Jüdische Altertümer/Buch II

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[72]
Zweites Buch.

Dieses Buch umfasst einen Zeitraum von 220 Jahren.

Inhalt.

1. Wie Isaks Söhne Esau und Jakob das Land, wo sie wohnten, teilten, und wie Esau Idumaea, Jakob aber Chananaea erhielt.

2. Wie Jakobs Sohn Joseph wegen der Träume, die ihm sein zukünftiges Glück verkündeten, von seinen Brüdern gehasst wurde.

3. Wie Joseph, von seinen Brüdern aus Hass nach Aegypten verkauft, dort sehr berühmt wurde, und wie seine Brüder in seine Hand gegeben wurden.

4. Wie Jakob mit seinem ganzen Stamme einer Hungersnot wegen zu Joseph auswanderte.

5. Von der vierhundertjährigen Bedrückung der Hebräer in Aegypten.

6. Wie Moyses geboren und erzogen wurde.

7. Wie die Hebräer unter Moyses’ Führung aus Aegypten auszogen, und wie das Meer sich teilte und ihnen auf der Flucht vor den Aegyptiern einen Durchgang bot.

Erstes Kapitel.
Wie Isaks Söhne Esau und Jakob das Land, wo sie wohnten, teilten, und wie Esau Idumaea, Jakob aber Chananaea erhielt.

(1.) 1 Nach Isaks Tode hielten seine Söhne das überkommene Land nicht zusammen, sondern teilten es unter sich. Esau überliess die Stadt Chebron seinem Bruder und wohnte in Saïr. Er beherrschte Idumaea, welches von ihm den Namen hat. Denn er führte den Beinamen Edom, den er aus folgender Ursache erhalten hatte. 2 In seiner Jugend kam er einst erschöpft und [73] hungrig von der Jagd nach Hause und traf seinen Bruder, wie er sich ein Linsengericht bereitete, das von roter Farbe war. Voll Verlangen nach dieser Speise fragte er ihn, ob er ihm davon mitgeben wolle. 3 Jakob betrog nun seinen Bruder, indem er sich dessen Hunger zu Nutzen machte, und beredete ihn, ihm für das Linsengericht das Recht der Erstgeburt zu überlassen. Esau, von Hunger gedrängt, ging darauf ein und bekräftigte es mit einem Eide. Wegen der roten Farbe jener Speise nun wurde er von seinen Altersgenossen zum Spotte Edom genannt, das heisst im Hebraeischen „rot.“ Deshalb heisst denn auch jene Gegend so; die Griechen aber nennen sie mit dem besser klingenden Namen Idumaea.

(2.) 4 Esau zeugte fünf Söhne, nämlich Jaus, Jeglom und Kore mit seinem Weibe Olibama‚ Eliphaz mit der Ada, und Raguel mit der Basemmatha. 5 Eliphaz hatte fünf rechtmässige Söhne: Theman, Oman, Sophar, Gotam und Kenez, sowie einen unehelichen, Amalek, mit seinem Kebsweibe Thamnaa. 6 Diese bewohnten Idumaea, auch Gobolitis genannt, und Amalekitis, das von Amalek den Namen hat. Idumaea aber erstreckte sich einst weithin, und es wurde das ganze Land mit diesem Namen bezeichnet, während später die einzelnen Teile die ihnen von ihren ersten Bewohnern beigelegten Namen behielten.

Zweites Kapitel.
Wie Jakobs Sohn Joseph wegen der Träume, die ihm sein zukünftiges Glück verkündeten, von seinen Brüdern beneidet wurde.

(1.) 7 Jakob aber erlangte ein so grosses Glück, wie kaum ein anderer Mensch. Denn er übertraf einerseits die Bewohner jenes Landes durch seinen Reichtum, andererseits war er aber auch geachtet und berühmt wegen der Tugenden seiner Kinder, die zu Handarbeiten geschickt; im Ertragen von Strapazen geübt und mit [74] scharfem Verstande begabt waren. 8 Zudem trug der Himmel selbst so grosse Sorge um sein Wohlergehen, dass sogar aus Widerwärtigkeiten ihm reiches Glück erblühte. Auch war es ihm und seinen Söhnen beschieden, unseren Vorfahren den Weg zum Auszuge aus Aegypten zu bahnen, und zwar aus folgender Veranlassung. 9 Jakob liebte den Joseph, den ihm die Rachel, geboren, sowohl seiner körperlichen Schönheit, als auch seiner geistigen Fähigkeiten wegen (er war allen seinen Brüdern an Klugheit überlegen) mehr als die anderen Kinder. 10 Diese Zuneigung seines Vaters aber häufte auf Joseph den Hass und Neid seiner Brüder, und es wuchs derselbe noch mehr durch seine glückverheissenden Träume, die er dem Vater und den Brüdern mitteilte. Es liegt ja in der menschlichen Natur, auf das Glück selbst der nächsten Verwandten eifersüchtig zu sein. Die Erscheinungen aber, die Joseph im Schlafe hatte, waren folgende.

