Die Gartenlaube (1869)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 24.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Zu wirthschaftlich.
Von Fr. Gerstäcker.


Wenn es ein Brautpaar auf der weiten Welt gab, das für einander bestimmt, ja man konnte fast sagen geschaffen schien, so war es der junge Doctor Heinrich Wahlborn und Sophie Metkorn, die älteste Tochter eines nicht gerade reichen, aber doch wohlhabenden Bürgers in Xstadt – und ein hübscheres hätte man ebenfalls nicht so leicht aufgefunden. Dem jungen Mann war dabei das Glück zu Theil geworden, seine Braut – und zwar ehe er um sie warb – wohl ein volles Jahr lang in ihrem Wirken und Schaffen daheim auf das Genaueste beobachten zu können, da er als Hausarzt, und bei einer langwierigen Krankheit ihrer Mutter, täglich und zu allen Stunden dort Zutritt hatte, während Sophie natürlich allein die Wirthschaft führte und dabei zugleich die Kranke mit liebender und unermüdlicher Sorgfalt pflegte.

Der junge Doctor Wahlborn war selber, nicht allein in seinem Aeußeren, sondern auch in seiner kleinen Junggesellenwirthschaft sehr adrett und ordentlich; er hielt besonders viel auf reine Wäsche und saubere Kleidung, wie auf eine freundliche Häuslichkeit, und schon darin mußte ihm das Metkornsche Haus – im Gegensatz zu manchen anderen, die er zu Zeiten in früher Morgenstunde betrat und in einem oft schrecklichen Zustande antraf – als eine kleine Musterwirthschaft gelten. Er mochte kommen wann er wollte, das ganze Haus sah blank und sauber und Sophie selber wie aus einem Ei herausgeschält aus, und als er einmal einen Blick in die Küche hineinwarf, blitzte das Blechgeschirr darin, als ob es von blankem Silber wäre.

Und wie einfach ging Sophie immer gekleidet – modern wohl, aber ohne jeden Wahnsinn der verschiedenen Moden mitzumachen, und doch immer wie nett, wie elegant selbst! Sie hatte es darin auch freilich leicht, denn einem hübschen Gesicht steht Alles gut, und Sophie war wirklich bildhübsch, so daß man es dem Doctor sicher nicht verdenken konnte, wenn er endlich Feuer fing – es war nur ein einziges Wunder, daß er so lang Stand gehalten.

Häuslich und wirthschaftlich war sie dabei ebenfalls – er kam einmal dazu wie sie mit einer Gemüsefrau um ein Mäßchen Bohnen handelte, und hätte ihr gleich damals direct um den Hals fallen mögen, solch ein ernsthaftes Gesicht zog sie, und so entschieden bestand sie auf ihrem kleinen Trotzkopf, während sich die ganze Sache doch nur um ein paar Pfennige drehte – aber „wer das Kleine nicht ehrt, ist das Große nicht werth“ und gerade das gefiel ihm, daß sie sich auch um das Unbedeutendste sorgte und es der Mühe werth hielt, es zu überwachen.

Dr. Wahlborn besaß selber etwas Vermögen, und mit einer zwar erst begonnenen, doch schon ziemlich guten Praxis konnte er recht gut und anständig eine Frau ernähren, selbst wenn sie ihm keine Mitgift zugebracht hätte. Sobald er deshalb nur erst einmal mit sich selber im Reinen war, ging er auch ungesäumt ans Werk, und eines Tages, nachdem er die kranke Mutter wieder vollständig hergestellt und, um freiere Hand zu haben, auf vierzehn Tage in ein benachbartes Bad geschickt hatte, erklärte er Sophien seine Neigung (meine schönen Leserinnen mögen es mir verzeihen, daß ich meine Erzählung gerade da anfange, wo andere aufzuhören pflegen) und erhielt ein zwar von einem lieblichen Erröthen, aber auch von einem recht glücklichen Blick begleitetes Ja, das ihn dann natürlich zum „Seligsten der Sterblichen“ machte. Die Eltern, die allerdings erst gefragt wurden, als die jungen Leute schon Alles unter sich endgültig abgemacht, willigten später ebenfalls ein und die Hochzeit ward dann im engeren Familienkreis und ohne großen Pomp, aber von lauter glücklichen und theilnehmenden Menschen im Haus der Schwiegereltern gefeiert.

Danach machte das junge Paar, wie es sich von selbst versteht, eine Hochzeitsreise nach der Schweiz; das gehörte zum guten Ton, und ist doch eigentlich das Unnatürlichste und Widersinnigste, was ein junges Ehepaar nur möglicher Weise thun kann. Anstatt sich nun nämlich, nach Ueberwindung aller Schwierigkeiten, ihres gemeinsamen Glücks und der neugewonnenen Häuslichkeit wie eines traulichen, so lang ersehnten Beisammenseins zu freuen, lassen sie sich den ganzen Tag über in Staub und Hitze in einem Eisenbahnwaggon zusammen rütteln, verbringen die Nächte in fremden Hôtels oder unangenehmen Wirthshäusern, werden dabei mit einer Masse unbekannter Menschen durcheinander geworfen und durch unverschämte Preise geärgert, und suchen erst zuletzt, halb aufgerieben und vollständig reisemüde den Platz auf, den sie gerade zu der Zeit hätten nie verlassen sollen – ihre eigene freundliche Heimath – den eigenen Heerd.

Aendere aber einmal Jemand die Welt, oder stelle sich einer „Mode“ entgegen. „Wo es Alle thun, kann man doch nicht gut zurückbleiben,“ lautet die Antwort, und die Sache geht eben ihren ruhigen Gang.[1]

Heinrich Wahlborn war also wirklich mit seiner reizenden jungen Frau zurückgekehrt, hatte auch, nach Verlauf einer Woche etwa, die unausbleiblichen und für beide Theile entsetzlichen Anstandsbesuche glücklich überstanden und fing erst jetzt an sich seines [370] ehelichen Glücks zu freuen. Die beiden Leute besaßen allerdings wohl Alles, was eine stille Häuslichkeit freundlich machen kann, und wo bei dem Nothwendigsten sogar ein kleiner Luxus nicht fehlte. Sophie verstand aber auch noch außerdem Alles so nett und geschickt zu arrangiren und wohnlich zu machen und gönnte sich gar keine Ruhe den ganzen Tag, bis sie das kleine Haus in ein wirkliches Puppenstübchen verwandelt hatte, daß Wahlborn, der ihr das Alles unter den Händen entstehen sah, gar nicht satt wurde, ihr zuzuschauen. Er wußte dabei nur nicht, was er mehr bewundern sollte: ihren Geschmack, ihren Fleiß oder – ihre Ausdauer.

Dadurch aber, daß er so lange auf seiner Hochzeitsreise ausgeblieben, hatten sich auch seine Geschäfte in Stadt bedeutend gehäuft, denn erstlich mußte er seine sämmtlichen Patienten wieder der Reihe nach aufsuchen, und dann war er noch außerdem regelmäßiger Correspondent einer der bedeutendsten medicinischen Zeitschriften und mit seinen Arbeiten sehr im Rückstand geblieben. Das hatte er jetzt Alles nachzuholen, und dabei – es ist wahr – störte ihn manchmal das unausgesetzte Reinmachen und Ordnen im Haus, besonders wenn er fortwährend, sowie er nur aus seiner Stube trat, fremden Gesichtern begegnete, die bald einem Tapezirer, bald einem Schlosser oder Schreiner oder gar einer Wasch- und Scheuerfrau gehörten. – Aber du lieber Gott, seine kleine Frau fand ihre Freude darin, und einmal mußte sie ja doch mit ihrer Arbeit fertig werden – welchem Zeitpunkt er allerdings mit Sehnsucht entgegenharrte.

Etwas genirte ihn im Haus – aber es war zu unbedeutend, um deshalb auch nur ein Wort zu verlieren: seine Frau konnte nämlich das Rauchen nicht vertragen. In ihres Vaters Haus war nie geraucht worden, und sie bekam, wenn sie sich in einem mit Tabaksqualm gefüllten Zimmer nur wenige Minuten aufhielt, gleich heftige Kopfschmerzen – und wie ruinirte es außerdem die Gardinen! So lieb und gut hatte sie ihn dabei gebeten nicht in ihrem Zimmer zu rauchen – in dem seinigen konnte er ja thun, was er wollte –, daß er sie hätte zehntausend Mal weniger lieben müssen, als das wirklich der Fall war, um ihr solch bescheidenen und sogar vernunftgemäßen Wunsch abzuschlagen. In die Zimmer einer Frau gehörte, wie er selber meinte, kein Tabaksrauch, und er gestand es ihr sogar ein, daß es überhaupt eine häßliche Gewohnheit sei – aber es war auch bei ihm eine Gewohnheit geworden, und es würde ihm sehr schwer gefallen sein es zu lassen. Er beschränkte sich jedoch damit auf sein Zimmer – und im Sommer auf den Garten, wie er sich vorsichtig ausbedung, denn dort zog der Rauch in die freie Luft und that eben keinen Schaden. Er hätte auch wirklich das fatale Rauchen ganz gelassen, aber es ging schwer. – Er war bei seinen geistigen Arbeiten so daran gewöhnt, daß ihm in der That etwas fehlte, wenn die Cigarre nicht brannte, ja er wollte sogar bemerkt haben, daß ohne den Rauch selbst die Gedanken nicht so recht flössen. Jedenfalls mußte das nur Einbildung sein – aber alle unsere Gewohnheiten sind ja nichts Anderes.

Sophie war eine seelensgute und musterhafte Frau und sorgte für ihre Wirthschaft wie kaum eine zweite – nur Eines hätte ihr Gatte, als sie eine Zeitlang miteinander verheirathet und dadurch auch näher miteinander bekannt geworden waren, wohl an ihr gewünscht: daß sie sich nämlich ein klein wenig mehr mit Lectüre beschäftigte, denn sie las nicht gern und fand auch dazu allerdings den ganzen Tag keine Zeit. Lieber Gott, ihre Wirthschaft war noch außerordentlich klein, aber wer sich damit beschäftigen will, findet trotzdem immer etwas darin zu thun und wird deshalb nie fertig.

Sophie spielte recht hübsch Pianoforte. Sie war keine Künstlerin auf dem Instrument, aber kleine Piècen trug sie mit vielem Gefühl vor, und als Braut hatte sie den jungen Arzt manchmal in einer Dämmerstunde damit entzückt, denn er liebte leidenschaftlich Musik. Jetzt aber fand sie natürlich auch dazu keine Zeit, und Dämmerstunden existirten überhaupt nicht mehr. Sobald es dunkel wurde, mußte Licht angezündet werden, um die sich immer mehr häufende Arbeit zu bewältigen. Der Doctor neckte sie dann wohl manchmal mit ihrem Strickstrumpf, den sie Abends – wenn sie gerade keine Näherei oder Stickerei vorhatte, nicht aus der Hand legte, und sagte ihr – aber natürlich nur im Scherz –, daß ihm das Stricken so fatal wäre wie ihr das Rauchen. Sie ließ aber das eine so wenig wie er das andere, und da er fand, daß es ihr unangenehm sei, erwähnte er es auch nicht weiter.

Ein rauhes Wort fiel natürlich zwischen Beiden nie vor, und nur einmal war der Doctor beinahe recht böse geworden, als er eines Tages zu ungewöhnlicher Zeit nach Hause kam und sein ganzes Arbeitszimmer auf den Kopf gestellt fand. Mitten darin lag ein Scheuerfrau auf den Knieen und fuhr mit nassen Lappen in alle Ecken. Sein Schreibtisch, auf dem er auf kleinen Zetteln eine Masse von Notizen hatte, war sauber aufgeräumt, und jedes Papier nach seiner Größe geordnet – die „ganz kleinen“ Papierschnitzel hatte das Mädchen selbstverständlich in den Ofen gesteckt. – Seine drei Bücherbreter standen außerdem vollständig geleert, und die Bücher wurden unten im Hof, wohl ganz sauber, aber auch alle durcheinander, abgestäubt.

Wahlborn hielt allerdings – viel mehr als mancher andere Gelehrte – auch in seinem Arbeitszimmer auf Ordnung, und er hätte im Dunklen fast jedes Buch, jedes Schriftstück, das er brauchte, finden können. Es freute ihn dabei das kleine Gemach immer reinlich zu haben, als er aber heute die Verwirrung sah, die Sophie in seinem Heiligthum angerichtet, wäre er fast böse geworden und mußte recht an sich halten, um nicht so ärgerlich auszusehen, als er wirklich war. Und noch dazu konnte er jetzt nicht einmal zu Hause bleiben, um Alles selber wieder zu ordnen denn ein gefährlich Kranker hatte indessen nach ihm geschickt und er durfte den nicht vernachlässigen. Sophie aber, die ihn leicht mit ein paar freundlichen Worten beschwichtigte, versprach ihm Alles wieder herzustellen, wie es gewesen wäre. Sie wisse genau, wie sie sagte, wie die Bücher gestanden hätten, und wenn dann auch ein oder das andere versetzt würde, so könne er das ja leicht wieder in Ordnung bringen. Wahlborn mußte aber gerade hinauslachen, als er endlich zurückkehrte und fand, daß Sophie die Bücher alle sorgfältig nach der Größe und dem ähnlichen Einband rangirt hatte. Brochirte Bücher schienen dabei gar keine Gnade in ihren Augen gefunden zu haben; sie „sahen nicht ordentlich aus“ und lagen sämmtlich zusammengeschnürt in Paketen in der einen Ecke, so daß Wahlborn fast den ganzen nächsten Vormittag brauchte, um nur seine alte Ordnung, so gut das eben anging, wieder herzustellen. Einzelne Papiere und Notizen blieben jedoch rettungslos verloren, und wie er sie so nach und nach bei seinen Arbeiten vermißte, erzeugte das immer wieder ein bitteres Gefühl in ihm.

Sophie war jetzt ein wenig leidend geworden und mußte sich sehr schonen – hätte es wenigstens gesollt, aber ihr unermüdlicher Fleiß ließ ihr keine Ruhe und trieb sie, trotz des Gatten Abmahnen, immer wieder hinaus in Küche und Wirthschaftsräume, oder fesselte sie auf Tage lang an ihre außerdem angreifenden Nähereien.

Die beiden jungen Gatten hatten indessen auch die ganze Zeit seit ihrer Rückkehr von der Hochzeitsreife so häuslich wie nur möglich gelebt, denn Beide fanden keine Freude an Vergnügungen, die sie außer dem Hause suchen mußten. Wahlborn besonders liebte das Wirthshausleben nicht, er spielte keine Karten und haßte das Politisiren auf den Bierbänken. Von acht Uhr Abends widmete er sich auch gewöhnlich vollkommen seiner Frau und hätte dann am liebsten etwas mit ihr gelesen oder musicirt, wenn Sophie nur mit allen ihren wirthschaftlichen und häuslichen Arbeiten fertig gewesen wäre. Aber es gab so viel zu thun, und jede Jahreszeit brachte da etwas Neues und Anderes, und wenn er ihr selbst vorlas, mußte sie alle Augenblicke aufstehn und hinausgehn, um nach den Mädchen zu sehn, und ihre Gedanken weilten auch fortwährend bei denen. Wenn sie zurückkam, hatte sie wenigstens regelmäßig vergessen, was sie bis jetzt gehört, und er mußte es ihr immer in flüchtigen Umrissen wieder erzählen.

Eines Morgens, als er zum Frühstück nach Hause kam, hatte er einen in Stralsund wohnenden Jugendfreund getroffen, den er in langen Jahren nicht gesehen, und Beider Freude war gleich groß gewesen.

„Liebes Herz,“ sagte er zu seiner Frau, als er mit ihr am Tisch saß, „ich bringe Dir heute Mittag einen alten Schulcameraden von mir mit zum Essen, Du brauchst gar keine Umstände zu machen, Wein habe ich im Keller, und wenn wir nur –“

„Aber lieber Heinrich,“ sagte die junge Frau, „heute gerade, wo ich Wäsche habe, ich bitte Dich um Gottes willen –“

„Wäsche?“ sagte Wahlborn etwas bestürzt, „wenn ich nicht irre, so hast Du erst vorige Woche waschen lassen, liebes Kind.“

„Etwas, ja, aber es wächst Einem ja über den Kopf zusammen, [371] und mit den beiden Mädchen allein kann ich es nicht erzwingen. Ich arbeite doch gewiß genug –“

„Mehr als zu viel, liebes Herz,“ sagte ihr Gatte freundlich, „und ich habe Dich so oft gebeten, doch ein oder zwei Waschfrauen anzunehmen, nur um die unangenehme Wäsche rasch zu beseitigen, wenn Du denn gar nicht meinen Wunsch erfüllen willst, außer dem Hause waschen zu lassen.“

„Aber, Heinrich, Du hast gar keinen Begriff, was das kosten würde, und wie es die Wäsche ruinirt, und selbst mit den Waschfrauen, ich mag die fremden Personen nicht meine Wäsche mißhandeln lassen und sie immer um mich haben –“

„Aber fremde Personen haben wir doch fortwährend im Haus,“ sagte Wahlborn mit einem Seufzer, „ich glaube, die beiden alten Scheuerfrauen wohnen bei uns, und ein oder die andere Näherin sitzt auch permanent.“

„Du willst doch Dein Haus sauber und Deine Sachen in Ordnung haben,“ sagte die junge Frau etwas piquirt.

