Die Gartenlaube (1880)/Heft 48

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 48.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Zwischen Fels und Klippen.
Eine Strandromanze von Ernst Ziel.
(Fortsetzung.)


3.

„So!“ sagte Vater Claus, indem er mit Daniel von der Felsenhöhe herabkam und sich der Hütte zuwandte, „nun haben wir jeden Winkel und jede Höhle der Insel durchsucht – sie sind verschwunden.“

„Ja, Herr!“ meinte Daniel und sah ihn mit offenem Munde schläfrig an.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fuhr der Alte fort, „ein räthselhaftes Mädchen ist und bleibt sie doch. Heute Nacht noch Gischt und Gezische, wie wenn Feuer und Wasser zusammengerathen, sowie ich nur den Namen nenne. 'Nein, den Olaf nicht,' zeterte sie, 'den nicht!' – und nun? Fort, Beide fort! Die Dämmerung bricht schon herein. Vier Uhr und noch immer nicht zurück! Ist Dir je so etwas vorgekommen, Daniel?“

„Nein, Herr!“ entgegnete er und blinzelte ihn wieder mit seinen kleinen Augen dumm an.

„Und wohin?“ polterte der Graukopf verdrießlich und knöpfte in innerer Unruhe seinen Rock zwecklos auf und dann wieder zu. „Gott weiß es. Hinaus könnte man bei dem Höllenwetter allenfalls segeln, obgleich es ein tolles Stück wäre –“

„Ja, Herr.“

„Aber hinein in den Felsenhafen gewiß nicht, ohne unbarmherzig zu ersaufen.“

„Nein, Herr.“

„Hast Du dem Axel aufgetragen, nachzusehen, ob das Boot an der Kette liegt?“

„Ja, Herr.“

„Und ihn seitdem noch nicht wiedergesehen?“

„Nein, Herr.“

„Zum Kukuk mit Deinem: 'Ja, Herr – nein, Herr!' Geh’ selbst und sieh’ nach dem Boote!“

„Ja, Herr.“

Daniel setzte seine breiten, plumpen Stiefel eben in Bewegung, als Vater Claus ihm nachrief: „Halt, mein Junge! Da kommt Axel selbst.“

„Das Boot ist fort,“ sagte Dieser, indem er über die Klippen zu ihnen daherkam, „fort mit Rudern und Segeln, Herr. Nur das andere Boot, das schon seit Wochen leck ist, liegt an der Kette.“

„Verdammt! So ist kein Zweifel mehr,“ fluchte der Alte und stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf.

„Eine Entführung, wie sie im Buche steht!“ lachte Axel, aber in sein Lachen mischte sich doch heimlich ein Ton ängstlicher Beklommenheit.

„Das begreife, wer kann!“ wetterte der Greis, und in seinem sturmzerfressenen Gesichte standen Zorn und Schmerz zugleich.

„Weiberherzen, Weiberherzen!“ spottete Axel weiter.

„Blasser Undank!“ seufzte Vater Claus, „hab’ ich sie nicht gehalten wie mein eigen Kind?“

Wie Euer eigen Kind?“

„Ja doch, Junge! Eigen Kind oder nicht – brauchst nicht gleich Alles auf die Goldwage zu legen,“ murrte er, und um seine Mundwinkel spielte etwas wie versteckte Verlegenheit. „He, Baron!“ rief er dann abbrechend Hallerstein zu, der, das Fernrohr am Auge, soeben auf der Höhe eines benachbarten Felsens erschien. „Seht Ihr etwas?“

„Einen schwarzen Punkt, wie ein Boot,“ antwortete Dieser mit dem Ausdrucke höchster Erregung. „Ja, ein Boot – eine schlanke Mädchengestalt darin – Karin! Nun etwas hell Schimmerndes – Rustan’s weiße Haare! Und da, da – eine Mannesgestalt –“

„Das ist Olaf,“ unterbrach ihn der Alte, der zu ihm getreten war und durch das Fernrohr in den Orkan hinaus gelugt hatte. „Nur ein Wunder kann sie retten. „Daniel,“ wandte er sich an den Burschen, „lauf’ und bringe Stricke und Rettungskörbe zur Stelle! Wollen thun, so viel wir vermögen. Vorwärts!“ Daniel ging. –

Eine Minute später standen die Anderen, Mutter Hedda unter ihnen, auf dem Felsen um den Baron; sie blickten angstvoll in die See hinaus. Schon dunkelte der Abend, und noch immer war der Sturm im Wachsen. Er schwang seine feuchten schwarzen Fittige mit einer Gewalt, daß das Wasser sich in wilder Empörung aufbäumte. Es war, als wollte die Fluth das Land in rasendem Ansturze hinabschlingen. Das kleine Fahrzeug schoß mast- und ruderlos mit fliegender Schnelle vor dem Wetter her, über die Untiefen hin und an drohenden Felsbänken vorüber. Plötzlich tönte, wie eine Geisterstimme, angstvolles Rufen durch den Sturm. Alle fuhren erschrocken zusammen.

„Sie sehen uns,“ sagte der Alte? „Olaf ruft uns an. Himmel und Hölle! Was thun? Wie helfen? Unser zweites Boot ist leck.“

„Wir können nicht wider die Sterne,“ meinte Mutter Hedda.

Das Sausen des Windes schwieg einige Secunden, und durch die Stille der Luft gellte wieder der Nothruf Olaf’s, wie die [782] Stimme eines Sterbenden. Ein Schwarm schrillender Möven, wie er einem neuen Windstoß voranzufliegen pflegt, schoß unstät über die im Abenddunkel liegenden Felsklippen hin, und Gischt und Wolken jagten hinterdrein.

„Seht doch, Herr!“ rief auf einmal Axel, „Karin hält etwas Dunkles umklammert, als wollte sie’s nicht fahren lassen im Sturme. Sieht es nicht aus, wie eine kleine Kiste?“

„Wär’ es möglich? Sollte denn –?“ rief Vater Claus, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt; „das könnte Euere Truhe sein, Baron. Sie kommen vom Wrack, die Verwegenen!“

„Meine Truhe! Ja, sie ist’s,“ fuhr erschrocken Hallerstein auf, der durch’s Fernrohr scharf hinaus gespäht hatte. „Ha, war es so gemeint? O, Du heldenmüthiges Mädchen!“

„So ist Alles klar,“ sagte der Alte.

„Helft, rettet!“ wandte Hallerstein sich an die Umstehenden. Er rang die Hände – seine Blicke flehten. „O, daß nicht ich, ich selbst nicht helfen kann!“

„Alles ist zu spät, fürchte ich,“ kam es dumpf von des Greises Lippen. „Hierher, Daniel!“ winkte er dem Burschen, der eben mit Leitern und Stricken zurückkehrte. „Halt’ Alles bereit!“

Abermals erscholl der Ruf vom Boote her. Er verhallte in dem Tosen von Wind und Wasser; denn wilder als je vorher, brausend und zischend, kam jetzt die Bö über die schwarze Tiefe dahergefegt; sie kämmte die weißen Häupter der Wellen heulend ab und überfiel das kleine Fahrzeug mit wüthendem Anpralle. Tief auf die Seite gepreßt, tanzte es bald auf dem Rücken einer riesigen Welle, bald fuhr es mit gewaltigem Rucke in den gähnenden Abgrund hinab, und wie eine tanzende Wolke von Schaum und Sprühregen stürzte das Wasser darüber hin. Inzwischen brach das Dunkel mehr und mehr herein.

„Hilf, Himmel,“ rief der Alte, „jetzt gerathen sie in die Brandung. Ein Augenblick noch, und Alles ist entschieden. Holla, Axel, Daniel, die Stricke los, die Körbe herbei!“

Das Herüber und Hinüber der Stimmen klang wie ein wirres Gemisch von Flüchen und Gebeten durch den brausenden Orkan, und der Widerhall der einzelnen Windstöße sprang von Klippe zu Klippe, eine endlos hallende Sturmsymphonie. Ein Hülferuf noch vom Boote her, ein geller Verzweiflungsschrei – und eine machtvoll rollende Sturzwelle schleuderte das Fahrzeug mit dumpfem Krache mitten in das spitzige Gezack der Uferklippen. Die Brandung rollte in donnerndem Getöse darüber hinweg und rannte grollend gegen das steil ansteigende Gestade. In demselben Momente flogen Stricke und Rettungskörbe, von Axel’s nervigem Arme geworfen, in das mit weißem Schaum überschüttete Boot – umsonst! Die nächste zurückrollende Welle zeigte ein gräßliches Bild: Gekentert, mit dem Kiele nach oben, tanzte das Fahrzeug auf der Fluth, unter dem Zuge der Wellen steigend und sinkend. Krampfhaft an Bug und Flanke des Bootes geklammert, hing Karin im Tumulte der Wellen; ihre Arme leuchteten wie weiße Korallen am Riffe durch die Dämmerung, und schäumende Wasserzungen leckten, eine nach der andern, lüstern darüber hin. Weitab von ihr, jenseits des Bootes, kämpfte Olaf verzweifelt mit den Wellen, aber hoch oben auf dem Kiele des gekenterten Fahrzeuges, gleitend und glitschend auf dem nassen, schlüpfrigen Boden, stand Rustan und heulte und wimmerte in den Sturm hinaus.

„Leitern her!“

„Der Bursche ist verloren.“

„Werft die Stricke noch einmal!“

„Rettet das Mädchen!“

Die Rufe hallten und verhallten in wirrem Durcheinander. Nun noch ein letzter Aufschrei. Olaf winkte wie zum Abschied und versank am Felsen in die schwarze Tiefe.

In demselben Augenblicke ließ Karin mit erlahmenden Kräften das Boot fahren; sie machte eine verzweifelte Anstrengung; sie versuchte zu schwimmen, und – wirklich! – mit starken Armen theilte sie die anstürmenden Wasser, aber nur wenige Schläge – eine Welle faßte sie und warf sie mit zerschmetternder Wucht gegen die scharfe Kante einer Klippe; ihr Haupt sank zurück, kraftlos, ohne Regung. Da – mit gewaltigem Satze war Rustan vom Boote herab und neben der Sinkenden; er schlug seine Zähne in ihr Gewand und, ein rüstiger Ringer und Retter, ruderte er mit der kostbaren Last durch Braus und Brandung.

„Er kann sie nicht retten; er muß unterliegen,“ wehklagte Vater Claus, aber das kräftige Thier strebte tapfer dem Ufer zu. „Nun faßt ihn der Strudel zwischen den Riffen; der wird ihn verschlingen.“

In wildem Wirbel wurde Rustan hin und her geschleudert, und secundenlang war er den Blicken der angstvoll Zuschauenden entschwunden, dann aber blickte sein Kopf aus den Wellen hervor, verschwand abermals und tauchte endlich doch wieder auf.

„Seht!“ rief jetzt der Baron, „ein gigantischer Wasserberg rollt daher, größer als alle anderen zuvor,“ und in demselben Augenblick versanken Hund und Mädchen in den brodelnden Schaum einer sie überschüttenden riesigen Woge. „Vorbei!“ schluchzte Hallerstein wild auf; „alles vorbei!“ aber aus Gischt und Gährung tauchte Rustan’s zottiges Haupt auch diesmal wieder empor, nur noch eines Steinwurfes Weite vom Ufer entfernt. Er trug die Ohnmächtige wie mit eisernen Zähnen keuchend durch das entfesselte Element, allein seine Kraft schien fast erschöpft. Jetzt fuhr der Orkan mit gesteigerter Gewalt über die Wasser hin. Noch eine brandende Welle – und gerettet auf dem Felsen des Strandes lagen Hund und Herrin.

In dem nun völlig hereingebrochenen Zwielicht der Nacht gewährten die Zwei einen ergreifenden Anblick: die Augen halb geöffnet, ohne Glanz, ohne Leben, lag Karin regungslos und starr auf dem dürftigen Moose hingestreckt, ein stilles, reines Alabasterbild; ihr langes, goldig schimmerndes Haar hing tropfend über einen Granitblock. Aber über ihr, keuchend auf ihre Brust gepreßt, rang Rustan, der muthige Schwimmer, mit fliegenden Flanken nach Athem. Er hatte die triefenden Tatzen wie umarmend um ihren Hals gelegt und blickte ihr mit seinen klugen Augen groß und fragend in das schöne bleiche Antlitz. Ein Stern schimmerte durch die Wolken herab und umwob das rührende Bild mit seinem zitternden Lichte.

Hallerstein war der Erste, der hinzutrat, nur ein Blick auf Karin, und „Todt, todt!“ rang es sich von seinen Lippen. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Von Schmerz übermannt, taumelte er in die Arme des herbeigeeilten Axel. Die ungeheuern Erlebnisse von gestern und heute hatten endlich seine Kraft erschöpft. Mit schwindendem Bewußtsein hörte er noch, wie Mutter Hedda, die mit dem Alten vom Felsen herabkam, etwas murmelte von der niemals trügenden Schicksalsschrift am Firmament und der Menschen Ohnmacht. Er fühlte sich aufgehoben, hinweg getragen – die Sinne schwanden ihm völlig, und Dunkel umgab ihn. –

Als er wieder erwachte, lag er in voller Kleidung in der Hütte; er lag auf demselben Lager, auf dem er gestern, ein Halbertrunkener, die Augen aufgeschlagen und als erstes Bild des wieder erwachenden Lebens Karin’s reizende Gestalt erblickt hatte. War es wirklich dieselbe Hütte? Ja, er konnte sich nicht täuschen. Hier die mit Segeln und Seekarten bedeckten Wände, dort Compasse und Ferngläser und die aus einem zertrümmerten Bootc zurechtgezimmerte Ruhebank – es waren dieselben Dinge wie damals, die ihn heute umgaben. Nur der Kienspan an der Decke brannte nicht – durch das niedrige kleine Fenster lachte der Morgen hell herein.

Hallerstein fühlte sich noch halb wie in den Bildern eines schweren Traumes gefangen; halb dämmerte die schreckliche Wirklichkeit in ihm auf. Wehmuth beschlich ihn; es war ihm, als müßte Karin wieder vor ihm stehen, als müßte sein erwachendes Auge, von süßem Zauber ergriffen, wie gestern einen plötzlichen tiefen Blick thun in die reinen, blauen Augensterne des geliebten Mädchens – und heute? Eine Thräne rollte ihm in den Bart hinab. Zwischen gestern und heute lag ja ein klaffendes Grab – sein todtes Glück schlief darin. Er stöhnte leise, und: „Ein großer Durst nach –“ flüsterte er vor sich hin. „Ein Durst, ewig unstillbar.“

Nun horchte er auf; er horchte nach dem Sturme. Alles ruhig – kein Wellengeräusch, kein Windesrauschen mehr; alle Stimmen der Natur schliefen. Eine Föhre, die ihre spärlichen Zweige an’s Fenster lehnte, stand regungslos in der ruhigen, klaren Morgenluft. Ein Strandvogel wiegte sich auf einem ihrer Aeste – der Sturm hatte sich über Nacht gelegt. Hallerstein dachte an sein todtes Mädchen – das Schweigen um ihn that seinem Herzen wohl. Aber nun vernahm er doch etwas in der Stille: leises, eifriges Gesumme von menschlichen Lauten, ernst, fast feierlich, dann schwere Männerschritte auf dem Gestein. „Mutter [783] Hedda, wir haben ihn,“ hörte er sagen. Rustan heulte, und seine Stimme klang wie Weinen und Wehklagen. „Sie bringen Olaf's Leiche,“ dachte Hallerstein. „Sie haben ihn in den Klippen gefunden.“

Es schauderte ihn. Er schloß wieder die Augen und seufzte still in sich hinein. Da plötzlich bewegte sich etwas dicht neben ihm, und – war es seine erregte Phantasie, die ihn täuschte? – eine warme Hand legte sich leise auf die seinige. Er zuckte zusammen; er blickte auf:

„Karin!“

Da stand sie vor ihm in ihrer ganzen Schönheit, aber sie war bleich; ernste, ruhige Hoheit, ihrem Wesen sonst so fremd, umgab sie, und ein leidender Zug auf Stirn und Wangen ließ sie reizender, geheimnißvoller erscheinen als je.

„Der Todte ist da,“ sagte sie feierlich. „Steht auf und gebt ihm die letzte Ehre!“

Hallerstein war schnell vom Lager auf und neben ihr.

„Karin, ist es möglich – Du lebst?“ rief er stürmisch. Er wollte sie in die Arme schließen, aber ein einziger Blick des Mädchens, so tief traurig, so voll Würde und Größe, lähmte ihm jede Bewegung. Nur ihre Hand ergriff er. „Ich kann es nicht fassen. War alles Schreckliche nur ein Traum der Nacht? War es Wirklichkeit?“

„Wirklichkeit!“ hauchte sie. „Das Meer und Karin sind treue Freunde. Das Meer kann mich strafen für meinen Uebermuth, nie mich tödten; denn es liebt mich, wie ich es liebe. Nur eine Betäubung – nichts weiter. Mutter Hedda's wärmender Kräutertrank, und Ihr seht – Karin ist wieder die alte.“

„Mädchen, Mädchen,“ jubelte er, „dann beginnt meines Lebens Glück mit heute.“

Er führte sie sanft an das kleine Fenster. Wie lag sie groß und erhaben, ruhig und kampflos da, die gewaltige Natur des Meeres, die noch gestern eine Stätte wilden Tumults gewesen! Licht und heiter stand die Sonne am wolkenlosen Himmel, und in ihrem klaren reinen Glanze glitzerten die grünbraunen Halme an den moosbärtigen Felsen. Das Wasser plätscherte leise murmelnd an den Strand, und nur an dem ruhigen Auf- und Abtauchen der Fluth spürte man das Athmen der See. Eine Schwalbe segelte durch die unbewegte Luft.