(2.) 11 Als er einmal mit seinen Brüdern vom Vater zur Erntezeit zum Einsammeln von Getreide hinausgeschickt worden war, sah er eine Erscheinung, die weit abwich von dem, was man gewöhnlich zu träumen pflegt. Beim Erwachen nun erzählte er den Traum seinen Brüdern, damit sie ihn erklären möchten. Es habe ihm in der vergangenen Nacht geschienen, als ob seine eigene Weizengarbe an dem Ort, wohin er sie gestellt, unbeweglich feststehe, ihre Garben aber zu der seinigen hinkämen und dieselbe verehrten, wie Diener ihren Herrn zu verehren pflegten. 12 Jene aber erkannten, dass der Traum ihm Glück und Macht verkünde, und dass sie ihm unterthan sein würden. Doch sagten sie es dem Joseph nicht und thaten, als wenn ihnen die Auslegung des Traumes unbekannt sei. Im stillen aber hofften sie, dass ihre Befürchtung sich nicht erfüllen möchte, während ihr Hass nur noch um so grösser und nachhaltiger wurde.

(3.) 13 Darauf sandte Gott, dem ihr Neid zuwider war, dem Joseph einen anderen, noch wunderbareren Traum. [75] Es schien ihm nämlich, als ob die Sonne mit dem Monde und den übrigen Gestirnen auf die Erde herabstiege und ihn anbete. 14 Diesen Traum erzählte er dem Vater in Gegenwart seiner Brüder, ohne etwas Böses zu ahnen, und bat ihn, ihm denselben auszulegen. 15 Jakob aber freute sich über den Traum, da er in ihm eine Vorherverkündigung der Zukunft seines Sohnes erkannte, und frohlockte über die ihm in Aussicht gestellte Macht. Dann erklärte er den glückverheissenden Traum dahin, dass nach Gottes Fügung eine Zeit kommen werde, da Joseph bei seinen Eltern und Brüdern in höchster Verehrung stehen werde. 16 Der Mond und die Sonne bedeuteten Vater und Mutter, weil der Mond allem Erschaffenen Wachstum und Nahrung, die Sonne aber Gestalt und Kraft verleihe. Die Sterne bedeuteten seine Brüder, weil auch sie wie die Sterne elf an der Zahl seien und von den Eltern, wie die Sterne von Sonne und Mond, ihre Kraft erhielten.

(4.) 17 So deutete Jakob den Traum nicht ohne feinen Witz, die Brüder aber waren über ihn nichts weniger als erfreut. Und sie wurden sehr gereizt gegen Joseph, gleich als sei es ein Fremdling, dem das im Traume verkündete Glück erblühen werde, und nicht ihr eigener Bruder, mit dem sie doch wahrscheinlich all das Gute zusammen geniessen würden, wie sie auch von gleicher Abkunft mit ihm waren. 18 Deshalb beschlossen sie, ihn zu töten. Und als sie diesen Entschluss gefasst hatten, geschah es, dass sie nach beendigter Ernte nach Sikim zogen, wo es fette und bequeme Weideplätze giebt, und hier ihre Herden hüteten, ohne dass sie dem Vater davon Mitteilung gemacht hätten. 19 Da nun der Vater keine Kenntnis von ihrem Verbleib hatte, und auch keiner von den Hirten zu ihm kam, der ihm etwas Sicheres von ihnen hätte melden können, wurde er sehr betrübt und sandte bekümmerten Herzens den Joseph zu den Herden, damit er sich nach seinen Brüdern erkundige und ihm Nachricht über sie bringe.

[76]
Drittes Kapitel.
Wie Joseph aus Hass von seinen Brüdern nach Aegypten verkauft wurde.