Wahlborn hätte gern etwas darauf erwidert, aber er fürchtete, ihr weh zu thun, sie war überhaupt jetzt etwas reizbar und mußte sehr geschont werden. „Also heute Mittag würde es Dir nicht passen, liebes Herz?“

„Gar nicht – wahrhaftig nicht – wenn ich es nur vor ein paar Tagen gewußt hätte. Vielleicht können wir es auf den Sonntag einrichten.“

„Er reist morgen schon wieder ab.“

„Das ist recht fatal – nun vielleicht kommt er ein ander Mal wieder nach Xstadt.“ – Damit war die Sache abgethan und Wahlborn aß an diesem Tag mit seinem Schulfreund im Hôtel.

Wahlborn, als ein sehr geschickter Operateur, war einige Wochen später in eine benachbarte Stadt gerufen worden, um dort an einem Kranken eine sehr schwierige Operation vorzunehmen. Er hatte seine Einrichtung getroffen, um vier Tage auszubleiben und den ersten Erfolg der Operation zu beobachten wie ihre Wirkung zu überwachen. Das Resultat war aber ein so günstiges, daß er den Kranken schon nach zwei Tagen ohne die geringste Gefahr sich selber und der Pflege eines anderen Arztes überlassen und selber wieder nach Hause eilen konnte, aber er kam seiner Frau ein wenig zu früh.

Das ganze Haus stand unter Wasser, sein eigenes Studirzimmer nicht ausgenommen, in welchem er wieder eine ältliche Dame mit aufgestreiften Aermeln und sehr nasser Schürze eben beschäftigt fand, die Dielen einzuweichen, um sie dann mit Bürste und Seife zu bearbeiten. Das Wetter draußen war so unangenehm als möglich, kalt und stürmisch mit einem feuchttropfenden Regen, die häßliche Zugluft strich durch die ganze Wohnung, in der sich auch nicht ein ruhiger und gemüthlicher Raum fand, und Wahlborn blieb mit gefalteten Hände auf seiner Schwelle stehen, um die Verwüstung um sich her zu überschauen.

„Aber Heinrich,“ sagte seine Frau, doch etwas bestürzt, als ihr Gatte so unerwartet früh in die Wohnung trat, „ich habe geglaubt, Du würdest noch zwei Tage länger ausbleiben und mich dann schon darauf gefreut, daß Du Alles so sauber finden solltest.“

„Ja, mein liebes Kind,“ sagte ihr Gatte seufzend, „und ich hatte mich auf zu Hause und auf meine Gemüthlichkeit gefreut und – bitte liebe Frau,“ unterbrach er sich dabei, die Scheuernde anredend, „gießen Sie mir nicht den ganzen Eimer Wasser unter das Sopha, ich habe da unten meine abgelagerten Cigarren stehn – die werden wohl jetzt schon schwimmen. Und die Gardinen auch wieder herunter – aber bestes Herz, die sind ja erst vor kaum sechs Wochen gewaschen worden.“

„Ich sage Dir, sie sehen pechschwarz aus, Heinrich – das häßliche Cigarrenrauchen! Ich hätte mich ja schämen müssen, wenn jemand Fremdes zu Dir ins Zimmer kam.“

Wahlborn erwiderte Nichts, nur mit einem recht aus tiefer Brust herausgeholten Seufzer ging er zum Sopha, rückte dieses ab, und zog die darunter befindlichen Cigarrekisten, von denen die unteren allerdings schon im Wasser standen, hervor, um sie in Sicherheit und an einen trockenen Platz zu bringen. Endlich sagte er:

„Aber Sophie, Du kannst Dich hier auf den Tod erkälten – es zieht ja furchtbar. Wenn dies Unglück denn einmal geschehen mußte, so solltest Du Dich doch dabei keiner Gefahr aussetzen. Weshalb gehst Du nicht in Dein Zimmer?“

„Dort wird tapezirt, Schatz,“ sagte die Frau. „Die Tapete sah zu bös aus, und da Dein Geburtstag nächste Woche fällt, und wir die Eltern und einige Freunde an dem Tag einladen wollten, so mochte ich doch nicht, daß sie es in einem solchen Zustand träfen. Was suchst Du denn, Heinrich?“

„O Nichts, mein Kind,“ sagte ihr Gatte, „nur ein Buch, das ich hier liegen hatte, als ich fortging – es behandelt die Krankheit, mit der ich eben beschäftigt war, und ich möchte etwas nachlesen. Hast Du es nicht gesehen, oder vielleicht fortgestellt? Es muß hier gelegen haben, es war grün brochirt, in einem etwas defecten Zustand.“

„Ach ja, Heinrich,“ sagte die Frau und erröthete doch ein wenig, „es sah sehr bös aus, und ich habe es deshalb zum Buchbinder geschickt, damit Du es in Ordnung findest, wenn Du –“

„Heiland der Welt!“ rief der junge Arzt wirklich erschreckt aus, „das grün brochirte Buch, was hier auf meinem Schreibtisch gelegen, und in dem sich die zahlreichen Zettel und Notizen befanden, hast Du zum Buchbinder geschickt?“

„Aber es sah gar so entsetzlich aus, Heinrich, und fiel ja fast auseinander,“ sagte die junge Frau bestürzt.

„Dann schick’ nur augenblicklich eines der Mädchen hin und laß es wieder holen, wie es ist,“ sagte Wahlborn, der sich wirklich Mühe geben mußte, seine Fassung zu bewahren.

„Aber jetzt von der Arbeit. Heinrich? – es ist keine angezogen – hat es nicht Zeit bis heute Abend?“

Wahlborn hielt noch immer in der linken Hand die Reisetasche und hatte dabei die Unterlippe zwischen die Zähne genommen, aber er verbiß Alles, was ihm wohl auf dem Herzen lag, die Scheuerfrau brauchte überdies Nichts davon zu wisse, endlich sagte er:

„Ist vielleicht noch ein trockener Platz im Haus, liebes Kind, wohin Du mir die Reisetasche legen könntest? Ich werde selber zum Buchbinder gehn. Giebt es heute Mittag etwas zu essen?“

„Ach Gott ja, Heinrich,“ sagte die kleine Frau bestürzt, „aber nur kaltes Fleisch. Ich hatte ja gar nicht auf Dich gerechnet.“

Wahlborn pfiff leise und lächelnd vor sich hin, die ganze Sache fing an ihm komisch vorzukommen. Einen Blick warf er noch durch die übrigen Räume, aber es war nirgends ein Aufenthalt für ihn, und die ganze Wohnung schien im wahren Sinn des Worts „an die Luft gesetzt“. Er stieg die Treppe hinunter, um in irgend ein Hôtel zu gehen, und war dabei so in Gedanken, daß er selbst vergaß, seiner Frau einen Kuß zu geben, was dieser ein paar, wenn auch ganz kleine Thränen in die Augen trieb.

Vor allen Dingen holte er jetzt sein Buch wieder vom Buchbinder ab und rettete dabei wenigstens einen Theil der eingeschobenen Notizblätter, dann ging er in den Club, den er sonst gewöhnlich nur eine Stunde Nachmittags besuchte, um dort ein paar Zeitungen zu lesen. Zu Hause hatte er ja doch keinen Platz und in dem Drang, sich wenigstens mit etwas zu beschäftigen lernte er an dem Tage das Billardspiel, dessen Bewegung ihm behagte, wie er denn auch mit wirklichem Eifer daran ging, einige Geschicklichkeit im Spiel selber zu erwerben.

Heute, zum erste Mal seit ihrer Verheirathung, kehrte er auch erst um zehn Uhr nach Hause zurück und fand seine Frau in Thränen seiner harrend. Sie fühlte sich nicht wohl und wäre gern zu Bett gegangen, aber die Angst um ihn hatte sie, wie sie sagte, fast verzehrt, und er brauchte lange Zeit, bis er sie beruhigte.

Am nächsten Tage mußten aber die Arbeiten im Hause fortgesetzt werden, denn sie waren einmal begonnen und konnten doch nicht mitten darinnen liegen bleiben. Es wurde allerdings im Hause gekocht, aber in der Unordnung und mit den vielen fremden Menschen ringsumher war es kein Wunder, daß die Köchin nicht besonders damit zurecht kam. Die Suppe war versalzen und das Fleisch hart, und den Kaffee nach Tisch hatte sie in der Eile ein wenig zu rasch durchgegossen, so daß er eine Opalfarbe behielt und demgemäß auch schmeckte. Sophie aber mußte sich wirklich erkältet haben und das Bett hüten und Wahlborn einige seiner Patienten versäumen, um nicht das ganze Haus ohne Aufsicht und im Besitz von Handwerkern und Scheuerfrauen zu lassen.

Diese Art Leiden wiederholten sich allerdings mit der Zeit, [372] der Doctor fing aber doch an sich daran zu gewöhnen. Aendern konnte er Nichts an der Sache, soviel hatte ihn seine Erfahrung gelehrt, und Alles, was ihm übrig blieb, war, ihr soviel wie möglich aus dem Wege zu gehen. Freilich kam es ein wenig oft, und er fing dadurch an, sich an’s Wirthshaus zu gewöhnen, wo er jetzt schon regelmäßig eine Stunde Abends Billard spielte, aber auch das ließ er wieder sein, als ihm seine Frau, einige Wochen später, einen allerliebsten kleinen Knaben schenkte, der bald des Vaters ganze Lust und Freude wurde.

Eine Unannehmlichkeit war dabei; die Mutter wollte anfangs das Kind selber stillen, hielt es aber nicht aus, und eine Amme mußte angenommen werden, während sie schon zum dritten Mal, im Lauf von anderthalb Jahren, mit den Dienstboten gewechselt und deshalb fast immer fremde Menschen um sich hatte. Sophie’s Charakter war nicht streitsüchtig, und sie würde wissentlich kein Kind gekränkt haben, aber – sie sah strict auf Ordnung, und die geringste und unbedeutendste Kleinigkeit konnte sie so aufregen, daß es eine Scene mit den Dienstboten gab, die Wahlborn selber vergebens abzuwenden suchte. Gute Mädchen ließen sich das dann natürlich nicht gefallen; die Folge war, daß sie den Dienst kündigten, und in die Wirthschaft mußten dann immer und immer wieder neue eingelernt werden, wodurch der Hausherr natürlich manche seiner kleinen Bequemlichkeiten, wenn nicht ganz einbüßte, doch von Zeit zu Zeit suspendirt sah.

Wahlborn hatte sich in dem letzten Jahr besonders der schriftstellerischen Thätigkeit, soweit dieselbe sein Fach betraf, zugewandt und die Redaction der einen medicinischen Zeitschrift ganz übernommen. Damit vertrug sich aber nicht mehr das Aufräumen in seinem Zimmer, in dem eine Masse kleiner Papierstreifen oft wichtige Notizen enthielten und jedesmal der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt waren, sobald eines der Mädchen den Raum betrat. Er war deshalb genöthigt sein Studirzimmer, sobald er ausging, zuzuschließen und den Schlüssel mitzunehmen, und fing dadurch selber an etwas unordentlicher in seinen Sachen zu werden. Er wußte sein Heiligthum gesichert, so lange er abwesend war, und kehrte er zurück, so konnte er schon selber aufräumen, – aber seine Frau fand sich dadurch gekränkt und – ließ es ihn fühlen.

Sophie war, wie gesagt, eine brave Frau und eine gute Mutter, aber auch ebenso von Jugend auf ein kleinliches, sich nur mit den unbedeutendsten Dingen beschädigendes Leben gewohnt gewesen und konnte sich davon nicht losreißen, so oft und herzlich ihr Gatte sie auch deshalb bat – und das gab leider oft Anlaß zu kleinen Mißhelligkeiten, die nur dadurch Bedeutung gewannen, daß sie so häufig wiederkehrten.

Er saß heute wieder, nachdem er die nothwendigsten Besuche abgestattet, mit einer höchst schwierigen Arbeit beschäftigt, in seinem Zimmer und hatte eine Masse von Büchern um sich her aufgeschlagen liegen, aus denen er Beweise für eine neubeobachtete Heilmethode zusammenstellte. Draußen, in und vor der Küche war es wieder eine Weile, und schon fast eine halbe Stunde lang, ziemlich lebhaft hergegangen, und er unterschied dabei deutlich die Stimme seiner Frau, die mit dem einen Mädchen zankte. Er wollte nicht darauf hören, aber er mußte doch immer wieder hinhorchen – und wie oft hatte er seine Frau schon gebeten, das laute Sprechen auf dem Gang draußen und vor der Küche zu vermeiden, wenn er gerade zu Haus und beschäftigt wäre. Er war schon ein paar Mal im Begriff gewesen hinauszugehen und die Ruhe herzustellen, er mochte sich aber auch nicht gern in die häuslichen Streitigkeiten mischen, denn er bekam so schon mehr davon zu hören, als ihn manchmal freute. Arbeiten konnte er aber in der Zeit, und so lange der Zank draußen dauerte, auch nicht, und er ging eine Weile mit auf den Rücken gelegten Händen in seinem Zimmer auf und ab.

Endlich wurde es still draußen, und mit einem leise gemurmelten „Gott sei Dank“ griff er sein verlassenes Studium wieder auf. Da öffnete sich, wie er sich kaum ein Wenig hineingearbeitet, die Thür, und seine Frau kam mit gerötheten Wangen und blitzenden Augen herein. Sie war allerdings jetzt vollkommen ruhig, aber man sah ihr doch an, daß und wie sie sich vorher geärgert hatte, und auf den nächsten Stuhl niedersinkend, sagte sie:

„Das ist wahrhaftig kaum noch zum Aushalten mit den Mädchen. Heinrich – denke Dir, jetzt hat die Kathrine schon wieder den Griff von der neuen Porcellan-Butterdose heruntergeschlagen, und wir hatten sie kaum erst drei Tage in Gebrauch.“

„Mein liebes Herz,“ sagte der Doctor vollkommen ruhig, „ich habe Dich schon mehrmals gebeten, keine solche Butterdose wieder zu kaufen, die Griffe brechen jedesmal ab. Aber ich stecke augenblicklich gerade so in meiner Arbeit ...“

„Und sie widerspricht immer,“ fuhr die kleine Frau in ihrer Erregung fort. „Denke Dir nur, sie hat die Unverschämtheit, mir zu sagen, daß ich eben so viel zerbrechen würde, wenn ich die Sachen immer unter Händen und alle Tage aufzuwaschen hätte.“

„Und hat sie da nicht vielleicht Recht?“

„Du vertheidigst sie auch noch, nicht wahr? Aber ich habe es auch nun satt und ihr eben gekündigt.“

„Das thut mir sehr leid,“ sagte Wahlborn seufzend, „denn die Katharine kocht wirklich recht gut und hat mir besonders immer einen trinkbaren Kaffee gemacht.“

„Ich mag auch das ewige Klatschen im Hause nicht leiden,“ fuhr Sophie, ohne darauf zu achten, fort. „Denke Dir nur, Regierungsraths Mädchen oben hat neulich unserer Caroline erzählt, daß die Katharine ihr gesagt hätte, wir zahlten drei Mal so viel für Wäsche als ihre frühere Herrschaft. Und wenn es wäre, so ist das doch immer nur ein Beweis, daß wir uns reinlicher halten.“

„Aber liebes Herz,“ sagte Wahlborn, der bis dahin wie auf Kohlen gesessen hatte, „wie oft habe ich Dich gebeten, mich mit derartigem Mädchenklatsch zu verschonen, noch dazu. wenn ich so beschäftigt bin wie gerade in diesem Augenblick. Auch das Unglück mit der Butterdose erfuhr ich ja doch heute Abend noch zeitig genug, wenn ich es überhaupt wissen mußte.“

„Aber ich mag Dir sagen was ich will,“ sagte die junge Frau piquirt, „es interessirt Dich nicht, und wen anders habe ich als Dich, um mich mit ihm über meinen Hausstand zu besprechen“

„Aber wenn ich in voller Arbeit sitze, liebes Kind! Du siehst, wie ich hier beschäftigt bin, und schon der Lärm draußen hat mich seit langer Zeit gestört.“

„Aber Heinrich, Du bist wirklich häßlich – so wirf mich doch nur lieber gleich heraus – wenn ich das Mädchen auszanken muß, kann ich doch nicht flüstern.“

Wahlborn seufzte und machte einen Versuch irgend etwas in dem einen Buch nachzuschlagen, aber er hatte total vergessen, was er brauchte, und konnte nun jetzt noch einmal von vorne anfangen.

„Und was ich Dir noch sagen wollte,“ fuhr Sophie fort, die indessen ihrem eigenen Ideengang gefolgt war, „das Schloß an der Speisekammerthür müssen wir auch ändern lassen – die Katharine hat neulich, wie sie behauptet, den einen Schlüssel verlegt und kann ihn nicht wiederfinden, und wenn ich auch noch einen zweiten habe, so bin ich doch nicht sicher, daß der verlorene in falsche Hände geräth, und mit offener Speisekammer mag ich nicht dasitzen.“

„Aber liebes Herz,“ sagte Wahlborn, der anfing ungeduldig zu werden, „deshalb brauchst Du mich doch nicht zu fragen. Ich kann das Schloß nicht ändern, weshalb schickst Du nicht einfach zum Schlosser hinüber? Ich stecke gerade jetzt in einer recht schwierigen Arbeit, die meine ganze Aufmerksamkeit erfordert.“

„Ich werde Dich nicht wieder belästigen,“ sagte die junge Frau, jetzt wirklich gekränkt, „denn ich sehe, daß ich Dir hier zur Last bin – früher war das nicht so“ – und ihr Tuch an die Augen drückend, stand sie auf und verließ rasch das Zimmer.

Wahlborn machte eine Bewegung, als ob er ihr folgen wolle – er mochte sie ja nicht kränken, aber er war auch ärgerlich geworden, denn jeden Tag wiederholte sich dasselbe. Der geringsten Kleinigkeit wegen wurde er um Rath gefragt oder mußte es wenigstens anhören und verlor dadurch nicht allein seine Zeit, sondern wurde auch aus seinem ganzen Gedankengange herausgerissen. Er blieb sitzen und hatte sich bald wieder in seine Arbeit so vertieft, daß er gar nichts weiter um sich her sah oder hörte.