„Sieh, Karin,“ sagte er mit Feuer, „so schön ist die Welt.“ Und er sah sie groß und forschend an, als wollte er fragen: Kannst Du verstehen, was ich empfinde?

Sie wurde noch bleicher als vorhin. War nicht in seinen Worten etwas, das sie ihres alltäglichen Sinnes entkleidete und ihnen eine besondere Beziehung lieh? Karin wagte nicht, darüber nachzudenken – nun wurde sie blutroth.

„Kommt! Der Todte wartet,“ bat sie wehmüthig.

Draußen vor der Thür hatten sie den blassen, schönen Jüngling auf ein weißes Segel gelegt. Sie standen gesenkten Hauptes um ihn, Vater Claus und die beiden Bursche. Ein Bild der Versöhnung und Ruhe lag er vor ihnen, wie Einer, der nach hartem Tage endlich schlafen darf. Die Sonne schien ihm hell in's Gesicht. Der Tod hatte jeden schmerzlichen Zug aus seinem schwermüthigen Antlitz hinweggewischt – er lächelte fast. Als Karin und Hallerstein aus der Hütte traten, trug Mutter Hedda gerade Kräuter und einige Haideblumen herzu.

„Blumen und Todte gehören zusammen,“ meinte sie und bestreute den todten Olaf mit Eriken und duftendem Grün. „Es ist nicht gut, daß Einer unbekränzt scheidet; denn die Blumen sind die Sterne der Erde, und die Todten nehmen sie mit sich hinauf zu den Blumen des Himmels, den Sternen, die uns heller leuchten und deutlicher das Schicksal künden, je öfter wir sie grüßen durch unsere stillen Boten –“

„Laß' das!“ unterbrach sie Vater Claus und schlug das Segel über dem Todten zusammen. „Tragen wir ihn in sein letztes Bett! Ich hab' es ihm schon heute früh ausgespähet.“

Sie hoben den blassen Mann sacht mit der Hülle auf, der Alte zu Füßen, die beiden Bursche zu Häupten, und langsam setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Hallerstein ging neben Karin. Es war ein langer, mühevoller Weg über Fels und Stein, hoch und höher. Niemand sprach ein Wort; mitunter nur seufzte Karin leise vor sich hin oder Mutter Hedda murmelte etwas in sich hinein, wie eine Todtenklage oder eine Beschwörungsformel. Die Möven kreischten und lachten heiser in den Schluchten.

„Wir sind am Ziel,“ sagte endlich der Alte. Sie waren auf der höchsten Kuppe der Insel angelangt, auf dem Mövenstein. Vor einer tiefen Kluft machten sie Halt und legten den stillen Jüngling nieder. Sie schlugen das Segel zurück und ließen das heitere Licht des Morgens noch einmal das Haupt des Todten umspielen. Das Meer grüßte in ernster Ruhe majestätisch leuchtend aus der Tiefe herauf, und die buchtenreichen Küsten Finnlands winkten mit ihren grünen Nadelwäldern groß und prächtig herüber. Vater Claus entblößte das Haupt und faltete die Hände zum stillen Gebet. Alle Andern thaten wie er. Jede Lippe blieb stumm, aber die Natur redete vernehmlich; denn ein leiser Wind glitt seufzend über die andächtige Gruppe hin; er bewegte zitternd die grauen Haare des Alters, streifte die Locken der Jugend und küßte die bleiche Stirn des Todten, als wollte er sagen: es ist alles gleich: jung oder alt; der Tod ist doch das letzte, das Mächtigste. Nun breiteten Axel und Daniel Stricke über die Kluft, und der Alte trat prüfend hinzu; er neigte sich hinab und warf frisches Moos in den Spalt, dem Todten ein weiches Bett zu schaffen. „Kommt!“ sagte er dann, und „Kommt, kommt!“ wiederholte das Echo von unten herauf, als riefe die Felsengruft den Lebensmüden zur ewigen Ruhe hinab. Jetzt schlugen sie das Segel über dem Antlitz des Todten wieder zusammen, hoben ihn langsam auf und legten ihn auf die Stricke über der Tiefe. Mutter Hedda deckte auf das Segel, da, wo es Kopf und Brust verhüllte, noch etwas Farrenkraut, und Karin that einige Blumen hinzu, die sie am Wege gepflückt. Dann erscholl des Alten seemännischer Commandoruf: „Los!“ und lautlos versank die Leiche in den Abgrund; nur die Stricke knirschten leise am Gestein. Ein Adler flog von seinem Horste auf und stieg ruhevoll in die Luft empor.

„Helft mir den Stein über den Spalt wälzen!“ rief Vater Claus. Die Bursche kamen herbei, und nun legten die Drei die Hände an einen Granitblock von mäßiger Größe, welcher an der Kante der Kluft lag. Dröhnend fiel er über den Spalt und schloß mit breitem Rücken das seltsame Felsengrab.

„Nun mag er ruhig schlafen, der brave Junge,“ sagte der Alte.

„In erhabener Einsamkeit, wie ein Held der Vorzeit,“ ergänzte Hallerstein.

Wortlos, wie sie gekommen, stiegen sie die Felsen wieder hinab. Schon hinter dem ersten Kegel des abfallenden Weges aber vermißten sie Karin. Hallerstein ging zurück.

Sie saß auf dem Stein über dem todten Olaf.

„Mädchen, was treibst Du hier?“

„Ich denke nach – ach, über so vieles,“ antwortete sie. „Hier bin ich den Wolken näher. Das Meer da unten sieht mich so gewaltig an, und die Stille ringsum erschließt dem Sünder das Herz in Reue und Wehmuth. Laßt mich! Thränen thun so wohl, wenn das Herz voll ist. Darf der Mörder nicht weinen auf dem Grabe des Gemordeten?“

„Was Du da redest, lieb Mädchen!“

„O, er hat mich so lieb gehabt – ich weiß es. Und ich war so kalt, so schroff, wenn er sein Herz zeigte. Ach, das Menschenherz! Was kann Karin dafür, daß sie nicht lieben kann, wo sie wohl lieben möchte? Und dann – dann hab' ich ihn in den Tod gelockt, um – um –“ seufzte sie.

„Was trieb Euch nur zu dieser unseligen Fahrt?“ fragte Hallerstein, indem er sich zu ihr auf den Stein setzte.

„Was uns trieb?“ fragte sie zurück, „was mich trieb? Ja, wie soll ich's Euch nur sagen? Karin gefiel stets am besten, was zu erlangen am schwersten war. Nichts ist reizender als die Gefahr – meint Ihr nicht auch? Der Sturm, Eure Truhe –“

„Dein Leben für meine Truhe?“ unterbrach er sie vorwurfsvoll und legte zärtlich seinen Arm in den ihrigen.

„War es nicht um Euch?“ schluchzte sie. Ein plötzliches Zittern befiel sie; sie lehnte selbstvergessen den Kopf an seine Schulter und brach in heftiges Weinen aus. „Um Euch!“

„O,“ flüsterte er und umschlang sie innig, „bei so viel Kraft so viel zartes Empfinden! Mädchen, ich bin ein Schiffer, dem aus Meergras und Wasserfäden ein Schatz entgegen funkelt, das Gold versunkener Fregatten. Sieh' hier meine Hand! Lege die Deinige hinein – und ich habe den Schatz gehoben.“

„Eure Hand?“ fragte sie und blickte die dargereichte mit noch nassen Augen ernst und prüfend an. „Es ist eine bleiche, edle Hand; sie sieht aus, als habe sie an dunklen Abenden oft, [784] sehr oft eine gedankenvolle Stirn gestützt. Sie schwieg einen Augenblick; dann berührte sie leise seine Hand. „O, ich fühle Euer Herz schlagen durch Eure Hand – es schlägt bis an das meinige hinan.“

Er blickte sie leidenschaftlich an. Sie zuckte zusammen. Was hatte sie gesagt, was hatte sie gethan? Aber wieder zog es sie machtvoll zu ihm; ihr Kopf – sie konnte nicht anders – sank wieder an seine Schulter. Nun lag ihre Hand in der seinigen; er drückte sie, erst sanfter, dann kühner; sie schloß die Augen und träumte einen Moment in sich hinein.

„Kommt hinweg!“ sagte sie schnell und stand hastig auf. „Eure Nähe und diese Einsamkeit machen, daß Karin sich plötzlich fürchtet – vor dem Todten da unten,“ fügte sie scheu und leiser hinzu. „Er reicht mir auch eine Hand herauf, und die ist noch viel bleicher als die Eurige.“

„Karin!“ kam es sanft von seinen Lippen, und er zog sie wieder auf den Stein zu sich nieder. „Sei ruhig! Ist die Natur es nicht auch, die gestern noch stürmte? Siehst Du da unten Deine Tauben um die Grotte fliegen? Wie sie sich wiegen in der reinen Morgenluft! Und das Meer sieh an! Es ruht aus nach dem Sturm, aber nicht weil es müde ist, ruht es; es ruht nur, um in süßer Lust den Himmel zu spiegeln, Frühlicht, Mittagssonnenschein, Abendroth. Ach, und der klare Himmel! Sein Blau fluthet zusammen mit dem Blau des Wassers – Mädchen, mein Mädchen, wie Dein Empfinden und das meine.“

Sie lauschte, wie ein Kind auf Märchen lauscht, und wie sie so lauschte, war sie schön, wie die Schönheit, die von sich selbst nichts weiß.

„Wie traut es klingt, wenn Ihr redet!“ sagte sie, und ein Abglanz innerer Freude glitt über ihr Gesicht. „Aber Eure Rede ist wie der Duft des Haidekrautes – berauschend.“

Eine Erika, eine von denen, die sie für den Todten gepflückt, war auf dem Gestein zurückgeblieben; sie hob sie auf.

„Glaubt Ihr, daß die Blumen leben?“ fragte sie, „daß sie den Sonnenstrahl fühlen, den Kuß der Luft und den Athem des Windes? Ihr Leben ist gewiß nur ein Schlaf, ein Schlaf ohne Träume, ohne Erwachen. Ohne Erwachen? Aber was war denn Karin, ehe Ihr da wart? Ihr kamt; Ihr blicktet mich an – ich glaube doch, daß die Blumen leben, daß sie erwachen können – glaubt Ihr nicht auch?“

„Meine Blume!“ rief er stürmisch. Er legte den Arm wieder um ihre Schulter, strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und preßte die Lippen auf ihre weiße Stirn.

Sie erschrak und ließ die Erika fallen.

„Es ist doch besser, wir gehen,“ sagte sie und erhob sich.

„Komm!“ flüsterte Hallerstein, indem sie gingen.

Vom Grabe Olaf's herüber wehte ein leiser Lufthauch; er spielte wie liebkosend um Karin's Stirn und Wangen.

„Ob die Todten wohl unsere Gedanken kennen?“ fragte sie zaghaft, und nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich muß immer an ihn denken. Als der Sturm uns in die Klippen geworfen, als das Boot krachte und das Wasser zu uns hereindrang, da sagte er:

'Karin, das Schicksal hat es gewollt: dies ist die Stunde, wo wir den ewigen Bund schließen. Du hast mich nie geliebt – ich weiß es, aber ich habe den Trost, mit Dir zu sterben und daß Niemand nach mir Dich besitzen wird. Du bist mein.'

Die nächste Welle trennte uns. Seit jener Stunde weiß ich, wie lieb er mich gehabt; ich habe seinen Tod verschuldet, und er liebte mich im Sterben. Ach, fortan darf Karin's Herz keinem anderen Manne gehören, als nur dem Todten.“

Sie sagte es halb fragend und zuckte heimlich mit den Wimpern, als fürchte sie die Antwort, die sie nun hören werde.

Hallerstein erwiderte kein Wort. Das Menschenherz hat Augenblicke, ernste Augenblicke der Heiligung, wo uns jeder Laut als eine Entweihung, jedes Wort als ein Frevel erscheint. Noch einen Blick sandten sie zurück nach dem Stein, unter dem Olaf schlief – dann stiegen sie langsam von Fels zu Fels hinab, Hand in Hand, schweigend, gedankenvoll. Unter ihnen prangte die Landschaft in friedevoller Schönheit, und auf dem Wasser lag eine helle, heitere Beleuchtung. Sie stiegen unablässig felsab. Nur mitunter, wenn am Horizonte ein Segel im Sonnenglanze aufblitzte, hemmten sie die Schritte unwillkürlich und blickten in die See hinaus, bis es im nächsten Augenblick in der Ferne verschwand. Dann fühlte Hallerstein Karin's Hand in der seinigen aufzucken; ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie reden – aber sie sagte nicht, was sie dachte, und senkte stumm den Blick. Tiefe Stille ringsum; nur dann und wann tönte es zu ihnen herauf, wie ferne Hammerschläge. Als sie um eine Felsecke bogen, lag der Strand vor ihnen. Axel und Daniel zimmerten da unten an dem alten, leck gewordenen Boote. Auf dem halben Wege zur Tiefe kam den Hinabsteigenden Rustan entgegengesprungen; er bellte vor Freude so laut, daß es in den Schluchten und Klüften wiederhallte, und umtanzte sie in großen Sätzen, dann aber, als fühlte er, was sie bewegte, wurde er still wie sie, und den Kopf geneigt, ging er langsam hinter ihnen drein.

Als sie vor der Hütte anlangten, empfing sie Vater Claus mit dem Zuruf:

„Baron, die Wellen haben Eure Truhe angetrieben; sie liegt am Strande.“

(Schluß folgt.)




Skizzen aus deutschen Parlamentssälen.
Nr. 2. Die Führer der Secessionisten.


Vom 31. August 1880 datirt der Aufruf, mit welchem eine seitdem mit dem politischen Parteinamen der „Secessionisten“ bezeichnete Anzahl von nationalliberalen Mitgliedern unserer Volksvertretung im Reichstage und preußischen Abgeordnetenhause ihre Trennung von dieser Partei ausspricht und zum ersten Male öffentlich zu rechtfertigen sucht. An seiner Spitze wird die Ueberzeugung ausgesprochen: „daß die nationalliberale Partei gegenüber den wesentlich veränderten Verhältnissen nicht mehr von der Einheit politischer Denkart getragen werde, auf der allein ihre Berechtigung und ihr Einfluß beruhten“. Der Aufruf betont sodann die Wirksamkeit eines wahrhaft constitutionellen Systems, wie es die deutsche liberale Partei seit ihrer Existenz unverändert erstrebt habe, aus dem allein eine in sicheren Bahnen ruhig fortschreitende Entwickelung unserer Einheit hervorgehen könne, und erklärt festen Widerstand gegen die rückschrittliche Bewegung für die gemeinschaftliche Aufgabe der liberalen Parteien. Zugleich hebt er hervor, daß die wirthschaftliche Freiheit mit der politischen eng verbunden sei, und fährt sodann fort: „Nur unter Wahrung der constitutionellen Rechte, unter Abweisung aller unnöthigen Belastungen des Volkes und solcher indirecten Abgaben und Zölle, welche die Steuerlast vorwiegend zum Nachtheil der ärmeren Volksclassen verschieben, darf die Reform der Reichssteuern erfolgen. Mehr als für jedes andere Land ist für Deutschland die kirchliche und religiöse Freiheit die Grundbedingung des inneren Friedens. Dieselbe muß aber durch eine selbstständige Staatsgesetzgebung verbürgt und geordnet sein. Ihre Durchführung darf nicht von politischen Nebenzwecken abhängig gemacht werden. Die unveräußerlichen Staatsrechte müssen gewahrt und die Schule darf nicht der kirchlichen Autorität untergeordnet werden.“

Der bezeichnete Schritt dieser Männer, welche in der citirten Erklärung die Lossagung von ihren bisherigen Parteigenossen proclamirten und zugleich ein Programm für die Einigung der liberalen Parteien in Deutschland aufstellten, in welchem allerdings mit Vorsicht alle zu Meinungsverschiedenheiten Anlaß gebenden Fragen ausgeschieden sind, unterliegt in diesem Augenblick noch der Prüfung und Beurtheilung aller Parteien und nimmt in der Presse wie in öffentlichen Versammlungen die Aufmerksamkeit und Theilnahme der Nation um so mehr in Anspruch, als an der Spitze der Unterzeichner jenes Ausrufs Männer stehen, die in früheren Zeiten sich als muthige Vorkämpfer des parlamentarischen Rechtsstaats hervorgethan und auf den verschiedenen Gebieten der öffentlichen Thätigkeit sich in ausgezeichneter Weise bewährt haben. Müssen wir auch die Entscheidung über den Werth und die Bedeutung, welche die Nation ihrem Schritte beilegen

[785]

Die Führer der Secessionisten.
Nach Photographien auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.
Ludwig Bamberger.
Franz August Freiherr von Stauffenberg. Max von Forckenbeck. Heinrich Rickert.

[786] wird, den nächsten Wahlen zum Reichstage anheimstellen, so halten wir es doch schon jetzt für unsere Pflicht, unsern Lesern zunächst die leitenden Persönlichkeiten der neuen deutsch-liberalen Gruppe, die wir hier in einem Bilde vereinigt haben, in einer kurzen biographischen Charakteristik vorzuführen.