(1.) 20 Die Brüder freuten sich, als sie den Joseph kommen sahen, jedoch nicht wie über die Ankunft eines nahen Verwandten und Boten ihres Vaters, sondern wie über die eines Feindes, den Gott in ihre Gewalt gegeben. Um nun die günstige Gelegenheit nicht entschlüpfen zu lassen, schickten sie sich sogleich an, ihn umzubringen. 21 Als aber Rubel, der älteste von ihnen, sah, was sie thun wollten, und dass sie eines Sinnes waren, versuchte er ihren Frevelmut zu zügeln, indem er ihnen zeigte, welch gewagtes und schändliches Beginnen sie vorhätten. 22 Denn, wenn es vor Gott und den Menschen schon ein Greuel sei, einen fremden Menschen zu töten, um wie viel frevelhafter sei es dann, die Schuld des Brudermordes auf sich laden zu wollen, zumal das Unglück rückwirkend auch den Vater treffen und die Mutter in trostlose Verlassenheit stürzen würde. Sie sollten sich daher hüten, eine so unnatürliche That zu begehen, und von ihrem verwegenen Unternehmen abstehen. 23 Sie möchten doch bedenken, was sie selbst leiden würden, wenn ihnen ihr bester Sohn entrissen werden sollte. Auch sollten sie Gott fürchten, der ihren Anschlag gegen das Leben des Bruders durchschaue. Wenn sie von der That Abstand nähmen, werde Gott sie um ihrer Reue und Sinnesänderung willen lieben. 24 Beständen sie hingegen auf der Ausführung ihres Vorhabens, so werde er sie gewiss mit den erdenklichsten Strafen belegen, weil sie seine allgegenwärtige Vorsehung beleidigt, vor der nichts verborgen bleibe, möge es nun in der Einsamkeit oder im Gewühl der Städte geschehen. Denn wo immer der Mensch sei, da sei auch Gott gegenwärtig. 25 Auch würde, wenn sie die That wagten, ihr eigenes Gewissen sie verfolgen; diesem aber könne niemand entfliehen, sei es gut oder böse wie das ihrige, wenn sie den [77] Brudermord begingen. 26 Überdem fügte er noch hinzu, wie unrecht es sei, selbst einen nichtswürdigen Bruder zu töten, und dass man auch an Freunden sich nicht räche, wenn man sich von ihnen beleidigt glaube. Sie aber wollten den Joseph umbringen, obgleich er ihnen nicht das geringste Böse zugefügt habe und sein zartes Alter vielmehr ihr Mitleid, ihre Fürsorge und ihren Schutz verlange. 27 Vermehrt werde übrigens die Schlechtigkeit der That noch durch den Beweggrund, der sie dazu treibe, und das sei nur der Neid über das zukünftige Glück Josephs, das sie doch mitgeniessen würden, da sie in engster Gemeinschaft mit ihm lebten. 28 Denn sie müssten bedenken, dass das, was Gott dem Joseph beschere, auch ihnen zu gute kommen werde. Der Zorn des Himmels werde also schwer auf ihnen lasten, wenn sie den töteten, den Gott eines solchen Glückes gewürdigt habe. Auch beraubten sie Gott selbst dessen, den er mit Glücksgütern überhäufen wolle.

(2.) 29 Durch diese und andere Vorhaltungen und Bitten versuchte Rubel sie vom Brudermorde abzuschrecken. Da er aber sah, dass sie um nichts versöhnlicher geworden waren, vielmehr es mit dem Morde eilig zu haben schienen, suchte er sie wenigstens zu einer milderen Todesart zu bestimmen. 30 Denn da sie seiner flehentlichen Bitte, die Tötung zu unterlassen, nicht nachkämen, vielmehr darauf beständen, ihn aus dem Wege zu räumen, so würden sie wenigstens eine leichtere Sünde begehen, wenn sie seinem Rate folgten. Ihren Zweck würden sie ja so auch erreichen, aber auf eine andere, weniger gehässige Weise. 31 Er beschwor sie nämlich, nicht selbst Hand an ihren Bruder zu legen, sondern ihn in die nächste Cisterne zu werfen und dort sterben zu lassen; so würden sie den Vorteil haben, ihre Hände nicht zu beflecken. Als sie hierzu ihre Zustimmung gaben, führte Rubel den Knaben weg, band ihn an ein Seil und liess ihn langsam in eine Cisterne hinab, die hinreichend trocken war. Dann entfernte er sich und suchte sich einen passenden Weideplatz.