Jahre vergingen und die Verhältnisse im Wahlborn’schen Haus verbesserten sich nicht, sondern wurden eher noch schlimmer.

Sophie Wahlborn war, was tausend Menschen das Muster einer Hausfrau nennen würden, unermüdlich fleißig, reinlich bis [373] zum Aeußersten in ihrer Wirthschaft, eine vortreffliche Mutter ihrer Kinder, dabei weder vergnügungs- noch putzsüchtig und von Herzen seelensgut, aber von diesen kleinlichen Kleinigkeiten ließ sie nicht. Ihre Wirthschaft und Häuslichkeit galt ihr die Welt, aber so schön und lobenswert das in einer Hinsicht sein mag, so kann es auch zu einem Fehler werden, wenn es ausartet. Die Häuslichkeit soll dazu dienen es uns behaglich zu machen, aber nicht uns den Zwang aufzulegen sie immer nur „in Gang“ zu halten.

Nichts konnte regelmäßiger gehen als die Arbeiten im Wahlborn’schen Haus, aber sie wurden auch durch Nichts regulirt als durch ein unverrückbares Räderwerk, das nur vorsichtig benutzt sein wollte, oder sonst Alles in seine Zähne hineinzog. Eine Aenderung irgend einem der Mitglieder zu Liebe schien nicht denkbar. War Wäsche angesetzt – und gewaschen wurde eigentlich permanent – so hatte der Doctor von den zahlreichen in seinem Dienst befindlichen Leuten auch nicht eine einzige Seele zur Verfügung, um sie nur einen Weg auszuschicken. Einen Freund einmal mit zum Essen nach Hause zu bringen, daran dachte er schon gar nicht mehr, denn es paßte nie, und wollte er wirklich einmal etwas über Tag mit seiner Frau besprechen, so war sie entweder in der Küche oder im Waschhaus oder zog gerade die Kinder an und bat ihn, nur noch eine halbe Stunde zu warten. Er konnte auch fast gar nicht mehr mit ihr allein sein, denn jetzt, wo die Kinder wirklich mehr Arbeit machten, gab es keinen Tag, wo nicht wenigstens eine Näherin beschäftigt wurde, und da Sophie auch mit den Jahren und durch ein paar Krankheiten geschwächt, reizbarer zu werden schien, wechselten die Dienstboten regelmäßig alle drei Monate, so daß er selber stets fremde Gesichter um sich hatte.

Alles wurde dabei unter festem Verschluß gehalten. War seine Frau ausgegangen und Wahlborn verlangte das Geringste aus der Wirthschaft, so starrten ihm überall verschlossene Thüren entgegen und er fühlte sich zuletzt im eigenen Hause nicht mehr daheim.

Seine pecuniären Verhältnisse hatten sich durch eine ziemlich bedeutende Erbschaft sehr gebessert; er gab seine Praxis fast ganz auf und widmete sich allein seinem medicinischen Journal und seinen Studien, aber er arbeitete jetzt nur noch Morgens. Die Nachmittage verbrachte er theils auf der Bibliothek, theils mit Freunden, die Abende im Club, wo er jetzt als einer der besten und eifrigsten Lhombrespieler galt. Daß er sich dadurch seinem eigenen Hause fast vollständig entfremdete, läßt sich denken, und wie er seine Frau früher von ganzer Seele geliebt, so wurde er mit den Jahren mehr und mehr gleichgültig gegen sie.

Sophie konnte das natürlich nicht entgehen und sie fühlte sich in diesem Zustand unglücklich. Sie war sich bewußt, ihren Pflichten gegen den Gatten treu und aufrichtig nachgekommen zu sein. Ihre Wirthschaft befand sich in musterhafter Ordnung, ihre Kinder waren gut erzogen, und sie selber lebte und schaffte ja nur für ihre eigene Heimath – wodurch denn hatte sie sich des Mannes Herz entfremdet.

Sie sprach mit ihrer Mutter darüber, aber diese schüttelte den Kopf und meinte: „Das sei das alte Leiden der Jetztzeit – früher wäre das besser gewesen, und wie sie sich verheirathet habe, sei ihr Mann fast gar nicht aus dem Haus gegangen, dann aber habe er es ebenso gemacht, denn das Wirthshausleben verderbe die Männer und das Bier ebenfalls. Sophie solle sich deshalb nur keine Sorgen machen, sie könne die Welt nun doch einmal nicht ändern“

Und worin lag wirklich der Grund dieser Disharmonie zwischen zwei Wesen, die von Anfang an einander herzlich lieb gehabt und nie etwas gethan hatten, um sich gegenseitig zu betrüben und die sich nun fremd gegenüber standen? Wir finden es, wohin wir schauen, bald in dieser, bald in jener Form, und wohl tragen oft beide Theile die Schuld, in gar nicht so seltenen Fällen, wie auch hier, vorzugsweise die Frau.

Wirthschaftlich sein ist eine der Haupttugenden der Frau, und sie kann dem Mann dadurch die Heimath zum Paradiese schaffen – das wirthschaftliche Leben muß aber dabei das Mittel, nicht der Zweck sein. Es muß sich nicht Alles einzig und allein um die Wirthschaft drehen, oder die häuslichen Arbeiten dienen nicht dazu, uns das Leben behaglich zu machen, sondern sie legen uns in unangenehme Ketten die der Mann dann mit der Zeit versucht abzuschütteln oder denen er wenigstens, so oft wie möglich, aus dem Wege geht.

Sophie hatte nur den einen Fehler – sie war eben „zu wirthschaftlich“.




Johann Albert Gottlieb Methfessel.

Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall.
Von Friedrich Hofmann.

So nennt denn dasselbe Städtlein Dreierlei sein eigen, das kein anderer Ort ihm nachthut in allen Thüringer Landen; es rühmt sich des größten Marktplatzes, der höchsten Brücke und der ältesten Nachtigall. Was den Marktplatz betrifft, so können wir es dem ungläubigen Leser billig überlassen, sich über dessen Größe selbst die beruhigende Gewißheit zu verschaffen. dagegen ist es eine Angabe untadeliger Fachmänner, nach welcher die Höhe der Brücke genau zwölfhundertundachtzehn Fuß (über der Meeresfläche) beträgt [374] denn ihr kühner Bogen verbindet die Glockenstuben der beiden mächtigen Thürme der Stadtkirche byzantinisch-gothischen Andenkens. Und an dem Alter der Nachtigall hat gleichfalls Niemand ein Recht zu zweifeln, da selbige am sechsten October 1784 geboren war, demnach am selben Datum dieses laufenden Jahres ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert haben würde, wenn sie nicht schon am 23. März gestorben wäre.

Das Städtlein heißt aber Stadtilm und die Nachtigall hieß Johann Albert Gottlieb Methfessel.

Es war schon in der Kindheit dieses Thüringer Vogels Sitte, daß, wie die Alten sungen, so zwitscherten auch die Jungen, ferner daß, was ein Häkelein werden wollte, sich bei Zeiten bog. Um für diese weisen Lehren ein gutes Beispiel zu finden, werfen wir einen Blick in des Stadt-Cantors Wohnung. Wir können’s zum Fenster hinein besorgen, weil das Stübchen zu ebener Erde liegt. Da sitzen am Mittagstisch und zum Theil auf Bänken, wie sie in der Schul stehen, um das Elternpaar herum wohl an ein Dutzend Kinderlein, und zwar, wie sich's für einen gerechten Cantor und Organisten geziemt, wie die Orgelpfeifen. Und der Vater gebeut: „Albert, bete!“

Mit gefalteten Händchen und wohllautender Stimme hebt der Knabe seinen langen Spruch an, kommt auch geläufig damit zu Ende und hat nur noch das Vaterunser daran zu fügen, so ist er fertig. Immer begehrlicher haftet aber sein Auge an seinem Leibgericht, dem Milchreis in der großen Schüssel. Da steht er an der Bitte: „Unser täglich Brod gieb uns heute“, – und so wenig Falsch ist in dem braven Jungen, daß er den lieben Gott nicht belügen kann, nein, er betet ehrlich heraus, wie es ihm sein Herz dictirt: „Unser heutiges Brod gieb uns täglich!“ –

Der Schlag von alten Cantoren, wie sie damals wohl auch anderwärts, insbesondere aber in Thüringen daheim waren, ist nahezu ausgegangen. Sie waren es, die den ganzen Wald musikalisch stimmten, nicht die vielen fürstlichen Capellen allein, wie vornehme Hof- und Kammerschreiber dafür halten wollen. Daß der ganze Wald noch heute klingt und singt, das haben diese alten Cantoren gethan, die ja alle zugleich als Schulmeister ihr Stück Arbeit mit den lieben Augäpfeln des Volks hatten; aus diesen aber zogen sie die Kräfte für die Soli und Chöre ihrer Kirchenmusiken empor, die ja von je als der Cantoren höchster Triumph anerkannt worden sind. Wer sah es dem Manne nicht auf hundert Schritte an, daß er Bakel und Tactirstab in derselben gewaltigen Faust hielt? daß sein majestätischer Blick Heere von Noten und Schaaren von Kindern – Noten- und Kinderköpfe mit gleicher Strenge und Gewissenhaftigkeit – zu beherrschen gewohnt war? Alles, auch die häusliche Sprache, nahm musikalisches Gewand an; an des Vaters Antlitz lernten die Kinder, was Harmonie und Dissonanz, was Dur und Moll, Piano und Fortissimo zu bedeuten habe, und wenn die Mutter ihm den Abendtrunk aus dem großen Steinkrug in ein Glas einschenken wollte, war es ein wohlverstandenes Wort, wenn er sprach: „Nein, liebe Alte, gieb mir nur gleich die Partitur her.“ –

Vor Allem gehörte aber Das zum Unterschied zwischen Damals und Jetzt, daß für jene alten Cantoren und Organisten die Musik etwas so Erhabenes war, wie die Andacht und das Gebet, deren Werth sie auch nicht nach Geld abschätzten. Die Musik war ihre Liebe, ihre Freude, ihr Trost, ihr Stolz, ihre Gesundheit, ihr Glück. Wo hätte ein solcher Alter je geklagt: „Meine musikalischen Leistungen werden mir zu schlecht bezahlt“? – Was ihm schlecht bezahlt wurde, konnte nur die Schulmeisterei sein: die Musik war sein Ehrenamt, sein Ehrenkleid, und was Werkeltags in der Schule gesungen und musicirt wurde, erschien seinem Auge nur als ein schmückender Saum am Alltagsrock. – Und eben darum, weil die Frau Musica des Vaters Herzallerliebste war, so ging ihm auch Nichts über die Sorge, seine Kinder sammt und sonders und möglichst frühzeitig in den Dienst seiner Madonna einzuweihen. Aus den Cantorenhäusern sind der deutschen Tonkunst ihre größten Meister hervorgegangen. – Jetzt ist’s freilich damit anders, die Berufsbezeichnung wird zugleich als eine billige Art von Belohnung benutzt; denn wenn ein armer Dorfschullehrer sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum begeht, folglich so alt ist, daß er nicht mehr singen kann, so erhält er den Titel „Cantor“.

Auch unsere Nachtigall hat zuerst in einem solchen Thüringer Waldhäuschen gezwitschert. Von den Söhnen des alten Cantors Methfessel verriethen der älteste, Friedrich, und unser Albert ungewöhnliche Begabung für Musik. Es müßten freilich sehr alte Leute sein, die es gesehen hätten, aber von Hörensagen wissen’s Viele im Städtchen, was für ein rührendes Bild es gewesen, wenn der Vater mit dem Söhnchen auf dem Schooß auf der Orgelbank saß und Beide gemeinsam die Claviatur bearbeiteten. Albert’s Händchen verrichteten auf dem Manual, was sie eben ermachen konnten; das ihm Unmögliche besorgte Papa. Und fest sitzen mußte der kleine Reiter, mit gutem Schluß um des Vaters Knie, denn es durfte ihm Aug’ und Hand nicht beirren, wenn der Fuß des betreffenden väterlichen Beines auf dem Pedal das Seine that. Auch ein tüchtiger Sänger ward Albert schon als Knabe, und selbst die landüblichen Saiteninstrumente hingen für ihn nicht vergeblich an der Wand der Stadtilmer Cantorei; insbesondere hatte er es auf der Guitarre später zu hoher Meisterschaft gebracht. Schon im zwölften Jahre versuchte er sich in der Composition, und natürlich waren es Kirchenmusikstücke, zu denen sich der junge Geist kühn emporschwang, und die der Vater in der großen Kirche selbst aufführen ließ. Das Gefühl dieser Stunden soll einmal Jemand nachempfinden! – Außerdem war in dieser Stadtilmer Knabenzeit ihm noch das Denkwürdige widerfahren, daß die einzige, aber ungeheuere Ohrfeige, welche er von seinem Vater wegen unbefugten Rosenblätterrauchens aus einer alten abgelegten väterlichen Tabakspfeife erhalten, ihn für sein ganzes Leben zum abgesagten Rauchfeind machte.

Nach den Kirchenmusiken der zweite Stolz der alten Cantoren war – ein Sohn als Pfarrherr. Sie ließen sich’s sauer werden um die Erfüllung dieses Wunsches. Dem Cantor Methfessel ging’s aber übel damit. Schon hatte er die schweren Kosten des Studirens an seinen Sohn Friedrich gewendet, der 1796 endlich als Hauslehrer ihm aus dem Brod gekommen war, aber gleich darauf die Theologie mit der Hauslehrerstelle an denselben Nagel hing und sich ausschließlich der geliebten Musik zuwandte. Dafür sollte nun Albert die Kanzelehre des Hauses sichern, und zu diesem Behufe bezog er nach der Confirmation das Gymnasium zu Rudolstadt. Während nun Friedrich von seinem musikalischen Zugvogelleben nacheinander nach Alsbach, Rhena, Ratzeburg, Probstzella, Saalfeld, Koburg und Eisenach geführt wurde und nach und nach vierzehn Liedersammlungen herausgab, die den Vater so mit ihm versöhnten, daß er wieder nach Stadtilm zurückkehrte, flatterte auch Albert zu Rudolstadt in den bezaubernden Netzen der Musik. Nicht nur die treffliche fürstliche Capelle trug dazu bei, sondern auch der öffentliche Singchor, dem er sogleich beigetreten und dessen Präfect er später drei Jahre lang war. Solche Singchöre bestanden früher in den meisten Städten mit Gymnasien, welch’ letztere Baß und Tenor stellten, während die Rathsschulen die Alt- und Discantstimmen dazu lieferten. Diese „vollständigen Chöre“ hatten gegen die Verpflichtung, an hohen Feiertagen bei den Thurm- und Kirchenmusiken mitzuwirken, das Recht, wöchentlich zwei Mal auf den Straßen und bei „halben und ganzen Leichen“[2] um bestimmte Bezahlung zu singen. Ich weiß das sehr genau, denn ich selbst war mehrere Jahre Subpräfect und endlich sogar Präfect des Chors in Koburg und habe in den Straßen und auf dem Gottesacker meiner Vaterstadt mit meinem Chor viele hundert Male gesungen für die Lebendigen und für die Todten.

Mein College Methfessel war freilich ein anderer Präfect, als ich, denn er stattete die Singbücher seines Chors mit vielen selbstcomponirten Liedern, Motetten und Cantaten aus. Dazu sang er selbst wunderschön, war der liebenswürdigste Camerad und wegen seiner stets sorgsamen, netten äußern Haltung auch in den Familien bis zuhöchst hinauf gern gesehen. Trotz alledem lernte er brav, ward besonders ein fester Lateiner für’s ganze Leben und konnte schon 1807 mit voller Reife die Universität beziehen.

Es ist anzunehmen, daß er es in Leipzig anfangs redlich mit der Theologie meinte, schon seinem Vater zu Liebe, den damals der harte Schlag getroffen, daß seinen Sohn Friedrich im schönsten Mai und mitten aus der Composition einer großen Oper „Doctor Faustus“ der Tod abholte. Daß aber auch die Musik als heimliche Geliebte viel gefährlicher ist, wie als offenbar Verlobte, zeigte sich schon nach einem Jahr: auch Albert benutzte den Nagel, an welchen sein Bruder die Theologie gehangen hatte, und warf sich mit Leib und Seele Frau Musica in die Arme. Es [375] that nicht länger anders gut, der Melodienstrom drang mächtiger aus der jungen Seele heraus, als die Dogmatik hinein, das von je sang- und klangvolle Leipzig that das Uebrige und zum schönsten Glück winkte ihm noch die Fürstin von Rudolstadt, sich lieber für die Stellung ihres Kammersängers, als ihres Hofpredigers, vorzubereiten. Von dieser seiner huldvollen Gönnerin unterstützt, genoß er in Dresden den Unterricht des berühmten Kammersängers Francesco Ceccarelli aus Foligno, bis er selbst als ein solcher mit dem Jahre 1810 in Rudolstadt einziehen konnte.

