Muths, der sein Erzieher in früheren Jahren, sein Anreger und Förderer, sein Freund wurde, so lange er lebte. Guths Muths ist von nicht geringer Bedeutung gewesen für R. den Pädagogen und von sehr großer für R. den Geographen. Man wird zwar bei einem Manne, der schon in früher Jugend das Glück hatte, mit so guten und hervorragenden Menschen zu verkehren, und dessen ganze Natur guten Einflüssen sich mit kindlicher Offenheit hingab, nicht leichthin zu behaupten wagen, der oder jener aus seiner Umgebung habe hauptsächlich bestimmend auf ihn eingewirkt. Aber von allen ist R. Keiner so frühe nahe getreten und so lange nahe geblieben wie Guths Muths. R. war eine so stetige Natur, daß er noch im Mannesalter von sich rühmen konnte, niemals einen Freund verloren zu haben, aber mit einer besonders innigen Liebe hing er an diesem Freunde seiner Jugend. Es muß auch eine liebenswürdige Natur gewesen sein, dieser biedere „Naturmensch“, der in gestähltem Körper ein starkes Herz und in gediegenem, breitstirnigem Kopfe Geist und Wissen in reichem Maße hegte, dieser begeisternde Lehrer, dessen geographischen und technologischen Unterricht die Schüler Schnepfenthals immer am höchsten mit gehalten haben von allem, was sie dort lernten, der sie von der Drechselbank zu Landkartenzeichnen, von der Baumzucht zu den topographischen Aufnahmen führte, in dessen Unterricht die Anschauung nie müßig blieb. Es war ein großes Glück für R., daß er mit diesem einfachen Manne des natürlichen Lebens die Freuden des Umganges mit „seinen Kindern“ und der Bearbeitung des idyllischen Landgütchens theilen durfte, das er von seinem eigenen geringen Ersparten erwarb. Wenn Ritter’s ganzes Wesen das kostbare Gut der Vereinigung einer gesunden Seele mit einem gesunden Körper in seinem hohen Werthe zeigt, so erinnern wir uns auch bei diesem schönen Anblicke der Bedeutung Guths Muths’ für die deutsche Turnerei, der er, ein unvergängliches Verdienst!, den ersten deutschen Turnplatz (in Schnepfenthal) gegründet hat.

Vor allem ist Guths Muths Ritter’s geographischer Lehrer geworden. Zunächst wurzeln Ritter’s Anschauungen über die Methode des geographischen Unterrichts ganz in dem, was er von dieser Schule mit bekommen. Lange ehe man ihn als Geograph kennt, hat er dieselben so bestimmt und klar ausgesprochen, daß er selbst ein halbes Jahrhundert später sich an die Grundlinien halten konnte, welche er dort gezogen hatte. Ihnen entsprach der Aufbau jener nach R. benannten Methode, welche die Jugend von heute in einer anregenderen und fruchtbareren Weise in die Geographie einführt, als sie vorher zu finden gewesen. In den ersten pädagogischen Schriften legt R. die Gedanken der Philanthropisten in geläuterter Form vor, in welcher sie von manchem Spielenden und Zufälligen befreit erscheinen. Sie waren nicht seine Schöpfung, doch erschienen sie der Mehrzahl der Lehrer als neu und jedenfalls empfahlen sie sich, maßvoll und durchdacht, wie sie hier vorgetragen wurden, dem gesunden Menschenverstande ebensowohl wie jeder philosophischen Auffassung der Erdkunde ganz von selbst. Als R. 1807 Iserten besuchte, wo er in mehrwöchigem Aufenthalt tiefe Blicke in die Erziehungs- und Unterrichtsmethode Pestalozzi’s und seiner Gehilfen gewann (seine zwei „Briefe über Pestalozzi’s Methode, angewandt auf wissenschaftliche Bildung“, die in Guths Muths Neuer Bibliothek für Pädagogik veröffentlicht wurden, gehörten zu ihrer Zeit zu den treuesten und klarsten Darstellungen des berühmten Unterrichtssystemes), fand er in dem geographischen Unterrichte Tobler’s, des Jüngers Pestalozzi’s, im Elementaren die Ideen verwirklicht, [684] die er in jenem Aufsatze ausgesprochen hatte. Beide, er und Tobler, mögen Anregungen von der Salzmann’schen Seite her empfangen haben und vieles von der Uebereinstimmung ihrer Ideen über den geographischen Unterricht lag auch in der Entwicklung des letzteren nothwendig begründet. R. hatte den Grundgedanken des Pestalozzi’schen Unterrichtes in folgende Worte gefaßt: „Nicht der Stoff, wenn auch in der größten Mannichfaltigkeit, nicht die Masse in ihrer größten Ausdehnung sind es, welche jedem Menschen zum Bewußtsein seines geistigen Lebens verhelfen, sondern die Gestaltung dieser Mannichfaltigkeit zum Eigenthümlichen, die Kraft, mit der er durch das Ergreifen des Wurzelbegriffes auch das ganze Gebiet in sein Eigenthum zu verwandeln strebt, welches dieser mit allen seinen Wurzeln und Ranken und Schößlingen durchwuchert“ (Briefe über Pestalozzi’s Methode); aus diesem Gedanken hatte auch der geographische Unterricht in Iserten seine Belebung empfangen, d. h. er sollte durch Selbstbeobachtung des Nächsten zur Erkenntniß des Ferneren vordringen. Im engen Raume der eigenen Erfahrung wurde der Geist geschult, um das außerhalb liegende Weite und Ferne erfassen zu lernen. Später hat R. an der praktischen Ausgestaltung der geographischen Lehrmethode im Sinne Pestalozzi’s nahen Antheil genommen, als das treffliche Werk J. W. Henning’s über diesen Gegenstand, welches 1812 in Iserten erschien, unter dem Einfluß und der Beihülfe Ritter’s entstand. Von ihm stammt der Entwurf einer Elementargeographie für dasselbe.

Ritter’s erste Arbeit über geographischen Unterricht erschien 1806 in Guths Muths’ Bibliothek der geographischen Litteratur unter dem Titel: „Einige Bemerkungen über den methodischen Unterricht in der Geographie“. Dieselbe geht von folgenden Grundsätzen aus: „Geographie gehört zu den historischen Wissenschaften im weiteren Sinne. Das Wesen dieser historischen Wissenschaften besteht darin, daß sie sich auf einzelne, in der Erfahrung vorkommende Dinge beziehen. Sie theilen zwar mit der Vernunftwissenschaft das Feld der Erkenntniß, sind aber empirisch, jene rational. Geographie ist eine aus der Erfahrung geschöpfte Erkenntniß und hierauf gründet sich die Behauptung, daß ihre Unterrichtsmethode durchaus den Methoden rationaler Wissenschaft entgegengesetzt sein muß“. Der geographische Unterricht hat „den Menschen mit dem Schauplatz seiner Wirksamkeit im Besonderen und im Allgemeinen bekannt zu machen“; darum gibt er nicht die Beschreibung dieses Schauplatzes an sich, sondern mit Bezug auf den Menschen. Dies ist die natürliche Ursache, warum die Geographie in die Gebiete fast aller praktischen Kenntnisse mit übergreift. Ihr dies zum Vorwurf machen, hieße ihr Wesen vernichten. So lange nicht geleugnet werden kann, daß Localität den entschiedensten Einfluß auf alle drei Reiche der Natur hat, auf Gewinn der Naturproducte, Verarbeitung und Verbreitung derselben, ebenso wie auf den Körperbau und die gemüthliche Anlage des Menschen, auf ihre mögliche oder wirkliche Vereinigung als Völker, Staat, auf Beschleunigung oder Verzögerung ihrer physischen, intellectuellen und moralischen Cultur hat, solange wird der Geographie durchaus kein beschränkteres Feld angewiesen werden können. Im Gegentheil, sie ist das Band zwischen Natur- und Menschenwelt, unzertrennbar von beiden, da sie für die Charakterisirung beider die nothwendigste und erste Bedingung ist. Ich behaupte: es sei ganz unmöglich, irgend einen dieser drei Gegenstände, Geographie, Naturgeschichte und Geschichte nebst Völkerkunde, abgesondert von den übrigen darzustellen. Bei jedem Schritte, den man auf dieser klösterlich beschränkten Bahn wandelt, würde man tausendmal sich nach freierer Bewegung des Geistes sehnen. Und wird dieser sehnliche Wunsch nicht erfüllt, so geht man seinen Weg wie einen Botengang, dessen Ziel das Ende ist. Man wandelt nicht mit Lust in der Natur, wo Herz und Geist sich [685] dem sie umgebenden Reichthum öffnen, und wo man den Weg selbst als Zweck betrachtet, das Ziel aber mit jedem Schritte weiter hinausrückt. Diese Wissenschaften muß man sich nicht als Göttinnen denken, die auf drei abgesteckten Heerstraßen; eifersüchtig auf ihr Gebiet, in gemessener Weite nebeneinander voranschreiten; sie sind gleichgesinnte Schwestern, die Arm in Arm nach einem Ziele, dem Universum wandeln, die nur mit vereinigten Kräften dieses hohe Ziel zu erreichen vermögen“. R. hat an diese Betrachtung, welche seine ganze spätere „Allgemeine Erdkunde“ im Grundgedanken umfaßt, in großen Zügen die Anweisungen geschlossen, wie der geographische Unterricht im Einzelnen zu behandeln sei. An dieser Stelle soll nur betont werden, wie großes Gewicht er dabei auf die Unterscheidung natürlicher Gebiete legt, welche bei dem Unterrichte in der politischen Geographie den Ausgangspunkt zu bilden haben, ferner wie er das Kartenzeichnen in den Vordergrund stellt und noch 1806 in seinen „Sechs Karten von Europa“ ein Muster geographischer Schulzeichnungen schuf.