[78] (3.) 32 Judas aber, auch einer von Jakobs Söhnen, erblickte arabische Kaufleute vom Stamme Ismaëls, welche Gewürze und syrische Waren aus Galad nach Aegypten brachten. Nach Rubels Weggang nun riet er seinen Brüdern, den Joseph aus der Cisterne zu ziehen und ihn den Arabern zu verkaufen. 33 Wenn ihn dann auch weit weg bei Fremden der Tod ereilen sollte, so würden sie sich wenigstens von der Schuld des Mordes frei halten. Dieser Vorschlag gefiel ihnen, und sie zogen daher den Joseph aus der Cisterne heraus und verkauften ihn um zwanzig Minen[1] den Kaufleuten; er war damals 17 Jahre alt. 34 Rubel aber kam in der Nacht zur Cisterne, da er den Joseph ohne Vorwissen der Brüder retten wollte. Als er nun auf sein Rufen keine Antwort erhielt, vermutete er, die Brüder hätten ihn nach seinem Weggange getötet, und machte ihnen deshalb Vorwürfe. Diese aber erzählten ihm den wahren Hergang, worauf er zu trauern aufhörte.

(4.) 35 Sobald nun die Brüder solches gegen Joseph bewerkstelligt hatten, überlegten sie, was zu thun sei, um den Verdacht des Vaters abzulenken. Und sie kamen darauf, das Unterkleid, welches Joseph getragen, als er zu ihnen kam, und das sie ihm ausgezogen, als sie ihn in die Cisterne hinabliessen, mit Bocksblut zu bespritzen; es dem Vater zu bringen und ihm zu zeigen, damit er glaube, sein Sohn sei von wilden Tieren zerrissen worden. 36 Also thaten sie auch, begaben sich zu dem alten Vater, dem schon etwas über seinen Sohn zu Ohren gekommen war, und sagten ihm, sie hätten den Joseph nicht gesehen, wüssten auch nicht, was ihm zugestossen sei. Doch hätten sie dieses blutbefleckte und zerfetzte Kleid gefunden, woraus sie geschlossen hätten, er sei von wilden Tieren angefallen worden und habe so den Tod gefunden, wenn dies das Kleid sei, in welchem er von Hause sich entfernt habe. 37 Jakob aber, der noch leise [79] gehofft hatte, der Knabe sei vielleicht irgendwohin gefangen weggeführt worden, gab nun diesen Gedanken auf, hielt das Kleid für ein sicheres Zeichen seines Todes (denn er erkannte, dass es dasselbe sei, in welchem er den Joseph zu seinen Brüdern geschickt hatte) und betrauerte ihn, als wenn er wirklich umgekommen sei. 38 Und er stellte sich so an, als ob er sein einziger Sohn gewesen sei, und wollte von dem Troste der anderen Söhne nichts wissen. Denn er war überzeugt, dass Joseph, noch ehe er mit seinen Brüdern gesprochen, von wilden Tieren zerrissen worden sei. So sass er da, mit einem Sacke bekleidet und von Schmerz gebeugt, verschmähte den Trost seiner Söhne und liess selbst aus Erschöpfung von der Trauer nicht ab.

Viertes Kapitel.
Josephs ausgezeichnete Selbstbeherrschung.

(1.) 39 Den Joseph kaufte von den Händlern ein Aegyptier Petephres,[2] der Küchenmeister des Königs Pharao, und hielt ihn hoch in Ehren. Denn er liess ihn in den freien Künsten unterrichten, gab ihm bessere Nahrung, als bei Dienern üblich war, und machte ihn zum Vorsteher seines Hauses. 40 Joseph nahm das alles an, ohne von seiner gewohnten Tugend abzuweichen; vielmehr bewies er, dass Klugheit, die grössten Schwierigkeiten des Lebens überwinden könne, wofern sie nur rein und unbefleckt und nicht bloss den augenblicklichen günstigen Verhältnissen angepasst sei.