Von dem Oberbürgermeister Berlins, Max von Forckenbeck, wurde bereits früher in diesem Blatte mit besonderer Auszeichnung berichtet („Gartenlaube“ 1867 und 1874), sodass wir uns heute bezüglich seiner Lebensdaten auf das Nöthigste beschränken können. Geboren am 21. October 1821 zu Münster in Westfalen, der Heimath Waldeck’s, zeigt Forckenbeck gleich diesem alle jene Eigenschaften, welche dem Volksstamme der rothen Erde eigen sind, Offenheit, Zähigkeit, Scharfsinn ohne Nüchternheit und Freisinn ohne Phantasterei – mit einem Worte gesunde, hochstrebende Männlichkeit. Nach Beendigung seiner Studien, die auf Rechts- und Staatswissenschaften gerichtet waren, wurde er 1847 als jüngster Richter am Stadtgericht in Glogau angestellt und betheiligte sich sowohl dort, wie bald darauf in Breslau an der Wahlbewegung der Jahre 1848 und 1849 auf’s Allerentschiedenste. Zunächst als Vorsitzender des demokratisch-constitutionellen Vereins in Breslau, später als Präsident der liberalen Wahlcommission für Niederschlesien trat er mit solcher Freimüthigkeit und Wärme für die constitutionellen Ideen ein, daß ihn das Ministerium Manteuffel als Rechtsanwalt nach Mohrungen versetzte. Hier, wie später in Elbing, verfocht er eifrig die Interessen der communalen Verwaltung und wurde in Folge dessen sehr bald Stadtverordneter und Vertreter Elbings beim Kreistage. Rascher und rascher stieg von nun an seine Laufbahn aufwärts; 1858 vom Wahlkreise Mohrungen in’s Abgeordnetenhaus geschickt, gehörte er in Kurzem zu den anerkannten Führern seiner Partei und that sich im Plenum wie in den Commissionen durch sein tiefes Eindringen in allen wichtigeren Fragen wie durch seine Redegewandtheit in gleichem Maße hervor. Von 1862 bis 1866 Berichterstatter der Budget- und Militärcommission, wurde er 1866 zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt und verwaltete diese Stellung bis 1873, in welchem Jahre er als Oberbürgermeister nach Breslau ging und von dieser Stadt ins Herrenhaus deputirt wurde.

Seit 1867 ist Forckenbeck auch Mitglied des Reichstages, und zwar für Wolmirstedt-Neuhaldensleben und war von 1874 bis 1879 Präsident desselben; seine Unparteilichkeit und persönliche Liebenswürdigkeit traten während dieser seiner Amtsdauer stets so glänzend zu Tage, daß selbst die reactionär gesinnte Majorität des neuen Reichstags ihn als Präsidenten wiederwählte, doch zog er sich freiwillig von diesem Posten zurück, als die Mehrheit bei Berathung der Schutzzölle ihre geringe Uebermacht in krassester Weise ausbeutete und Forckenbeck mit dem Reichskanzler wegen der Angriffe desselben auf Lasker in Differenzen gerieth. 1878 Oberbürgermeister von Berlin geworden, war es Forckenbeck auch, der in einer Rede zu Breslau im December 1878 mit dem hochsinnigen Rufe: „Zurück auf die Schanzen – zur Vertheidigung der bedrohten Errungenschaften“ – den ersten mächtigen Anstoß zur Selbstbestimmung des Liberalismus gab, und ferner beim Festbanket erklärte, er habe alles Vertrauen zu den jetzigen Zuständen verloren, sodaß er nicht einmal mehr wage, auch nur auf wenige Tage vorauszusagen, welches wohl die Gruppirungen im deutschen Parlamente sein würden. Diesem unseligen Zustande, sagte er, müsse ein Ende bereitet werden, und nur die Bildung einer großen, auf wahrhaft liberalen Principien fußenden Partei könne dem Lande eine Hoffnung auf Rettung bieten. Man solle sich daher rühren, damit das Unselige, was jetzt beschlossen werde, binnen wenigen Jahren wieder zerstört und hinweg gefegt werde. Was an ihm läge, werde er thun; denn daß er ein liberaler Mann sei, beweise seine Stellung an der Spitze der Stadt Berlin, ein Oberbürgermeister von Berlin könne nur ein freiheitlich gesinnter Mann sein. Aber nicht nur der Gesinnung bedarf es, sondern der That; er trinke daher nicht nur auf das freie, sondern zugleich auf das thatkräftige deutsche Bürgerthum.

Die Angriffe der Reaction, welche der gefeierte Staatsmann in Folge dieses Mahnrufes zu erdulden hatte, waren nur geeignet, seine Popularität bis zu einem Grade zu steigern, der die „Magdeburger Zeitung“ zu dem Worte begeisterte: „Wo Forckenbeck steht, da ist auch immer das Herz des deutschen Volkes.“

Neben ihm ist an erster Stelle zu nennen Franz August Freiherr von Stauffenberg, eine überaus sympathische und edle Persönlichkeit, deren Ruf besonders in Süddeutschland in alle Kreise gedrungen ist. Er wurde am 4. August 1834 zu Würzburg als Sprößling einer altadeligen, sehr angesehenen Familie geboren, studirte in Heidelberg und in seiner Vaterstadt Jurisprudenz und trat sodann in den baierischen Staatsdienst, aus welchem er aber bereits 1860 schied, um auf seinem Gute Geißlingen bei Balingen in Württemberg sich als Privatmann ganz seinem Eigenthum und seinen politischen Studien zu widmen.

So ausgerüstet, kam er 1866 in das baierische Abgeordnetenhaus und erhielt hier nicht lange nachher die Leitung der baierischen Fortschrittspartei, welche ihn im Jahre 1873 auch zum Präsidenten der Kammer berief. 1871 wählte ihn die Stadt München zu ihrem Vertreter beim Reichstage, und als solcher gewann er bald das volle Vertrauen seiner eigenen, der nationalliberalen Partei, aber nicht minder die Achtung aller übrigen Parteien, sodaß seine Wahl zum ersten Vicepräsidenten 1876 mit allseitiger Genugthuung begrüßt wurde. Als Redner trat er von Anfang an mit Energie für die entschieden liberalen Principien ein, und ward in dieser Beziehung besonders seine scharfe Rede gegen Tabakssteuer und Monopol am 22. Februar 1878 bedeutsam. Leider hat ihn bis in die jüngste Zeit körperliches Leiden verhindert, sich in so großem Umfange wie früher der parlamentarischen Thätigkeit zu widmen, doch ist gegenwärtig Aussicht vorhanden, daß er demnächst mit neuen Kräften in den Kreis seiner Freunde und seiner Wirksamkeit tritt. Das Vicepräsidium des Reichstages, in welchem er seit 1878 für den Wahlkreis Holzminden Abgeordneter ist, legte er sofort nach dem Rücktritt Forckenbeck’s vom Präsidium nieder.

An der Grenze zwischen Nord- und Süddeutschland, in Mainz, ist der dritte Führer der Secessionisten, Ludwig Bamberger, geboren und zwar am 22. Juli 1823. Nachdem er seit 1842 zu Gießen, Heidelberg und Göttingen dem Studium der Rechte obgelegen und später zwei Jahre an den Gerichten seiner Geburtsstadt prakticirt hatte, betheiligte er sich in so hervorragender Weise an der Bewegung des Jahres 1848 und darauf an der Erhebung in Baden, daß er nach Unterdrückung der letzteren zur Flucht in’s Ausland genöthigt wurde. In der Schweiz, in Belgien, Holland und England beobachtete er Menschen und Verhältnisse auf’s Genaueste und machte sich durch seine finanzielle Begabung derart bekannt, daß ihm nach einigen Jahren das bedeutende Bankhaus von Bischoffsheim und Goldschmidt in Paris die oberste Leitung seiner Geschäfte übertrug. Als im Jahre 1866 die allgemeine Amnestie erfolgte, kehrte auch Bamberger, um sich einzig und allein dem Dienste des Vaterlandes zu widmen, in die Heimath zurück. Das war ein Schritt großer Uneigennützigkeit, da er dieser Rückkehr halber seinen Posten niederlegen mußte und so eine sehr beträchtliche Einnahme verlor. Längst aber war sein Ruhm, eine Autorität in volkswirthschaftlichen Fragen zu sein, auch über den Rhein gedrungen, und seine Heimathsstadt deputirte ihn deshalb 1868 zunächst in’s Zollparlament und sodann in den Reichstag, dem er noch heute als eines der tüchtigsten und berufensten Mitglieder angehört.

Vorzüglich sind seine Reden über Münz- und Gewerbegesetzgebung geschätzt, da er wie kaum ein anderer in der Praxis und Theorie finanzieller und ökonomischer Angelegenheiten gleich bewandert ist. Neben seiner Thätigkeit im Reichstage sind jedoch auch seine schriftstellerischen Publicationen von großem Werthe. Die hauptsächlichsten seiner sehr formgewandten Schriften beschäftigen sich mit der Arbeiterfrage, die er unter dem Gesichtspunkt des Vereinsrechtes in detaillirtester Form behandelt hat, und mit der Reichswährungsfrage. Mit entschiedenem Nachdruck ist er in jüngster Zeit gegen den deutschen Socialismus aufgetreten.

Gleichfalls in der Vorderfront der neuen Partei steht Heinrich Rickert, der, 1833 zu Putzig im Danziger Regierungsbezirk geboren, sich nach Beendigung seiner Studien, die sich wesentlich auf Chemie und Naturwissenschaft überhaupt erstreckten, zunächst der journalistischen Carrière zuwandte und hinter einander Mitarbeiter, Redacteur und Miteigenthümer der „Danziger Zeitung“ wurde. Seine Wirksamkeit fand raschen und anhaltenden Beifall bei seinen Mitbürgern, sodaß er schon nach einigen Jahren als Stadtverordneter und weiterhin als unbesoldeter Stadtrath in die Verwaltung Danzigs berufen wurde. Mit Eifer widmete er sich den Geschäften, welche ihm diese Verwaltung auferlegte, und vor Allem war es das Gebiet der Armenpflege, auf welchem er Wichtiges [787] leistete. 1870 wurde er zum Landtags-, 1874 auch zum Reichstagsabgeordneten Danzigs gewählt und übernahm 1874 nach Einführung der neuen Provinzialordnung das Landesdirectorat der Provinz Preußen, ein Amt, das er jedoch in Folge der Theilung der Provinz wieder niederlegte. Im Parlament zählt Rickert zu den hervorragendsten, besonders in wirthschaftlichen Dingen allseitig erfahrenen Rednern. Sein persönliches Wesen erscheint mild und versöhnlich, und er war nicht selten geneigt, mit der Regierung einen Compromiß zu schließen.

Um so charakteristischer ist es für die heutige innere Lage, daß selbst ein so versöhnlich gesinnter Geist vor einer Unterstützung des Herrn von Puttkamer zurückscheute und an die Spitze der Opposition in der nationalliberalen Partei trat, welche, über vierzig Mitglieder stark, die kirchenpolitische Vorlage von 1880 auf’s Nachdrücklichste verwarf.

Unter den Unterzeichnern des Aufrufs vom 31. August dieses Jahres begegnen uns noch andere allbekannte und klangvolle Namen von Männern, die den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unbekannt sind, wie der humorvolle Präsident des volkswirthschaftlichen Congresses Dr. Karl Braun, Gustav Lipke, Reichstagsabgeordneter für Schwarzburg, Georg von Bunsen, Alexander Meyer. Lasker, der einen wesentlichen Einfluß auf die Initiative der Unterzeichner geübt, hatte zunächst den Aufruf nicht unterschrieben, da er ja bereits früher ausgetreten war. Von anderen Männern, meist früheren Parlamentariern, die ihren Beitritt bereits ausgesprochen, nennen wir Justizrath Lesse, Dr. Kapp, den ausgezeichneten Historiker und Kenner überseeischer Zustände, und den allverehrten Professor Theodor Mommsen, der in einer gewissermaßen constituirenden Versammlung am 8. September sich mit Wärme für die Motive und Ziele der Secession aussprach.

Wenn die Secessionisten sich das Ziel gesteckt, nicht eine neue Fraction, sondern den Stamm der großen liberalen Partei der Zukunft zu bilden, so ist diesem Bestreben von Seiten aller freisinnigen Vaterlandsfreunde nur Glück zu wünschen. Zeit ist es allerdings, daß das deutsche Bürgerthum wieder einmal aus seinem politischen Schlummer aufgerüttelt werde und die Zuversicht zum endlichen Siege der liberalen Ideen wieder Kraft gewinne. Die Zersplitterung der liberalen Partei in sich schließlich feindselig bekämpfende Fractionen hat bereits Schaden genug gestiftet, und so muß ja endlich dem freisinnig und unabhängig denkenden Theile der Nation mit zwingender Macht sich die Erkenntniß aufdrängen, daß nur die Vereinigung aller wirklich freisinnigen Parteien im Stande ist, die Indifferenten und Kleinmüthigen im Volke wiederzugewinnen, die Regierung von weiteren reactionären Schritten zurückzuhalten und dem Liberalismus den gebührenden Einfluß auf die Staatsverwaltung zu sichern.

Heinrich Steinitz.




Telektroskop und Photophon.
Die merkwürdigen Eigenschaften des Selen. – Das Selenauge von Siemens. – Adrianno de Paiva’s elektisches Teleskop. – Senlecq’s telegraphische Photographie. – Hörbare Schatten. – Bell’s Photophon und die Licht-Telegraphie. – Licht als Schallerreger.

Wer erinnerte sich nicht aus seiner Jugend noch jener Märchen, in denen ein Zauberspiegel die Hauptrolle spielt, in welchem man sehen kann, was in fernen Landen vor sich geht? Schon seit Jahresfrist schwirren in der ausländischen Presse, namentlich in den amerikanischen Journalen, Gerüchte über eine Verwirklichung dieses Märchentraums, das heißt über ein Instrument, welches für das Auge leisten soll, was das Telephon für das Ohr zur Wirklichkeit erhoben hat. Wir würden den Leser mit diesen augenblicklich in der Luft liegenden Zukunftsträumen nicht unterhalten, wenn in einer ähnlichen Richtung nicht bereits Schritte gethan wären, die überaus merkwürdige Ergebnisse geliefert haben. „Wollt ihr wissen, was für Augen es sind, womit ich sie sehe durch alle Land’?“ fragte einst Walther von der Vogelweide, und der Zukunfts-Elektriker hofft ihm antworten zu können: „es sind Augen, die man aus Selen gemacht hat“. Zunächst also einige Worte über diesen bisher fast unbenutzten, aber mit einem Male sehr hoffnungsvoll gewordenen Stoff selbst!

Im Jahre 1817 unternahmen die berühmten Chemiker Berzelius und Gottlieb Gahn eine Untersuchung der früher gebräuchlichen Fabrikationsmethode der Schwefelsäure durch Rösten von Schwefelkiesen. Sie fanden in dieser Säure einen röthlichen oder hellbraunen Bodensatz, der vor dem Löthrohre einen eigenthümlichen Geruch verbreitete, nicht unähnlich demjenigen, welcher nach Klaproth den Tellurverbindungen eigen ist. Genauere Untersuchungen ergaben, daß in diesem Niederschlage wirklich ein dem Tellur ähnliches Element vorhanden war, dem Berzelius den Namen Selen (nach der Mondgöttin Selene) beilegte, um dadurch der Verwandtschaft mit dem nach dem Erdgotte Tellus benanten Tellur Rechnung zu tragen. Mit der Zeit erkannte man, daß es dem Schwefel beinahe noch ähnlicher ist, und daß es mit diesem, dem Phosphor und anderen Elementarstoffen die Eigenthümlichkeit theilt, in verschiedenen (allotropischen) Zuständen aufzutreten, die sich durch sehr ungleiche physikalische Eigenschaften auszeichnen. Nach einigen weniger eindringenden Beobachtungen von Knox wies der deutsche Physiker Hittorf zuerst (1852) nach, daß das bei sehr langsamer Abkühlung des geschmolzenen Selens entstandene sogenannte „metallische“ Selen, welches einen matten Bleiglanz zeigt und selbst in dünnen Blättchen völlig undurchsichtig ist, die Elektricität leitet, während das schnell abgekühlte, glänzend schwarze und in dünnen Blättchen rubinroth durchscheinende, sogenannte „glasige“ Selen die Elektricität gar nicht leitet. Hittorf bemerkte ferner, daß das Sonnenlicht auf den Uebergang der einen Modification in die andere von großem Einflusse ist, und diese Beobachtung ist im Hinblick auf die neueren Entdeckungen von besonderem Interesse.

Das Selen hatte lange Zeit nur für den Fachchemiker Interesse, bis der Elektriker Willoughby Smith auf die Idee kam, Barren von metallischem Selen, wegen ihres großen Leitungswiderstandes, als Hülfsmittel bei der Legung und Prüfung der unterseeischen Telegraphenkabel anzuwenden. Der als gleichbleibend vorausgesetzte Leitungswiderstand wurde hierbei außerordentlich veränderlich gefunden, und der Assistent des Genannten entdeckte, daß dieser Widerstand geringer war, wenn der Selenbarren sich im Lichte befand, als wenn er von Dunkelheit umgeben war.

Smith theilte diese anfangs mit Unglauben aufgenommene Entdeckung im Februar der gelehrten Welt mit. Sie wurde aber bald von einer Reihe von Physikern, unter denen wir Sale, Draper, Moß, Adams, Lord Rosse, Day, Sabine und Andere nennen, bestätigt, und die fortgesetzten Versuche dieser Männer ergaben, daß es nur die sichtbaren Lichtstrahlen sind, die je nach ihrer Intensität und Schwingungsart das metallische Selen stärker oder schwächer beeinflussen und zwar derartig, daß es genau in demselben Maße die Elektricität besser leitet, in welchem die Stärke des auf dasselbe wirkenden Lichtes zunimmt.