Diese Karten sind die erste geographische Arbeit Ritter’s, welche seine Auffassung der geographischen Wissenschaft rein widerspiegelt. Er zeichnet darin die Gebirge unseres Erdtheiles in ihren großen Zügen, die Verbreitungsgrenzen der Culturgewächse, der wilden Bäume und Sträucher, der wilden und zahmen Säugethiere, die Vegetationsgrenzen an den Gebirgen und die Verbreitungsverhältnisse der Volksstämme in Europa. Im Einzelnen lassen diese Darstellungen, die offenbar im Stich gelitten haben (eine Reliefkarte von Deutschland, welche R. 1803 gezeichnet, und eine Karte des Zillerthales aus etwas späterer Zeit, welche das Städtische Museum in Frankfurt a./M. besitzt, zeigen sauberste Ausführung) viel zu wünschen; sie eilten der Forschung viel zu weit voraus. Selbst in der Zeichnung der Gebirgszüge begegnen uns die von reiferen Forschern schon damals überwundenen Wasserscheidengebirge. Daß fünf „Blumenflore“ sich um die fünf Hauptgebirge als die Ausgangspunkte der Verbreitung der Pflanzen gruppiren, war selbst in dieser Zeit, in welcher Wahlenberg’s und Humboldt’s pflanzengeographische Arbeiten noch nicht ans Licht getreten waren, ein nicht zu billigendes Phantasiespiel. Ueberhaupt stützen sich die Grenzlinien, welche R. hier zieht, weniger auf die unentbehrliche Summe von Beobachtungen, als sie der schematisch gehaltene Ausdruck einer allgemeinen Idee davon sind, wie es wohl sein könnte oder möchte. Dieser Versuch, wenn er wissenschaftlich nicht wohl befriedigend genannt werden kann, ist immerhin die erste Probe eines physikalischen Atlas und außerdem bleibt er pädagogisch bedeutend, und ruht nach beiden Beziehungen hin auf einem richtigen Grundgedanken. Nur das letztere kann von dem jüngeren Erstlingswerk „Europa. Ein geographisch-historisch-statistisches Gemälde“, behauptet werden, welches 1804 erschien. Vollständig muß man den im Vorwort ausgesprochenen Zweck billigen „den Leser zu einer lebendigen Ansicht des ganzen Landes, seiner Natur- und Kunstprodukte, der Menschen- und Naturwelt erheben und dieses alles als ein zusammenhängendes Ganzes so vorstellen, daß sich die wichtigsten Resultate über die Natur und den Menschen von selbst, zumal durch die gegenseitigen Vergleiche entwickeln“. Auch im Einzelnen ist der Plan, jedem Staat eine historische Einleitung vorauszuschicken, dann die Naturverhältnisse desselben darzulegen, dann das culturgeographische und in Tabellen die Zahlenwerthe zusammenzufassen, gut und schön. Aber die Ausführung zeigt eine weite Lücke zwischen Vorsatz und Verwirklichung, der Stoff wird nicht geistig beherrscht, die Thatsachen bleiben ohne die verbindenden Glieder als ein todtes Material nebeneinander liegen. Es liegt etwas wie Vorbedeutung in der schönen sorgsamen Gestaltung der Idee, von welcher die Verwirklichung mangels vollständiger Unterwerfung der zersplitterten, widerstrebenden Thatsachen soweit entfernt bleibt. [686] Ein großer Theil der Ritter’schen Erdkunde hat auch in späteren Jahren nur in Form kühn entworfener Programme Leben gewonnen und hat sich darüber hinaus nicht weiter entwickelt. R. hat auch in seiner besten Zeit kein Werk von vollkommer Uebereinstimmung der Idee und der Wirklichkeit, von vollständiger Verschmelzung des Stoffes mit dem Gedanken, kein vollkommen reifes Werk geschaffen. Ein Zwiespalt zieht durch das Werk seines Lebens, die große „Allgemeine Erdkunde“, und hat sie nicht zur Vollendung und zur vollen Entfaltung der Keime großer Wirkung gelangen lassen, die in sie gelegt waren. Es ist im tiefsten Grunde derselbe, welcher diese Jugendwerke der Vergessenheit hat anheimfallen lassen.

Wenn R. in dem ersteren der beiden ebengenannten Werke ausruft: „Das Trennen liegt nur in uns; in der Wirklichkeit steht alles in einem nothwendigen Zusammenhang und diesen Zusammenhang können wir nie durch Trennung des Mannichfaltigen begreifen“, so war auch damit ein guter pädagogischer Gedanke ausgesprochen, an dem indessen der nicht festhalten durfte, welcher in der Selbstschulung ein Ziel erreichen wollte, das über die allgemeine Bildung weit hinauslag. R. gestaltete seine Lehrthätigkeit in dem Frankfurter Hause, weil er sie auf das ernsteste faßte, zu einer Schule für sich selbst. Jeder Erzieher lernt mit seinen Schülern, aber hier blieb es nicht bei dem, was ungefähr hinreichen mochte, sondern der Lehrer suchte tief in die Wissenschaften einzudringen, in welchen er seine Schüler zu unterweisen hatte; er füllte systematisch die Lücken aus, welche seine Universitätsbildung gelassen und fügte der Breite, die er immer angestrebt hatte, eine Tiefe hinzu, welche für den späteren Gelehrten unentbehrlich war. Von 1805 an besuchte er mit seinen Zöglingen das Gymnasium zu Frankfurt und ruhte nicht, bis er das Lateinische und Griechische sich zu eigen gemacht hatte. Als er 1808 mit Begeisterung Homer und Herodot las, schrieb er: „Fast kein Studium hat mich so gefesselt wie dieses, aber leider bin ich doch schon zu alt. Indeß lerne ich so viel, um immer höheren Werth darauf zu setzen“. Von 1809 ab unterrichte R. selbst zeitweilig am Gymnasium in Geographie, Geschichte und Naturgeschichte, ebenso am Engelmann’schen Institut. Seit 1807 war er auch der Gebirgskunde und besonders der Geologie und Mineralogie näher getreten. In dem Kreise, dem er angehörte, erschienen A. v. Humboldt, L. v. Buch, Sömmering, Ebel, Oelsner, v. Beyme. Er konnte mit Buch geographische Entwürfe besprechen, mit Sömmering Farbenlehre treiben und naturgeschichtliche Probleme erörtern, von dem alpenkundigen Ebel Anregungen zur wissenschaftlichen Ausnützung der seit 1807 öfters wiederholten Alpenreisen empfangen. Den beiden letztgenannten Freunden hat er selbst einen großen Einfluß auf die Gestaltung seiner geographischen Ansichten und Entwürfe zugeschrieben. Von Sömmering sagte er in der Einleitung zur 2. Ausgabe der Erdkunde: „Wenn in dem Verständniß der Gesetze des geographischen Verhältnisses der ganzen belebten Natur etwa hier und da in gegenwärtiger Anordnung eine interessante Ansicht hervortreten sollte, so verdankt der Verfasser diese ganze Richtung seiner Aufmerksamkeit dem vieljährigen belehrenden und, mit Stolz sei es gesagt, vertrauten Umgang mit einem edlen Manne, S. Th. Sömmering“. Und von Ebel ebendort: „Die gegenwärtige Arbeit verdankt dem mehrjährigen Umgang mit diesem Edeln bei ihrem ersten Entstehen das, was sie an Leben und Wärme besitzen mag“. In den Jahren dieses Verkehres legte R. den Grund zu seiner Allgemeinen Erdkunde; wir wissen, daß er 1809 mit einer umfassenden Arbeit dieser Art beschäftigt war, welche, im Manuscript an Freunde mitgetheilt, u. a. auf die Gestaltung des geographischen Unterrichtes bei Pestalozzi eingewirkt zu haben scheint. Dieses Werk [687] ist nie ans Licht getreten, es war der erste Anlauf zur Behandlung der Erdkunde in dem großen Stile seines Hauptwerkes.