(2.) 41 Es war nämlich seines Herrn Weib wegen seiner Schönheit und Geschicklichkeit von Liebe zu ihm entbrannt, und sie glaubte, sie werde, wenn sie ihm dies mitteile, ihn leicht zu sündigem Umgang verlocken können, ja er werde es als ein Glück betrachten, dass seine Herrin solches von ihm verlange; 42 denn sie dachte [80] nur an seinen gegenwärtigen Stand eines Knechtes, nicht aber an seine guten Sitten, die trotz des veränderten Standes dieselben geblieben waren. Als sie aber ihr heftiges Verlangen ihm verriet und ihm den Beischlaf antrug, wies er ihr Begehren zurück und hielt es für unrecht, dass sie ihm eine Gunst gewähren wolle, welche über den, der ihn gekauft hatte und ihn in so hohen Ehren hielt, nur Schmach und Schande bringen würde. 43 Dann ermahnte er sie, ihre Begierde zu zügeln, und nahm ihr die Hoffnung, als ob er je ihr willfahren würde; denn so, meinte er, werde sie eher von ihrem ungestümen Verlangen abstehen. Auch habe er sich fest vorgenommen, eher das Äusserste zu erdulden, als ihr zu Willen zu sein. Denn wenn es sich auch für den Knecht nicht zieme, der Herrin sich zu widersetzen, so glaube er doch für seinen Ungehorsam gegen ihren Befehl hinreichende Entschuldigung zu haben. 44 Da sie aber solchen Widerstand nicht erwartet hatte, wurde ihre Liebe nur noch heftiger, und weil ihre schlechte Begierde sie dazu trieb, beschloss sie, ihn ein zweites Mal zu bestürmen.

(3.) 45 Als nämlich ein öffentliches Fest bevorstand, dessen Besuch auch für die Frauen Sitte war, schützte sie bei ihrem Gatten Krankheit vor, um ihr Verlangen an Joseph wieder stellen zu können, wenn Ruhe und Stille im Hause herrsche. Als sie das erreicht hatte, bestürmte sie ihn mit noch einschmeichelnderen Worten als früher: 46 Es sei besser gewesen, wenn er früher ihrem Verlangen willfahrt und keinen Widerstand geleistet hätte, teils aus Ehrfurcht vor ihr, teils wegen der Heftigkeit ihrer Liebe, die sie, die Herrin, veranlasst habe, sich unter ihre Würde zu erniedrigen. Doch könne er durch kluges, entgegenkommendes Benehmen seine Unterlassung wieder gut machen. 47 Wenn er eine zweite Bitte ihrerseits erwartet habe, so thue sie das jetzt, und zwar inständiger als zuvor. Sie habe Krankheit vorgeschützt und seine Gesellschaft dem rauschenden Feste vorgezogen. Habe er aber ihren früheren Worten misstraut und ihnen deshalb nicht nachgegeben, so könne er jetzt daraus, dass sie auf ihrem [81] früheren Verlangen bestehe, leicht entnehmen, dass sie keine böse Absicht habe. 48 Deshalb könne er sowohl das gegenwärtige Glück, das ihm schon winke, geniessen, wenn er ihr Verlangen erfülle, als auch auf noch grösseres hoffen. Dagegen aber könne er sich auf ihren Hass und ihre Rache gefasst machen, wenn er ihre Bitte zurückweise und lieber seine Keuschheit bewahren, als seiner Herrin zu Willen sein wolle. 49 Die Keuschheit werde ihm übrigens wenig nützen, denn sie brauche nur die Anklage gegen ihn vorzubringen und ihrem Manne vorzulügen, sie sei von ihm angegriffen worden, und Petephres werde doch ihren Worten mehr Glauben schenken als den seinigen, und wenn sie noch so sehr den Schein der Wahrheit an sich trügen.

(4.) 50 So beschwor ihn das Weib unter Thränen; doch liess er sich weder aus Mitgefühl noch aus Furcht von seiner Keuschheit abbringen, sondern er widerstand ihren Bitten wie ihren Drohungen und verabscheute das Böse. Denn lieber wollte er bitteres Leid ertragen, als augenblickliches Wohlbehagen geniessen und dem Weibe zuliebe etwas begehen, das ihm, dessen war er sich bewusst, von Rechts wegen den Tod zuziehen musste. 51 Auch ermahnte er sie, ihrer ehelichen Verbindung und Pflichten zu gedenken und beschwor sie, darauf mehr Rücksicht zu nehmen als auf die Befriedigung einer augenblicklichen Lust. Denn dieser würden Reue und Schmerz folgen, die die Sünde nicht ungeschehen machen könnten; zudem werde sie in beständiger Furcht vor Ertappung schweben und es als einzige Wohlthat betrachten, wenn der Frevel geheim bliebe. 52 Mit ihrem Gatten dagegen könne sie ohne Gefahr verkehren und habe dann auch noch die Zuversicht eines guten Gewissens vor Gott und den Menschen. Auch werde sie, wenn sie ihre Reinheit bewahre, eher das Recht der Herrin ihm gegenüber vertreten können, als wenn die Scham über sein Mitwissen um ihre Sünde sie darin beschränke. Denn es sei besser, den rechten Weg offen zu wandeln, als im geheimen zu sündigen.