Das Saalthal von Rudolstadt ist wegen seiner Anmuth bekannt; hat es doch unsern ernsten Schiller bis zum Verlieben und Verloben entzückt. Methfessel verwandelte es in ein musikalisches Wonnemeer, in welchem er fröhlich und frei über alle Thüringer Berge und Thäler schwamm. Nur ein Mal wäre er beinahe eingefangen worden, und zwar – seines Titels wegen! Es war just zur Rheinbundszeit, als Methfessel auf einem musikalischen Ausflug vor Hildburghausen ankam. Da das Bataillon im napoleonischen Dienst auswärts war, so stand die Land-Miliz Wache. Ein Mann mit der sogenannten Salzmetze dieser Truppe auf dem Kopf fragte am Thor unsern Wanderer nach Namen und Stand! „Methfessel, Kammersänger aus Rudolstadt,“ lautet die Antwort. – „Kammersänger?“ wiederholt der Mann; so was ist ihm noch nicht vorgekommen. Er ruft den Corporal, der das Verhör wiederholt. Dieselbe Antwort, dasselbe Staunen. „Was? Kammersänger? Ihne wolln mr die Späßle vertreib’! Marsch auf die Schloßwach’!“ commandirt der Corporal. Während sich aber die nöthige Begleitungsmannschaft aufstellt, überlegt er sich doch die Sache noch einmal. Mit großen Schritten auf und abgehend murmelt er: „Kammerdiener, Kammerhusar, Kammerjungfer, Kammerjäger, Kammermusicus – Kammersänger“ – und „Jo jo – me hattere – es gittere doch!“ (Ja ja, man hat deren, es giebt deren doch) ausrufend, entläßt er die Miliz und gestattet dem wie ein Kobold lachenden Methfessel seinen Einzug in Hildburghausen.

In Rudolstadt war es auch, wo die große Zeit der deutschen Erhebung ihn selbst zum ewig unvergänglichen Theil seines Kunstwirkens erhob: zu jenem Liederschatz, welcher, wie der deutsche Student nirgend in der Welt seines Gleichen hat, ebenso unser alleiniges Ureigenthum ist: das deutsche Commersbuch, das sich von allen anderen Gesang- oder Liederbüchern geistlicher und weltlicher Art so gründlich unterscheidet, wie sein Titel es gründlich bezeichnet. Nur wer weiß, was ein „Commers“ zu bedeuten hat, weiß das große Verdienst zu würdigen, welches Methfessel durch dieses „Commersbuch“ sich nicht blos um die gesammte deutsche Studentenwelt, sondern auch um dasjenige Philisterium erworben hat, welches aus bemoosten Häuptern besteht. Die ewige Jugend mit ihrer Vaterlands- und Freiheitsliebe, ihrer Liebeslust und Freundschaftsbegeisterung, ihrer Ehrenverfechtung bis zu dem tollsten Humor des Trinkgelags, dies Alles klingt und singt aus dem Buch heraus und selbst noch im ältesten Herzen wider. Methfessel selbst nennt sein Commersbuch (Vorrede zur fünften Auflage) „eine Frucht der deutschen Burschenschaft in Jena, jenes merkwürdigen, unvergeßlichen Vereins, mit dessen hervorragendsten Führern, Wesselhöft, v. Binzer, Horn, Riemann und Möller mich innige Freundschaft verband“.

Damals herrschte in jeder Beziehung noch Wahrheit im Lied. Man sang nicht blos um zu singen, sondern man verlangte einen innern Grund dazu und für die jeweilige Veranlassung das angemessene Wort. In einer verräucherten Kneipe oder im gasstrahlenden Concertsaal vierstimmig den „deutschen Wald hoch dort droben“ anzustimmen, – das war unseren Tagen vorbehalten. Jetzt singt man „Hinaus in die Ferne!“ und rührt sich nicht vom Platz dabei. Als Methfessel dieses sein Dicht- und Tonwerk zum ersten Male sang, schritt er mit der Guitarre im Arm den „Freiwilligen“ voran, welche aus Rudolstadt in den Befreiungskrieg zogen.

Es war eben eine jugendlichere Zeit. Wir müssen als Zeugen dafür Spohr’s Selbstbiographie citiren welche Folgendes erzählt: Im Frühling 1818 wanderten fünf Männer von honnettem Aeußern mit dem Ränzel auf dem Rücken die Bergstraße hinauf über Heidelberg zum Mannheimer Musikfest: es waren Spohr und Methfessel mit drei Thüringer Freunden. Methfessel hatte die Guitarre an der Seite hängen, und jeder der drei Thüringer trug ein Waldhorn auf dem Ranzen. Wo sie durch ein Dorf oder Städtchen kamen, da bliesen sie, spielten und sangen, von einem Schweife jubelnder Zuhörer gefolgt, stiegen auf die Burgen, ließen sich Essen und Trinken hinaufbringen und ihre Rundgesänge und Hornfanfaren in das weite blühende Land hinaustönen. Auf dem Heidelberger Schlosse, wo Methfessel besonders durch seine komischen Lieder ergötzte, die er meisterhaft zur Guitarre sang, wurden sie erkannt und von einer Deputation des Heidelberger Gesangvereins eingeladen, die Neckarfahrt nach Mannheim auf dem festlich geschmückten Schiffe des Vereins mitzumachen. Da begannen dann die fünf Wanderer ihr Blasen und Singen aufs Neue, bis sie in Mannheim landeten und dort als Ehrengäste begrüßt wurden. ‚Ja sogar eine Wohnung in einem Privathause wurde mir angetragen‘ fügt Spohr hinzu. Er lehnte aber dankend ab und schlief mit seinen Freunden auf der Streu, weil es in den überfüllten Wirthshäusern keine Betten mehr gab. – „Dies,“ so bemerkt hierzu Riehl in seiner wohlthuenden Charakteristik des Alten, „war in derselben Zeit, wo Spohr nach dem Erscheinen des Faust und der Zemire auf der Höhe seines Ruhms stand und Methfessel seiner größten Popularität sich erfreute. Wie anders pflegen jetzt unsere gefeierten Componisten zu den Musikfesten zu reisen! Sie können darum wohl noch Lieder vom Wandern singen, aber kein Lied, welches jeder Wanderer singt.“

Troubadourfahrten, wie die erzählte, ferner die mit dem Clarinettvirtuosen Joh. Sim. Hermstedt aus Langensalza, die durch gemeinsame Aufführung der von Methfessel componirten Stücke für Clarinette und Guitarre ein Triumphzug für Beide wurde, eine Rheinreise und Zusammenkünfte mit Spohr, Romberg, Weber mochten ihm endlich das Rudolstädter Leben zu engbegrenzt erscheinen lassen. Zwar wies er, auf Bitten des Hofs, einen Ruf als Operndirector in Prag zurück, konnte aber einige Jahre später einer Einladung nach Hamburg um so weniger widerstehen. Die Glanzpunkte seines Hamburger Lebens waren die Gründung der ersten Liedertafel Norddeutschlands und – in demselben Jahre, 1825 – sein gemeinsames Auftreten mit „Deutschlands erstem Improvisator“, das ich in dem Artikel mit dieser Ueberschrift (Jahrgang 1867, Seite 809) bereits geschildert habe.

O. L. B. Wolff und Methfessel – welche Schicksalsgenossen! Zu Freudenbringern geboren, Beide ausgestattet mit herzengewinnender, geistiger und körperlicher Anmuth, Beide hoch begabt für die seltene Kunst augenblicklichen Producirens und mit redlichem Fleiß jeder in hohem Grade ausgebildet in seiner Kunst – welch’ irdisches Glück mußte, bei kluger Benutzung solcher schafferüstigen Kraft, Beiden zum Schutz für ein sorgenfreies Alter sich ansammeln! Aber freilich – vom Dichten und vom Trachten erfordert jedes eine ganze Seele für sich, und darum ist der Poetenseufzer so gerecht:

Ihr Trachter in Ehren,
Uns Dichtern auch wären
Die sorgenumnachteten
Augen zu lichten,
Wenn die für uns trachteten,
Für die wir dichten.

Da Beide dem Troubadourleben ihre Zukunft nicht anvertrauen mochten, so griffen Beide nach dem noch jetzt sogenannten „sicheren Brod“ einer Anstellung. Zur selben Zeit (1832), wo Wolff nach Jena zog, um dort nach wenigen Jahren öffentlicher Ehre und häuslichen Glücks nach und nach zu verkümmern, ging Methfessel als Hof-Capellmeister nach Braunschweig und dort einem schließlich nicht besseren Schicksal entgegen.

Methfessel’s Tüchtigkeit in seinen musikalischen Leistungen steht für uns außer Zweifel, seine Thätigkeit als Operndirigent fand Anerkennung und seine Compositionen, namentlich für Männergesang, dem bis zu seinem Ende sein ganzer Geist gehörte, haben seinen Namen nicht aus dem Gedächtniß der Zeitgenossen verschwinden lassen. Damit können wir hier abschließen, um ungestört den Mann selbst noch ein wenig zu genießen.

Auch sein äußeres Leben gestaltete sich freundlich; er fand an der jugendlichen Sängerin Louise Emilie Lehmann eine in Liebenswürdigkeit mit ihm wetteifernde Gattin, die ihn mit zwei Töchtern beschenkte. Aber viel zu kurz war die reine Freude: schon im Jahre 1842 nöthigte ihn ein schweres Gehörleiden zur Niederlegung seines Amtes; eine geringe Pension trat an die Stelle der bisherigen Einnahme. Sein Fleiß und Ruf brachte wohl etwas [376] Gleichgewicht für den Ausfall, die Sorge war im Kampf mit dem heiteren Lebensgeist dennoch oft genug siegreich, und der unverwüstliche Humor hatte dann einen harten Stand in der sonst so hellen Seele. Da traf ihn (am 14. Mai 1854) der schwerste Schlag seines Lebens, der Tod seiner Gattin. Von den Jahren, die diesem Unglück folgten, gehören viele zu den recht freudenlosen des greisen Mannes, namentlich seitdem zu dem Gehörleiden noch eine Augenschwäche sich gesellte, die endlich in den grauen Staar überging. Weder recht hören, noch recht sehen können bei der Lebhaftigkeit des Geistes und der Gesundheit des Körpers, wie Methfessel Beides genoß, wahrlich, das will ertragen sein!

Eine Tugend Methfessel’s, welche den Leuten der auf Tact und Maß so streng angewiesenen Tonkunst sehr nahe liegen sollte und dennoch dem Musikantenblut so schwer fällt, war die Regelmaßigkeit und Mäßigkeit seines Lebens, mit welcher allerdings ein sichtliches Sträuben gegen das Altwerden und Altaussehen gleichen Schritt hielt. Mittags liebte er einen guten Tisch und wo möglich auch fröhliche Gesellschaft, weshalb der daheim Vereinsamte es vorzog, im „Wiener Hofe“ zu essen, wo er natürlich mit Aufmerksamkeit behandelt und bald für alle Fremden durch seinen sprudelnden Humor, seinen unerschöpflichen Anekdotenreichthum und seine Liebenswürdigkeit, besonders gegen die Damen, ein Gegenstand der Bewunderung wurde.

Sein Gang war im Alter langsam, aber ausdauernd, und er ging gern allein, obwohl dies wegen seines Gesichts- und Gehörmangels nicht immer ohne Gefahr für ihn blieb. Beim Bahnhof in Braunschweig war er einst nahe daran, unter einen Wagen zu kommen. Die ersten Glückwünschenden tröstete er damals über den kleinen Schrecken mit der Bemerkung: „Der alte Methfessel wird jetzt so oft übergangen, daß er zur Abwechselung auch einmal überfahren werden kann.“

Er arbeitete, soweit es seine Augen gestatteten, jeden Tag, componirte fort bis an’s Ende und war in der Korrespondenz ebenso unermüdlich als ungeduldig. Als ich ihm einmal in einer gar nicht so dringenden Sache nicht sofort antwortete, erhielt ich in drei Tagen noch fünf Briefe von ihm. Ueber die Photographie zu dem Porträt, welches die Gartenlaube heute von ihm mittheilt, schrieb er mir: „Sehen Sie sich ’mal das Bild genau an; es ist so ähnlich, daß mir einst ein Freund sagte, es sei noch ähnlicher als ich!“ Der Schluß eines seiner letzten Briefe lautete: „Die Mittheilungen, welche ich jetzt bearbeite, nenne ich ‚Erinnerungen, Lebensbilder und Reiseskizzen von Albert Methfessel‘.“ Leider sind diese unvollendet, ja wohl gar unangefangen geblieben.

Des Alten letzte große Freude in Braunschweig war das Jubiläum, mit welchem am 6. October 1864 sein achtzigstes Geburtsfest begangen wurde und an dem die deutsche Sängerwelt, durch die Müller’sche „Neue Sängerhalle“ angeregt, durch Ehrengaben und Grüße freudig Theil nahm. Bei dieser Gelegenheit erhielt er von der Universität Jena das Ehrendiplom eines Doctors der Philosophie.

Endlich wurde doch das Alter auch über ihn Herr; dazu kamen die Alltagssorgen, die dem so Hochbetagten mancherlei für ihn schwere Entbehrungen auferlegten, und häuslicher Kummer, der ihn schließlich bewog, Braunschweig zu verlassen und bei seiner älteren Tochter, der Gattin des Pastors zu Heckenbeck bei Gandersheim, Zuflucht für seine letzten Lebenstage zu suchen. Hier kam er zu Anfang des köstlichen Mai des vorigen Jahres an, und wie freute er sich, „im Grünen“ zu sitzen, denn jeder Freude war sein kindliches Gemüth so gern offen, und mit welch echtem Dichterherzen wußte er sich zu freuen! Aber schon zu Anfang August pochte ernstlich der Tod an: ein Schlaganfall nahm ihm den Rest von Hör- und Sehkraft und lähmte ihm die Sprache. Ein entsetzlicher Zustand für den immer hastiger fortarbeitenden, nur in der Mittheilung seligen Geist! Noch einmal siegte die urkräftige Natur der alten Wald-Nachtigall: „Die Sprache hat sich gebessert,“ konnte er Mitte September in einem Bulletin an seine Freunde verkünden. „Meine Stimme ist gefügiger geworden, wenn auch nur auf eine halbe Octave reducirt, g—d. Mit diesen fünf Tönen kann man noch viel dictiren. Also: Non omnis moriar!“

Nach einem schweren Winter brachte der lachende Frühling den Alten an das letzte Ziel. Die Auflösung des im Tonreich fortarbeitenden Geistes kündigte sich bei ihm ähnlich wie bei Rückert an. „Weißt Du, mir ist heute so urweltlich zu Muthe,“ sprach der Dichter an seinem Todestage zu seiner Tochter Marie. „Horizont, darunter Wasser – endlos, gestaltlos.“ Und ein andermal hörte er „die Quellen des Paradieses“ rauschen. Methfessel hörte mehrere Wochen lang vor seinem Tode eine „Geister-Capelle“, die ihm die allerschönste Musik vortrug und ihn wahrhaft beglückte, bis es ihm endlich des Schönen doch zu viel wurde: die Musik seines überreizten Gehirns ließ ihn nicht mehr schlafen. Da vermuthete er, daß auch Feinde sich in diese Capelle eingeschlichen haben müßten, an die er nicht selten laute Worte richtete. „Liebe Freunde und Feinde, manche schöne Stunde verdanke ich Euch, jetzt aber will ich Ruhe haben!“ – Und diese fand er, freilich nach schwerem Todeskampf, am dreiundzwanzigsten März, früh halb zwei Uhr, der wunderbaren Zeit, wo die meisten Seelen vom Leibe scheiden.

Albert Methfessel, dessen Melodien viele Tausende gesungen haben und noch singen werden, ist am fünfundzwanzigsten März auf dem Dorfkirchhof von Heckenbeck ohne Sang und Klang in die Erde gelegt worden. Das ist das Härteste, was ihm zu guter Letzt widerfahren konnte. Dieses Vergehen muß wieder gut gemacht werden. Wie der alte Nürnberger Grübel würde auch Methfessel für sein Grab sich nichts gewünscht haben, als: „a Stala und an Weidenbahm“. Ihr deutschen Sänger allerorts, verschafft es ihm: „einen Stein und eine Trauerweide“, aber singt dann auch bei der Weihe der Stätte, wie sich’s gebührt. So traurig scharrt man keine Nachtigall ein, am wenigsten die älteste von Thüringen!




Amerikanische Volksjustiz.

 „Ist Dunst zur Höh’ gestiegen,
 So muß der Donner fliegen.“
 Follen.

In Nr. 6 der „Deutschen Blätter“, dem literarischen und politischen Feuilleton, habe ich den Lesern der Gartenlaube in der Fürsorge der Deutsch-Amerikaner für ihre Waisenkinder ein Bild des Friedens und der Liebe vor Augen geführt. Heute aber muß ich zur Charakteristik amerikanischer Verhältnisse, die ja auch drüben in der alten Welt für Viele nicht ohne Interesse sind, ein blutiges Drama aufrollen. Wie in jenem die zartesten Regungen des menschlichen Herzens, die liebevollste Theilnahme für Verlassene, das innigste Mitgefühl sich spiegelt, so tritt uns in diesem scheinbar die gräßlichste Gefühllosigkeit und die roheste Brutalität entgegen. Ich sage: scheinbar, denn bei genauer Würdigung der obwaltenden Verhältnisse wird die That der Gewalt, von der ich reden will und die gewiß auch schon in deutschen Zeitungen mitgetheilt sein wird, wenn auch keine Entschuldigung, doch wenigstens eine mildere Beurtheilung finden. Wo die legale Behörde sich zur Vollziehung der Gesetze als incompetent erweist, wo der Arm der staatlichen Gerechtigkeit durch Umstände gelähmt wird, da, und nur da mag es einigermaßen gerechtfertigt erscheinen, wenn das Volk selber die Vollstreckung der Gesetze in die Hand nimmt und sein eigner Richter wird. Findet das Volk gegen seine gerechtesten Beschwerden keine Abhülfe, sieht es sich fort und fort in seinen heiligsten Interessen gefährdet, reichen die Präventiv-Maßregeln nicht aus und ist Gefahr im Verzuge, – wer will es verdammen, wenn es sich selber hilft! In solchem Falle mag das bekannte „salus populi suprema lex“ seine Geltung finden. Und wenn, wie im vorliegenden Falle, nicht der Auswurf der Menschheit, nicht eine besitzlose Rotte, sondern der wohlhabende Bürger und der friedliche Landmann, der nicht unbedacht zu Werke zu gehen pflegt, wenn der Alles auf’s Spiel setzt und mit Gefahr seines eigenen Lebens zur Aushülfe schreitet, dann „ging gewiß kein andrer Weg nach Küßnacht“.