1810–12 lebte R. mit seinen Zöglingen in Genf, wo neue Anregungen hinzutraten. In dieser für geistige Völkervermittlung glücklich gelegenen und trefflich gearteten Stadt hat seine Vorbildung zum Geographen große Schritte gemacht. R. schlug in diesem gastfreundlichen Boden rascher Wurzeln als er, der zeitlebens eine selbst auf die Sprache sich erstreckende Abneigung gegen französisches Wesen hegte, vermuthet hatte. Im Umgang mit bedeutenden, lehrkräftigen Menschen fand er sich entschieden gefördert, während die große Natur der Umgebung den Sinn für Bergwandern, Sammeln von Pflanzen und Steinen, Zeichnen von Karten und Panoramen neu in ihm weckte. Bei Sismondi hörte er Vorlesungen über die Litteraturen der südeuropäischen Völker, mit Pictet trieb er physikalische und geologische Studien, in den Salons der Staël hörte er politische und litterarische Fragen discutiren, worauf er die Gruppen des Montblanc und später die ganzen Centralalpen bis an den Rhein in einer Ausdehnung durchwanderte, welche damals selten war; dabei fertigte er von hervorragenden Punkten Panoramen an, welche Pictet für die besten der zu dieser Zeit vorhandenen erklärte. Indem R. in einem Briefe aus dieser Zeit an Guths Muths schreibt: „Unser Leben in Genf ist außerordentlich reich an vielen neuen Erfahrungen. Die Natur hat uns ihre heilige Werkstätte mit allen ihren Schätzen aufgethan und uns schon mit ihrer Herrlichkeit überschwänglich gesegnet. Die Menschen haben sich uns nach ihren zwei Seiten hingegeben, wir werden von ihnen geliebt und belehrt … Aber mehr als alles dieß ist uns das Studium der Menschen in ganz neuen nationalen und localen Verhältnissen ein Interesse, das ich durch die vertrautere Bekanntschaft mit der französischen Sprache und Litteratur, die mich übrigens bis jetzt noch kalt läßt, zu erhöhen suche“, hat er die Bedeutung dieses Genfer Aufenthaltes selbst am treffendsten gezeichnet. Mit einer italienischen Reise, welche diesem Aufenthalt folgte, schloß Ritter’s pädagogische Thätigkeit im wesentlichen ab. Sein Zögling war bereit, die Universität zu beziehen, Ritter’s Aufgabe auf diesem Felde damit zum größten Theile gelöst und eigene Lebenspläne, lange zurückgehalten, drängten nun der Verwirklichung entgegen. Aber nicht ohne vorher noch einen schweren Kampf mit sich selbst durchzufechten, schied R. aus der Stellung, welche er so lange in klarer Erfüllung der Pflichten, die sie ihm auflegte, eingenommen hatte. Er kam Mitte des Sommers 1813 nach Göttingen, da flogen schon unlöschbar glühende Funken nationaler Begeisterung auch nach dem von Franzosen besetzten nordwestlichen Deutschland. Mit 34 Jahren ein Jüngling an feurigem Empfinden und reiner Gesinnung, seinen Zögling neben sich, der für das gleiche Ideal erglüht war, lag es R. ungemein nahe, gleich so vielen Anderen „fürs Vaterland in Kampf und Tod zu gehen“. Aber es gab Erwägungen des Erziehers, des Lehrers, daß eine durch 15 Jahre erfüllte Pflicht nicht noch an ihrem Ziele verletzt werden dürfe. R. stand unter dem tiefen Eindrucke, den der jähe Tod seines älteren Zöglings im vorigen Jahre auf ihn gemacht und mehr noch des Schmerzes, den die Mutter um ihn getragen. Nun durfte er das Leben des Jünglings, der seiner Sorge anvertraut war, nicht in Gefahr bringen. Blutenden Herzens entschied er sich für die nähere Pflicht. Man fühlt den ganzen Ernst dieses Kampfes aus einem Brief, den er im December 1813, noch an der Schwere der hingenommenen Entscheidung krankend, an seine Schwester richtete und der für den deutschen Mann ein hochwerthvolles Zeugniß ablegt.

Was R. zwischen 1798 und 1818 auf dem Felde der Wissenschaft geleistet hat, ist alles nur Episode seines eigentlichen Berufes, in welchem er vollständig aufging. [688] Er war 20 Jahre lang Erzieher und nichts anderes, und alles, was er an Geistesbildung und Erfahrung in sich aufnahm, strebt auf diesen Mittelpunkt hin, ebenso wie alle seine litterarischen Leistungen von demselben ausgingen. In dieser langen Zeit lebte er, um zu erziehen, lernte er, um zu lehren. In seinen Jünglings- und beginnenden Mannesjahren haben ihn die glänzendsten Berufungen nicht auf ein weiteres Feld hinauszulocken vermocht. Freilich schreibt er wohl einmal: „Es ist mir wie einem Gefangenen, der seine Kräfte zu einem weiteren Marsche fühlt und auf wenige Schritte beschränkt ist. Zuweilen ergreift mich eine unnennbare Sehnsucht nach einem größeren Wirkungskreis“; aber bald setzt er hinzu: „Die Ueberzeugung, daß ich hier auch an Wenigen die innere Kraft erhöhe und daß ich hier nicht unter der äußeren Last von Geschäften erliege, und dabei sorgenfrei in einer mir selbst gebildeten Welt mir selbst doch leben kann, dies führt mich immer zur Ruhe zurück“. Nun gehörte allerdings die Charakter- und Geistesfreiheit des Jünglings R. dazu, in dieser immerhin beschränkten Stellung höhere Kräfte nicht verkümmern zu lassen, die durch allzufrüh gemessene und einförmige Arbeit leicht für große Leistungen unfähig werden. Die Kräfte seiner Seele kamen aber nicht zur Ruhe, sie rangen mit der erzieherischen Aufgabe und indem sie sich stählten, erwuchs die menschliche Persönlichkeit Ritter’s, die später einen großen Theil der Wirksamkeit des Lehrers und Gelehrten trug, zu seltener Reife. Indem er in neidloser Anerkennung Charakter und Erkenntnißkraft seiner Schüler hoch über seine eigene stellte, hatte er Augenblicke des Zweifels an sich selbst, aus denen er zur größten Anstrengung sich erhob. In die Brust eines Freundes wie Sömmering legte er die Bekenntnisse dieser Seelenkämpfe nieder und wenn wir die so ungemein klare Selbstbeurtheilung, welche in diesen Briefen hervortritt, mit der heitern Ruhe vergleichen, welche ein Merkmal des Charakters Ritter’s in den späteren Jahrzehnten war, so erscheint diese als nothwendiges Ergebniß, jene als unvermeidliche Voraussetzung. Brauchen wir hinzuzufügen, daß von Jugend an gepflegte religiöse Innigkeit solcher Selbstbescheidung vor allem zu Grunde liegen mußte? Je tiefer R. in die Wissenschaften eindrang, desto wahrer und wärmer wurde sein Glaube.