Das Verdienst, diese Entdeckung zuerst praktisch verwendet zu haben, gebührt dem berühmten Berliner Elektriker Werner Siemens. Ihm gelang es zuerst, sogenannte Selenzellen herzustellen, in denen theils durch eingelegte Platindrähte, theils durch Verwendung von Metallen, die mit dem von ihnen umschlossenen Selen an der Berührungsfläche chemische Verbindungen bilden, der Leitungswiderstand so vermindert ist, daß diese Zellen die höchste Empfindlichkeit gegen Licht zeigen und die Elektricität im Lichte fünfzehnmal besser leiten als im Dunkeln. Wir haben den Lesern der „Gartenlaube“ schon früher (Jahrgang 1876, Seite 780) erzählt, daß Werner Siemens mittelst seiner sehr empfindlichen Selenzellen ein elektrisches Photometer zum Messen der verschiedenen Lichtstärken construirt hat, während sein Bruder Wilhelm Siemens in London sie zur Herstellung eines künstlichen Auges verwendete, welches wie ein lebendes, von zu starkem Lichte geblendet, die Lider schloß, und im Stande war, die verschiedenen Farbentöne durch mehr oder minder starke Bewegungen einer Magnetnadel zu unterscheiden.

Wir bitten den geneigten Leser die genauere Beschreibung dieses Selen-Auges an der obigen Stelle nachlesen zu wollen; denn an ein derartiges, dem thierischen Auge in seinem gesammten Bau noch genauer nachgebildetes Auge haben verschiedene Physiker

[788] der Neuzeit gedacht, indem sie von der Herstellung eines elektrischen Fernschauers (Telektroskop) träumten. Das Auge der Wirbelthiere stellt bekanntlich einen der Dunkelkammer (Camera obscura), wie sie die Photographen zur Bilder-Aufnahme gebrauchen, im bilderzeugenden Theile sehr ähnlichen Apparat dar, dessen Bildfläche, die Netzhaut, mosaikartig in kleine Felder getheilt ist, von denen je eine empfindende Nervenfaser, mit den andern zu einem ziemlich dicken Strange (Sehnerv) vereinigt, zum Gehirne läuft.

Eine ähnliche Dunkelkammer, deren Bildfelder aus Selenzellen bestehen, durch welche ebenso viele getrennte elektrische Ströme gehen, soll demnach den Aufnahme-Apparat des sogenannten elektrischen Teleskopes darstellen, welches sich ein amerikanischer Ingenieur, der sich Adriano de Paiva nennt, – erträumt hat. In den zu einem Kabel vereinigten Leitungsdrähten der Selenzellen würden demnach ebenso viele elektrische Ströme circuliren, deren Stärken durch die Helligkeit und Färbung der einzelnen Bildfelder bestimmt würden; denn je stärker eine Selenzelle beleuchtet wird, um so mehr Elektricität fließt hindurch.

Es käme also nur noch darauf an, diese metallenen Nervenfäden wiederum zu einer musivischen Bildfläche ähnlicher Art auszubreiten, auf welcher dann die entsprechenden Ströme die erregenden Helligkeiten und Farbentöne wieder zu erzeugen hätten, um ein elektrisches Auge zu haben, welches in Berlin oder Leipzig die Landschaften und Vorgänge zeigen würde, auf die sich in New-York oder Australien das Aufnahme-Auge soeben gerichtet hätte. Der hinter dem obengenannten Pseudonym verborgene speculative Amerikaner

Bell’s Photophon.

hat leider auszuführen vergessen, wie er sich die genauere Einrichtung des Wiedererzeugungs-Apparates denkt. Er beabsichtigte freilich wohl weiter nichts, als sich die Priorität eines Traumes zu sichern, dessen Erfüllung ja in den Grenzen des Denkbaren und Möglichen zu liegen scheint.

Greifbarer ist schon in dieser Richtung das Project eines Franzosen, des Herrn Senlecq von Ardres, in welchem es sich einzig um die elektrische Uebermittlung des auf der matten Glasplatte einer Camera obscura entstehenden Bildes vermittelst des nur einer einfachen Leitung bedürfenden, zeichnenden Telegraphen handeln würde. Auch hier müssen wir der Kürze halber den geneigten Leser ersuchen, eventuell die genauere Beschreibung der zeichnenden Telegraphen in einem früheren Jahrgange der „Gartenlaube“ (1877, S. 49) freundlichst nachlesen zu wollen. Bei denselben läuft, wie wir kurz wiederholen wollen, eine Metallspitze in engen Parallellinien über die zu telegraphirende Linienzeichnung oder Handschrift, die mit einer besonderen Tinte auf Metallgrund gemacht ist, her und hin, als ob sie den letzteren mit einer Schraffirung bedecken sollte. Durch diesen Stift geht beständig ein elektrischer Strom, der nur durch die Tinte unterbrochen wird, wenn die Metallspitze einen Strich der Zeichnung kreuzt, in die Ferne. Die durch ein künstliches Uhrwerk in völlig gleichem Gange erhaltene Zeichenspitze des Empfangapparates zeichnet nun dieselben engen Parallellinien in einem durch den elektrischen Strom erzeugten Farbstoff auf präparirtes Papier, und nur an den Kreuzungsstellen der Zeichnung, wo der Strom ausbleibt, entsteht auf der Empfangsstation eine weiße Stelle, sodaß sich die Zeichnung hell auf farbigem Grunde daselbst wiedererzeugt. Eine ähnliche Spitze, wie die des Absenders beim zeichnenden Telegraphen, aber eine aus metallischem Selen bestehende, soll nun in Selecq’s Telektroskop das Bild der Camera obscura „abtasten“, und seinen verschiedenen Schattirungen und Farbentönen entsprechend modificirte elektrische Ströme in die Ferne senden. Die zeichnende Spitze der andern Station soll dann aus einem weichen Bleistift bestehen, der um so stärker gegen das Papier gedrückt wird, je schwächer die ankommenden Ströme sind, und umgekehrt, und somit wird dieser Stift das Bild der in der Ferne aufgestellten Dunkelkammer getreu wiedergeben. Wir wollen nur noch bemerken, daß verschiedene andere Physiker ähnliche Verkörperungen dieser, wie gesagt, in der Luft liegenden Idee ausgesonnen haben, wahrscheinlich, ohne daß eines dieser Projecte das Stadium der Ausführung erreicht hat.

Anders verhält es sich mit einer Anwendung derselben Eigenschaft des Selens, die der berühmte Erfinder der sich allseitig bewährenden Form des Telephons, Professor Alexander Graham Bell, gemacht hat, und bei der es sich sozusagen darum handelt, den Lichtstrahl zu hören. In einem vor der Londoner Royal Institution am 17. Mai 1878 gehaltenen Vortrage sprach Bell von der Möglichkeit, einen Schatten zu hören durch Unterbrechung der Wirkung des Lichtes auf Selen. Dies führte ihn auf den Versuch, die menschliche Sprache oder andere Töne mit Hülfe eines Bündels paralleler Lichtstrahlen, also ohne Vermittelung eines Drahtes, in die Ferne zu senden, woselbst sie, durch Selen in Schwankungen elektrischer Ströme übersetzt, in einem Telephone gehört werde können. Wir wollen nicht von den Schwierigkeiten erzählen, die sich ihm auf diesem Wege entgegenstellten, sondern nur darlegen, in wie einfacher oder geradezu eleganter Weise er dieses Problem im Verein mit Sumner Tainter gelöst hat.

Wie dem Leser bekannt sein wird, werden in dem Telephon nicht die elektrischen Ströme, sondern die Schwankungen derselben hörbar, und wenn man die Tonschwingungen in entsprechende Undulationen (Schwingungen) von Lichtstrahlen umwandeln könnte, die man durch eine Glaslinse parallel macht, so würde man diese Undulationen leicht in bedeutende Entfernungen senden können, um sie dort mittelst einer empfindlichen Selen-Vorrichtung zuerst in elektrische Schwankungen und diese dann im Telephon wieder in Töne zurückzuwandeln.

Nachdem die Erfinder sich zunächst durch Erhitzen von gewöhnlichem Selen bis zum beginnenden Schmelzen ein noch viel empfindlicheres „metallisches“ Selen, als man bisher kannte, bereitet und dieses in möglichst entsprechender Form zu einem „Empfänger“ verarbeitet hatten, konnte die Hauptschwierigkeit als überwunden gelten; denn die Verwandlung der Tonschwingungen in undulirende Lichtstrahlen – man gestatte der Kürze wegen diesen nicht völlig einspruchfreien Ausdruck – macht so wenig Schwierigkeiten, daß dem dazu dienenden Apparate nicht weniger als fünfzig verschiedene Formen gegeben werden konnten, die alle mehr oder weniger vollkommene Ergebnisse lieferten. Wir wollen indessen hier nur die bewährteste und einfachste Form dieser Vorrichtung, welcher ihre Erfinder den Name Photophon (Lichtsprecher) beigelegt haben, kurz beschreiben. Dieselbe besteht aus einem ebenen Spiegel (B) von elastisch biegsamem Stoff (am besten aus versilbertem Glimmer), auf dessen Rückseite mittelst eines kleinen Schalltrichters die Stimme des Sprechenden gerichtet wird. Das auf den Spiegel durch eine Glaslinse (A) concentrirte Sonnen- oder Lampenlicht wird dadurch in Schwingungen zurückgeworfen, die denen des Spiegels entsprechen. Auf der Empfangsstation, die bei Anwendung von elektrischem oder Sonnenlicht, wenn die Strahlen durch eine zweite Linse (C) wieder parallel gemacht worden sind, sehr weit entfernt sein kann, werden die Strahlen von einem parabolischen Hohlspiegel (E) aufgenommen, in dessen Brennpunkt sich die lichtempfindliche Selen-Vorrichtung (D) befindet, die mit dem Localstrom einer Batterie (F) und einem Telephon (G) verbunden ist. (Siehe die Figur.)

Mit diesem Apparate sind eine große Anzahl von Versuchen angestellt worden, die ergaben, daß das gesprochene Wort und andere Töne auf das Getreueste in Lichtschwankungen verwandelt werden konnten, welche dieselben nach Entfernungen trugen, in denen das gesprochene Wort selbst nicht mehr gehört werden [789] konnte. Bei einem der ersten dieser Versuche befand sich Tainter mit dem Absende-Instrument auf dem Thurme der Franklin-Schule zu Washington, während Professor Bell den empfindlichen Empfänger in einem 213 Meter entfernten Fenster seines Laboratoriums aufgestellt hatte. Als Professor Bell das Telephon an’s Ohr hielt, vernahm er deutlich von dem beleuchteten Empfänger die Worte. „Herr Bell, wenn Sie hören, was ich sage, kommen Sie an’s Fenster und schwenken Sie den Hut!“

Es ist kein Zweifel, daß man durch den Lichtsprecher auch auf bedeutendere Entfernungen mündlich mit einander wird verkehren können, während also keinerlei Leitung zwischen den beiden Punkten erforderlich ist. Dieser Verständigungsweg kann aber für Zwecke des Krieges und der Schifffahrt sehr wichtig werden, für welche schon bisher die Lichttelegraphie die einzige Zuflucht blieb und auch in den neueren Kriegen vielfach verwendet worden ist. Wir haben in einem früheren Artikel der „Gartenlaube“ (1876, Seite 196) die Schwierigkeiten, mit denen die Lichttelegraphie zu kämpfen hat, ausführlich dargelegt, und man erinnert sich vielleicht noch, daß die beste Methode darauf hinauslief, durch längere oder kürzere Lichtblitze die aus Strichen und Punkten bestehenden Zeichen des Morse-Alphabets nachzuahmen. Natürlich ist diese Methode ebenso umständlich wie zeitraubend, den Leistungen des Photophons gegenüber, bei welchen man das gesprochene Wort unmittelbar vernimmt, und es dürfte in Zukunft nicht mehr so leicht gelingen, die in einer größeren Festung eingeschlossenen Truppentheile von einer Verständigung mit der zum Entsatze heranrückenden Armee abzuhalten.

Es wird schwerlich ein Instrument geben, durch welches die Uebertragungsfähigkeit der Naturkräfte in einander wirksamer vor Augen geführt werden könnte, als durch das Photophon. Tonschwingungen werden in Lichtwogen, diese in Schwankungen elektrischer Ströme, diese in magnetische Schwingungen und letztere endlich wieder in Tonschwingungen verwandelt, sodaß der Cyklus beinahe aller uns bekannten physikalischen Kräfte dabei durchlaufen wird. Natürlich darf man dies nicht so verstehen, als ob die Tonschwingungen in Lichtätherschwingungen etc. verwandelt worden wären. Der Rhythmus der in den verschiedensten Weisen wiederholten Schwingungen blieb immer derselbe; es war leuchtendes, elektrisches und magnetisches Tönen, nichts Anderes. Die Tonschwingung wird durch strahlendes Licht wiedergegeben und ließ sich im Verfolg dieser Versuche dem strahlenden Lichte auch ohne hörbare Einflüsse auf Spiegel oder Lichtspalten aufprägen. In der Akustik gebraucht man zur Darstellung der Schwingungszahlen eine Scheibe, die am Rande mit gleichmäßig vertheilten Oeffnungen versehen ist. Bläst man durch diese Löcher, während die Scheibe schnell gedreht wird, so entsteht ein lauter Ton, dessen Höhe von der Zahl der Oeffnungen abhängt, die in der Secunde vor dem Blasrohre vorübergehen. Dreht man das Rad dieser sogenannten Sirene doppelt so schnell wie vorher, so entsteht die Octave des vorherigen Tones.

Bell und Tainter kamen nun auf die Idee, an Stelle der Luft Licht durch die Oeffnungen der Sirene strömen zu lassen, und die so erzeugten regelmäßigen Lichtblitze brachten durch Vermittelung der Selenzelle im Telephon musikalische Klänge hervor. obwohl der Absender ein vollkommen stummer Apparat war. Ein einfaches Kerzenlicht genügte, um auf diese Weise musikalische Klänge von abwechselnder Höhe im Telephon hervorzurufen, und bei Anwendung energischerer Lichtquellen würde man leicht musikalische Signale durch Vermittelung des Lichtes in bedeutende Entfernungen senden, und durch abwechselnde Abblendungen des Lichtes auch das Morse-Alphabet ebenso in Töne umsetzen können, wie man es mit Signalpfeifen im Nebel versucht hat.

Diese Methode bot für genauere Untersuchungen die große Bequemlichkeit, daß man den Empfangsapparat mit den stummen und deshalb die Beobachtung gar nicht störenden Absender in demselben Raume aufstellen konnte. Bell bediente sich deshalb der Lichtsirene zu ferneren Versuchen, bei denen es ihm namentlich darauf ankam, zu ermitteln, welche Antheile des strahlenden Lichtes die Hauptwirkung auf das Selen übten, und ob auch die Wärmestrahlen dabei betheiligt seien. Er ließ zu diesem Zwecke das intermittirende Licht durch verschiedene Substanzen fallen und beobachtete dabei die auffallende Thatsache, daß selbst einzelne ganz undurchsichtige Substanzen, wie z. B. ein Blatt Hartgummi, die Wirkung auf die Selenzelle nicht völlig unterbrachen. Obwohl die Selenzelle mit dem Telephon sich ungefähr zwölf Fuß von der Hartgummischeibe befand, so wurde sie dennoch von unsichtbaren Strahlen erreicht, die durch die Hartgummischeibe hindurch gingen, und im Telephon wurde der vorige musikalische Ton, wenn auch geschwächt, weiter vernommen und erst unterbrochen, wenn man ein neues Hinderniß, z. B. die Hand, in den Weg der unsichtbaren Strahlen hielt. Bei weiterer Verfolgung dieser Versuche gelangten die Experimentatoren dazu, an der Hartgummiplatte selbst zu horchen, und es zeigte sich, daß dieselbe einen den Bewegungen der Lichtsirene entsprechenden lauten musikalischen Ton von sich gab, der namentlich deutlich wurde, wenn man die Platte durch ein Hörrohr behorchte. So wurde also diese Platte durch die in regelmäßiger Folge auf dieselbe treffenden Lichstöße in hörbare Schwingungen versetzt, und es ergab sich, daß die meisten Substanzen zu tönen beginnen, wenn sie in Form dünnner Scheiben einem schnell und häufig unterbrochenen Lichtstrahle ausgesetzt werden. Damit ist eine ganze Folge höchst merkwürdiger Erscheinungen entdeckt, die alle auf der Wirkung kleiner, aber unablässig wiederholter Anstöße beruhen und von denen wir nicht wissen können, zu welchen neuen Entdeckungen sie uns führen werden. Diejenigen unserer Leser, die noch näher in das neuerschlossene Forschungsgebiet einzudringen wünschen, verweisen wir auf den soeben auch in deutscher Sprache erschienenen Vortrag,[1] in welchem Professor Bell zuerst über seine merkwürdigen Beobachtungen Bericht erstattet hat und dem wir eine Anzahl der hier mitgetheilten Thatsachen, sowie die Abbildung, entnommen haben.

Carus Sterne.




Zwei Gedichte von Rudolf von Gottschall.[2]
1. Weltblick.

Wend’ ich meinen Blick zum blauen,
Unbegrenzten Himmelszelt,
Wird von wunderbarem Schauen
Oft die Seele mir erhellt.