[82] (5.) 53 Durch diese und ähnliche Vorstellungen versuchte er die heftige Begierde des Weibes zu zügeln und sie von ihrer verkehrten Leidenschaft zu vernünftigem Nachdenken hinüberzulenken. Sie aber bestand nur um so fester auf ihrem Begehren, und da sie daran verzweifelte, ihn mit Worten sich geneigt machen zu können, legte sie Hand an ihn und versuchte ihn mit Gewalt zu zwingen. 54 Joseph aber floh entrüstet, und indem er das Kleid, an welchem sie ihn gefasst, zurückliess, stürmte er aus ihrem Schlafgemach hinaus. Da sie aber befürchtete, er möchte ihrem Gatten von der Sache Mitteilung machen, hielt sie, schmerzlich ergriffen wegen ihrer schmachvollen Niederlage, es für geraten, den Joseph bei Petephres falsch anzuklagen und so Rache für die ihr widerfahrene Beleidigung zu nehmen. Denn sie hielt es für klug und ihr als Frau wohl anstehend, ihm mit der Beschuldigung zuvorzukommen. 55 Und so sass sie betrübt und verwirrt da und heuchelte Schmerz, als ob ihre Schamhaftigkeit verletzt worden sei, während sie in Wirklichkeit doch nur aufgebracht darüber war, dass ihre Begierde nicht gestillt worden war. Als nun ihr Gatte heimkehrte und sich über ihren Anblick entsetzte, fing sie auf seine Frage nach dem Grunde ihrer Betrübnis an, den Joseph zu beschuldigen und sprach: „Du verdienst zu sterben, o Gemahl, wenn du den nichtswürdigen Knecht, der dein Ehebett entehren wollte, nicht mit gebührender Strafe belegst. 56 Denn uneingedenk des Zustandes, in dem er unser Haus betrat, und uneingedenk der Wohlthaten, die du ihm erzeigtest, hat er, statt Dankbarkeit gegen uns zu beweisen, tückischerweise dein Ehelager zu entweihen versucht, und dazu noch an einem Festtage in schlauer Berechnung deiner Abwesenheit. Die Bescheidenheit, welche er früher zur Schau trug, legte er sich nur aus Furcht vor dir auf, und nicht etwa, weil er wirklich rechtschaffenen Gemütes war. 57 So ist es aber gekommen, weil er wider Verdienst und Erwarten zu Ehren gelangt war; infolgedessen hielt er es für billig, dass er, dessen treuer Verwaltung du [83] alle deine Güter anvertraut und den du über deine älteren Diener gesetzt hattest, sich nun auch an deiner Gattin vergreifen dürfe.“ 58 Nach diesen Worten zeigte sie ihm das Kleid, gleich als wenn er es zurückgelassen hätte, als er ihr Gewalt anthuen wollte. Petephres aber, der weder den Thränen und Worten seiner Gattin, noch dem Augenschein misstraute und sie überdies sehr liebte, stand von weiterer Untersuchung des Sachverhaltes ab, 59 lobte sein Weib ob ihrer Schamhaftigkeit und liess den Joseph, den er nun für nichtswürdig hielt, ins Gefängnis werfen. Von seiner Gattin dagegen dachte er nur Gutes, weil er ihre Züchtigkeit und Keuschheit erprobt habe.

Fünftes Kapitel.
Was Joseph im Gefängnisse begegnete, und wie er zu hohen Ehren gelangte.