R. hatte vollkommen recht, wenn er wissenschaftliche Vertiefung als das Notwendigste ansah, was zunächst nach so langer Hingabe an praktische Aufgaben ihm anzustreben bleibe. Charakterbildung und Ideenschöpfung waren weit vorausgeeilt der Ansammlung der Kenntnisse und deren Abklärung und innerer Reifung, welche beide nur in der Ruhe unter dem Druck der immer sich mehrenden, die kritischen Vergleiche immer mehr erleichternden Massen möglich sind. R. war im Sommer 1813 nach Göttingen gekommen und blieb hier sechs Jahre, die nur durch einen kürzeren und längeren Aufenthalt in Berlin unterbrochen wurden. Seine beiden Zöglinge besuchten hier die Universität und genossen zwar seine Gesellschaft und seinen Rath, jedoch ohne ihm die Zeit zu eigener Arbeit allzusehr zu beschränken. Er blieb freiwillig, als ihn nichts mehr an dieselben band, in der kleinen Stadt, die mit ihrer großen Anzahl von tüchtigen fleißigen Gelehrten und ihrer reichen Bibliothek wie gemacht ist zur Zusammenfassung und wissenschaftlichen Klärung der Anschauungen, die einem forschenden Geist in arbeits- und erfahrungsreicheren Jahren zugeflossen, der Ideen, die ihm aufgegangen waren. R. schreibt aus dem ersten göttingischen Jahre: „Die Ursache, warum ich gerade hier in Göttingen bleibe, an dem Orte, wo ich am allerwenigsten unter allen, die ich kenne, mein Leben zubringen möchte, ist die Stille, die Muße und die Bibliothek, die ich hier finde, um meine geographische Arbeit, der ich nun einmal mehrere Jahre gewidmet habe, endlich zu vollenden und dann in einen anderen Wirkungskreis zu treten.“ Mit der Zeit fand R. in Göttingen noch mehr als er gesucht hatte: Freunde. Der nahe [689] Verkehr mit Blumenbach und Hausmann ließ den Entwurf der „Erdkunde“ nicht bloß fachlich manches gewinnen, sondern gab demselben eine ganz neue Gestalt. Mit Hausmann, dem hervorragenden Mineralogen, der ein feinsinniger Beobachter, vortrefflicher Stilist und von einem zarten Gefühl für das Gute und Schöne beseelt war, trat er in mehr freundschaftliche Beziehungen, von welchen ein bis zu Ritter’s Todeskrankheit dauernder brieflicher Verkehr Zeugniß ablegt. Vielleicht ging von Hausmann der Gedanke aus, R. für die Georgia Augusta zu gewinnen, dem jedoch von Seiten Blumenbach’s und Heeren’s entgegengetreten wurde, nicht zum Nachtheile Ritter’s, dessen Arbeiten Zeit brauchten, um heranzureifen. Hausmann, der Nachfolger des von Vielwissen schillernden Beckmann auf dem Lehrstuhl der Technologie, bot R. durch die Vielseitigkeit seiner Interessen manche Anregung und förderte ihn ganz besonders auf dem Boden der Geologie. Auch das Ruhige, Beharrliche, im besten Sinne Conservative in ihren Ansichten und Neigungen, trug dazu bei, sie einander immer mehr zu nähern. Auch Schrader hat durch naturgeschichtliche Unterweisung anregend auf R. in dieser Zeit eingewirkt, in welcher dieser eifrigst bestrebt war, die physikalisch-geographische Grundlage seine Erdkunde abzuschließen, um dann sein ganzes Studium „auf die innere, geistige Thätigkeit des Menschen zu wenden“. Im Sommer 1817 erschien der erste Band. Das Werk erregte sogleich allgemeines Interesse, fand weite Verbreitung und lenkte die Aufmerksamkeit der gelehrten Kreise auf den Verfasser. Die wahrhaft abschreckende Ausstattung, der Widerspruch, in welchem es zu herrschenden Geistesrichtungen stand, das Ungenügende mancher Einzelangaben verschwand vor der Thatsache, daß hier eine ganz neue Betrachtung der Erde und ihrer Völker vorlag, die besser als alles, was man bisher von ähnlichen Versuchen gesehen. Die Besprechungen waren durchaus günstig. Wenn aber die Freunde meinten, daß damit die Wissenschaft der Erdkunde erst begründet sei, so sagten sie freilich zuviel, denn das Werden und Leben einer Wissenschaft ist mehr an die Einzelforschungen als an die aus großen Gesichtspunkten zusammenfassenden Werke geknüpft, und glücklicherweise sind jene früher als diese. An solchen Einzelforschungen hatte es auch nie gefehlt, doch lagen sie über alle Wissensgebiete hin zerstreut. Ritter’s Werk gehört zu den zusammenfassenden und kein einziges besonderes Problem ist in demselben neu gelöst. Wenn es dennoch einen Markstein in der Entwicklung der Geographie darstellt, so liegt der Grund darin, daß die geographischen Thatsachen, Probleme, welche bisher den verschiedensten Wissenschaften zugewiesen waren, unter dem Gesichtspunkte der Erkenntniß „der Gesetze und Bedingungen, unter deren Einfluß sich die große Mannichfaltigkeit der Dinge und der Völker und der Menschen auf der Erde erzeugt, verwandelt, verbreitet und fortbildet“ als allgemeine Erdkunde wissenschaftlich betrachtet werden. Die Geographie hatte für sich die Astronomie, Geologie, die physikalischen und naturgeschichtlichen Wissenschaften, die Anthropologie, die Geschichte arbeiten lassen, aber sie hatte selten und dann gewissermaßen nur ahnungsweise denselben Weg auch selber betreten. R. hat das Suchen nach Gesetzen auch in die allgemeinen Theile der Erdkunde eingeführt, denn wenn auch schon in diesem ersten großen Vorläufer seiner Allgemeinen Erdkunde die Bedingtheit der Völker- und Staatengeschichte durch die Natur ihres Bodens in den Vordergrund tritt, so heißt es doch in der Einleitung: „Von dem Menschen unabhängig ist die Erde, auch ohne ihn und vor ihm, der Schauplatz der Naturbegebenheiten; von ihm kann das Gesetz ihrer Bildungen nicht ausgehen“.

R. hat nicht schöpferisch, wie sein Zeitgenosse A. v. Humboldt in die Entwickelung [690] der physischen Geographie eingegriffen, aber er ist ihren Fortschritten mit theilnehmender Aufmerksamkeit gefolgt. Von selbst entstand auf diese Weise eine Zweitheilung unter den deutschen Führern der Geographie, welche von ihnen – einige ironische Bemerkungen A. v. Humboldt’s in früheren Jahren abgerechnet – nicht zum Gegensatz zugeschärft ward, wohl aber nach beider Tode dazu gemacht werden sollte. Warum R. nicht selbst naturwissenschaftlich gearbeitet, erhellt aus seiner ganzen Entwicklung; es genügt, für ihn, den Geographen, daß er an der naturwissenschaftlichen Grundlage der physikalischen Geographie festgehalten hat, während er durch eigenste Arbeiten in der anthropogeographischen Richtung fruchtbar wirkte.