5
Vor des innern Lichtes Scheine

Schwindet plötzlich Zeit und Raum,
Blick’ ich auf das ewig Eine
Aus der Dinge dunklem Traum.

Wurzeln schlag’ ich tief im Grunde;

10
Sterne sind der Wipfel Zier,

Und der Welt geheime Kunde
Strömt durch alle Adern mir.

Ob das arme Ich verloren
Wie der Brandung Schaum zerschellt,

15
Gleich dem Phönix neu geboren

Wird mein Geist zum Geist der Welt.

[790]
2. Dem Mond.

Ich flüchte aus dem Licht der Sonnen
In deine bleiche Schattenwelt;
Erquickung strömt, ein frischer Bronnen,
Dein Strahlenquell am Himmelszelt.
Du wandelst über fernen Gipfeln
Wie ein geheimes Sehnen hin.
Und über den verklärten Wipfeln
Schwebst du, der Blüthen Königin.

Aufdringlich ist des Tages Leuchte,
Die spähend in’s Verborg’ne schaut;
Dich grüßt die Flur, die thränenfeuchte,
Die dir ein stilles Weh vertraut.
Und wachgeküßt von nächt’gen Winden
Erschließt die scheue Blume sich;
Wenn Schatten sich zu Schatten finden,
Ergreift’s die Seele heimathlich.

Ja, leuchten mag den ewig Klaren
Das Taggestirn mit prächtigem Schein;
Ein ahnungsvolles Offenbaren
Quillt aus der Mondennacht allein.
Wenn zwischen Blumen unter Sternen
Der Falter durch den Dämmer schwebt,
Dann wirst du das Geheimniß lernen,
Das zwischen Erd’ und Himmel webt.

Dann schmilzt und löst sich alles Feste,
Und jede starre Schranke bricht;
Dann scheint das Schlimmste wie das Beste
Dir nur das gleiche Traumgesicht:
Der Mächt’gen Trotz, die Noth der Armen,
Der Tugend Qual, des Frevels Lust,
Und mit unendlichem Erbarmen
Erfüllt der Menschheit Loos die Brust.




Kaiser Josef.
Den Deutsch-Oestreichern zur Säcularfeier von Josefs Thronbesteigung gewidmet
von Johannes Scherr.

Ich nenne Deutschland gern unser gemeinschaftliches Vaterland, weil ich es liebe und stolz darauf bin, ein Deutscher zu sein.

Kaiser Josef am 13. Juli 1787 an den Koadjutor Dalberg.

Saluti publicae vixit non diu sed totus (er lebte dem Gemeinwohl, nicht lange, aber ganz).

Inschrift seines Denkmals.
1.

In der zweiten Morgenstunde vom 13. März 1741 gebar Maria Theresia, die schönste Frau ihrer Zeit und eine der besten aller Zeiten, ihren ältesten Sohn Josef, welcher nachmals als Nachfolger seines Vaters Franz Stefan von Lothringen-Toskana in der schon sehr schein- und schemenhaft gewordenen deutschen Kaiserwürde Josef der Zweite hieß.

Die Geburt des Knaben fiel mitten in die schon angehobenen Drangsale und Nöthen des östreichischen Erbfolgekrieges, in eine Zeit also, wo, wie Maria Theresia noch 31 Jahre später mit Seufzen bezeugte, „alle meine Länder angefochten wurden und gar nit wußte, wo ruhig niederkommen sollte.“ Josefs Eintritt ins Leben war demnach von Vorzeichen umgeben, welche auf Unrast, Kampf und Sorge hindeuteten, und die Vorzeichen trogen nicht. Das Dasein dieses wahrhaft erlauchten Fürsten war voll Mühsal und Bitterkeit. Er hat in seinen 49 Lebensjahren soviel Verkennung und Undank erfahren, hat eine solche Last von Mißgeschicken und Widerwärtigkeiten, Enttäuschungen und Demüthigungen zu tragen gehabt, daß einer der Dichterlinge, welche um ihn die Todtenklage erhuben, jener Mönch Eulogius Schneider, der nachmals zum Apostel und Opfer des französischen Jakobinerthums wurde, den unglücklichen Kaiser wohl den „Dulder Josef“ nennen durfte.

Sein Unglück begann mit seiner Erziehung. Die Folgen der hispanisch-bigoten Abmauerung Oestreichs von Deutschland, wie sie seit Ferdinand dem Zweiten habsburgischer Staatsgrundsatz gewesen, waren der Art, daß zur Zeit von Josefs Kindheit, Knaben- und Jünglingsjahren dort gar keine Erzieher vorhanden sein konnten, welche das Zeug besessen hätten, den Prinzen auf die außerordentlich schwierige Herrscherrolle, welche er dereinst übernehmen sollte, genügend, auch nur annähernd genügend vorzubereiten. Gewiß war Maria Theresia eine ebenso zärtliche und sorgsame Mutter, als sie eine Gattin war, deren Tugend, Sittsamkeit und Pflichttreue in einer Epoche, wo schamloseste Ausschweifung an den Höfen für selbstverständlich galt und die herrschende moralische Pestilenz auch in der vornehmen Frauenwelt nur allzu große Verheerungen anrichtete, niemals auch nur von einem Schatten von Verdacht gestreift wurden. Aber die Kaiserin-Königin war trotz der nicht geringen Dosis von gesundem Menschenverstand, welche sie besaß, in einen zu engen Kreis der Anschauung und des Wissens gebannt, als daß sie hinsichtlich der Erziehung und Unterrichtung ihres Sohnes hätte darüber hinausgreifen wollen oder können. So waren denn Josefs Lehrer der Mehrzahl nach Mitglieder des Jesuitenordens, und es ist ja bekannt, in welchem seellosen Formalismus die Jesuitenpädagogik von dazumal sich bewegte oder vielmehr nicht bewegte, sondern stagnirte. Die Mutter hatte ein wachsames Auge darauf, daß der Knabe körperlich nicht verzärtelt würde, und er ist in Folge dessen zu einem Manne herangewachsen, welcher längere Zeit hindurch die oft übermäßigen Strapazen, die er sich zumuthete, rüstig und ohne Schädigung seiner Gesundheit zu ertragen vermochte. Allein inbetreff der Anstrengung und Uebung des Geistes ihres Sohnes huldigte Maria Theresia weniger gesunden Ansichten. Denn ihre bestimmte Willensmeinung ging dahin, daß man dem Prinzen allen Lehrstoff spielend beizubringen suchen müßte, und die genauere Befolgung dieser Maxime vonseiten der Lehrer Josefs mußte zu übeln Ergebnissen führen. Von einem gründlichen Lernen war der guten, ja theilweise glänzenden Begabung des Knaben ungeachtet keine Rede, sondern derselbe gerieth frühzeitig in eine fahrige Vielwisserei hinein, die sich gar bald zu einem hochmüthigen Herabsehen auf seine allerdings bornirten Lehrer und Erzieher aufsteifte. Er fühlte sich denselben geistig überlegen, was sollten sie ihn also noch lehren können?

Dazu kam, daß in Josefs Jünglingsjahren die so blendenden, so bestechenden, aber häufig so schiefen und falschen „neuen Ideen“ des „Zeitalters der Encyklopädisten“ wie durch die Mauern östreichischer Klöster, so auch durch die Wände der wiener Hofburg sickerten und sich mächtig genug erwiesen, den Prinzen zu einem halben oder ganzen Freigeist im Sinne der modischen „Freigeisterei“ von damals, obzwar keineswegs zu einem wirklich freien Geist zu machen. Denn in einer geräumigen Ecke von Josefs Seele hatte und behielt der rechtgläubige Katholicismus, wie er im Canisius steht, bis zuletzt seinen Altar. Das scharfargwöhnische Auge von Josefs großem Gegner, Friedrich von Preußen, ersah auch hier das Richtige, wenn er von dem jungen Erzherzog urtheilte, derselbe „habe bei aller Begierde, zu lernen, nicht die Geduld gehabt, sich zu unterrichten“.

Frühzeitig erhielt demzufolge Josefs Geist ein dilettantisches Gepräge, und das war ein großes Unglück für ihn selber und für das von ihm unternommene Reformwerk. Aus diesem Dilettantismus entsprang seine Unfähigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind, entsprang sein Mangel an Kenntniß der Menschen- und Völkernaturen, entsprang seine Ungeschicklichkeit in der Kunst, mit den thatsächlichen Ziffern der Politik zu rechnen. Sein edler Sinn, seine Menschenliebe und Hochherzigkeit wogen diese Mängel nicht auf. Im Gegentheil, sie verstärkten dieselben. Denn gerade aus Josefs besten Eigenschaften quoll jener einseitige Idealismus und Optimismus, welcher ihn so häufig auf den Traumfittigen einer abstrakten Humanitätsduselei über die Welt der Thatsachen hinwegfliegen ließ und zu den bedauerlichsten Mißgriffen verleitete. Die faulsten Früchte dieser Duselei zu zeitigen, war freilich der [791] Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege unserer eigenen Tage vorbehalten.[3]

Zieht man die Unzulänglichkeit seiner Erziehung in Betracht, so muß die Summe von Josefs Wissen und Können immerhin eine sehr achtungswerthe genannt werden. Nur sein ganz ungewöhnlich gutes Gedächtniß, seine reichquillende Phantasie und sein leichtes Auffassungsvermögen erklären die Erwerbung dieser Summe. Als junger Mann sprach und schrieb er fertig Deutsch, Latein, Französisch und Italisch, auch Magyarisch und Czechisch redete er geläufig. Seinen geschichtlichen, seinen rechts- und staatswissenschaftlichen Kenntnissen fehlte es nicht an Umfang, wohl aber an Vertiefung. Von dem Werth und von der Würde der Wissenschaft hatte er keine klare Vorstellung und im Ganzen achtete er Gelehrsamkeit und Gelehrte gering, was sich freilich großentheils aus der Beschaffenheit damaliger Gelehrsamkeit, sowie aus der elenden Knechtschaffenheit und Feilheit von so vielen Gelehrten erklären läßt. Der Vereinigung von wirklichem, fruchtbarem Wissen und Charakterfestigkeit bezeigte er Respekt: die neuesten Hefte von Schlötzer’s „Staatsanzeigen“ durften nie auf seinem Arbeitstische fehlen. Die Tagespublicistik freilich glaubte er verachten zu dürfen und das ist ihm zu nicht geringem Schaden ausgeschlagen. Denn indem er sich frühzeitig entwöhnte, ein offenes Ohr für die „öffentliche Meinung“ zu haben, gewöhnte er sich allzu sehr daran, diese auch dann geringzuachten, wann sie auf Beachtung vollwichtigen Anspruch hatte.

Sein ästhetisches Organ und Bedürfniß waren schwach. Nur die Musik, die er liebte und übte, hatte sich seiner wirklichen und warmen Theilnahme zu erfreuen. Die Schöpfungen von Haydn, Gluck und Mozart sind darum die glänzendsten künstlerischen Offenbarungen und Verherrlichungen der josefinischen Epoche. Weder zur Poesie noch zu den bildenden Künsten hat der Kaiser eine rechte Beziehung zu gewinnen vermocht. Sein literarischer Geschmack war so mangelhaft entwickelt, daß er den plumpen Blumauer dem feinen Wieland vorzog. In jüngeren Jahren, als ihm die ungeheure Arbeitslast, die er später auf sich nahm und die zu schleppen er sich abmühte, noch nicht alle freie Zeit raubte, las er viel und es entsprach ganz seiner Gemüthsart, daß er dem Abgott der vornehmen Welt Europa’s, dem skeptischen und witzsprühenden Voltaire, den begeisterten Idealisten und feurigen Schwärmer Rousseau bei weitem vorzog. Für die Bewegung der deutschen Literatur, welche sich aus einem Chaos von „Sturm und Drang“ zur klassischen Größe und Schönheit emporarbeitete, fehlte ihm das Verständniß und darum auch die Sympathie. Die Bedeutung der geistigen Großthaten Lessings, Göthe’s und Schillers blieb ihm verschlossen. Dennoch war er weit entfernt von jener hochmüthigen, eisigen Gleichgiltigkeit, womit Friedrich von Preußen die deutsche Literatur ansah. Diesem ist es, trotzdem daß Lessings drei große dramatische Dichtungen so zu sagen unter seinen Augen entstanden waren, niemals eingefallen, für die deutsche Schaubühne etwas zu thun. Josef dagegen hat das deutsche Schauspiel ausdrücklich unter seinen Schutz genommen und eine höchst bedeutsam fortwirkende Kulturthat verrichtet, indem er das wiener „Burgtheater“ schuf (1776), noch heute die deutsche Musterbühne.

Unter den in seinen jungen Jahren empfangenen Eindrücken, welche auf Josefs Charakterbildung ungünstig wirkten, darf sicherlich als einer der nachdrucksamsten die Stellung seines Vaters bezeichnet werden. Diese Stellung war, wenn nicht blankweg die einer Null, so immerhin doch nur die eines prachtvoll herausstaffirten Statisten. Maria Theresia liebte ihren Franz zärtlich, ja leidenschaftlich, aber trotzdem war und blieb sie die Eheherrin. Sie herrschte über die östreichischen Lande und der gute Franz war und blieb, obzwar er den langathmigen und pomposen Titel „Des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Imperator“ führte, auf die Rolle eines geachteten und geliebten Haus- und Familienvaters beschränkt. Er hatte sich auch mit guter Manier in diese Rolle hineingefunden und suchte und wußte seine viele vorräthige Zeit mittels allerhand Liebhabereien und Spielereien todtzuschlagen. Wenn er nicht in kaiserlicher Gala zu „repräsentiren“ hatte, welcher Obliegenheit er sich recht manierlich, ja sogar anmuthig zu unterziehen verstand, so machte er Bankgeschäfte, und zwar gute, oder er machte den Hofdamen den Hof, und zwar mehr oder auch weniger harmlos, oder trieb er die hohen Hazardspiele von damals, und zwar mit entschiedenem Glück, oder endlich führte er in der Loge „Zu den drei Kanonen“ als Meister vom Stuhl den Hammer. Das gehörte auch mit zur Signatur der östreichischen Zustände jener Zeit. Die Freimaurerei war unter Maria Theresia streng verboten, aber der Herr Gemahl der Kaiserin-Königin war Mitglied des verpönten und verfolgten Ordens, entrann, wie glaubhaft erzählt wird, einmal bei einem nächtlichen Ueberfall der genannten, dazumal im Margarethenhof am Bauernmarkt „arbeitenden“ Loge durch die Polizei nur mit knappster Noth dem tragikomischen Verhängniß, durch die Sbirren seiner Frau Gemahlin abgefaßt zu werden, und starb 1765 als Großmeister der Freimaurer Oestreichs.

Schon frühzeitig mußte sich dem lebhaften Geiste Josefs die Beobachtung der Inhaltslosigkeit von seines Vaters Stellung aufdrängen und man kann auf dem Wege psychologischer Schlußfolgerung leicht zu dem Resultat gelangen, daß der junge Prinz diese Stellung mit einem von Verachtung nicht ganz freien Mitleid angesehen und sich dadurch zu doppelter Thätigkeit, aber auch zur entschiedenen Herausbildung und herrischen Geltendmachung seiner Persönlichkeit angeeifert gefühlt haben müsse. Daraus dürfte sich, wenigstens zum Theil, der brennende Thatendurst erklären, welchen Josef zu erkennen gab, sobald er konnte, sowie die rücksichtslose Heftigkeit, womit er diesen Durst zu stillen trachtete. Solche Herrischkeit und Hastigkeit, sie waren es, welche das beste Herz, das jemals in einer Fürstenbrust geschlagen hat, mitunter bis zur Fühllosigkeit verhärteten und Josef vergessen machten, daß man sich zur Erreichung von Zwecken der Gerechtigkeit niemals ungerechter, zur Erreichung von Zielen der Menschenfreundlichkeit niemals grausamer Mittel bedienen sollte.

Das Facit von Josefs Bildungsgeschichte war demnach dieses: Ein vielseitiges, aber oberflächliches und lückenhaftes Wissen; ein warmes Gefühl für Recht und Unrecht, aber daneben doch auch eine starke Dosis vom Souveränitätsdünkel; ein kühn idealistischer Gedankenflug und eine mit den Ideen des Jahrhunderts der Aufklärung genährte Anschauung, aber verbunden mit einer illusionärischen Selbsttäuschung, welcher, weil sie es verschmähte, auf Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Erreichbarkeiten die gebieterisch nöthige Rücksicht zu nehmen, bitterste Enttäuschungen folgen mußten; das lebhafteste Pflichtbewußtsein, aber keine verständige Regelung der Antriebe desselben und daher jene fahrige Vielgeschäftigkeit des Kaisers, welcher die Folgerichtigkeit mehr und mehr abging und die sich in der Erlassung von Dekreten und in der Zurücknahme von Dekreten, in Befehlen und Gegenbefehlen völlig erschöpfte; aufrichtige Begeisterung für die liberalen und humanitären Theorieen der Zeit, aber eine viel zu einseitig-optimistische Ansicht vom Wesen des Menschen und der Massen; eine hohe Auffassung der eigenen Stellung und Bestimmung, aber auch vielfache Ueberschätzung und Ueberspannung der eigenen Gaben und Kräfte, ein eigensinniges Festhalten falscher Gesichtspunkte, eine Verknöcherung schiefer Begriffe; ein heißes Verlangen nach Ehre und Ruhm, aber nicht jene ruhige Entschlossenheit und besonnene Thatkraft, welche die Stufen zum Ruhmestempel langsam, Schritt für Schritt, fest und sicher hinansteigt; ein glühender Drang, zu bessern und zu bauen, aber außer Standes, die richtigen Werkzeuge zu wählen, und viel zu ungeduldig, abzuwarten, wie gestern Gepflanztes[WS 1] heute dem Morgen entgegenreife. Josef hat nie begriffen, daß Geduld eine der nothwendigsten Eigenschaften eines guten Regenten sei und daß diese unsere Welt, wie sie nun einmal ist, des Diplomatisirens und Lavirens nicht entbehren könne, ja leider eigentlich nur vom [792] Laviren und Diplomatisiren lebe. Lavirt und diplomatisirt sich doch unsere alte Muttererde selber alljährlich mühsälig um die Sonne herum.