(1.) 60 Joseph stellte nun sein ganzes Geschick Gott anheim und verschmähte sowohl seine Verteidigung als auch eine genaue Darstellung des Sachverhaltes, vielmehr trug er schweigend seine Ketten und vertraute Gott, der die wahre Ursache seines Unglückes kenne und mächtiger sei als die, welche ihn ins Gefängnis geworfen. Und bald erfuhr er auch Gottes Vorsehung an sich. 61 Denn der Kerkermeister nahm ihm mit Rücksicht auf seinen Fleiss, seine Zuverlässigkeit und seine schöne Körpergestalt die Fesseln ab und machte ihm hierdurch wie auch durch die Gestattung besserer Kost sein Unglück leichter und erträglicher. 62 Unter den Gefangenen nun, die, von gleichem Elend gebeugt, sich in den kurzen Erholungspausen nach schwerer Arbeit über die Gründe ihrer Verurteilung zu unterhalten pflegten, 63 befand sich auch ein Mundschenk des Königs, der diesem sehr lieb gewesen, aber im Zorne von ihm ins Gefängnis geworfen werden war. Und da er mit Joseph dieselben Fesseln trug, wurde er vertrauter mit ihm und erzählte ihm (er hatte erkannt, dass dieser die übrigen Gefangenen an [84] Scharfsinn übertraf) einen Traum mit der Bitte, ihm denselben zu deuten, wenn man ihm eine Bedeutung beilegen könne. Er beklagte dabei sehr, dass ihm ausser dem vom Könige über ihn verhängten Elende auch noch die Träume solche Beunruhigung brächten.

(2.) 64 Er erzählte ihm also, er habe im Traum drei Rebzweige gesehen, an denen grosse und ausgereifte Weintrauben hingen; diese habe er in einen Becher ausgepresst, den der König in der Hand hielt, dann habe er den Most durchgeseiht und ihn dem Könige zum Trinken gereicht, der ihn gnädig angenommen habe. 65 Diesen Traum, sagte er, habe er gesehen, und er bat Joseph, ihm die Deutung desselben mitzuteilen, wenn er dazu die Einsicht besitze. Joseph aber hiess ihn gutes Mutes sein, denn in drei Tagen könne er seine Befreiung aus dem Kerker erwarten, und der König werde seine Dienste wieder begehren und ihn dazu wieder berufen. 66 Die Frucht des Weinstockes nämlich sei durch Gottes Freigebigkeit den Menschen zu ihrem Nutzen gegeben worden, da sie ihm selbst geopfert werde und da sie Freundschaft und Vertrauen unter den Menschen vermittele, Feindschaft löse, Verwirrung und Trauer zerstreue und grosses Vergnügen bereite. 67 „Du sagst nun, du habest mit deinen Händen aus drei Weintrauben den Saft gepresst, und der König habe ihn angenommen. So wisse also, dass du einen guten Traum gehabt hast, der dir zeigt, dass du in so viel Tagen, als es Weintrauben waren, aus denen du Wein gepresst im Traume‚ aus deinem Elend wirst erlöst werden. 68 Wenn du nun die Wahrheit dieser Deutung erprobt haben wirst, so erinnere dich meiner, der dir dieses Glück verkündet hat, und siehe nicht auf uns, die du hier im Kerker zurücklässt, verächtlich herab, wenn du die Freiheit wiedererlangt hast und das Glück findest, das ich dir vorhergesagt habe. 69 Denn nicht durch meine Schuld bin ich in Banden geworfen worden, sondern wegen meiner Tugend und Sittsamkeit erleide ich die Strafe von Verbrechern, da ich dem, der mich hierher gebracht hat, nicht aus [85] schnöder Lust Schande anthuen wollte.“ Über eine solche Traumdeutung freute sich natürlich der Mundschenk und harrte nun des Erfolges.

(3.) 70 Noch ein anderer Diener des Königs, der oberste der Bäcker nämlich, war zugleich mit dem Mundschenk eingekerkert worden. Da nun auch er einen Traum gehabt und die günstige Auslegung vernommen hatte, die Joseph dem Traume des Mundschenken gab, fragte er ihn hoffnungsvoll, was sein eigener Traum bedeute, den er in der verflossenen Nacht gehabt. 71 Dieser aber war folgender: „Es schien mir,“ sagte er, „ich trüge auf meinem Kopfe drei Körbe, davon zwei mit Braten gefüllt, der dritte aber mit Zukost und anderen Esswaren, wie sie dem Könige bereitet werden. Da kamen Vögel angeflogen und verschlangen alles, und obwohl ich sie zu vertreiben suchte, konnte ich sie nicht abschrecken.“ 72 Und der Bäcker erwartete eine ähnlich günstige Auslegung, wie sie dem Mundschenk zu teil geworden. Joseph aber dachte über den Traum eifrig nach und verkündete ihm dann, er möchte ihm gern eine freudigere Deutung geben, als in dem Traume versteckt liege. Er habe nämlich nur noch zwei Tage zu leben (denn das bedeuteten die Körbe), 73 am dritten aber werde er gekreuzigt und eine Speise der Vögel werden, und er werde nichts dagegen vermögen. Und beiden geschah, wie Joseph vorhergesagt hatte. Denn als an dem erwähnten Tage der König seinen Geburtstag feierte, liess er den obersten der Bäcker kreuzigen, den Mundschenk aber entliess er aus dem Kerker und setzte ihn in sein früheres Amt ein.