Die Veröffentlichung dieses Werkes hatte für R. den günstigen Erfolg, daß man in weiteren Kreisen auf ihn aufmerksam wurde. In Weimar wünschte man ihn als Erzieher einiger Prinzessinnen, Bremen und Frankfurt riefen ihn an ihre Gymnasien und nachdem er an dem letztgenannten nur kurze Zeit als Nachfolger Schlosser’s gewirkt hatte, erhielt er 1820 den Ruf als Lehrer der Geographie und Statistik an der Kriegsschule und als Professor der Erd-, Länder-, Völker- und Staatenkunde an der Universität zu Berlin. Die Bedingungen dieser Berufung waren für jene Zeit günstige, R., der seit 1818 mit Lilli Kramer verlobt war, strebte jetzt noch ernstlicher als früher, eine Stellung zu erwerben, welche ihm eine ruhige Selbständigkeit gewährte und endlich zog es ihn nach Berlin auch, weil sein Bruder Johannes, Geschäftsführer der Nicolai’schen Buchhandlung, ihm dort den Genuß geschwisterlicher Vertrautheit versprach, dessen er sich viele Jahre hindurch nur in Briefen hatte erfreuen dürfen. R. ist am 20. September 1820 in Berlin eingezogen und hat sich in Kürze so sehr, während er sich früher in Berlin oder vielmehr unter den Berlinern nie so recht zu Hause gefühlt hatte, in die Berufsstellung und damit auch in den neuen Wohnort eingelebt, daß er sich hier zu Hause fühlte, von allen Reisen gern wieder hierher zurückkehrte und mit Dank die Anregungen eines geistigen Verkehrs, wie gerade ihm keine Stadt Deutschlands damals bieten konnte, und einer anspruchslosen Geselligkeit aufnahm. Ein ungemein glückliches Familienleben erleichterte diese Eingewöhnung. Daß 1840 seine Gattin ihm entrissen wurde, bedeutete für ihn, den Kinderlosen, die tiefsteinschneidende Veränderung in der zweiten Hälfte seines Lebens. Seine Berufsthätigkeit eröffnete ihm einen angemessenen Wirkungskreis, ohne allzusehr seine wissenschaftlichen Arbeiten zu erschweren und besonders dieses war ihm nach der Unklarheit und Ueberhastung der vergangenen Jahre wohlthuend. Es fehlte ihn auch nicht an äußeren Anerkennungen. Er wurde 1822 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1825 ordentlicher Professor und in demselben Jahre Studiendirector an der Kriegsschule. Als 1828 gelegentlich des 50jährigen Dienstjubiläums des tüchtigen Kartographen Reymann eine kleine Vereinigung von Freunden der Erdkunde zu regelmäßigen Zusammenkünften sich bildete, wurde er zum Vorstande für das erste Jahr gewählt und es war wesentlich sein Verdienst, wenn dieser Keim der später so bedeutend gewordenen Gesellschaft für Erdkunde kräftig emporwuchs. R. hat von 1828 bis 1860 mit den durch die Statuten gebotenen Unterbrechungen meist im Wechsel mit Dove, später auch Barth, an ihrer Spitze gestanden und hat weitaus am meisten für die Erfüllung ihrer Zwecke durch kaum zu zählende Vorträge und Mittheilungen gethan. Auch vermittelte er die Verbindung so manches praktischen Reisenden mit der Gesellschaft. Viele Jahre stand er an der Spitze des Ausschusses, welchem die Herausgabe der Monatsberichte anvertraut war.

R. hat zwar nach seinen Jugendarbeiten keine Werke mehr geliefert, welche mit dem elementaren Unterrichte in der Geographie sich ausschließlich befassen, [691] verlor aber die pädagogische Bedeutung und Verwerthung seiner Wissenschaft niemals aus dem Auge und einige kleinere Arbeiten aus späterer Zeit sind kaum minder wichtig für die Entwicklung der Methodik der Geographie als jene ersten Versuche, welche aus der praktischen Unterrichtsthätigkeit hervorgingen. Methodologische Bemerkungen finden sich in Vorreden, wie z. B. zu dem bekannten Roon’schen Lehrbuche, in kleineren Zeitschriftaufsätzen, vorzüglich aber in den zwei akademischen Abhandlungen „Ueber geographische Stellung und horizontale Ausbreitung der Erdtheile“ und „Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel räumlicher Verhältnisse bei geographischen Darstellungen durch Form und Zahl“. Diese Arbeiten sind 1829 und 1831 in den Schriften der Berliner Akademie der Wissenschaften erschienen und gehören insofern zusammen, als sie die Elemente der Theorie einer constructiven Methode des geographischen Unterrichts umfassen. Größer als der unleugbare wissenschaftliche Werth dieser Versuche, die so oft besprochenen Regelmäßigkeiten in der Vertheilung und den Formen des Festen und des Flüssigen auf der Erde zusammenzustellen, zu ordnen und zu vergleichen, hätte die Bedeutung derselben für den praktischen Unterricht sein können, wenn ihnen eine größere Beachtung geschenkt worden wäre. Nur dadurch, daß R. in seinem eigenen Unterrichte den Gedanken verwirklichte, daß „der richtige Gebrauch und die besonnene vergleichende Anwendung geometrischer Figuren für physikalische Räume in einer geographischen Verhältnißlehre ganz dazu geeignet wären, auf eine sehr einfache und verständliche Weise zu bestimmteren Vorstellungen zu führen“, ist der Gebrauch des constructiven Zeichnens beim geographischen Unterricht durch einige seiner Schüler in die Schulstube übertragen worden und hat Früchte getragen, ehe man eine neue Methode des geographischen Unterrichtes darauf mit Entschiedenheit begründete. In der Richtung dieser beiden Arbeiten würde die eingehendere Behandlung der Aufgaben gelegen haben, welche horizontale und vertikale Anordnungen an der Erdoberfläche uns stellen. Bezüglich der Entwicklung von Zahlenverhältnissen aus vergleichender Betrachtung der Gebirgstheile (Kammhöhe, Paßhöhe, Gipfelhöhe) konnte er auf A. v. Humboldt’s Arbeiten verweisen, für Küstengliederung und Stromentwicklung hat er die Wege gezeigt, auf denen zu ähnlichen Ergebnissen zu gelangen sein möchte, hat wohl auch einige Resultate selbst mitgetheilt. Es muß allerdings auffallen, daß R., trotz seiner eingehenden Kenntniß der Alpen, auch in diesem Gebiete keine eindringende und abschließende Leistung geliefert hat; aber wir haben es als eine Eigenthümlichkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit bereits gekennzeichnet, daß er gerne sich darauf beschränkte, anzugeben, was zu thun wäre, und höchstens Andeutungen über das Wie? oder auch einige eigene vorläufige Ergebnisse hinzuzufügen, die eigentliche tiefgrabende Forscherarbeit die Ausschälung des Wahrheitskernes aber der Zukunft zu überlassen. Das ist die Eigenartigkeit des synthetisch angelegten Geistes, der durch diese Anlage auch mehr auf Lehre und Leben hingewiesen ist, als der zum Abstracten sich hinneigende Analytiker. Es ist auch bezeichnend, daß R. sehr selten kritisch hervortrat. Ein jüngerer Fachgenosse konnte ihm den Vorwurf machen, er habe kein einziges Problem der vergleichenden Erdkunde gelöst, und ganz zu entkräften ist dieser Vorwurf nicht. Nur steht R. unter den hervorragenden Geistern seiner Zeit und der nächstvergangenen nicht allein mit dieser mehr nachsinnenden, als eindringenden Neigung. Auch Herder, auch die Naturphilosophen bauten lieber große Gedankendome auf, als daß sie die Steinhauerarbeit leisteten, welche für so große Arbeiten das Material erst vorzubereiten hätte. Auch A. v. Humboldt, der in seiner früheren und mittleren Zeit Vieles geleistet hat, was man den Arbeiten Ritter’s als Muster wissenschaftlicher Vertiefung gegenüberzustellen liebte, hat im Kosmos dieser Vorliebe seiner Zeit für einen großen Stil der Gedankenarchitektur [692] den Tribut gezollt. Bei R. kam als ein starker Grund des skizzenhaften, unvollendeten Charakters so manchen gedankenreichen Entwurfes die angestrengte, alle Kräfte beanspruchende Arbeit an der „Allgemeinen Erdkunde“ hinzu. In diesem großen Werke galt es zahllose Detailschwierigkeiten zu überwinden, welche die ganze für die Lösung einzelner Aufgaben verfügbare Kraft beanspruchten und aufzehrten.