2.

Zu seinen männlichen Jahren gekommen, war Josef eine stattliche und gewinnende Erscheinung. Urtheilsfähige zeitgenössische Beobachter, heimische und fremde, denen Schmeichelei fernlag, bezeugen das übereinstimmend.

Er war von mittelgroßem Wuchs, von schlankem, ebenmäßigem, nervigem Körperbau. Eine Stirne von schöner Wölbung, tiefblaue Augen, unter starken Brauen klar und durchdringend hervorblickend, eine kräftige, adlerschnäbelig gebogene Nase, ein Mund, welcher die hängende „habsburgische“ Unterlippe nicht besaß und sehr anmuthig zu lächeln verstand, in zorniger Erregung aber die Oberlippe soweit aufwärts zog, daß die Zähne zum Vorschein kamen, ein energisches Kinn, das lichtbraune Haar, welches er über der Stirne kurzgeschoren, an den Schläfen zu zwei Seitenlocken gerollt und im Nacken in einen kurzen Zopf gebunden trug – das alles bildete mitsammen ein wohlgefälliges Ganzes. Von seiner Mutter hatte er einen Gesichtsausdruck geerbt, der je nach den Umständen von imponirender Majestät zwanglos zu lächelnder Leutseligkeit überzugehen vermochte, und umgekehrt. Er war gesund, muskelstark, voll Kraft und Feuer, abgehärtet, in allen körperlichen Uebungen und Künsten gewandt. Er hielt sich sehr reinlich und kleidete sich sauber, aber einfach. Daheim in seinen Gemächern wie auf Reisen in die Fremde ging er in der sogenannten „deutschen“ Tracht mit dunkelfarbigem Frackrocke. Schmuck legte er selten an, auch keine Ringe. Von Uniformen trug er am liebsten die grüne, rothausgeschlagene der nach ihm benannten leichten Reiterregimenter (Chevauxlegers). Bei feierlichen Veranlassungen wußte er in der Feldmarschallsuniform, weiß und roth, und im blitzenden Ordensschmucke die kaiserliche Majestät recht gut herauszukehren. Sonst überschleierte zumeist ernste, fast schwermüthige Nachdenklichkeit seine Züge, aber dieser Schleier verschwand und wich dem Ausdrucke liebenswürdigster Offenheit und Güte, wenn er mit Menschen verkehrte, denen gegenüber er sich gehen lassen durfte. Er verstand es auch nicht übel, der Vorstellungsweise und Sprache der verschiedenen Volksklassen sich anzupassen und gelegentlich sich „populär“ zu machen. Verständige können freilich an und für sich kein Gewicht auf den Umstand legen, daß Josef auf den Reisen durch seine Provinzen einmal oder zweimal allerhöchsteigenhändig mit dem Pfluge eine Ackerfurche gezogen. Allein für eine Zeit, wo die „Götter dieser Erde“ und das „dumme Bauernvolk“ nichts mit einander gemein hatten als die Luft, bedeutete es doch mehr als eine bloße Komödie, wenn der Kaiser seine Hand da an den Pflug legte, wo unmittelbar zuvor die Hand eines Bauern gelegen.

Ein so frugales und bedürfnißloses Leben wie Josef haben gewiß nur sehr wenige große Herren geführt. Es ist bekannt, daß er, sobald er konnte d. h. unmittelbar nach dem Tode seiner Mutter, den sinnlos verschwenderischen Hofhalt auf den Fuß einer vernünftigen Einschränkung und Sparsamkeit setzte. Er war hierzu um so mehr berechtigt, als er in seiner eigenen Lebensweise ein Vorbild der Einfachheit, Mäßigkeit und Sparsamkeit aufstellte. Er schlief bis zu seiner letzten Krankheit auf einem Maisstrohsack, über welchen eine Hirschhaut gebreitet war; ein Leintuch mit leichter Decke und ein lederüberzogenes, mit Roßhaaren gestopftes Kopfkissen vervollständigten dieses gewiß nicht sybaritische kaiserliche Bett. Im Sommer um 5, im Winter um 6 Uhr aufgestanden, ging er mit seinen Kabinettsekretären sofort an die Erledigung von Regierungsgeschäften. Um 9 Uhr ließ er sich frisiren, rasirte sich selbst, kleidete sich für den Tag an und nahm Kaffee oder Chokolade zum Frühstück. Nach diesem begab er sich in sein Kabinett auf dem berühmten „Kontrolorgang“, wo alltäglich, wann er in Wien war, jedermann zu dem Kaiser Zutritt hatte, um ihm Wünsche, Bitten, Vorstellungen und Vorschläge vorzutragen. Von 12 bis 2 Uhr ging oder ritt oder fuhr er spaziren. Schöpfte er im Wagen frische Luft, so pflegte er die Zügel seines Zweigespanns selber zu lenken. Sein Mittagsmahl nahm er zwischen 3 und 5 Uhr, je nachdem die Geschäfte es erlaubten. Es war einfach genug und bestand, durch eine Mundköchin hergestellt, aus nur 2 Trachten von 6 Schüsseln, welche aber der Kaiser nicht alle kostete, indem er sich fast immer mit Suppe, Rindfleisch, etwas Gemüse, Braten, gekochtem Obst und süßem Backwerk begnügte. Spirituosen trank er gar nicht, sondern sein Lebenlang nur Wasser. Bloß im Feldlager und auch da nur auf Andringen der Aerzte genoß er etwas Ungarwein. In der Hofburg speis’te er gewöhnlich allein; weilte er aber in einem seiner Sommerschlösser, so liebte er Gäste zu haben. Nach der Tafel, welche nicht länger als eine halbe Stunde währte, an welcher aber eine ebenso anständige als zwanglose und, wenigstens in der früheren Zeit Josefs, muntere Unterhaltung herrschte, fand ein Koncert statt, bei welchem der kaiserliche Wirth häufig selber mitwirkte, sei es als Klavierspieler, sei es als Cellist. Er hat sich auch einmal als Tondichter versucht und eine Sonate zuwegegebracht, welche er dem großen Mozart zur Beurtheilung vorlegte. „Nun, wie finden Sie meine Sonate, lieber Mozart?“ „Hm, nun ja, Majestät, die Sonate ist schon gut; aber der sie gemacht hat, ist doch viel besser.“

Gerade in den Beziehungen Josefs zu Mozart trat der Zauber des Menschlichen, welcher jenem zu eigen, schön zu Tage. Der sparsame Kaiser, unter dessen Regierung die Völkerschaften Oestreichs zum erstenmal erfuhren, daß die Staatseinkünfte nicht zum Belieben und Vergnügen der herrschenden Klassen, sondern zur Deckung der Staatsbedürfnisse da wären, gab dem großen Meister einen Jahrgehalt von nur 800 Gulden. Von anderwärtsher, aus England, aus Berlin, erhielt Mozart Einladungen und Anerbietungen, welche ihm ein Einkommen sicherten, das, verglichen seinem bescheidenen wienerischen, ein glänzendes war. Aber Josef bat mit seiner unwiderstehlichen Freundlichkeit den Meister: „Bleiben Sie bei uns, lieber Mozart!“ und dieser: „Ich bleibe, Majestät.“

Die als „bezaubernd“ gerühmte Liebenswürdigkeit seiner Umgangsformen verdankte der Kaiser zweifelsohne dem Umstand, daß er sein Lebenlang gern in Damenkreisen verkehrte. Er befolgte einen bekannten Rath Göthe’s, ohne dessen Tasso zu kennen. In fraulichen Kreisen hat er auch wohl zuerst gelernt, den brutalen Er-Stil mit dem humaneren Sie-Stil zu vertauschen – auch ein Zeichen der Zeit, und zwar kein bedeutungsloses. Denn es lag ja in dem Gebrauch einer und derselben Anredeform zwischen Hoch und Niedrig, Vornehm und Gering doch auch ein Stück Ahnung vom Heraufdämmern eines neuen, des demokratischen Weltalters …

Nachdem das Nachmittagskoncert vorüber, ertheilte Josef Audienzen, hörte Vorträge und gab Bescheide. Dann begab er sich Abends 7 Uhr ins deutsche Theater oder in die italische Oper. In beiden bevorzugte er die komischen Stücke. Sein Lieblingslustspiel war Großmann’s auf die Rohheit, Plumpheit und Verschwendungssucht des Adels gemünztes „Nicht mehr als sechs Schüsseln“. Dem Zeugniß von Da Ponte zufolge, welcher bekanntlich das Textbuch zu Mozarts „Don Juan“ verfaßt hat, war der Kaiser einer der Ersten, welcher den Werth dieser herrlichen Tondichtung erkannte, die, wie jedermann weiß, bei ihren ersten Aufführungen den Wienern nicht gefiel. Josef sagte: „Das Werk ist himmlisch, lieber Mozart; es ist noch schöner als die ‚Hochzeit des Figaro‘, aber es ist kein Bissen für meine Wiener.“ Worauf der Meister: „Ei was, Majestät; man muß den Wienern nur Zeit lassen, den Bissen zu kosten.“

Nach dem Theater pflegte der Kaiser noch eine der kleinen Abendgesellschaften zu besuchen, welche in solchen Häusern der wiener Aristokratie stattfanden, wo Hausfrauen von feiner Bildung und gutem Ton „das Skepter der Sitte führten“. In seinen späteren Lebensjahren verbrachte Josef seine Abende zumeist in jenem Kreise von fünf älteren Damen (zwei Fürstinnen Liechtenstein, Fürstin Clary, Fürstin Kinsky, Gräfin Kaunitz) und drei Herren (Feldmarschall Lascy, Oberstkämmerer Rosenberg und Oberhofmarschall Kaunitz), wo er in der Form freundschaftlichen Gespräches einige Erholung von seinen schweren Sorgen fand. Noch von seinem Sterbelager aus hat der Kaiser in einem Schreiben voll Zartsinn und Erkenntlichkeit den fünf Damen für alle ihm erwiesene Güte, Nachsicht und Freundlichkeit gedankt. Gegen 11 Uhr fuhr Josef aus diesen Abendgesellschaften nach Hause, ließ sich die neueingelaufenen Depeschen und Berichte vorlegen und arbeitete, ohne ein Abendessen zu sich zu nehmen, oft bis lange nach Mitternacht. Allem leeren Prunk und Pomp war der Kaiser abhold, geräuschvolle und kostspielige Vergnügungen verachtete er, die Jagd liebte er nicht, das Spiel verdammte er und kaum jemals

[793]

Nach der Jagd.
Originalzeichnung von A. Müller-Lingke in München.

[794] hat er eine Karte berührt. Seine Mäßigkeit, Prunklosigkeit und spartanische Abhärtung nahm er auch auf seine häufigen Reisen mit, welche für sein Gefolge nichts weniger als Lustpartieen waren. Er wohnte dabei in Gasthäusern, wurde nie müde, zu sehen und zu lernen, vermied keineswegs die Berührung mit dem Volke und verkehrte zwanglos mit allen Klassen desselben. Ein schöner, für dazumal doppelt schöner Zug war es, daß er, in einer Stadt angelangt und von der Bewohnerschaft erkannt und begrüßt, sogleich im Wagen sich erhob, um stehend und entblößten Hauptes den Willkomm vonseiten des Volkes entgegenzunehmen.

So war, in flüchtigem Umrisse gezeichnet, Kaiser Josefs Lebensführung. Wer die Hofgeschichten damaliger Zeit kennt, namentlich auch die deutschen, wer die widerliche Reihenfolge gleichzeitiger Fürstlichkeiten, diese Jagdwütheriche, Menschenschinder, Seelenverkäufer, Prasser, Trunkenbolde, Wüstlinge an seiner Erinnerung vorübergehen läßt, der wird verstehen, daß und warum die Persönlichkeit des guten und unglücklichen Kaisers dem Volksgedächtniß unverwischbar sich einprägen mußte.

Ja, des guten und unglücklichen Kaisers, der auch als Mensch, als Gatte und Vater kein Glücklicher gewesen ist. Zwar seine erste, im Oktober von 1760 geschlossene Ehe mit der Infantin Isabella von Parma, welche, ohne schön zu sein, graziös und liebenswürdig zu sein verstand, schien eine glückliche werden zu wollen. Josef liebte seine Frau zärtlich, allein Isabella litt an unheilbarer Melancholie und trug sich fortwährend mit Todesgedanken, welche auch nur allzu bald sich verwirklichten, indem die Prinzessin in ihrem zweiten Wochenbett von den Pocken ergriffen wurde und im November von 1763 starb. Ihr zweites Kind, Christine, war ihr im Tode vorangegangen; ihr erstes, Maria Theresia, folgte der Mutter bald ins Grab. Der junge Witwer litt furchtbar unter diesen Schicksalsschlägen. Ob, wie eine historisch nicht erwiesene Sage will, sein Schmerz über den Verlust der geliebten Isabella noch verschärft oder vielmehr vergiftet worden sei dadurch, daß seine Schwester Christine in der wohlmeinenden Absicht, den niedergeschmetterten Bruder zu trösten und aufzurichten, ihm mittheilte, sie wüßte von der Verstorbenen selbst, daß dieselbe ihn nie wirklich geliebt hätte, mag dahingestellt bleiben. Nur das unablässige Drängen vonseiten seiner Eltern vermochte Josef, zu einer zweiten Ehe zu schreiten, und halb willenlos ließ er sich im Januar von 1765 mit der Prinzessin Josefa von Baiern verheiraten. Das schlug ganz übel aus. Der Widerwille, welchen die arme Josefa, in jedem Sinne ein Opferlamm der „Staatsraison“, vom Anfang an ihrem Gemahl oder Scheingemahl einflößte, war so stark, daß Josefs Gutherzigkeit nicht dagegen aufzukommen vermochte. Er sah es als eine Erlösung von Unerträglichem an, als Josefa im Mai 1767 durch die Pocken in ihrer bösartigsten Gestalt weggerafft wurde, und war durch nichts zu bewegen, einen dritten Heiratsversuch zu machen. Verschiedene seiner vertraulichen Briefe bezeugen aber, daß er den Mangel häuslichen Glückes bitter genug empfand. Er suchte den ihm ziemlichsten Trost und Ersatz für dieses ihm versagte Glück darin, daß er sich mit ganzer Seele der Erfüllung seiner Regentenpflichten hingab. Das ist ja das Vorrecht edler Naturen, daß sie, wann das eigene Glück in Trümmern liegt, noch für das Glück anderer zu leben, zu denken und zu sorgen vermögen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Corvin-Niëllo. Geschichte und Verfahren einer neuen deutschen Kunsttechnik. Dem Streben unserer Zeit, die Arbeit der Menschenhand durch mechanisches Hülfsmittel zu ersetzen, sind selbst deren höchste Leistungen, die Verkörperungen des künstlerischen Genius, nicht völlig entgangen. Natürlich kann die Maschine oder ein beliebiges mechanisches Verfahren niemals die freie Kunstschöpfung ersetzen, und so wird die Photographie zwar die Pfuscher, aber niemals die künstlerisch empfindenden und schaffenden Portraitmaler aus dem Sattel heben. Dagegen leisten die physikalischen und chemischen Hülfsmittel der Neuzeit als treue Gehülfen der zeichnenden und bildenden Menschenhand schon jetzt das Menschenmögliche. Erinnern wir hier nur an den Lichtdruck, der uns die vorher hundertfach mit Gold aufgewogenen Kupferstiche Dürer’s, die Radirungen Rembrandt’s, die Handzeichnungen von Meistern aller Schulen in einer Vollendung wiedergiebt, daß man sie kaum von den Originalen unterscheiden kann, an die Galvanoplastik, welche die getriebene Arbeit und den Guß der schönsten Reliefs und Metallbildwerke mit allen ihren Schwierigkeiten entbehrlich macht. Jene zierlichen silbernen und goldenen Grillen, Käfer, Bienen, Eidechsen, Blumen und Zweige, die den herrlichsten Schmuck jener Pokale Wenzel Jamitzer’s ausmachen, welche die Rothschild’s unserer Tage mit Hunderttausenden bezahlen, fertigt man heute durch galvanische Versilberung oder Vergoldung der natürlichen Zweige und Insecten, deren Oberfläche man für den elektrischen Strom leitend gemacht hat. Eine der interessantesten Neuerungen auf diesem Gebiete ist jedoch vor Kurzem als Krönung langjähriger Bemühungen dem bekannten ehemaligen preußischen Officier und Schriftsteller Otto von Corvin-Wiersbitzky geglückt, nämlich den elektrischen Strom dazu anzuhalten, daß er die mühsamsten aller Kunstwerke, eingelegte Arbeiten und Incrustationen in einer Vollendung liefert, wie sie der menschlichen Hand niemals vorher gelungen ist.