In dem südlichen Theile des Staates Indiana, in der Grafschaft Jackson, liegt an dem Punkte, wo die Ohio-Mississippi- und die Jeffersonville-Indianopolis-Eisenbahnen sich rechtwinklig durchschneiden, das kleine Städtchen Seymour. Es besteht, da der milde, leichte Boden zur Fabricirung gebrannter Steine sich nicht wohl eignet, zum größten Theile aus Frame- oder Bretterhäusern [377] und wird von etwa viertausend Einwohnern bewohnt, die bei dem regen Verkehr, den die Eisenbahnen hervorbringen, hauptsächlich von Handel und Industrie sich nähren. Diesem regen Verkehr verdankte das Städtchen sein schnelles Emporblühen und die fast fabelhafte Steigerung des Grundwertes. Von Polizei ist in solchen amerikanischen Kleinstädten nicht die Rede, und der Bürger ist hier lediglich auf seinen eigenen Schutz angewiesen. Fallen nun in einer solchen Stadt viele Gewalttätigkeiten, viel Diebstähle und Räubereien vor, sieht der Wohlhabende sein Eigenthum nicht gesichert oder gar sein Leben gefährdet, so verläßt er den Ort und sucht sich eine neue bessere Heimath, wodurch natürlich der geschäftliche Verkehr leidet und der Grund und Boden mehr und mehr entwertet wird. Dies stellte sich auch seit einiger Zeit in Seymour heraus. Seit Jahren nämlich hatte ein Diebsgesindel sich dies Städtchen zum Mittelpunkt seiner Operationen erkoren, weil bei dem immensen Verkehr auf amerikanischen Eisenbahnen hier fast zu jeder Stunde der Nacht Frachtzüge nach allen vier Himmelsgegenden gehen, vermittelst deren der Raub so überaus leicht in Sicherheit zu bringen war. Die Verbrechen gegen das Eigenthum mehrten sich in furchtbar steigender Zahl. Privathäuser und Läden wurden geplündert, Reisende auf der Landstraße angefallen und beraubt, und selbst vor dem Morde bebte die Bande nicht zurück, wenn es ihre Sicherheit galt. Ja, bald entdeckte man, daß dies Raubsystem sich über ganz Jackson und die angrenzenden Counties erstrecke, und daß vor Allen die Familie Reno, welche zwei Meilen von Seymour eine schöne Farm besitzt und in wenigen Jahren sich zu sehr bedeutender Wohlhabenheit emporgeschwungen hat, den Mittelpunkt, gleichsam das leitende Organ einer weitverzweigten Räuberbande bilde. Ein Geheimpolicist will sogar, natürlich verkleidet, einer Versammlung der ganzen Bande in Fort Wayne im Staate Indiana beigewohnt haben und Ohrenzeuge von dem feierlichen Schwure des ganzen Gesindels gewesen sein: „falls Einem aus ihrer Mitte nur ein Haar gekrümmt werde, ganz Seymour in Asche zu legen“. Ein Sprößling der saubern Reno’schen Familie beraubte bald darauf eine feuerfeste Geldspinde. Ein Mulatte, Grant Wilson, konnte und sollte als Belastungszeuge gegen die Räuber auftreten. Man bot ihm tausend Dollars, wenn er den Staat verlassen wolle. Als er auf diesen Vorschlag nicht einging, ward er bald darauf zwischen seinem Hause und Seymour erschossen auf der Landstraße gefunden, und Reno, gegen den nun kein Zeuge auftreten konnte, ging straffrei aus.

Ein anderer Mann Namens Mac Kinney, der bei einer anderen Räuberei als ein gefährlicher Zeuge erscheinen mußte, ward um mitternächtliche Zeit durch Anklopfen geweckt und bei Eröffnung seiner Hausthür niedergeschossen. In einem Hotel in Seymour verschwand ein Reisender, der viel Geld mit sich führte. Erst nach acht Monaten spülte der benachbarte Fluß seine Leiche an’s Ufer. Ja, wenn ein Mitglied der Bande eingefangen war und gerichtlich processirt wurde, so leisteten seine Complicen jede vom Gericht geforderte Bürgschaft, und es kam auf freien Fuß.

Der Proceß selber lag natürlich als Criminalsache dem Verdict der Geschworenen ob, und die Jury, theils erkauft, theils durch Todesdrohungen eingeschüchtert, konnte sich in ihrem Wahrspruch dann nicht einigen, was natürlich eine Verurtheilung des Angeklagten unmöglich machte. Es kann sogar als ausgemachte Sache angenommen werden, daß die Bande, die ja über enorme Geldsummen zu verfügen hatte, es dahin zu bringen wußte, daß durch weitgehende Kniffe und Pfiffe Einer oder Einige der Ihrigen selber in die Jury gewählt wurden, was selbstverständlich jederzeit die Freisprechung des Inculpaten zur Folge hatte. Viele, die bestohlen oder auf offener Landstraße beraubt worden waren, schwiegen und verschmerzten ihren Verlust, um nicht Haus und Hof durch Feuer oder gar das Leben durch Mörderhand zu verlieren.

Unter solchen Umständen fühlte die Bande sich so sicher, daß sie sich auch an größere und kühnere Unternehmungen wagte. Hier zu Lande werden Geldsendungen vorzugsweise durch sogenannte Expreßcompagnieen besorgt, die bei jedem Eisenbahnzuge zum Transport der ihnen übergebenen Güter ihre eigenen Wagen haben, in denen sich Agenten befinden, die auf jeder Station die fälligen Sachen aushändigen und andere annehmen. Auf diese Geld- und Werthsendungen hatte es nun die immer dreister gewordene Bande ganz besonders abgesehen, und schon vor einiger Zeit war der Expreßwagen um Summen von achttausend und dreißigtausend Dollars beraubt worden. Bis zu welcher Verwegenheit aber die Räuber schritten ersehen die geehrten Leser aus Folgendem:

Am 22. Mai 1868 Abends 9 Uhr ging ein Train bestehend aus der Locomotive, dem Tender, einem Expreß- und zwei Passagierwagen, von Jeffersonville nach Seymour ab. Als der Zug eine vereinsamte Station Marshfield erreichte, wo Wasser eingenommen werden mußte, stieg der Heizer an der einen Seite aus, um den Wasserschlauch heranzuziehen während der Locomotivführer sich auf die andere Seite begab, um die Maschine einzuölen. Sofort wurde ihm die Fackel aus der Hand geschlagen und unter dem Schutze der Dunkelheit bemächtigten sich vier Räuber des Zuges, lösten die Verbindung mit den beiden Passagierwagen und fuhren mit Zurücklassung derselben mit der Locomotive und dem Expreßwagen lustig von dannen. Einige Meilen weiter, als sie sich in Sicherheit wußten, drangen sie in den Expreßwagen, schlugen den Agenten Thomas Harkins so lange, bis sie ihn für todt hielten, erbrachen die eiserne Geldkiste, entwendeten sechsundneunzigtausend Dollars in Regierungsbonds (Staatsschuldscheinen) und ließen den Train eine halbe Meile vor Seymour ruhig stehen.

Erst nach längeren Wochen wurde ein gewisser Cameron, als er in Syracuse im Staate Newyork einige der geraubten Bonds zum Verkauf anbot, verhaftet, und auf seine Betheurung, die qu. Papiere von Franz Reno und Charles Anderson gekauft zu haben, wurden diese Beiden in Sandwich, Canada, verhaftet und dort in’s Gefängniß gebracht, während die Gebrüder Simeon und Wilhelm Reno in Indiana eingefangen, von dem wieder genesenen Harkins als Theilnehmer an der Beraubung identificirt und dem Grafschafts-Gefängnisse zu New-Albany, Indiana, überliefert wurden.

Während nun von Seiten der Regierung der Vereinigten Staaten mit der Regierung von Canada wegen Auslieferung der beiden Arrestanten Franz Reno und Anderson langstielige Unterhandlungen geführt wurden, wollten auch die übrigen Mitglieder der Bande nicht unthätig sein, sannen vielmehr auf neue großartige Operationen. Diesmal hatten sie es auf die Beraubung des Expreßwagens der Ohio-Mississippi-Bahn abgesehen, die von Cincinnati nach St. Louis geht. Bei dieser Bahn war ein gewisser James Flanders theils als Frachtconducteur, theils auch als Locomotivführer angestellt, und da er auf irgend eine Weise eine leise Ahnung von einem beabsichtigten Raubanfalle bekommen hatte, so entzog er sich mit Bewilligung seiner Vorgesetzten auf einige Zeit seinem Dienste und begab sich nach Seymour, dem Hauptquartier der Räuberbande. Hier trieb er sich einige Zeit, dem Anscheine nach zwecklos, herum, trug einen hohen Grad von Ruchlosigkeit zur Schau, schloß sich dem herumbummelnden Gesindel an, bezahlte freigebig dessen Zechen und Saufgelage und erfuhr von den bald erworbenen Freunden Elliott, Sparks, Eliston, Moore, Rofeberry und Jarrell im Vertrauen, daß diese am 10. Juli den Morgens um 3 Uhr von St. Louis abgehenden Zug bei Brownstown, 10 Meilen westlich von Seymour, überfallen und plündern wollten. Diese Entdeckung theilte er schleunigst der Expreßcompagnie mit, die sofort in ihrem Wagen eine starke Wache versteckte, und er selber, Flanders, übernahm an diesem Tage wieder die Führung der Locomotive.

In Brownstown angekommen, hielt er den Zug an und begann, anscheinend ganz gleichgültig, die gewohnte Besichtigung der Locomotive. Wie erwartet, sah er sich dabei plötzlich von Banditen umringt, die ihn nicht sogleich wiedererkannten, die ihm geladene Revolver vorhielten und ihn bei dem geringsten Laute zu erschießen drohten. Er ergab sich auf Gnade und Ungnade und bat nur, um einem Unglück vorzubeugen, den Dampfkessel mit Wasser versorgen zu dürfen. Die Räuber bestiegen nun den Zug und als sie sich, etwa drei Meilen von Brownstown entfernt, in Sicherheit glaubten, warfen sie den Heizer über Bord und begaben sich zur Vollendung ihres Planes in den Expreßwagen. Dort aber fanden sie hinter den aufgehäufte Frachtgegenständen eine bewaffnete Mannschaft, mit der nun ein lebhafter Kampf begann. Von beiden Seiten knatterten die Revolver und der Ausgang des Kampfes schien zweifelhaft. Da auf einmal sank Elliott, der Führer der Bande, von einer Kugel getroffen, zu Boden und mit seinem Falle ergriffen die anderen Raubgesellen eiligst die Flucht. Eliston und Jarrell wurden aber bald nach dem Attentat zur Haft gebracht und nebst dem verwundeten Elliott [378] einstweilen nach Cincinnati transportirt, wo auch der Locomotivführer Flanders, der den Anschlag der Räuber vereitelt und der bei dem Gefecht einen Schuß in’s Bein erhalten hatte, einige Tage später im Hospital seinen Wunden erlag.

Diese Vorgänge riefen in Seymour und Umgegend eine ungeheure Aufregung und Entrüstung hervor. Jeder rechtliche Bürger fühlte, daß sein Hab und Gut, ja sein Leben keinen Augenblick mehr sicher sei und daß endlich durchgegriffen werden müsse. Dem langsamen und schleppenden Gange der gerichtlichen Untersuchung und der unsichern und ungewissen Entscheidung des Schwurgerichts traute man nicht mehr und man beschloß, die Justiz selber in die Hand zu nehmen, um Ordnung und Sicherheit herzustellen. Es bildete sich in aller Stille ein „Vigilanz-Comité von Jackson County“ und nun begannen Scenen, wie sie F. Gerstäcker in seinen „Regulatoren von Arkansas“ ähnlich schildert. Die drei gefangenen Verbrecher Elliott, Eliston und Jarrell wurden behufs ihrer Processirung in der Nacht des Juli unter polizeilicher Bedeckung von Cincinnati nach Brownstown gebracht. Schon hatten sie Seymour passirt und sich ihrem Bestimmungsorte bis auf etwa drei Meilen genähert. Da plötzlich an der Stelle, wo am 10. der Kampf in dem Expreßwagen stattgefunden hatte, wurde der Zug durch ein Nothsignal, ein rothes Licht, zum Stehen gebracht. Im Nu sprangen von beiden Seiten maskirte Männer empor, überwältigten die Wachen und zogen die drei Gefangenen in's Freie. Diese begriffen sofort, was ihr Loos sein werde, und legten sich auf's Bitten. Alles vergebens. Ihr Flehen prallte an gestählten Herzen ab. Man legte ihnen Stricke um den Hals und vergönnte ihnen fünf Minuten, sich auf den Tod vorzubereiten. Jetzt fingen sie an, Geständnisse und Enthüllungen zu machen, gaben die Urheber vieler begangener Schandtaten an, gestanden ihre Mitbetheiligung an dem Marshfielder Raube und wurden dann alle Drei an einer und derselben Buche aufgehängt.

Am folgenden Tage fand man in Seymour und Umgegend an Gebäuden, Zäunen und Bäumen nachstehende Proclamation:

     „Diebe, aufgepaßt!

Die Aufmerksamkeit aller Diebe, Räuber, Meuchelmörder und Vagabunden und ihrer Helfershelfer, Mitschuldigen und Gesinnungsgenossen wird hiermit auf das Verfahren des Seymour Vigilanz-Comités von letzter Nacht gelenkt. Wir sind entschlossen , bei demselben zu verharren, bis alle oben genannten Classen, ob aus Eingebornen ober Importirten bestehend, für immer aus unsrer Mitte verschwunden sind.

Man hat uns mit Wiedervergeltung gedroht, im Fall wir die Todesstrafe anwenden würden. Darauf erwidern wir: Sollte irgend Einem unsers Comités von unbekannten Personen ein Leid zugefügt oder das Eigenthum eines ehrlichen Mannes nur um den Werth eines Dollars beschädigt werden, so soll jeder diebische Charakter, dessen wir habhaft werden können, am Halse aufgehängt werden, bis er todt ist, ohne zu untersuchen, ob wir gerade die Personen erwischt haben, welche das betretende Verbrechen begingen. Dies bezieht sich nicht blos auf Seymour, sondern auch auf die Linien der beiden Eisenbahnen, so weit unsre Organisation reicht. Gesetz und Ordnung sollen herrschen.

Seymour, Indiana, 21. Juli 1868.

Auf Befehl des Comités.“

Wer die Männer waren, in denen zuerst der Gedanke auftauchte, durch Bildung eines Vigilanz-Comités den frechen Strolchen ihr schändliches Handwerk zu legen, und wer später dem Comité beigetreten und dessen Mitglied geworden, darüber ist ein dunkler Schleier geworfen, der auch wohl schwerlich je gelüftet werden wird. Es scheint, als ob die ersten Träger dieser Idee jeden Einzelnen der gutgesinnten Bewohner von Jackson Co. brieflich aufforderten, zu einer bestimmten nächtlichen Stunde an einem bestimmten Orte zu erscheinen, um die Execution in die Hand zu nehmen, und zwar unter der Androhung, Jeden der Nichterscheinenden als Genossen der Räuberbande anzusehen und demgemäß zu behandeln. Jedenfalls bindet die Mitglieder dieses „Wohlfahrtsausschusses“, die nur larvirt auftreten, ein feierlicher Schwur, besten Bruch schwer geahndet werden möchte.

Wie gesetzwidrig und schaudererregend auch dies erste Auftreten des Comités erscheinen und wie sehr auch das vorberichtete Aufknüpfen der drei Verbrecher einem Morde ähnlich sehen mag: die sogenannten „Männer der Ordnung“ ließen sich in ihrem Vorhaben, Ruhe und Sicherheit herzustellen, durch Nichts beirren und dem blutigen Vorspiel des verhängnißvollen Dramas folgten bald andere, noch grauenvollere Scenen. Alle Schlupfwinkel, Hütten und Wälder wurden sofort nach jener Proclamation durchsucht und die drei bekannten Glieder der Bande, welche bisher noch auf freien Füßen waren, Moore, Sparks und Roseberry, fielen in den nächsten Tagen in die Hände des Sicherheits-Ausschusses. Kaum waren diese drei Männer recognoscirt, als auch ihnen schon der verhängnißvolle Strick um den Hals gelegt wurde und sie an demselben Baum hingen, an welchem ihre Genossen wenige Tage zuvor ihren Frevel gebüßt hatten.

Simeon und Wilhelm Reno erwarteten unterdeß, wie oben berichtet, ihre Procedur im Gefängniß zu New-Albany. Franz Reno und Charles Anderson, welche in Canada ergriffen und verhaftet waren, wurden endlich nach langen Verhandlungen von Canada unter der Bedingung ausgeliefert, daß ihnen ein unparteiischer Proceß gestattet und sie, wenn unschuldig befunden, sofort in Freiheit gesetzt werden sollten. Von Detroit wurden sie über den Eriesee nach Cleveland eingeschifft, aber ihr Schiff gerieth in der Nacht mit einem Dampfer in Collision und versank. Doch - wer hängen soll, ertrinkt nicht. Sie wurden aufgefischt und sollten nun mittels der Eisenbahn von Cleveland nach New-Albany gebracht werden. Der Weg dorthin geht durch Cincinnati und - Seymour. Aus Furcht, das Vigilanz-Comité möchte sich auch dieser Beiden bemächtigen und ihnen ein blutiges Ende bereiten, hatte sich Marie, die neunzehnjährige, bildschöne Schwester der Reno’s, mit reichen Geldmitteln versehen, nach Cincinnati begeben und hier ausgewirkt, daß ihr Bruder Franz und dessen Freund Anderson auf einem anderen Wege mit Umgehung Seymours unter starker polizeilicher Escorte in einer Kutsche nach New-Albany transportirt wurden.