In die Reihe der kleineren Arbeiten, welche den Namen von wissenschaftlichen Programmen verdienen würden, gehören die weiteren akademischen Abhandlungen „Ueber das historische Element in der geographischen Wissenschaft“ (1833) und „Ueber räumliche Anordnungen auf der Außenseite des Erdballs und ihre Funktionen im Entwickelungsgang der Geschichte“ (1850), ferner „Der tellurische Zusammenhang der Natur und Geschichte in den Productionen der drei Naturreiche oder über eine geographische Productenkunde“ (1836). Die letztgenannte Arbeit ist zwar auch wieder nur ein großes Programm, aber einzelne Abschnitte der Allgemeinen Erdkunde zeigen die Richtung an, in welcher R. an die Ausführung gegangen sein würde, wenn der ganze große Entwurf „die Kenntniß der gesonderten Productionen der Erde nach ihrer räumlichen Verbreitung über die Formen des Festen und Flüssigen, in ihren quantitativen und qualitativen, absoluten wie relativen Verhältnissen zu den einzelnen Ländern und Völkern der Erde, wie zum ganzen System des Erdballs“ weniger nur Grundriß geblieben wäre. Die Abschnitte über die Verbreitung des Thees, der Palmen Indiens, des indischen Elephanten, der heiligen Feige, der Opiumcultur, des Opiumgenusses und Opiumhandels, der Cultur des Zuckerrohres, des Weihrauches, des Kaffeebaumes, des Kameels, der Manna, der Gummi-Acacie, der Dattelpalme sind Bruchstücke von großer Gelehrsamkeit, welche in den Bau des großen Werkes mit eingemauert sind, statt einer Handelsgeographie anzugehören, deren Schöpfung R. Anderen, die nach ihm kamen, überließ. Wenn dieser Zweig der Geographie dann fern von dem Felde, das R. bearbeitete, aufwuchs, wenn von seinen Pflegern der Name Ritter’s kaum genannt wurde, so ist nicht die innere Art, sondern die Form dieser gelehrten Arbeiten, auch selbst die zerstückte Art ihres Erscheinens dafür verantwortlich zu machen. Die akademische Abhandlung über die Baumwolle (1851), welche Fragment geblieben ist, würde bei Vollendung die an Gelehrsamkeit schwerste dieser Monographien geworden sein. 1852 vereinigte R. diese u. a. akademische Schriften mit der „Einleitung zur allgemeinen vergleichenden Geographie“ zu einem besonderen Werkchen.

Zwei sehr charakteristische Gattungen Ritter’scher Werke sind die Vorträge und die Vorreden. R. hat, wo es galt, seine Wissenschaft zu fördern oder auszubreiten, auch wo milderen Zwecken zu dienen war, gern sein Wort an größere gebildete Kreise im Wissenschaftlichen Verein, im Verein wissenschaftlicher Mittheilungen, in der Gesellschaft für Erdkunde gerichtet. Manche dieser Vorträge sind gedruckt und erfreuen durch die in gewählter, hier gar nicht belasteter Form dargebotene Belehrung, welche von einer weitblickenden, weltkundigen Auffassung der fernsten Verhältnisse getragen ist. Ein Vortrag über „die Colonisation von Neuseeland“ ist besonders anziehend, weil in demselben R. als Beurtheiler eines erst werdenden politischen Gebildes erscheint, als welcher er sich vollkommen freihält von den Phrasen und Uebertreibungen, die so gerne an derartige junge zukunftsreiche Gemeinwesen anknüpfen, keine von den starken Farben aufträgt, von welchen man bei der Schilderung ferner Länder gerne Gebrauch macht. Es ist ein ächt weltkundiges Abwägen der Dinge, wie sie sind, in diesem Werkchen, kein Vordrängen eigener Ansichten, keine Zukunftsträume. „Ein Blick in das Nil-Quellland“ (1844), „Ein Blick auf Palästina und seine christlichen Bewohner“ (1852), die zahlreichen Vorträge, welche theils vollständig, theils im [693] Auszuge in den Monatsberichten der Gesellschaft für Erdkunde mitgetheilt wurden und mit Vorliebe Gegenstände von ebenso großem menschlichen wie wissenschaftlichen Interesse, behandeln, zeigen die gleiche warme und große Auffassung und Darstellung. Wir nennen nur die ausgedehntesten, wobei wir uns an die Verzeichnisse in den erst seit 1840 erschienenen Monatsberichten der Gesellschaft halten: „Die Zustände Liberias“ (1840 und 1853), „Die Nestorianer“ (1840), „Die Australier am Vincent Golf“ (1841), „Die Reisen der Missionare Krapf und Isenberg in Ostafrika“ (1842 und später), „Abichs Untersuchung des Ararat“ (1846), „Ueber die Quellen des Oxus und Jaxartes“ (1847), „Ueber Amerika’s Handel mit dem Osten“ (1849), „Ueber die syrisch-jacobitischen Christen“ (1849), „P. Knoblecher’s Reise auf dem Weißen Nil“ (1850), „Ueber den Aralsee“ (1851), „Die alten Denkmäler Guatemala’s“ (1853), „Die Nordwest-Durchfahrt“ (1853), „Die West-Eskimo“ (1854), „Lin’s Chinesische Geographie“ (1855). Mit warmer Theilnahme verfolgte R., wie hunderte kleiner Mittheilungen erkennen lassen, die er in den Sitzungen der Gesellschaft für Erkunde gegeben hat, die Geschicke und Leistungen der geographischen Forschungsreisenden. Seine Theilnahme, sein thätiges Eingreifen hat manche Unternehmung gefördert. Männer wie Krapf, Leichhardt, Schomburgk, Werne, v. Wildenbruch, Barth, Overweg, die Brüder Schlagintweit u. v. A. theilten ihm ihre Ergebnisse mit, welche er seinerseits in die Wissenschaft einführte. Zusammen mit A. v. Humboldt und L. v. Buch hat er in diesem Sinne viele Forschungsreisende gefördert. Die später in Deutschland immer reger werdende Theilnahme an der Erforschung Afrika’s und der Polarländer hat in ihm einen ihrer frühesten, wärmsten, thätigsten Vertreter und Verfechter besessen. Gerne lieh er seine Feder und seinen Namen, wenn es sich darum handelte, Erstlingswerke einzuführen. Seine Vorreden zu Hoffmeister’s Briefen aus Indien, Tams’ Portugiesische Besitzungen in Südwestafrika, Barth’s und Overweg’s Briefen aus der Sahara und dem Sudan u. v. A. sind höchst erfreuliche Arbeiten von stilistischer Vollendung, gedankenreich, die reinste Theilnahme für die Verfasser bekundend. Die kleinsten Beiträge dieser Art zeichnen den Mann, und besonders auch sein Gemüth. Der Text zu Kummer’s Reliefdarstellung des Mont Blanc (1824) kann mit unter diese Arbeiten mehr zufälligen Ursprunges gerechnet werden.