Wer hätte nicht einmal beim Durchwandern fürstlicher Schlösser und Kunstkammern sein Auge mit Entzücken an jenen herrlichen, farbensprühenden Ornamenten geweidet, die durch Einlage von Perlmutter, Bernstein und anderes edles Material in eine beliebige Grundfläche hervorgebracht wurden, und von denen der Castellan gewöhnlich erzählt, daß der Künstler zehn und mehr Jahre daran gearbeitet und so und soviel tausend Thaler dafür empfangen habe. Gerade die schwerste und kostbarste dieser dem Mittelstande bisher unerschwinglichen Kunstarbeiten, nämlich die Einlage in Metallgrund, ist nun durch das neue Verfahren zu einer verhältnißmäßig billig herstellbaren geworden, und hat zugleich eine Vollkommenheit und Schönheit erreicht, die sie kaum je vorher besessen hat. Die bisherige Metallverzierung durch Einlage beschränkte sich fast ganz auf das schon den Alten bekannte, im Mittelalter zum höchsten Ansehen gelangte sogenannte Niëllo, bei welchem Silber- und Goldgegenstände mit tief eingegrabenen Zeichnungen und Ornamenten versetzen wurden, in deren Linien man eine blauschwarze schwefelhaltige Metallmischung einschmolz. Jedermann kennt wohl die namentlich an mehreren russischen Orten, aber auch z. B. in Berlin gefertigten Tabaksdosen u. dergl. in Niëllo-Arbeit, die wegen der Haltbarkeit ihrer Ornamente sehr geschätzt sind, während die vielfach in’s Werk gesetzte galvanoplastische Ausführung gravirter Vertiefungen, wegen der geringen Farben- und Glanz-Unterschiede der auf diese Weise zu verbindenden Metalle nur eine beschränkte Anwendung in der Kunsttechnik erfährt.

Die Einlage wirksamerer farbiger Muster aus Perlmutter, Bernstein, Elfenbein, Schildpatt, Horn und ähnlichen mit den Metalloberflächen wirksam contrastirenden Materialien scheiterte bisher sowohl an der Mühsamkeit der Einlage-Arbeit wie an der geringen Haltbarkeit der in die Metallgruben geklebten oder gekitteten Flächenzierrathe, und so beschränkte sich die gesammte Einlage und Constructionstechnik immer mehr auf die Verzierung halbweicher oder erweichbarer Grundmasse (Holz, Schildpatt, Hartgummi und Papiermasse), wobei zuletzt ein bloßes Eindrücken des Ornaments in die unedle Grundmasse erfolgt. Ohne Zweifel hat sich mehr als ein Elektrotechniker mit dem Gedanken beschäftigt, edles Gestein und andere schimmernde Stoffe auf galvanoplastischem Wege in Metall zu fassen, und so hat z. B. Goudon in Paris einen Theil der Juwelierarbeit dadurch ersetzt, daß er die zu fassenden Steine in gepreßte Wachsmodelle einsetzt und diese dann mit einem galvanischen Goldniederschlage bedeckt, der den Stein einfaßt und nur einer sehr geringen Nachhülfe bedarf, um in eine billige und doch saubere Marktwaare verwandelt zu werden. Diese Eigenthümlichkeit des durch den galvanischen Strom aus seinen Lösungen ausgeschiedenen Metalles, sich jeder den Strom leitenden Oberfläche streng anzuschmiegen, legt den Gedanken nahe, sich ihrer zu bedienen, um in künstlerischer Freiheit componirte Muster aus beliebigem Material felsenfest von dem durch Elektricität ausgeschiedenen Metall umspannen zu lassen.

Corvin, der vor der Februarrevolution in einem Pariser galvanoplastischen Institute thätig gewesen war, in welchem man auch jenes erwähnte galvanische Niëllo erzeugte, ergriff diesen Gedanken. Die Februarrevolution riß den freiheitsbegeisterten Mann aus dieser Thätigkeit in dem genannten Institute; er nahm als Genosse Herwegh’s an dem badischen Aufstand Theil, dessen unglücklicher Ausgang auch für ihn verhängnißvoll wurde. Erst in der mehrjährigen Einzelhaft zu Bruchsal fand er wieder hinlänglich „freie Zeit“, um über die Lösung wissenschaftlicher und technischer Probleme nachzudenken, auf die sich später vielleicht eine neue Zukunft gründen ließ. So kam er auch auf die Idee einer galvanischen Incrustation mosaikartiger Ornamente, die von ihm, in der Theorie völlig durchgearbeitet, gleich nach dem Austritt aus der Festungshaft (1855) nach seiner Uebersiedeluug nach London praktisch in Angriff genommen wurde.

Der Grundgedanke seines Verfahrens, das Ornament auf eine ebene Fläche zu zeichnen, dann die sorgfältig zurechtgeschnittenen und vollkommen zubereiteten Stückchen von Perlmutter etc. darauf zu kleben, ferner die Rückseite des gesammten Ornaments bis in die feinsten Winkelchen hinein mit Graphitstaub zu überziehen und endlich Metall darauf niederzuschlagen, war so einfach, daß die Sachverständigen, denen er sein Verfahren mittheilte, sich meist vor die Stirn schlugen und „das Ei des Columbus!“ riefen, aber obwohl die ersten praktischen Versuche die Ausführbarkeit der Idee bewiesen, stellten sich so viele kleine Schwierigkeiten und unvermuthete Hindernisse der Herstellung salon- und marktfähiger Artikel entgegen, daß Corvin seine tausend Pfund Sterling in das Unternehmen gesteckt hatte, ohne zu wirklich tadellosen Ergebnissen gelangt zu [795] sein. Es erklärt dies, weshalb die gewiß auch von manchen anderen Seiten in Angriff genommene Idee erst so spät zur Vollendung gereift ist. Um nur eine dieser Schwierigkeiten zu berühren, mag erwähnt werden, daß gerade die geeignetsten und für diese Art von Kunstarbeit unentbehrlichen Materialien, die Perlmutter und die in glühend tiefen Pfauen- und Kolibrifarben schillernden Stücke aus der Irismuschel (Haliotis) die Metalllösung nicht vertrugen und alle Schönheit darin einbüßten. Wie der Erfinder diese und viele andere Schwierigkeiten überwunden hat, ist sein Geheimniß und gehört nicht hierher.

Als das neue Institut alle Mittel des Erfinders verschlungen hatte, kam der amerikanische Krieg, und Corvin war froh, als Correspondent der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ und der „Times“ in die neue Welt gesandt zu werden. Nach einem bewegten Leben in Amerika kehrte er als Special-Correspondent nordamerikanischer Zeitungen wieder nach Europa zurück, erst nach Berlin, dann nach Frankreich, um den Amerikanern den Siegeszug der deutschen Armee zu schildern.

Erst nach dem französischen Kriege tauchte in Corvin die alte Lieblingsidee wieder auf. Im vorigen Jahre endlich waren die letzten Schwierigkeiten besiegt, und Corvin fand in dem Besitzer einer großen galvanischen Anstalt, J. P. Kayser Sohn in Crefeld, den rechten Mann für die künstlerische Ausbildung und die industrielle Verwerthung der Erfindung.

Das Corvin-Niëllo ist von großer Schönheit; die mit der Metallfläche wundervoll harmonirenden Muster scheinen kaum mehr eingesetzt, sondern mit dem Farbenschimmer der Perlen, Schmetterlingsflügel und Kolibris auf das Metall selbst gemalt und eingeschmolzen zu sein. Von großer Wichtigkeit ist dabei die Verbindung der genannten Firma mit den berufensten Meistern des Kunstgewerbes, die von wahrhafter Schönheit durchdrungene Muster für diese des höchsten Farbenreizes fähige Technik gezeichnet und der zu verzierenden Fläche angepaßt haben, wobei die Verbindung der in allen Regenbogenfarben schimmernden Irismuschel mit dem schwarzen Schildpatt einerseits und mit den verschiedenen Metalllüstern andererseits den höchsten decorativen Reiz entfaltet. Obendrein gestattet das Verfahren auf die einfachste Weise die vielseitigste Verbindung mit allen möglichen anderen decorativen Hülfsmitteln. So kann der Kupferniederschlag, in welchem das Muster eingebettet liegt, versilbert, vergoldet, darauf von neuem gravirt und in der mannigfachsten Weise gefärbt werden, um einen neuen Farbenton hineinzubringen, oder er kann mit Reliefs aller Art verziert werden, wenn statt der Niederschlagsform mit ebenem Boden eine solche mit eingravirten oder gegossenen Reliefformen gewählt wird.

Von der Vielseitigkeit der Anwendungsweise wird es einen Begriff geben, wenn ich erwähne, daß die Firma J. P. Kayser trotz der Neuheit dieses Industriezweiges bereits alle möglichen Luxusartikel mit derartigen Incrustationen in den Handel bringt, Tischplatten, Vasen, Schalen, Album- und Buchdeckel, Einlagen für Möbel und Kästchen aller Art, Kaminverzierungen, kurz alles Geräth, was irgendwo eine ebene Fläche darbietet. Es handelt sich hier nicht um Imitationen und Surrogate, wie in unsern Oeldrucken, imitirten Gobelins u. dergl. m., sondern um eine in ihrem Kunstwerth und ihrem Farben- und Lichtzauber mindestens den ältern Kunstwerken ebenbürtige Technik, sodaß das billigere Erzeugniß im Stande ist, das theuerere zu übertreffen. In dieser Richtung kann die Erfindung Corvin’s nicht warm genug anerkannt und begrüßt werden, da sie auch dem Minderbegüterten erlaubt, sein Auge an mustergültigen schimmernden Ornamenten auf den Gegenständen seiner täglichen Umgebung zu erfreuen, und den Farbensinn der in solcher Umgebung heranwachsenden Kinder zu bilden.
C. St.




Danksagungsfest in der Union. Im Novembermonat, gewöhnlich am letzten Donnerstage desselben, feiern die Vereinigten Staaten ihr Friedens-, ihr Ernte-Dankfest und nennen es „Thanksgiving-day“. Schon am Tage vor dem Feste ziehen bis spät in die Nacht hinein Schaaren von vorsorglichen Hausherren aller Stände, vom Gelehrten an bis herab zum Arbeiter, auf den Markt, um ihre Einkäufe zu besorgen. Auf morgen richtet jedermann nun seine Gedanken, auf morgen, auf die grüne Oase in der Welt der Arbeit, den Tag der Liebesspenden, des Dankes, des Genusses.

Und „Thanksgiving-day“ bricht an! Oftmals in all der Pracht, dem sonnigen Glanz der so unsagbar schönen Zeit, die man in Amerika mit Indianer-Sommer bezeichnet; häufiger noch kühl, stürmisch, sogar rauh. Aber was kümmert das Jung und Alt! An dem Tage feiert die ganze Union ihr schönstes Fest im Jahr. Wie für den Deutschen Weihnachten das Band der Liebe ist, welches sich um alle Mitglieder der Nation schlingt, so ist „Thanksgiving-day“ das Bindemittel für Amerika und seine Kinder. An dem Tage giebt es kein Rechnen, kein Knausern, da schenkt man mit vollen Händen, da sollen sich Alle freuen, da werden viele Thränen getrocknet, viele Augen wiederum feucht, wenn sie sehen, wie durch kleine Gaben so reiche, so segensvolle Erfolge erzielt sind.

Am Morgen pilgert Alles zur Kirche, um dort dem Geber aller Gaben zu danken. Die Prediger haben an dem Tage vollständige Freiheit sich Text und Inhalt zu wählen, und da ist es wohl nicht zu unnatürlich, daß sie das mit hinein in ihre Predigten verflechten, was ihre Herzen, die Herzen Aller in dem Lande der Freiheit am meisten bewegt, die Politik. Besonders in Jahren, wo die Präsidentenwahl stattfindet, wird dieses Thema so viel wie möglich in neutraler Weise erörtert. Es macht einen eigenthümlichen Eindruck, wenn in dem Gott geweihten Hause, das zum Erntefest mit den Früchten des Herbstes, den Erzeugnissen der Felder geschmückt ist, auf dessen dunkelrothen Polstern und Teppichen die gelben Strahlen der Herbstsonne spielen, der Geistliche, nachdem er seinen Tribut in Dankesworten gezahlt hat, plötzlich zu der Politik übergeht.

Das erste Mal verletzte mich diese Art zu predigen; das zweite Mal war ich nicht mehr überrascht, und später – fand ich es natürlich, und so erscheint es auch wohl den Tausenden, die eine mit Politik gewürzte Predigt hören.

In New-York speist man gewöhnlich um sechs Uhr Abends zu Mittag; nicht so am „Thanksgiving-day“; da wird gar häufig die Stunde abgeändert, und um ein Uhr oder um zwei Uhr setzt man sich zum heitern, frohen Mahl nieder. Gäste finden sich selten dazu ein, da Jeder dasselbe gern im engsten Familienkreise verlebt. Aber wer unverheirathete Freunde hat, vergißt dieselben nicht.

Die Mahlzeit besteht nun mit unbedeutenden Variationen in: Fleischsuppe, die aber häufig fehlt, da man den Suppen in Amerika nicht hold ist, dem köstlich gebratenen Truthahn nebst Cranberries (Preißelbeeren), Mais, Tomatos, Kartoffeln, Macaroni und Austerpastete. Alles dieses steht bereits auf der Tafel, der Hausherr schneidet und legt vor; die Dame des Hauses vertheilt die anderen Dinge. Niemand bedient sich selbst; dann werden die Ueberreste abgeräumt und mit den Desserttellern zugleich ein mächtiger „Mincepie“ und Gefrorenes hingesetzt. Der Pie ist eine Art Blätterteig, zwischen dessen zwei Platten entweder Obst oder das gehackte, mit Rosinen und Branntwein zubereitete Fleisch gefüllt wird.

Zuweilen erscheint auch ein prächtiger „Plumpudding“, doch bleibt dieses Gericht mehr für Weihnachten aufgespart. – Kein Bettler wird abgewiesen, man bewirthet ihn nicht etwa nur mit einem Stück Brod, sondern auch mit Pie und Truthahn.

Doch nicht nur im engsten Familienkreise feiert man mit Essen, Trinken und durch heitere Spiele dieses echte Volksfest. Auch in den Waisenhäusern, in den Krankenanstalten, in jedem öffentlichen oder privaten Institute, ja selbst in den Gefängnissen und Zuchthäusern giebt es für den Tag keine Arbeit, aber eine extra gute Mahlzeit. Es ist natürlich, daß man auch nicht jener Classe vergißt, die man in New-York mit dem Namen „Straßenaraber“ bezeichnet; das sind die kleinen Knaben, die, ohne Heimath, ihre Tage mit dem Verkauf von Zeitungen und Stiefelwichsen hinbringen und von denen so viele die Nächte auf den Stellen des Trottoirs lagern, wo aus den Druckereien der heiße Dampf den Schnee weggethaut hat, oder unter einer Treppe, bis der wachthabende Polizist sie aufstöbert und fortschickt. In den letzten Jahren ist eine große Besserung für die armen kleinen Burschen eingetreten, da ein eigenes Haus zur Aufnahme für die Zeitungsjungen erbaut wurde. Dort finden sie gegen geringen Preis Bad, Schlafstätte und Essen.

Diese fleißigen, in nichts als Lumpen gekleideten Zeitungsjungen und die Stiefelputzer erhalten am „Thanksgiving-day“ ebenfalls ihre Truthühner, ihr Gefrorenes und ihre Pies. Hunderte von Zuschauern strömen in die Gebäude, wo die Liebesmahle für die armen Kleinen stattfinden, und ergötzen sich an dem guten Appetit und der verständigen Art, wie sich diese kleinen, von der Straße aufgelesenen Knaben geberden.

Auch in den Missionshäusern werden die Armen bewirthet: in einem derselben in New-York wurden am Danksagungsfeste mehr als dreihundert Teller aufgestellt und zuerst die Kinder, später die draußen stehenden Erwachsenen gesättigt. Die Anzahl der Geschenke für diese Mahlzeit war enorm. Auf den Tischen standen sechszig Truthühner, und in eben solcher Unmasse Rinderbraten, Schinken, Zungen, Hühner, Gänse etc. Dazwischen sah man Pasteten, Kuchen, Brod und Biscuit; Pyramiden von Früchten und Zuckerzeug füllten die noch leeren Flächen aus.

Mit Singen, Gebet und Ansprache werden diese öffentlichen Speisungen eingeleitet, und von Minute zu Minute füllen sich die mit Buchsbaum und frommen Sprüchen geschmückten Räume, durch die man die armen, elenden Kinder zu den weiß gedeckten Tischen führt, mehr und mehr. Damen und Herren machen die Bedienung und suchen, so viel wie möglich, die reichen Liebesspenden zu vertheilen. An diesem Tage der Liebesspenden sieht man erst mit Erschrecken, welch eine Armuth in dem so wohlthätigen New-York herrscht.

Am nächsten Tage ist Alles wieder beim Alten; die Maschinen rasseln; die Dampfpfeifen stoßen ihre gellenden Töne aus; die Geschäfte sind geöffnet, und das industrielle Leben läßt sein Räderwerk auf’s Neue in einander greifen. Langsam schwindet die Erinnerung an den schönen Ruhetag aus dem Gedächtniß, bis wieder ein Jahr vergangen und abermals die Union ihn begrüßt, ihren „Thanksgiving-day“!

Clara Hance.