New-Albany, am Ohiosfluß, Louisville gegenüber gelegen, achtunddreißig englische Meilen von Seymour entfernt, ist eine Stadt von etwa sechsundzwanzigtausend Einwohnern, und hier glaubte man das vierblätterige Kleeblatt, Simeon, Wilhelm und Franz Gebrüder Reno, und Anderson in dem starken und wohlbewachten Gefängniß gegen das Einschreiten des Vigilanz-Comités hinlänglich gesichert. Auch lebte Jedermann der Ansicht, das Comité sei des Blutvergießens nun müde und werde nunmehr der richterlichen Entscheidung nicht vorgreifen. Aber es kam ganz anders. Durch geheime Verbindung erhielt das Comité sich über den Gang und Verlauf des Processes stets au fait, und als die Nachricht kam, daß alle vier Gefangenen durch erkaufte Zeugen das Alibi nachgewiesen hätten und daß ihre baldige Befreiung zu erwarten stehe, da gedachte der Sicherheitsausschuß des durch die Bande in Fort Wayne geleisteten Eides und fürchtete mit Recht die Einäscherung der meist aus hölzernen Gebäuden bestehenden Stadt Seymour. Hier galt es nun, das Prävenire zu spielen, und am 12. December vorigen Jahres, früh drei Uhr, kam das Vigilanz-Comité, etwa hundert Mann stark, mit Larven versehen, mit Revolvern und Schlagringen bewaffnet, plötzlich mit einem Extrazug in New-Albany an.

Vom Halteplatz bis zum Gefängniß wurden in nächtlicher Stille Patrouillen aufgestellt, während die Uebrigen mit vorgehaltenen Revolvern und Bleischlingen sich der Wache des Gefängnisses bemächtigten, dem Sheriff, der die Schlüssel zu den Zellen der Gefangenen nicht ausliefern vielmehr durch Flucht sich retten wollte, den Arm zerschossen, die Schlüssel ergriffen, die Zellen öffneten, die vier Gefangenen im Corridor des Gefängnisses aufknüpften und schon nach fünf Minuten blutiger Arbeit mit dem bereit stehenden Extrazuge nach Seymour zurückfuhren.

So waren denn in Jackson Co. in wenigen Monaten zehn Menschenleben dem Vigilanz-Comité zum Opfer gefallen und neue Proclamationen stellten ein beharrliches Fortschreiten auf dem einmal betretenen Wege in Aussicht, bis Seymour und Jackson Co. von allem Diebsgesindel rein und geläutert sei. Vielen Familien, die auch in dem Verdacht einer entfernteren Theilhaberschaft standen, ward brieflich angekündigt, daß sie innerhalb vier Wochen Stadt und County zu verlassen hätten, falls sie nicht dem Strick verfallen wollten, und sie Alle, und noch manche Andere, denen auch wohl das Gewissen brennen mochte, machten sich schleunigst auf und davon. Die Regierung der Vereinigten Staaten schickte nun Geheimpolicisten nach Seymour und Umgegend, die in allerlei Formen und Gestalten auftauchten, um die Urheber und Mitglieder des Vigilanz-Comités auszuspähen, aber diese waren stets auf der [379] Warte, und die Policisten, denen unausbleiblich ein ähnlicher Tod bevorstand, zogen in aller Stille wieder ab.

Die Hingerichteten wurden seitens des Vaters Reno und der drei übrigen Kinder, – ein anderer Sohn sitzt in Jefferson-City, Missouri, wegen Raubes auf fünfundzwanzig Jahre, und die Mutter, die eigentliche Weisel der Bande, starb im vorigen Sommer – auf dem Kirchhof von Seymour feierlich begraben und ein kostbares Marmordenkmal soll ihnen demnächst errichtet werden. Die schöne Schwester, welche schwur, ihr ganzes ferneres Leben der Rache ihrer Brüder zu weihen, hat eine ernste Verwarnung erhalten, und wenn sie sich nicht ruhig verhält, dürfte ihr Schicksal nicht lange zweifelhaft sein. Ueber welche Geldmittel diese Diebesfamilie verfügt, geht daraus hervor, daß einer der gelynchten Brüder seiner Frau fünfhunderttausend, ein anderer der seinigen achtzigtausend Dollars hinterlassen hat.

Gewiß sind alle diese Thatsachen auch in deutschen Blättern verlautet und gewiß hat sich drüben in der alten Welt ein tiefer Abscheu gegen das Verfahren des Vigilanz-Comités geltend gemacht. Fern sei es von mir, ein solches gesetzloses Vorgehen zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen, aber wer, wie wir hier in der Nähe, alle die Einzelheiten der Verhältnisse kennt, der fällt ein milderes Urtheil und spricht mit meinem Freund Follen, der auf dem Wege in dies Land der Freiheit im Ocean sein Grab gefunden:

„Ist Dunst zur Höh’ gestiegen,
So muß der Donner fliegen.“

Seymour ist jetzt so sicher, daß man des Abends ein Capital auf die Thürschwelle legen und sicher sein kann, es am andern Morgen unversehrt und unberührt vorzufinden. Bald wird die durch Blut geläuterte Stadt sich herrlich emporschwingen.

Cincinnati, 8. Mai 1869. Carl Türcke, 
0 Prediger.




Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
V.

Ob ich denn, fragen Sie, angeregt von meinem letzten Briefe, nicht mehr den Zauber der Romantik auf mich wirken ließe? Ob sich überhaupt die Deutschen nicht mehr geistig heimisch fühlten unter epheuumwundenen Klosterruinen, beschienen vom milden Glanz des Mondes, umsäuselt von den Klängen einer in rauschenden Baumwipfeln aufgehängten Aeolsharfe? Die fremden Nationen wollten ja doch von uns gerade nur diese Richtung –! Sie wollten ja in uns nur ein Volk, das sich immer noch mit Nixen und Kobolden um den Besitz unserer Berge und Thäler stritte, ein Volk, das gewisse Schluchten vermiede, wo die Drachen hausen, ein Volk, das sich Abends unter duftenden Lindenbäumen jetzt noch gegrüßt wähnte von vorüberschwebenden Feen, und die Zauberer, die Wahrsager, die Hexen und Zigeuner als die wahren Berather seiner Geschicke anerkennt! E. T. A. Hoffmann, der Verfasser der „Teufelselixire“, erschiene, sagen Sie, den Franzosen „deutscher“, als selbst Goethe, wenigstens letzterer in seinen „Wahlverwandtschaften“.

Die Periode der Romantik bezeichnet allerdings einen Abschnitt unserer Geschichte, der uns für alle Zeit denkwürdig, theuer und werth bleiben soll. Wer unter uns hätte sie nicht in seiner ersten Bildungsentwickelung gefühlt, diese süßen Schauer einer schöneren Zeit und Welt, die von Künstlern und Dichtern hervorgezaubert wurde mit dem täuschenden Schein eines annoch wachen Lebens! Möglich, daß die gegenwärtige, sich vorzugsweise schon auf Schiller, Lessing und die Theorie vom Schönen überhaupt gründende Schulbildung einer ausschließlichen Hinneigung des jugendlichen Gemüths zum Romantischen vorbeugt. Dann wäre aber unsere Jugend um einen Genuß ärmer geworden! Sie hätte nichts empfunden von jenem geheimnißvollen Reiz der Wiederbelebung des Todten, von jener tiefinnigen Beseelung von Stein und Welle, Baum und Blüthe, von jener poetischen Ergänzung des sichtbar Vorhandenen durch zahllose schöne Schattenbilder (nicht nur Schattenbilder des Märchens und der Sage, sondern auch der Verknüpfung und Aneinanderreihung heterogenster Gedankenmöglichkeiten), die zum Wesen des Romantischen gehört. Denke man sich nur Deutschland zur Zeit seiner tiefsten Erniedrigung, in jenen Tagen, wo unsre Heere von Frankreich besiegt, unsre Fürsten gezwungen wurden, die Reste derselben dem corsischen Eroberer zur Verfügung zu stellen – in jenen Tagen, wo man über die Möglichkeit, daß jemals wieder Deutsche gegen Deutsche kämpfen könnten, für immer den Fluch ausgesprochen zu haben glaubte – ! Damals flüchtete sich unser Stolz, unser Herz, unsre Liebe und Sehnsucht hinaus aus unserm unterjochten, in Fesseln schmachtenden Vaterlande. Damals konnte ein Sturmgeist wie Joseph Görres, der schon die Mütze des Jacobiners getragen hatte und sogar, im grellsten Widerspruch mit seinem traurigen, nachtumhüllten, nur der römischen Kirche dienenden Lebensausgang, eine Schrift zum Druck vorbereitete, die kein einziger freisinniger Verleger Hamburgs herauszugeben wagte: „Fall der Religion“ – damals, sage ich, konnte sich ein Genius solcher Thatkraft einer Zeitschrift der Romantiker anschließen. „Trösteinsamkeit. Wochenblatt für Einsiedler.“ … Im schönen Heidelberg, im Nachtigallenhain am Wolfsbrunnen war es, wo sich eine kleine Gemeinde von gleichgestimmten Dichtern und Forschern versammelte und den Mittelpunkt jener Richtung bildete, die sämmtliche bereits in unserer Literatur, seit Herder, Bürger, Hölty, Schubart, Schiller und Goethe, zerstreut gewesenen Elemente des Begriffs vom Romantischen zu einem einheitlichen, besondersbedingten Schönheitsgesetze vereinigte und dem jammervoll gewordenen Zeitalter, dem abgestorbenen Reiche, der französelnden Sitte, dem umsichgreifenden, sogar schon den deutschen Genius anzustecken drohenden und sich gewissen antikisirenden Richtungen unsres eignen Kunstlebens enger und enger anschließenden Pariser Geschmack eine Kunstform gegenüberhielt, die wesentlich auf einem neuen Erforschen und Erfassen des Mittelalters beruhte.

Antik oder romantisch – das wurden zwei Gegensätze, denen noch für längere Zeit ein scharf ausgesprochener und festbestimmter dritter Begriff, das Moderne, nicht entgegenstand. Letzterer hat sich erst in unseren neuern Tagen klarer und bestimmter herausgestellt. Wie das Antike oder Classische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen der vorchristlichen Zeit war, so wurde das Romantische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen des Mittelalters. Unstreitig ist als der geistige Grundgedanke des Alterthums das Opfer zu bezeichnen, als der des Mittelalters das Wunder, als der der neuen Zeit der Gedanke selbst. Es wird sich mir noch Gelegenheit bieten, Ihnen, verehrte Frau, zu beweisen, daß die geistigen Blüthen des Alterthums eben dem Priesteramt und dem Opfer entsprossen sind. Daß das Wesen des Mittelalters im Wunder zu suchen sei, dürfte Ihnen schon einleuchtender erscheinen. Nicht nur, daß „das Wunder“, wie der Dichter sagt, „des Glaubens liebstes Kind“ ist, und es eben der Glaube war, der dem mittelalterlichen Leben seine Weihe gegeben, es gehört auch die Sehnsucht, auch der Trieb in die Ferne, das Völkerwandern und Ländersuchen des Mittelalters jener Herrschaft des Wunders an. Das Unerklärte, Ahnungsvolle, den Sinnen eine unüberwindliche Schranke Setzende ist das Wunder, und so nennen wir denn auch eine Landschaft, eine Situation, einen Charakter – romantisch. Was heißt romantisch anders als: Hier rauschen Quellen, die wir hören, aber nicht sehen! Hier leuchten Farben und Lichtbrechungen, die aus einem Prisma stammen, das über den Wolken thront! Hier gewinnt ein Ineinandergreifen von moosbewachsenen Felsen, düstern Tannen und von einigen Abendsonnenstrahlen eine unerklärliche Macht über unser Gemüth, spricht die sanfteste Sprache, macht die süßeste Musik elegischer Rhythmen und Tonarten für unser Herz! Romantisch ist uns das Schöne unter dem Gesichtspunkt wehmuthsfroher Erinnerung und Ahnung.

Es ist eine schöne Aufgabe, die sich ein Kunstrichter stellen [380] sollte, nachzuweisen, wie sich in Deutschland unser ästhetischer Begriff „Romantisch“ entwickelt hat aus dem so geistiglebendigen, bahnbrechende achtzehnte Jahrhundert heraus, ja sogar aus den Seherblicken der unbefangensten, freisinnigsten Forscher, eines Rousseau, eines Herder. Der Geschichtsschreiber der Romantik würde erst durch manche, sogar „classische“, Propyläen und Vorhöfe gelangen zu jener vorhin angedeuteten vollen Glanzperiode der Romantik, die wir dem brennenden Farbenlicht einer Kirchenfensterrose über dem Portal eines Münsters vergleichen möchten. Er würde hierauf zu verzeichnen haben die Uebergänge aus diesem romantischen Vollbewußtsein zum Humor, zur Satire, zur Ironie, bis sich der romantische Gedanke, schon zersetzt, dem aus einem weitaus andern Bereich entstammenden Begriff des „Modernen“ näherte. In fast allen Meistern der romantischen Dichtungszeit sind diese Uebergänge mitgegeben. Sogar bei Görres finden sie sich, bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und vollends bei Ludwig Tieck. Nur bei einigen wenigen schien es nicht mehr möglich, daß sie dem Zauberbann ihrer ausschließlichen Phantasienwelt entrannen. Nicht bei Novalis-Hardenberg, nicht bei Joseph von Eichendorff, welcher letztere sogar mitten unter den gebieterischen Notwendigkeiten der verstandeskühlen Neuzeit in’s Grab gegangen ist unter dem ihm noch immer vernehmbar gebliebenen geisterhaften Wehen jener „Trösteinsamkeit“ von Heidelberg, unter dem Nachhall von Waldhornklängen aus unergründlichen Waldestiefen der Ahnung, unter dem märchenhaften Rauschen von schöngefiederten Reihern, wie sie an goldenen Kettchen Briefe dahintragen mit einem Selam an zierliche Erker eines maurischen Schlosses, wo Märchenprinzessinnen wohnen, Zauberinnen wunderbar verschlungener Lebensschicksale und Märchenabenteuer.

Nur die allerroheste Hand könnte es sein, die im Vollbewußtsein „gesunden Menschenverstandes“ in die allmähliche Abwickelung des romantischen Zauberfadens innerhalb unserer neuen deutschen Literatur gewaltsam hineingreifen und den vielen Verirrungen und sogar moralischen Selbsttäuschungen, die allerdings im Gefolge der Romantik, im Gefolge eines systematische Scheinlebens, nicht ausbleiben konnten, nicht blos die ewigen Gesetze der Kunst, sondern sogar die Paragraphen - des Strafgesetzbuches entgegenhalten wollte! Eines feinen Analytikers ist es vielmehr würdig, zu schildern, wie der romantische Scheingedanke allerdings allmählich auch ein - Truggedanke wurde, ein ästhetischer Truggedanke schon bei Heinrich von Kleist, noch mehr bei E. T. A. Hoffmann und bei vielen Andern, ein moralischer sogar bei Denen, die ihr romantisches Kunstprincip aus die Forderungen der Neuzeit im Leben des Staates, der Kirche, der Gesellschaft übertrugen. Wie anmuthig vermählte sich aber noch die Romantik mit dem Begriff des Modernen bei Heinrich Heine! Allerdings wird der Analytiker nachzuweisen haben, wie weit noch für Heine die Romantik Ernst oder Spielerei, ich für mein Theil meine, ein abgezogener Tripleextract gewesen, geträufelt auf gemachte Blumen. Er wird nachzuweisen haben, wie eine ganze Phase der neuern Romandichtung zunächst aus den Uebergängen der Romantik in die Ironie hervorging. Tieck's Beispiel voran, nach ihm Immermann, andersbedingter Kräfte, wie Rehfues, Steffens, Heinrich König, Mörike, nicht zu gedenken. Die Bezeichnung der Stelle, wo dann plötzlich ein niederfallender Schlagbaum zu sagen hätte: Bis hieher und nicht weiter! wird nicht fehlen dürfen. Sie muß offen und ehrlich angegeben werden. Bei Immermann´s „Münchhausen“ liegt sie in der Nähe. Bei dem, was in diesem Arabeskenbuche Ernst oder Scherz sein sollte, hat sich der kritische Feldmesser anzusiedeln, seinen Meßtisch aufzuschlagen und die Visire zu richten. Denn hier beginnen die Scheidewege des Modernen und der noch zurückgebliebenen - romantischen Flunkerei.