Was R. an größeren und kleineren Abhandlungen in den letzten 40 Jahren seines Lebens veröffentlichte, ist indessen alles nur Nebenwerk und Nebenproduct seiner „Erdkunde“. Man empfindet Ehrfurcht vor dem Werke, das ein solcher Mann in der ganzen Zeit seines gereiften Denkens und Arbeitens im Geiste trug, für welches er seine besten Kräfte eingesetzt hat. In dieser langen Bänderreihe ruht das Lebenswerk Ritter’s und natürlich finden an ihnen die Lebensalter, welche es durchlaufen, ihren Ausdruck. Die beiden Bände der ersten Ausgabe, welche bald durch eine neue ersetzt wurden, sind nach dem in die Jahre 1809 und 1810 zurückreichenden Entwurfe, dessen wir früher gedachten, gearbeitet, und sollten eine Art vervollkommneten Handbuches der Erdkunde von mäßiger Größe werden. 1822 begann die neue große Ausgabe zu erscheinen, deren 2. Band 1832 ans Licht trat. Diese beiden ersten Bände sind die reifsten und durchgearbeitetsten. Sie sind die Arbeit des Mannes. Der Rest gehört dem Greise an, welcher wohl noch in Jugendfrische schafft, aber gern in die Breite geht und welchem manchmal der Sinn für das Maß und die Verhältnisse über dem Genuß der unbeschränkten Darlegung abhanden kommt. Doch lag dem tiefehrlichen und für sein Werk begeisterten Gelehrten das reine stoffaufhäufende Compiliren so ferne, daß er bis in die letzten Bände die geistige Leitung und Uebersicht behielt und sein Werk selbst beim massenhaften Ueberwuchern des Stoffes doch nie in einen Notizenkram ausarten ließ. Bestrebt man sich, der Billigkeit [694] gemäß, das Werk aus seiner Zeit heraus zu verstehen, so erstaunt man über die neue, eigenartige, kühne Anlage. Schon die Ueberschriften der Bände, Abschnitte und Capitel haben eine Masse neuer Ausdrücke für große und kleine Naturgebiete entweder geschaffen oder wenigstens in allgemeinen Cours gesetzt. Wenn man auch nur das Inhaltsverzeichniß des 1822 erschienenen Bandes über Afrika durchfliegt, gewinnt man einen Eindruck von geistiger Bewältigung eines in seiner Lückenhaftigkeit höchst spröden Stoffes. Ritter’s Auffassung dieses damals am wenigsten gekannten Erdtheiles ist so naturwahr, daß spätere Forschungsergebnisse ohne Zwang in die von ihm geschaffenen Kategorien eingereiht werden konnten. So war vorher kein einziger Theil der Erde gegliedert und beschrieben worden und es wurden später in vielen geographischen Werken weniger naturgemäße Gliederungen durchgeführt. Die Klarheit leidet auch noch nicht unter dem Uebermaße der Einschaltungen, Hinzufügungen und Verbreiterungen. Zwar erscheinen schon hier zahlreiche „Erläuterungen“, welche um den Kern der die Grundzüge des Bodenbaues, der Bewässerung, des Klimas, der Bodenerzeugnisse, der Völker, der Entdeckungsgeschichte darstellende Abschnitte sich anlegen; aber dieser Kern wird noch nicht überwuchert, wie z. B. schon im 2. Bande in dem Gobi-Capitel, wo er nahezu unsichtbar wird; oder gar in den kleinasiatischen Bänden, wo die Darstellung der so sicher hingestellten, wohlbegrenzten Halbinsel in ein Bündel von lauter Wegbeschreibungen auseinanderfällt. R. sagt selbst einmal: „Bei einem Felde von so ungemessenem Umfange kann das Interesse nur erregt, nicht befriedigt werden; darum die Nachweisung der Quellen“. Aber mit dem Nachweise der Quellen begnügt er sich nicht mehr, sondern schöpft gleich einen guten Theil derselben in die mit jedem Bande bauchigeren Krüge der Schaltcapitel. Es ist kein Zweifel, daß die Unvollendetheit des Werkes ihren Grund hauptsächlich in dieser zunehmenden Breite hat, die zu innerer Zerklüftung trotz des wohldurchdachten Bauplanes führte. Noch in der 1. und 2. Vorrede zu „Afrika“ werden 12 Bände in Aussicht genommen, in welche noch 1832 R. den Stoff zusammenzudrängen hoffte. Es ist kein Zweifel, daß die Erdkunde aus der Verwirklichung dieses Planes einen großen Gewinn gezogen haben würde, besonders wenn wie bei Afrika die ganze Summe unseres Wissens bis zu einem bestimmten Zeitpunkte gezogen worden wäre, so daß an dieses mit 1820 abgeschlossene Buch oder an das 1830 beendete Ostasien sich später nur noch Nachträge und Verbesserungen anzuschließen brauchten. Es ist, selbst rein menschlich empfunden, schmerzlich zu sehen, wie ein Werk, so reif begonnen und so hingebend durchgeführt, Stückwerk im Ausbau und damit auch in der Wirkung blieb. Als eine Ansammlung zahlloser Thatsachen hat indessen die „Erdkunde“ durch diese Fehler der Form nichts verloren, sie bleibt das gelehrteste Werk der modernen Geographie, welches auf lange hinaus weder erreicht noch übertroffen werden dürfte. Außerdem ist sie dasjenige geographische Werk, welches zuerst den von Herder im geschichtsphilosophischen Sinne ausgeprägten Gedanken der tiefgehenden Beeinflussung der Völkergeschicke durch die äußeren Umgebung, durch den Schauplatz in einer so ausführlichen Schilderung der Länder folgerichtig durchführte. Daß die Erde von der Vorsehung zum Wohn- und Erziehungshaus der Völker bestimmt sei, ist ein Gedanke, den R. in fast jedem seiner Werke ausgesprochen hat, der ihm näher als irgend ein anderer blieb, den er daher immer wieder zu bewähren, in seinen Wirkungen aufzuweisen versuchte. Ihm war es ein Ziel der Wissenschaft, „den nothwendigen Entwicklungsgang jedes Volkes auf der bestimmten Erdstelle vorherzuweisen, welcher genommen werden mußte, um die Wohlfahrt zu erreichen, die jedem treuen Volk von dem ewig gerechten Schicksal zugetheilt ist.“ Die Schilderung der gerade auf asiatischem Boden sich dicht aneinanderreihenden Schauplätze weltgeschichtlicher Entwicklungen [695] und Begebenheiten ist von diesem Gedanken durchtränkt und verbreitet über alle Bände des Werkes einen eigenartigen durchgeistigenden Hauch. Sicherlich geht aus dieser Auffassung der bedeutendste und zugleich wirksamste Charakterzug der „Erdkunde“ hervor. Es ist dieselbe Richtung, in welcher Ritter’s Lehrthätigkeit die tiefste Spur hinterlassen hat. Das teleologische Element, welches dieser Auffassung oft zum Vorwurf gemacht wurde, konnte sie nicht hindern, belebend auf die Auffassung der Geschichte einzuwirken. Die Geschichte eines Volkes zu erzählen, ohne den Boden zu kennen und zu schildern, auf dem dieselbe sich abgespielt, erscheint, wie E. Curtius einmal treffend sagt, seit R. nicht mehr möglich, und zweifellos hat dadurch die Geschichtsschreibung an philosophischer Vertiefung gewonnen. Was aber den Vorwurf der Teleologie anbetrifft, so ist dieser nichtssagend, weil R. nur in der letzten Ursache die Schöpferabsichten sieht und als aufrichtiger Christ sehen muß, wobei der ganze weite Raum zwischen dieser und der Erscheinung für die Wissenschaft frei bliebt. Höchstens könnte man eine Quelle von Irrthümern darin sehen, daß, wer höhere Absichten sucht, überall mehr von jenen Beziehungen zwischen Erde und Menschengeschicken erblickt, als vielleicht vorhanden ist. Aber R. als der Erste, welcher diesen Zusammenhang consequent und eingehend erforscht und dargestellt hat, kann mindestens das gleiche Recht beanspruchen, wie andere Entdecker, ihrem Gedanken eine Lieblingsneigung zuzuwenden, welche denselben verschönt und sogar überschätzt. R. hat über dieser Neigung nie den Freund und Kenner der Natur verleugnet. Ist er kein naturwissenschaftlicher Geograph gewesen wie A. v. Humboldt, so zeigt doch die liebevolle Darstellung der Gebirge, Flußläufe, klimatischen Erscheinungen, Naturerzeugnisse den Mann, welcher die Früchte der in Büchern, auf Karten, in Urkunden zurückgelegten Reisen an selbsterworbener Naturanschauung prüfen konnte. Die „Erdkunde“ ist nicht ganz ein Erzeugniß der Studierstube. R. hat allerdings weder Afrika noch Asien bereist, aber seine Auffassung und Darstellung sind nicht diejenigen der dürren Gelehrsamkeit. R. war ein Mann des Lebens, der praktischen Lehre, ein Verehrer Gottes in der Natur. Das zeigt sich in dem lebendigen Interesse für die neuen Entdeckungen, die Colonisation, die Missionsthätigkeit, die Heranbildung gesunkener Völker. Daher selbst zwischen den von trockenen Thatsachenreihen starrenden Abschnitten der „Erdkunde“ erfreuende Oasen menschlicher Empfindung. Waren seine Reisen nicht ausgedehnt, so ließen sie ihn einzelnes Bedeutende, wie die Alpen, um so gründlicher kennen. Aber auch Italien, England, Schottland, Irland, Griechenland und die Länder der Balkanhalbinsel wurden von ihm durchwandert. Und so wie die frühe innige und häufig wiederholte Berührung mit den Alpen leuchtet die spätere Bekanntschaft mit Griechenland durch die Werke Ritter’s. Die schönen, Griechenland gewidmeten Worte in den Vorlesungen über Europa tragen den Stempel des Erlebtseins, sie gehören deshalb auch zum stilistisch Vorzüglichsten, was R. geschrieben.