Für Volksschulen. Unter den Staaten, welche sich bestreben, die Lage der Volksschulen zu verbessern, und zur Hebung der Volksbildung keine Opfer gescheut haben, nimmt neben Baden und Sachsen das Großherzogthum Hessen die erste Stelle ein. Als Anfangs 1873 die hessische Regierung dem unter den Volksschullehrern herrschenden Nothstande ein Ende zu machen suchte, wurde das neue Besoldungsgesetz auch in der „Gartenlaube“ erwähnt und Hessen, im Vergleiche mit vielen anderen Staaten, als Eldorado für Lehrer bezeichnet. Seitdem hat sich die Nothwendigkeit ergeben, eine abermalige Revision der Gehaltssätze vorzunehmen, die seit vorigem Jahre dem Lande manche tüchtige Kraft verschafft und dem befürchteten Lehrermangel abgeholfen haben. In erster Linie kamen die Minimalgehalte von 400 Gulden (700 Mark) und die Unterschiede hinsichtlich der Gehaltssätze zwischen Gemeinden unter und über 2000 Seelen in Wegfall und bestimmte das neue Gesetz in Artikel 1: Der geringste Gehalt eines definitiv angestellten Lehrers an Volksschulen soll in Gemeinden bis 10,000 Seelen 900 Mark, und in Gemeinden von 10,000 und mehr Seelen 1200 Mark betragen, wobei Vergütungen für Ertheilung von Unterricht in der Fortbildungsschule nicht eingerechnet werden. Jeder angestellte Lehrer hat bei gewissenhafter Dienstführung nach 10jähriger Amtszeit einen Gehalt von 1050 Mark, nach 15jähriger Dienstzeit 1150 Mark, nach 20 Dienstjahren 1225 Mark und nach 25jähriger Dienstzeit 1300 Mark zu beanspruchen; das Dienstalter berechnet sich von der ersten Verwendung nach bestandener Schlußprüfung an. Für Gemeinden über 10,000 Seelen mit 3 bis 6 Lehrerstellen an Volksschulen sind folgende Durchschnittsgehalte vorgesehen worden: Gemeinden mit 3 Lehrerstellen 950 Mark, Gemeinden mit 4 Stellen 1066 bis 1200, Gemeinden [796] mit 5 Lehrern 1250, Gemeinden mit 6 Lehrerstellen 1350 Mark. Bei 7 bis 10 Lehrerstellen müssen, falls nicht die Gemeinde ein stufenweises Aufsteigen im Gehalte nach Dienstjahren erfolgen läßt, Gehaltsclassen von mindestens 1600 bis 1000 Mark (durchschnittlich 1300 Mark) festgesetzt und die Lehrer möglichst gleichmäßig eingereiht werden. In Gemeinden über 10,000 Seelen bestehen, falls die Lehrer nicht nach dem Dienstalter aufrücken, Gehaltsclassen von 2200 bis 1200 Mark (Durchschnittsgehalt 1700 Mark).

Neben dem Gehalte hat jeder Lehrer Anspruch auf angemessene Wohnung, womöglich mit Garten, oder auf eine Miethentschädigung; letztere beträgt nach der Einwohnerzahl der Orte (2000, 2000 bis 10,000, 10,000 bis 30,000, 30,000 und mehr) für unverheirathete Lehrer 100 bis 250 Mark, für verheiratete oder verwittwete 120 bis 550 Mark (120, 150, 250, 350, 400 und 550 Mark). Versieht der Lehrer die Functionen eines Organisten, Cantors oder Vorlesers, so erhält er für den Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen 100 Mark und, falls Gottesdienst auch an anderen Tagen stattfindet (z. B. bei Seelenmessen, Seelenämtern), 200 Mark jährlich, wobei nur solche Vergütungen, die jene Ansätze übersteigen, als Besoldungstheile angesehen werden. Zur Erleichterung der Gemeinden mit drei bis sechs Lehrerstellen können unter gewissen Voraussetzungen einzelne Stellen ständig offen gehalten und durch Schulverwalter versehen werden, in welchen Fällen der Gehalt in Gemeinden unter 10,000 Seelen mindestens 700 Mark, in solchen von 10,000 Seelen und mehr mindestens 800 Mark beträgt.

Auch für die angestellten Lehrerinnen hat das Gesetz gesorgt; sie erhalten neben freier Wohnung oder der gesetzlichen Miethentschädigung den für einen definitiven Lehrer der Gemeinde sich ergebenden Minimalgehalt, wobei in Orten mit sieben oder mehr Lehrerstellen ein Aufrücken bis zu 1200 beziehentlich 1400 Mark stattfinden muß. Das Einkommen der Schulverwalter (Verwalterinnen) erledigter Stellen beträgt vor besonderer Schlußprüfung in Gemeinden unter 10,000 Seelen 600 Mark, in den übrigen Gemeinden 700 Mark, nach abgelegter Schlußprüfung 700 beziehentlich 800 Mark neben freier Wohnung oder angemessener Miethentschädigung. Um ältere Lehrer nicht hinter jüngeren Kollegen zurückstehen zu lassen und deren Aufsteigen in höhere Gehaltsclassen zu ermöglichen, wird in Gemeinden mit mehreren Lehrerstellen und verschiedenen Gehaltssätzen bei Bemessung der Größe des Gehaltes hauptsächlich die Anciennetät als maßgebend erachtet. Beschäftigen sich in einer Gemeinde die Einwohner vorzugsweise mit Ackerbau, so ist darauf Bedacht zu nehmen, daß mit der Schulstelle die Nutznießung von Grundstücken in hinreichendem Maße verbunden ist, wobei der durchschnittliche Ertrag in die Besoldung eingerechnet wird.

Zur Aufbringung sämmtlicher Bedürfnisse der Volksschulen (Gehalte, Gebühren, Wohnungen, Miethentschädigungen, Schullocale, Heizung etc.) sind in Hessen die Gemeinden verpflichtet, und gewährt der Staat Zuschüsse, falls die Mittel zur Bildung der Lehrergehalte ohne empfindlichen Druck der Bewohner nicht aufgebracht werden können. Die Staatskasse tritt auch bei der gesetzlichen Alterszulage ein.

Wir haben uns darauf beschränkt, die wesentlichsten Bestimmungen eines Gesetzes hervorzuheben, das, in einem kleinen Lande eingeführt, doch für alle deutschen Lehrer von Interesse sein wird.
Dr. Z–r.




Einer der „Zwölf von einer Million“. Im ersten Jahre unseres letzten großen Kriegs stellte die „Gartenlaube“ (S. 572) auf einer Bildertafel ihren Lesern die Portraits der Befehlshaber der damaligen zwölf norddeutschen Armeecorps vor, und unter diesen auch dasjenige des Commandeurs des achten Armeecorps, des Generals August von Goeben. Damals von allen Generalen der jüngste, ist heute auch er, der am 10. December sein 63. Jahr vollendet haben würde, schon „zur großen Armee“ einberufen. Er starb am Abend des 13. November in Coblenz, dem Sitze des Generalkommandos des (achten) Armeecorps der Rheinprovinz.

August Karl von Goeben war ein geborener Soldat, der Sohn eines kühnen und thatkräftigen Kämpfers der Befreiungskriege, dessen Geist er geerbt hatte. Dazu genoß er den Vorzug einer tüchtigen Gymnasialbildung zu Celle, wohin er in seinem zehnten Jahre aus seiner Geburtsstadt Stade kam, und gewann dadurch die Befähigung, später auch als Schriftsteller lehrreiche Kriegserfahrungen der Oeffentlichkeit mitzutheilen. Als Soldat diente er von der Pike auf im preußischen Heere seit 1833, wo er zu Ruppin als Musketier in das vierundzwanzigste Infanterie-Regiment eintrat. Nach zwei Jahren wurde er Lieutenant. Ein Jahr hielt er die Einförmigkeit des Friedensgarnisonsdienstes aus; dann trieb ihn der Thatendrang in die Ferne. Er eilte nach Spanien, um in den Reihen der Carlisten zu kämpfen, und wenn ein Abenteurertrieb in ihm ausgetobt werden mußte, so fand er dort ausgiebige Gelegenheit dazu. Fünfmal verwundet und zweimal gefangen, endlich zum Ingenieur-Oberstlieutenant aufgestiegen, schied er von der aufgelösten Armee und wurde, aus Spanien ausgewiesen, völlig mittellos von der französischen Regierung mit Zwangspaß und drei Sous tägliches Zehrgeld bis an die deutsche Grenze gebracht. Seine Erlebnisse in Spanien schilderte er in den beiden Werken: „Vier Jahre in Spanien“ und „Die Carlisten“, die in Preußen ihm höhere Beachtung zuzogen. Als Unterlieutenant 1842 wieder in die preußische Armee eingetreten, wurde er schon ein Jahr später dem Generalstab einverleibt. Im Jahre 1849 focht er im badischen Feldzuge mit, wurde 1855 zum Oberstlieutenant und drei Jahre später zum Chef des Generalstabes des achten Armeecorps befördert. Trotz alledem trieb es ihn noch einmal nach Spanien, als dieses 1860 den Krieg gegen Marokko[WS 2] begann. Seine „Reise- und Lagerbriefe aus Spanien und vom spanischen Heere in Marokko[WS 3]“ zeigen, wie scharf der Mann zu sehen verstand; sie verrathen bereits den Feldherrnblick, den der 1861 Generalmajor gewordene und nun im fünfundvierzigsten Lebensjahre stehende Mann fortan in den großen Kämpfen des Vaterlandes bewähren sollte.

Wir haben seiner Bildungs- und Jugendzeit ausführlichere Beachtung gewidmet, weil sie von Bedeutung ist für Das, was er fortan geleistet, und weil der Inhalt seines Lebens von seiner Theilnahme am schleswig-holsteinischen Kriege (1864) an der Geschichte angehört und allgemein bekannt ist. Wie seine Brigade in diesem, so erwarb 1866 die „Division Goeben“ im Mainfeldzuge sich hervorragenden Ruf, und im französischen Kriege erhoben seine Thaten bei Spicheren, Gravelotte, vor Metz und bei St. Quentin seinen Namen zu einem der gefeiertsten der Nation.

Deutschland konnte im größten Kriege des Jahrhunderts sich einer Heldenschaar von Führern rühmen, wie sie in solcher Zahl keine andere Kriegsgeschichte aufweist; August von Goeben war einer der größten unter ihnen. Und daß ihn zu all diesen Verdiensten eine ungewöhnliche Bescheidenheit und persönliche Liebenswürdigkeit schmückte, hat ihn nicht mir der ganzen deutschen Armee, sondern dem ganzen deutschen Volke so werth gemacht, daß sein Andenken so lange dauern wird, wie sie selbst.

Es ist ein trübes Loos unseres sonst mit Recht „der Glückliche“ genannten Kaisers, daß er solche Helden, die seinem Herzen so nahe standen, vor sich scheiden sehen muß – und es kann nur Das sein Trost sein, daß diese Helden nicht gelebt haben können, ohne der deutschen Armee ebenbürtige Schüler und Nachfolger zu hinterlassen.




Nach der Jagd. (Mit Abbildung S 793.) Gerade weil in der gegenwärtigen Jahreszeit die deutschen Wälder reich an Scenen und Gruppen des fröhlichen Waidmannslebens sind, wird man eine derselben auch gern im Bilde dargestellt sehen. Wir treffen unsere Gesellschaft in dem Augenblicke an, wo die Beute der Nimrode auf den Jagdwagen geladen und, vielleicht zu Mißvergnügen geübter Jagdlateiner, zugleich gewissenhaft notirt wird. Der Hunger, der erfahrungsgemäß nach einer Jagd besonders kräftig aufzutreten pflegt, ist offenbar bereits gestillt; denn wir sehen allerseits dem Trinken sowie dem Genuß der Pfeife und der Cigarre den größeren Eifer zugewendet. Das ist eine behagliche Stimmung, die hier um das knisternde Feuer herrscht und die der dunkelnde Wald belauscht, ja es flattert sogar, von der Ceres und des Bacchus Opferdüften angelockt, der lustige Amor herbei. Einen besonderen Werth würde unsere Illustration gewinnen, wenn der Anblick des herrlichen Waldes und der frischen Waldwiese sammt der fröhlichen Menschengruppe den Tausenden von Stubenhockern in’s Herz führe und sie mit der unwiderstehlichen Sehnsucht nach der Seligkeit des „Athmens im Freien“ erfüllte. Wie viel Gesundheit des Leibes und der Seele würde uns Alle mehr erfreuen, wenn wir Alle uns unserer schönen Wälder – wenn auch ohne Jagd – mehr erfreuten, als dies leider geschieht!



Kleiner Briefkasten.

E. M. in Rom. Wir haben schon einmal mitgetheilt, daß wir den nächsten Jahrgang mit einem neuen Roman des allgefeierten Lieblings unserer Leser, E. Marlitt, zu beginnen gedenken. Der Titel des Romans lautet: „Amtmanns Magd“.

S. E. in London. Ihnen kann geholfen werden; denn O. Rethel’s poesievolle Kinderbilder (vergl. „Gartenlaube“ Nr. 11 des laufenden Jahrgangs) sind nunmehr im Verlage von Edwin Schloemp in Leipzig erschienen und durch jede Kunst- und Buchhandlung zu beziehen.

J. Kampf-Wolga. Als ungeeignet vernichtet.



Als Festgeschenk empfohlen!

In unserem Verlag erschien soeben:

„Gedichte“ von Ernst Ziel.
Zweite, vermehrte Auflage. Elegant gebunden 5 Mark 25 Pfennig.

In der Literatur der Gegenwart ist der Name Ernst Ziel’s, des Redacteurs der „Gartenlaube“, wohlbekannt, und seine Poesien erfreuen sich mit Recht der Gunst des Publicums. Einige seiner „Lieder“ sind im Volke populär geworden und werden vielfach gesungen; seine „Bilder und Gestalten“, seine „Stimmungen und Reflexionen“ zeichnen sich durch tiefes Gemüth, wahres poetisches Gefühl und kunstvollendete Form aus; seine „Vaterländischen Gedichte“ bekunden eine warme, gesunde patriotische Gesinnung, und in den gedankenvollen „Canzonen“ leiht er seiner Weltanschauung dichterischen Ausdruck. – Die deutsche Leserwelt wird die zweite, bedeutend vermehrte Auflage der „Gedichte“ von Ernst Ziel gewiß freudig begrüßen. Das reich und geschmackvoll ausgestattete Buch enthält außer den genannten Rubriken noch „Vermischte Gedichte“, „Balladen und Romanzen“, „Freie Strophen“, „Sonette“, „Distichen“ und „Sprüche“. So sind Ernst Ziel's „Gedichte“ in jeder Beziehung geeignet, als wirklich gehalt- und sinnvolle Gabe den deutschen Familientisch zu schmücken.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. „Das Photophon“. Vortrag, gehalten in der neunundzwanzigsten Jahresversammlung der amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu Boston im August 1880 von Alexander Graham Bell. Aus dem Englischen. Leipzig. Quandt und Händel, 1880.
  2. Diese Gedichte entnehmen wir den soeben in zweiter Auflage erschienenen Friedens- und Kriegsgedichten unseres als Dramatiker, Epiker und Literarhistoriker allgefeierten langjährigen Mitarbeiters. Rudolf von Gottschall’s Lyrik ist bisher viel weniger Gemeingut der Nation geworden, als seine mit Recht gepriesenen Erzeugnisse auf den anderen Gebieten des literarischen Schaffens. Um so freudiger weisen wir bei Gelegenheit dieser Neu-Ausgabe seiner „Friedens- und Kriegsgedichte“ auf den Lyriker Gottschall hin. Seine Muse ist vor Allem heimisch auf dem Gebiete der Gedankendichtung großen Stils, aber auch im stimmungsvollen Liede, in der dramatisch gestaltenden Ballade wie der schwungvollen patriotischen Hymne schlägt sie einen eigenartigen, stets eindrucksvollen Ton an. Alle diese Vorzüge der Gottschall’schen Dichtweise bringen auch die „Friedens- und Kriegsgedichte“, die wir hiermit der allgemeinen Beachtung – namentlich auch im Hinblick auf den Weihnachtstisch – empfehlen möchten, vollgültig zur Anschauung.
  3. Indessen ging die unselige Verirrung doch schon zu Josefs Zeit so weit, daß „wissenschaftliche“ oder, wie man dazumal sagte, „philosophische“ Versuche auftauchten, das allen Phantasten und Sentimentalitätskrämern verhaßte Princip der Verantwortlichkeit zu verneinen, d. h. an der Grundsäule aller socialen Ordnung zu rütteln. Als der Raubmörder Zahlheim, welcher mit kaltblütigem Vorbedacht seine alte Base ermordet hatte, im Jahre 1786 in Wien gerädert wurde – die letzte Räderung in Oesterreich – erschien eine Brandschrift, welche den Kaiser auf’s heftigste angriff, weil er das Todesurtheil bestätigt hätte, und welche den „Beweis erbrachte“, daß Zahlheim das Opfer der Unwissenheit seiner Richter gewesen, maßen er „nur in Folge der Umstände Räuber und Mörder geworden sei“, weil er „nicht die moralische Freiheit besessen, es nicht zu werden“. In unsern Tagen ist in demselben Wien die herrliche „wissenschaftliche“ Entdeckung gemacht worden, Verbrecher müßten Verbrecher sein, sie könnten gar nicht anders, weil ihnen die allgütige Mutter Natur den hinteren Gehirnlappen zu kurz gerathen ließe. Man sieht auch in diesem Falle, wie in gar vielen anderen, daß das 18. Jahrhundert nur irgendeinen Thorenwahn aufzuschwindeln brauchte, um sicher sein zu können, derselbe würde im 19. seine „wissenschaftliche“ Anerkennung und „Begründung“ finden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gepflanzes
  2. Vorlage: Mexico (siehe Berichtigung).
  3. Vorlage: Mexico (siehe Berichtigung).