Sie wünschen mein Urtheil über Levin Schücking’s Schloß Dornegge oder der Weg zum Glück. Roman in vier Bänden“ (Leipzig, Brockhaus) zu haben. Der Verfasser ist ein liebenswürdiger, vielseitig unterrichteter, höchst weltgebildeter Autor, der sich schon in mannigfacher Weise um unsere Literatur verdient gemacht hat. Bei seinen Romanen aber vertritt er durchaus jene Romantik, die nach meinem Dafürhalte hinter uns liegt. Nicht etwa, daß wir ihm auf jenen Wegen noch begegneten, wo einst Novalis seinen Heinrich von Osterdingen „die blaue Blume“, jene wunderbare Verheißung im Geschmack des heiligen Graal, suchen ließ, auf Wegen, die noch unser vor Kurzem von unsäglichen Leiden erlöster Julius Mosen mit so behaglichsicherem Schritt und träumerisch- sorglos wandelte - im Gegentheil, Levin Schücking ist geradezu bei den Franzosen allerjüngsten Datums in die Schule gegangen. Er hat verstanden, sich einen Ruf „beliebter Erzählerschaft“ zu begründen, ganz, wie ihn nur ihre Ponson du Terrail und andre Matadore ihres Feuilletons genießen. Er greift in's volle moderne Leben hinein, hat Paris, Rom, Neapel gesehen, versteht sogar die Sprache der Börse. In diesem seinem neuesten Roman läßt er den großen belgischen Dr. Stroußberg, den päpstlichen Grafen Langrand Dumonceau, der die österreichische Finanzschuld aus seinen Beutel hatte übernehmen und den Nächten des Doctor Brestel in Wien den süßesten Schlummer garantiren wollen, persönlich auftreten, und nach allen Richtungen hin glaubt man bei ihm die Personen und Zustände des Tages und vorzugsweise das Leben auf den Schlössern und Höfe Westphalens mit Händen greifen zu könne. Er setzt, was er berichtet, lebhaft in Scene. Wenn es wahr ist (und wenn es wahr ist, wäre es „ schade“, wie Polonius sagt), daß unsere Lesewelt keine andere Darstellungsform mehr genießen mag, als Dialog, so besteht der vorliegende Roman fast nur aus Dialog. Man glaubt zuweilen in ein Handbuch der Conversationsprache zu blicken.

Die vorliegende Erzählung ist die Combination eines gebornen Märchenerzählers. Würde Levin Schücking diese Geschichte von einer Millionärstochter, die durch einen unwiderstehlichen Hang zu persönlicher Charakterbewährung in die Ferne getrieben und Hauslehrerin wird, dabei eine Cassette mit einer halben Million, theilweise in baarem Gelde, mit sich trägt, um dieselbe Personen zu übergeben, die durch einen letzten Willen des auf dem Berge Athos in Griechenland als Einsiedler verstorbenen Barons von Nesselbrook die wahren Erben seines großen Vermögens und des Schlosses Dornegge sein sollen, würde er sie, sage ich, in die Sprache der Tausend und Eine Nacht oder der Märchen der Gebrüder Grimm übersetzen, so würde sie eine allerliebste Wirkung hervorbringen. Der alte Nesselbrook wäre dann unbeschadet der Eigenschaften die ihn als eine geistreiche Charakterzeichnung des bekannten Freiherrn von Harthausen und einen Geistesbruder des von mir in meinem „Zauberer von Rom“ geschilderten „Onkel Levinus“ erkennen lassen, gleichsam „der Alte vom Berge“, der „Hüter des großen Schatzes“ sein, während „Saladin erst den kleinen verwaltet“, ein Derwisch gewordener großer Emir der Wüste. Die Tochter des belgischen Dr. Stroußberg wäre dann eine Sultanstochter, die sich vor einem Dämon der Hölle, hier Baron Jauffroi von Montenglaunt geheißen, zu retten sucht, dabei aber das Schicksal erleben muß, immer wieder andere Abgesandten der unteren Mächte, vielleicht wegen einer alten Verfeindung derselben mit ihrem Papier statt Gold in die Welt einführenden Vater, in die Hände zu fallen, von welchen Freiern zwei sogar tödlich verwundet werden von einem Abgesandten des hehren Geistes Ormuzd, des Lichtregierers. Durchaus märchenhaft ist jener Schuß eines Barons Dankmar auf eine Gruppe, wo die Sultanstochter mit einem andern der Abgesandten Ahrimans, dem Baron Beltram, auf einer einsamen Insel im Verzweiflungskampfe ringt. Es ist ein Schuß, märchenhaft wie der Schuß des Tell. Denn wie leicht hätte auch der schwirrende Pfeil (im Buche steht die Flintenkugel) die Heißgeliebte (und Dankmar ist der Auserwählte) bei diesem Ringen und Sichentwinden treffen können! Dankmar muß entfliehe. Aber die Sultanstochter telegraphirt (im Märchen würde ein abgerichteter Falke oder eine Taube diese Botschaft übernommen haben), es sollte ein im Hafen von Antwerpen zu jeder Stunde für ihren Vater bereitliegendes Dampfboot (sinnig, weil an Prospero, den Beherrscher der Wellen und Stürme, erinnernd, die „Miranda“ genannt) sich sofort rüsten, den von Steckbriefen verfolgten Freund aufzunehmen und als alleinigen Passagier nach Neapel zu führen. Auf dem Schiff läßt ihn dann die Sultanstochter (allerdings ist das ein Rückfall wieder in die Welt Goethe's und Varnhagen’s) einen gesammelten Briefwechsel entdecken aus welchem dem Freunde ihre wahre Herkunft ersichtlich werden soll. Die Scene jedoch, wo Baron Jauffroi, der inzwischen auf dem Berge Athos die vermißte Originalurkunde jenes Testaments des Alten vom Berge gefunden hatte (mit einem Dutzend internationaler Poststempel und als noch uneröffnetes Postpaket), jenen Briefwechsel mit Dankmar gegen diese Originalurkunde austauschen will und darüber mit dem hartnäckigen Verteidiger des Briefwechsels in eine Rauferei gerät, die zuletzt mit wiederum

[381]

Grabfahrt auf einem oberösterreichischen See.

[382] beinahe tödtlich werdender, aber durch eine reisende Theatersoubrette (sagen wir eine ihrer Erlösung durch einen Gott harrende Bajadere) geheilten Verwundung des Lichtprinzen Dankmar endigt, das alles ist nur verständlich, ja nur als menschenmöglich denkbar, wenn man diese Geschichten unter die Abenteuer Sindbad’s verlegt oder auf die Insel Barataria. Dann ist jenes Testament etwa ein Wünschelhut, geschenkt von einem Zauberer, und der Briefwechsel ist der seidne Pantoffel, den die Geliebte der beiden wüthenden Nebenbuhler getragen hat. Dann allein versteht man die leidenschaftlichen Scenen auf der fashionabelsten Straße des heutigen Neapel, jenes: „Schäumend vor Wuth hielt Jauffroi die Hände über die Brust gekreuzt“ – oder: „Dieses Testament, welches hier in meiner Brusttasche steckt, übergebe ich Ihnen als Preis für Eugeniens Briefe! Wählen Sie!“ Dankmar kämpfte mit sich. Endlich rief er: „Nein! Nein!“ Hierauf Ueberfall, Stiletstich – und zwar von der Hand eben jenes schwarzen Emirs, den einst in Westphalen auf der Insel der schwirrende Tellpfeil getroffen hatte, ohne daß er jedoch davon gestorben und ohne daß Eugenie selbst dabei verwundet wurde. Und die Bajadere ist es, die Dankmar’n heilt und pflegt. Warum gerade sie? Es ist der Dank für einen Nothpfennig, den ihr einst Eugenie anonym zugesendet hatte, als Fanny (also lautet ihr Name) in einem westphälischen Provinzialstädtchen bei einer reisenden Schauspielertruppe einmal wieder vor Schulden nicht weiter kommen konnte. Letzteres allerdings ein modernes Motiv. Aber wie handhabt es unser Dichter? Das Mädchen aus der Fremde, eben jene Eugenie Stroußberg, zieht einen Papierstreifen aus jener verhängnißvollen Cassette, womit sie gereist war (sie trug sie immer bei sich wie ihr Reisealbum), und schreibt darauf: „Ordre Fanny N. N. Gut für –“ Ja, jetzt rathen Sie, liebe Freundin! Nicht wahr, gut für fünfundzwanzig bis dreißig Thaler? Doch schon ein beinahe fürstliches Almosen für eine Eugenien völlig unbekannte vagirende Schauspielerin? Nein, meine Theure, wir leben eben in Deutschland und doch noch im Lande der Märchen und doch noch unter den Dichtern der Romantik! Sie schreibt: „Gut für – dreißigtausend Franken!“ Ebenso griff Fortunatus, Prinz von Famagusta, niemals in seinen Wünschelhut um Bagatellen.

Wir sind für heute zu Ende. Merken wir uns den Thatbestand, daß der sogenannte moderne „Realismus“, z. B. die zum Nasenzuhalten duftende Schilderung der Milch- und Käsebereitung oder der Düngerfreude bei Jeremias Gotthelf als Arznei gegen eine solche Welt der Phantasmen eine große Berechtigung hatte. Levin Schücking aber, der Fleißige, Vielgewandte, er vergebe mir, wenn ich ihm ein allzuleichtes Handhaben reiner Unwahrscheinlichkeitsfiguren vorgeworfen. Die Schuld, daß ein so geistvoller, unterrichteter, in der Regel vom feinsten Herzenstact geleiteter Dichter seine Leser gleichsam in eine dunkle Kammer einladet, dort einen zinnernen Teller voll Spiritus anzündet und uns in seinen Romanen und Novellen blaue Wunder vorführt, trägt eben die Romantik, die sich bei ihm und bei manchem Andern und bei manchem, der sich sonst klug und dichterisch neunmalweise dünkt, in ihrem äußersten, dem Verglimmen und Erlöschen nahen Stadium wirklich noch länger erhalten hat, als dem an sich einst so schöngewesenen, so tief in unsere Cultur- und Nationalentwickelung eingedrungenen Kunstprincip des Romantischen zu gestatten ist. Widersprechen Sie aber bei Alledem, wenn uns die Franzosen, auch die Engländer, durchaus noch für ein Volk von Träumern und Nachtwandlern halten wollen! Wir sind es – ach ja! ich zeigte es Ihnen an dem trefflichen, vielbeliebten Levin Schücking – aber wir wollen es ihnen nicht verrathen.*[3]




Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Der Minister zog Gisela unwiderstehlich nach dem Sopha zurück – sie sank zwischen den Polstern zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. … Einen Moment stand er schweigend vor ihr, dann ging er langsam nach dem Fenster und schloß es wieder. Seine Füße glitten unhörbar über den Teppich, den sie eben noch wüthend gestampft, und die Fäuste, die vorhin den zarten Mädchenkörper in grimmer Kraft geschüttelt, legten sich geschmeidig, in ihrer vollendeten Anmuth und aristokratischen Schlankheit auf den Scheitel der Stieftochter – schneller kann das Raubthier seine Krallen nicht in das sammtene Fell zurückziehen, als dieser Mann seine thierisch wilde Heftigkeit nach außen hin zu maskiren verstand.

„Kind, Kind, in Dir steckt ein Dämon, der das friedfertigste Gemüth zur Wuth reizen kann,“ sagte er und zog ihr mit sanfter, behutsamer Berührung die Hände vom Gesicht. – „Kleine Unberechenbare! … Man wird förmlich überrumpelt und läßt sich im ersten Schrecken zu Ausdrücken hinreißen, von denen die Seele nichts weiß. … Rief ich nicht eben, Du seiest des Todes?“ – Er lachte laut auf. – „Classisch! Ein theatralischer Gemeinplatz, wie ihn der geharnischte Bühnenritter nicht wirksamer hinschleudern kann! Was Einem nicht Alles in der Herzensangst passirt! … Die aber habe ich eben gründlich durchgemacht, Gisela,“ fuhr er sehr ernst fort. „Alle diese plaudernden, lächelnden Menschen, die, Schmeichelei und Honigseim auf den Lippen, draußen das Schloß umkreisen, sie wären sofort zur lästernden, zeternden Meute geworden, wenn Dein unvorsichtiger Ausruf ihr Ohr erreicht hätte. … Dieses ganze erbärmliche Geschmeiß hat vor der glänzenden Gräfin Völdern im Staube gelegen – es hat seiner Zeit von den Reichthümern der schönen Frau vortrefflich zu zehren verstanden – nichts destoweniger ist gerade in diesem Kreise die geflüsterte Behauptung, die Völdernsche Erbschaft sei eigentlich ein Diebstahl gewesen, mit liebevollster Beharrlichkeit gepflegt worden.“

„Die Leute haben Recht – das Fürstenhaus ist auf die gemeinste Weise bestohlen worden!“ sagte Gisela mit dumpfer, aber leidenschaftlich ausbrechender Stimme – es klang mehr wie ein Aufstöhnen.

„Sehr wahr, mein Kind, aber kein menschliches Ohr darf das jemals hören. … Ich kenne bereits Deine unumwundene, rücksichtslose Art, Dich auszudrücken, ich bin ein Mann – kein zartempfindendes Mädchenherz – und Deiner Großmama nicht einmal blutsverwandt – und dennoch berührt mich der harte, wenn auch immerhin gerechte Ausspruch aus Deinem Munde wie ein Dolchstich – ich würde nie diese Worte für das Vergehen gefunden haben.“

Er hielt lauernd inne. Seine beißende Zurechtweisung übte nicht die geringste Wirkung auf das schöne, bleiche Gesicht neben ihm; es lag etwas Unerbittliches in den Linien, die den kindlich geschwellten Mund fremdartig umzogen.

„Glaube ja nicht,“ fuhr er rascher fort, „daß ich damit das geschehene Unrecht entschuldigen will – weit entfernt – ich sage im Gegentheil: Es muß gesühnt werden!“

„Es muß gesühnt werden,“ wiederholte das junge Mädchen, „und zwar sofort!“

Sie wollte aufspringen, aber der Minister hatte bereits seine Arme um ihre Taille geschlungen und hielt sie fest.

„Willst Du nicht die Freundlichkeit haben, mir mitzutheilen, wie Du das anzufangen gedenkst?“ fragte er, während sie angstvoll strebte, der verabscheuten Berührung zu entfliehen.

„Ich gehe zum Fürsten –“

„So – Du gehst zum Fürsten und sagst: ,Durchlaucht, da stehe ich, die Enkelin der Gräfin Völdern, und klage – ich klage meine Großmutter der Betrügerei an; sie war eine Verworfene, sie hat das fürstliche Haus bestohlen! … Was kümmert’s mich, daß mit dieser Anklage der edelste Name im Lande, eine lange Reihe tadelloser Männer gebrandmarkt wird, die im Leben ihren Namen als das höchste Kleinod rein bewahrt haben! – Was kümmert’s mich, daß diese Frau die Mutter meiner Mutter war, und meine ersten Lebensjahre treu behütet hat – ich will nur Sühne, augenblickliche Sühne, gleichviel, ob ich das haarsträubende Unrecht begehe, anzuklagen, wo ein todter Mund sich nicht mehr [383] vertheidigen kann! … Die Frau liegt still und stumm unter der Erde; sie muß die ganze, furchtbare Last der Schuld bis in alle Ewigkeit auf sich wälzen lassen, während sie vielleicht bei Lebzeiten viele Milderungsgründe in die Wagschale hätte werfen können!’ … Nein, mein Kind,“ fuhr er nach einer kurzen Pause mild fort, während welcher er vergebens sich bemüht hatte, das Mädchengesicht zu erforschen, das sich hinter den schmalen Fingern verbarg, „so rasch und rücksichtslos dürfen wir den Knoten nicht lösen, wenn wir uns nicht selbst der schwersten Sünde schuldig machen wollen. Es wird im Gegentheil noch so manches Jahr vergehen müssen, bis das erschlichene Erbe wieder in die rechtmäßigen Hände übergehen kann. Bis dahin gilt es, Opfer zu bringen, – sie werden übrigens nicht allein von Dir, sondern auch von mir verlangt, und ich füge mich freudig. … Arnsberg, das ich auf die rechtmäßigste Weise für baare dreißigtausend Thaler an mich gebracht habe, gehört auch in jene Erbschaftsmasse – ich werde testamentlich das Fürstenhaus als Erben des Gutes einsetzen und damit die Mama um ein bedeutendes Capital dereinst verkürzen – Du siehst, daß auch wir verurtheilt sind, für den Namen Völdern und das Andenken Deiner Großmutter zu leiden!“

Die junge Dame schwieg beharrlich – ihr verhülltes Gesicht sank immer tiefer auf die Brust.

„Und so wie ich, hat auch Deine Mutter, Deine gute, unschuldige Mutter, gedacht – das Vergehen darf nur stillschweigend gesühnt werden,“ sagte der Minister weiter. „Sie hat in jener Nacht, am Sterbebette des Prinzen knieend, das Unrecht mit ansehen müssen – sie ist durch das Leben gewandelt, das schlimme Geheimniß tief in der Brust – nie hat sie gewagt, die Großmama an den Vorgang zu erinnern, sie war zu schüchtern; aber bei jedem Kind, das ihr der Tod genommen, hat sie sich schaudernd gesagt, das sei das gerechte Walten der Nemesis! … Kurz vor ihrem Hinscheiden habe ich aus ihrem eigenen Munde erfahren, was ihre lieben Augen oft so unsäglich traurig und schwermüthig gemacht – ich darf Dir wohl sagen, mein Kind, ich habe oft und schwer unter dieser stummen Klage gelitten –“

„Ich möchte das Ende wissen, Papa!“ stieß Gisela hervor. Sie wollte tausendmal lieber die Stimme dieses Mannes drohend, zornig, schneidend vor Ingrimm, als in diesem vertraulich schmeichelnden Flüsterton hören.