Nach allem, was zu sagen war, kann Ritter’s Lehrthätigkeit nicht anders als höchst befruchtend gewirkt haben. Viel von seiner Anlage und Vorbildung wies auf diese Seite als die bevorzugte hin. Der Lehrer nahm in seiner Persönlichkeit einen größeren Raum ein, als im durchschnittlichen deutschen Professor. Diesem Verhältniß entsprachen die Erfolge. Mit entmuthigend geringer Zahl von Zuhörern begonnen, stellten sich die Vorlesungen Ritter’s bald in die Reihe derjenigen, welche gehört zu haben, unter die Forderungen allgemeiner Bildung bei der akademischen Jugend Berlins gerechnet wurde. Auch wißbegierige Erwachsene besuchten seine Vorträge. Glänzend zu reden lag R. nach Gabe und Neigung gleich fern, seine Wirkung war der volle Einsatz einer vertrauen- und ehrfurchterweckenden, ganz selbständigen Persönlichkeit. Wenn man oft Vergleiche [696] zwischen Ritter und A. v. Humboldt zog, welche jenem nicht volle Gerechtigkeit widerfahren ließen, so vergaß man hervorzuheben, daß diese Art von Wirkung dem großen Reisenden ganz versagt geblieben wäre, auch wenn er sie gesucht haben würde. R. war auch auf dem Lehrstuhl in erster Linie Lehrer und ließ seine ganze Menschlichkeit in diesem Beruf aufgehen. Seine ruhigen Darlegungen fesselten und überzeugten durch den Ernst und die Wärme des Vortrages, der bei Tausenden nachhaltiges Interesse für die Geographie hervorgerufen hat. Zeichnungen an der Tafel unterstützen die Rede. In letzterer fesselte auch eine gewisse Ursprünglichkeit der Wortwahl und des Aufbaues. Was nach seinem Tode von geographischen Vorlesungen Ritter’s an die Oeffentlichkeit trat, kann kein ganzes klares Bild von dem geben, was dieselben waren, und was sie wirkten (Geschichte d. Erdkunde u. d. Entdeckungen, 2. Aufl. 1880. Europa 1863. Beide von A. H. Daniel herausgegeben), doch sind die erst genannten Vorlesungen mit zu dem Anziehendsten zu rechnen, was von R. uns erhalten ist.

Zu den Reizen Ritter’scher Diction gehörten die wohlgewählten Vergleiche und Bilder, welche, mehr sinnig als kühn, mehr tief als glänzend, den Ernst seines Vortrages gewinnender machen. Die Erdkunde faßte er nicht bloß im wissenschaftlichen, sondern auch im pädagogischen Sinne vergleichend auf. Wenn er den Nil als an Länge den Rhein 4mal, die Donau 2mal übertreffend und ebenso weit aufwärts wie den Amazonenstrom schiffbar nennt, wenn er seinen Weg mit der Entfernung der Südspitze des Peloponnes vom Nordcap vergleicht, wenn er seinen Wandel in der bekannten Strecke bis zum Meere dem eines bedächtigen Mannes und Greises vergleicht und die Frage dann zu beantworten sucht, wo die Wiege seiner Kindheit stehe? so steht das wohlthuende Bemühen um Klarheit gewinnend vor uns. So fehlt es auch nirgends in den Werken Ritter’s, auch wo sie voll Gelehrsamkeit sind, an den Ruhe- und Erholungsstätten phantasiekräftiger Vergleiche, welche gerade genug Geographisches an sich haben, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Das sind die schönen Blüthen des etwas mystischen, mindestens ahnungsvollen Denkens der früheren Jahre, welches noch 1820 in der „Vorhalle europäischer Völkergeschichte vor Herodotos, um den Kaukasus und an den Gestaden des Pontus. Eine Abhandlung zur Alterthumskunde“, ein etwas wildes Schlingwerk kühner Vermuthungen aus der Idee altindischer Priestercolonien, die mit dem Buddhacultus bis nach Europa wandern, hatte aufschießen lassen. Wenn wir von der Zeit lesen, die allmählich gleich der aufsteigenden Sonne, einen Schatten nach dem anderen in ihrem Fortschritt verkürzt, so haben wir eine Probe der Ausdrucksweise vor uns, welche auch einem Meister wie A. v. Humboldt das Urtheil über die „Erdkunde“ eingab, daß „alles voll Leben, oft von großer Schönheit der Rede“ sei. Schöne landschaftliche Schilderungen enthalten auch Ritter’s vortreffliche Briefe aus der Schweiz, Griechenland und andern Ländern, die theilweise in den unten genannten Büchern von Kramer und Geilfuß zum Abdruck gelangt sind. In einer plastischen und ganz correcten Bildlichkeit glaubt man den des Zeichnens gewohnten Kenner der Naturformen wiederzufinden. R. zeichnete sehr saubere Karten, und eine Probe der naturgetreuen Bleistiftskizzen, die er auf Reisen hinzuwerfen suchte, hat Roß u. a. im 1. Theil der Griechischen Reise mitgetheilt.

Zur Erinnerung an Karl Ritter. Von G. Kramer, Ztg. f. allg. Erdkunde, N. F. Bd. VII. – Karl Ritter. Ein Lebensbild nach seinem handschriftlichen Nachlaß dargestellt von G. Kramer, 2 Bde., Halle 1864. 2 Ausg. 1876. – Karl Ritter’s Briefwechsel mit J. F. L. Hausmann, hrsg. von J. E. Wappäus, Leipzig 1879. – Ueber Karl Ritter in Abhandl. z. Erd- und Völkerkunde von O. Peschel, I. 1877. – F. Ratzel, Zu Karl Ritter’s hundertjährigem Geburtstage. Allg. Ztg. 7.–15. Aug. 1879. – F. Marthe, Was bedeutet [697] Karl Ritter für die Geographie? Berlin 1880. – Geilfuß, Das Leben des Geographen Dr. Jakob Melchior Ziegler, 1884. – K. v. Fritsch, Karl Ritter’s Zeichnungen des Lophiskos in Mitth. d. V. f. Erdkunde zu Halle 1885. – E. v. Oven, Eine von Karl Ritter gezeichnete Karte des Zillerthals. Jahrb. d. V. s. Geographie zu Frankfurt 1888. – Die Fortentwicklung Ritter’scher Anregungen findet man sorgsam verfolgt in Hermann Wagner’s Berichten über die Methodik der Erdkunde im Geographischen Jahrbuch seit 1878. Für die Anwendung Ritter’scher Gedanken im geographischen Unterricht ist Hauptwerk Oberländer’s Geographischer Unterricht nach den Grundsätzen der Ritter’schen Schule, 1875. – Bildniß in der Kramer’schen Biographie.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gebieben
  2. Wort er fehlt in der Vorlage