„Also kurz und bündig, meine Tochter,“ sagte er eiskalt. Er lehnte sich steif und vornehm in die Kissen zurück. „Wenn es Dir so gefällt, werde ich einfach als Beauftragter referiren. … Deine Mutter hat mich autorisirt, Dir, als der einzigen Erbin des Völdernschen Besitzthums, im neunzehnten Lebensjahre das Geheimniß mitzutheilen, gleichviel, ob die Großmama diesen Zeitpunkt erlebe oder nicht. Wenn ich um ein Jahr vorgreife, so trägst Du selbst die Schuld – es gilt, Thorheiten Deinerseits vorzubeugen. … Deine Mutter hat ferner gewünscht, daß Du in strengster Abgeschiedenheit erzogen werdest jetzt wirst Du wissen; daß nicht allein Deine Kränklichkeit den einsamen Aufenthalt in Greinsfeld nöthig gemacht hat. … Der letzte Wille Deiner Mutter verlangt ein völlig entsagendes Leben von Dir, Gisela – Du wirst ihn ehren! Der Gedanke, daß durch Dich dereinst das schwere Unrecht ausgeglichen werden könnte, ohne daß der theure Name Völdern befleckt werde, hat ihr noch im letzten Augenblick ein Lächeln der Befriedigung abgerungen.“ …

Er zögerte; es wurde ihm jedenfalls nicht leicht, den Schwerpunkt der Mittheilungen in die geeignete Form zu kleiden.

„Wären wir in A.,“ fuhr er etwas rascher fort, während er zwischen den feinen Fingerspitzen die Enden seines Lippenbartes drehte, „dann bedürfte es meiner Auseinandersetzungen nicht – ich gäbe Dir die Papiere, die Deine Mutter in meine Hand gelegt hat; sie enthalten Alles, was mir jetzt Mühe und – Schmerz macht, auszusprechen. … Deinem jungen Leben werden von nun an engere Grenzen gezogen, als bisher – armes Kind! … Der vollständige Ertrag jener Güter, die Du unrechtmäßiger Weise besitzest, soll für die Armen im Lande verwendet werden; ich bin ausersehen, sie zu verwalten; dagegen habe ich die Verpflichtung Dir über Heller und Pfennig alljährlich Rechenschaft abzulegen. Bei Deinem Eintritt in die Abgeschiedenheit sollst Du mich scheinbar als Deinen Erben bezeichnen; ich aber habe sodann in meinem Testament die fraglichen Güter als ,dankbarer Freund’ dem Fürstenhause zu hinterlassen.“

Die Hände des jungen Mädchens waren vom Gesicht niedergesunken. Sie wandte mechanisch langsam den Kopf, und die erloschenen Augen hefteten sich starr auf den Mund des Sprechenden, der ein leises nervöses Beben in den Winkeln nicht zu unterdrücken vermochte.

„Und wie heißt die Abgeschiedenheit, in die ich eintreten soll?“ fragte sie, jedes Wort schwer betonend.

„Das Kloster, meine liebe Gisela! … Du sollst auch für die Seele Deiner Großmutter beten und sie von ihrer schweren Schuld erlösen.“

Jetzt schrie sie nicht auf – ein irres Lächeln flog über ihr Gesicht.

„Wie, in’s Kloster will man mich stecken? Zwischen vier enge, hohe Mauern? Mich, die ich im grünen Wald aufgewachsen bin?“ stöhnte sie. „Ich soll, so lange ich lebe, nur das eingeschlossene Stückchen Himmel über mir sehen? Ich soll ein ganzes Leben lang Tag und Nacht Gebete hersagen, immer dieselben Worte, die schon in den ersten Tagen eine sinnlose Plapperei werden? Ich soll mich zwingen, nicht mehr Gottes Ebenbild zu sein, sondern eine stumpfe Maschine, der man das Herz ausgerissen und den Geist zertreten hat? … Nein, nein, nein! …“

Sie sprang auf und streckte ihrem Stiefvater gebieterisch den Arm entgegen.

„Wenn Du wußtest, was mir bevorstand, dann mußte auch von meinem ersten Denken an Alles geschehen, mich mit meiner furchtbaren Zukunft vertraut zu machen – so aber habt ihr mich meinen eigenen Gedanken und Schlüssen überlassen, und ich will Dir sagen, wie ich über das Kloster denke! … Hat sich je der Mensch von Gott und von der klaren Vernunft weit verirrt, so ist es in dem Augenblick gewesen, wo er das Kloster erfunden! Es ist Wahnsinn, eine Anzahl Menschen in ein Haus zusammenzustecken, damit sie Gott dienen! … Sie dienen ihm nicht, sie verdrehen seine Absichten, denn sie lassen die Kräfte in Nichtsthun verwelken, die ihnen zur Arbeit gegeben sind. Sie schlagen das Pfund todt, das er ihnen hinter die Stirn gelegt hat, und je weniger sie denken, desto hochmüthiger sind sie und halten ihre Stumpfheit für Heiligkeit – sie arbeiten nicht, sie denken nicht, sie nehmen von der Welt und geben ihr nichts zurück – sie sind ein isolirter, unnützer, träger Menschenhaufe, der sich von den Arbeitsamen füttern läßt. …“

Der Minister stand auf; sein Gesicht war fahl wie das einer Leiche. Er ergriff den Arm des jungen Mädchens und bog ihn nieder.

„Besinne Dich, Gisela, und bedenke, was Du lästerst. Es sind geheiligte Institutionen –“

„Wer hat sie geheiligt? Die Menschen selbst. … Gott hat nicht gesagt, als er den Menschen schuf: ,Verstecke dich hinter Steinen und verachte alles, was ich der Welt Schönes und Herrliches gegeben habe?“

„Schlimm für Dich, mein Kind, daß Du in Dein neues Leben eine solche Philosophie mitbringst!“ sagte der Minister achselzuckend. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr. Einen Moment maßen sich die vier Augen, als wolle Jedes die Kraft des Anderen angesichts des ausbrechenden Sturmes prüfen.

„Ich werde nie in dieses neue Leben eintreten, Papa!“ Diese Erklärung, die der blasse Mund des jungen Mädchens so entschieden und unumwunden hinwarf, entzündete eine wilde Flamme in den weitgeöffneten Augen Seiner Excellenz.

„Du wärst in der That so entartet, den Wunsch und Willen Deiner sterbenden Mutter zu mißachten?“ fuhr er auf.

Gisela trat vor das Bild ihrer Mutter?

„Ich habe sie nicht gekannt, und doch weiß ich, wie sie gewesen ist,“ jagte sie. Ihre Lippen zuckten, und ihr ganzer Körper fieberte, aber die Stimme klang fest und sanft. „Sie ist mit ihren kleinen Füßen über die Wiesen gelaufen und hat Blumen gesucht, so viel, so viel, daß die Hände sie nicht mehr fassen konnten. Sie hat zum blauen Himmel aufgejubelt und hat Alles geliebt, den Sonnenschein, die Blumen, die ganze, weite Welt und die Menschen, die d’rin sind! Hätte man sie in ein finsteres, kaltes Haus gesteckt, sie würde mit den Händen verzweifelnd gegen die Mauern geschlagen haben, um sich zu befreien. … Und diese glückseligen Augen sollen mit dem finstern Wunsch auf mir geruht haben, das arme, kleine, unschuldige Leben dereinst lebendig eingemauert zu wissen?“

„Du siehst sie hier als Braut, Gisela! Da ist freilich das [384] Gesicht noch sonnig – ihr späteres Leben war sehr ernst und wohl geeignet, sie Maßregeln für den Lebensgang ihres Kindes ergreifen zu lassen –“

„Durfte sie das? … Ist wirklich den Eltern die Macht verliehen, in den Jahren, wo ihr Kind die Augen kaum für die Welt geöffnet hat, wo sie seine Seele noch gar nicht kennen, zu sagen: ,Wir verurtheilen dich zu lebenslänglichem Kerker!‘? Ist es nicht der grausamste Egoismus, ein völlig schuldloses Geschöpf die Sünden seiner Vorfahren abbüßen zu lassen? …“

Sie strich sich mit beiden Händen über die Stirne, hinter der es klopfte und hämmerte.

„Aber es soll so sein, wie meine Mutter wünscht,“ sagte sie nach einem tiefen Athemholen. „Ich will schweigen und das schlimme Geheimniß wie sie weiterschleppen, – die veruntreuten Güter sollen einst durch ‚Erbschaft‘ wieder an das fürstliche Haus zurückfallen. … Ich will einsam leben – wenn auch nicht im Kloster. …“

Der Minister, dessen Züge sich anfänglich geglättet hatten, prallte förmlich bei diesem Schlusse zurück.

„Wie“ – stieß er hervor.

„Der Ertrag der Besitzungen soll bis zu meinem Ende an die Armen des Landes vertheilt werden, aber durch mich selbst,“ unterbrach sie ihn gelassen. „Ich will auch, soviel ich vermag, die Seele meiner Großmutter von ihrer Schuld erlösen, wenn auch nicht durch das Beten des Rosenkranzes. … Papa, ich weiß, daß ich Gott nicht besser dienen kann, als wenn ich für die Menschen lebe, wenn ich alle Kräfte –“

Ein gellendes Auflachen unterbrach sie – es hallte grausig von den Wänden wider.

„O edle Landgräfin von Thüringen, ich sehe schon, wie sie in das Greinsfelder Schloß einziehen, die Bettler und Krüppel! Ich sehe, wie Du zum Nutzen und Frommen der darbenden und leidenden Menschheit dünne Armensuppe kochst und lange wollene Strümpfe strickst! Ich sehe auch, wie Du heldenmüthig den Entschluß festhältst, vor den Augen der spöttelnden Welt als alternde Jungfrau einherzuwandeln … aber da klopft eines schönen Tages ein edler Ritter an die Herberge der Elenden, und – vergessen ist der ‚Gott wohlgefällige‘ Dienst, vergessen der letzte Wille der Mutter – die Armen zerstreuen sich nach allen vier Winden, der neue Gebieter von Greinsfeld acceptirt als Mitgift seiner Gemahlin den erschlichenen Nachlaß des Prinzen Heinrich, und – das fürstliche Haus in A. wischt sich den Mund! … Einfältiges Geschöpf,“ fuhr er grimmig fort – es klang wie das Knurren des tiefgereizten Raubthieres – „meinst Du, weil ich Dir in unbegreiflicher Geduld und Langmuth Zeit lasse, Deine Mädchenweisheit auszukramen, ich beuge mich nun auch pflichtschuldigst Deinem geistreichen Endbeschluß? … Du wagst wirklich zu denken. Dein eigener Wille käme in Betracht, wenn ich Dir gegenüberstehe mit einem unumstößlichen Gebot? … Du hast nichts zu denken, zu fühlen, zu wünschen – Du hast einfach zu gehorchen; Du hast einen einzigen Weg vor Dir, und weigerst Du Dich, ihn zu gehen, so werde ich Dich führen – hast Du mich verstanden?“

„Ja, Papa, ich habe Dich verstanden, aber ich fürchte mich nicht – Du hast nicht die Macht, mich zu zwingen!“

Er hob in sprachlosem Grimm den Arm. Das junge Mädchen, wich vor dieser drohenden Bewegung nicht um einen Schritt zurück. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, mich zu berühren!“ sagte sie mit flammenden Augen, aber ruhiger, unerschütterter Stimme.

In demselben Augenblick wurde draußen geklopft – in der geräuschlos geöffneten Thüre erschien ein Lakai.

„Seine Durchlaucht der Fürst!“ meldete er mit einem tiefen Bückling.

Der Minister stieß einen halblauten Fluch aus. Dennoch trat er sofort bewillkommnend an die Schwelle, während der Lakai die Thür weit zurückschlug.

„Aber, mein lieber Fleury, was soll ich denken?“ rief der Fürst in das Zimmer tretend; sein Ton klang scherzend, allein auf der Stirn lag eine Wolke, und die kleinen grauen Augen konnten die Symptome des Mißmuths nicht verbergen. „Haben Sie ganz vergessen, daß drüben im Walde die ganze schöne Welt von A. darauf brennt, Sie zu verherrlichen? Das weiße Schloß ist bereits menschenleer, und Sie lassen warten? … Dazu meldet man mir vor einer Stunde, unsere schöne Gräfin sei angekommen, ich aber sehe keinen Schatten von ihr, während Sie doch wissen, daß sie an meinem Arm zum ersten Mal in die Welt eintreten soll!“

Gisela, die bis dahin im verdunkelten Hintergrund gestanden hatte, trat vor und verbeugte sich.

„Ah, da sind Sie ja!“ rief Serenissimus erfreut und streckte ihr beide Hände entgegen. „Mein bester Fleury, ich könnte wirklich böse werden! Frau von Herbeck“ – er wandte sich nach der offenen Thüre zurück; draußen im Corridor stand in schüchtern wartender Haltung die Gouvernante – „Frau von Herbeck sagt mir, daß die Gräfin bereits seit einer vollen Stunde hinter dieser Thüre verschwunden sei.“

„Durchlaucht, ich hatte meiner Tochter wichtige Mittheilungen zu machen,“ unterbrach ihn der Minister. Vielleicht stand er Serenissimus zum ersten Mal nicht in der unterwürfigen Diplomatenhaltung gegenüber – der Blick des fürstlichen Herrn fuhr erstaunt über das Gesicht, das alle seine steinerne Ruhe verloren hatte und rückhaltslos eine tiefe Gereiztheit widerspiegelte.

„Mein lieber Freund, Sie werden doch nicht denken, daß ich tactlos in Ihre Familienangelegenheiten eindringen will!“ rief er verlegen. „Ich ziehe mich sofort zurück –“

„Ich bin zu Ende, Durchlaucht,“ entgegnete der Minister, „Gisela, fühlst Du Dich wohl und stark genug?“ – ein drohender Blick bohrte sich in das Gesicht des jungen Mädchens.

Frau von Herbeck hatte für dergleichen Blicke ein bewunderungswürdiges Verständniß.

„Excellenz, wenn ich rathen darf, so kehrt die Gräfin ohne Weiteres nach Greinsfeld zurück,“ sagte sie, plötzlich hinzutretend.

„Sie sieht schrecklich aus –“

„Kein Wunder!“ rief der Fürst unwillig. „In diesem Zimmer herrscht eine Luft zum Ersticken. Wie Sie eine volle Stunde hier ausgehalten haben, ist mir unbegreiflich, mein Kind!“

Er reichte Gisela den Arm. Sie wich scheu zurück, und ihre Augen irrten am Boden. Sie sollte unbefangen mit ihm verkehren, der so schmählich hintergangen worden war … sie war Mitwisserin des abscheulichen Verbrechens und mußte schweigend mitspielen in der Komödie – ihre ganze Seele gerieth in einen unbeschreiblichen Aufruhr.

„Die Waldluft wird Sie sofort herstellen,“ sagte der alte Herr gütig und ermuthigend, indem er ihre bebende Hand ergriff und sie auf seinen Arm legte.

„Ich bin nicht krank, Durchlaucht,“ entgegnete sie fest, wenn auch mit schwacher Stimme, und folgte ihm hinaus in den Corridor, während der Minister, nach seinem Hut greifend, eine reizende Porcellanstatuette umstieß – sie zerschmetterte auf dem Fußboden in tausend Scherben.

(Fortsetzung folgt.)

Der letzte Weg. Der Zeichner dieses Bildes (auf S. 381) macht uns zu Augenzeugen eines Begräbnißzugs auf einem der dunkelgrünen Alpenseen seiner schönen oberösterreichischen Heimath. Für die Uferbewohner jener Seen ist häufig, wie der Kirchweg, so auch der letzte Weg nur über das Wasser möglich, oder wenigstens am bequemsten und kürzesten, und darum ist dort das Bild etwas Bekanntes, welches unserem Auge immerhin einen seltsamen Anblick bietet. Von allen Leichenbeförderungsweisen, die wir unseren Lesern bildlich vorführten, auf der Schulter der Träger, auf Wagen, auf Rossen, auf Schlitten etc., ist die auf dem Wasser die schönste, denn wer auch in dem Sarge da ruhen mag, und wenn sein Lebensgang noch so hart war, sanfter kann er nicht zu Grabe getragen werden, als von den weichen Wellen, die den alten Kahn umrauschen.


Kleiner Briefkasten.

R. v. W. in Berlin. Sie haben Recht und wir danken Ihnen für den freundlichen Wink hinsichtlich des Versehens, das sich in den Artikel „Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens“ eingeschlichen hat. Hinter dem Satze der letzten Spalte (S. 331) des Artikels: „Die Art der Anwendung dieser Grundsätze mögen zum Schluß einige Beispiele erläutern“ – fehlt jedoch Nichts, sondern die drei folgenden Sätze sind nur falsch gestellt (verhoben), indem der erste Satz („Wie steht es etc.“) den letztm bilden muß. Dieser Verhebungsfehler ist in einer Anzahl von Exemplaren übersehen worden und ein solches auch in Ihre Hand gekommen.


Inhalt: Zu wirthschaftlich. Von Fr. Gerstäcker. – Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall. Von Friedrich Hofmann. Mit Portrait. – Amerikanische Volksjustiz. Von Carl Türcke. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. V. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der letzte Weg. Mit Abbildung. – Kleiner Briefkasten.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ich muß hierbei bemerken, daß ich selber keine Hochzeitsreise gemacht habe.
  2. Chorgeschäftliche Benennung für die Leichenbegängnisse, je nachdem dabei der ganze oder nur der halbe Chor zu singen hat.
  3. * Mit dieser Beurtheilung Schücking’s dürfte der berühmte Verfasser obiger Briefe bei den Lesern unserer Zeitschrift doch auf einigen Widerspruch stoßen. Schücking’s Erzählungen in der Gartenlaube mit ihrer reichen Erfindung und ihrer eleganten realistischen Durchführung sind stets mit Enthusiasmus aufgenommen und, was mehr als alles Andere für sie spricht, ohne Ausnahme dramatisirt worden. Das geschieht sonst bei Geschichten voller „blauer Wunder“ in der Regel nicht. D. Red.