(4.) 74 Als nun Joseph zwei Jahre im Gefängnis zugebracht und von dem Mundschenk trotz der günstigen Prophezeiung keine Hilfe erlangt hatte, erlöste Gott selbst ihn aus seinen Banden auf folgende Weise. 75 Pharao hatte in einer Nacht zwei Träume und zu jedem eine besondere Deutung erhalten; die Deutung hatte er vergessen, während er sich der Träume noch entsann. Da er nun über die Träume bekümmert war (sie schienen [86] ihm nämlich Trauriges zu verkünden), berief er frühmorgens die weisesten der Aegyptier und verlangte von ihnen die Auslegung der Träume. 76 Und als diese in ihren Meinungen schwankten, wurde der König um so mehr beunruhigt. Der Mundschenk aber erinnerte sich, da er den König wegen der Träume in Unruhe sah, des Joseph und seiner Geschicklichkeit im Traumdeuten. 77 Er ging also zum König und erzählte ihm von Joseph, von dem Traum, den er ihm gedeutet, dass der Ausgang genau der Deutung entsprochen habe, und dass an demselben Tage der oberste der Bäcker gekreuzigt worden sei, ebenfalls genau nach Josephs Deutung. 78 Der letztere sei von dem Küchenmeister Petephres gefangen gesetzt worden, dessen Knecht er gewesen sei. Er sei ein Hebräer und von angesehenem Geschlecht. Diesen möge der König zu sich bescheiden, wenn anders er nicht wegen seiner gegenwärtigen üblen Lage darauf verzichten wolle, und er werde dann von ihm erfahren, was die Träume bedeuteten. 79 Da befahl der König, dass Joseph ihm vorgeführt werde; und diejenigen, denen dies oblag‚ kleideten und schmückten ihn nach des Königs Befehl und führten ihn demselben vor.

(5.) 80 Der König aber nahm ihn bei der Hand und sprach: „O Jüngling, mein Diener hat mir Beweise von deiner Tugend und Einsicht gegeben; also gewähre auch mir die Gefälligkeit, die du ihm erwiesen hast, und verkünde mir die Deutung der Träume, die ich gehabt. Doch will ich, dass du nichts verschweigst, auch darfst du mir nicht mit schmeichlerischer, auf Gunst und Wohlgefallen gerichteter Rede dienen, wenn auch das Antlitz der Wahrheit etwas erschrecklicher sein sollte. 81 Also es träumte mir, ich wandelte längs eines Flusses dahin und sähe sieben wohlgenährte und durch Grösse ausgezeichnete Kühe aus dem Flusse kommen und auf einen Sumpf zugehen, sowie sieben andere sehr magere und hässliche Kühe aus dem Sumpfe steigen und jenen entgegengehen. Die mageren Kühe aber verschlangen die sieben fetten und grossen Kühe, ohne dass sie dadurch zunahmen; [87] vielmehr blieben sie elend und ausgehungert. 82 Nach diesem Traume wachte ich beunruhigt auf und überlegte, was das Bild wohl bedeuten könne. Darüber schlief ich wieder ein und hatte nun einen zweiten noch wunderbareren Traum, der mich noch mehr erschreckte und verwirrte. 83 Ich meinte nämlich sieben Ähren zu sehen, die aus einer Wurzel sprossten und voll schwerer und reifer Körner waren, daneben aber auch sieben andere, armselige, trockene und schmächtige Ähren, welche sich zu den schönen hinneigten, um sie aufzuzehren, worüber ich mich sehr erschreckte “

(6.) 84 Darauf antwortete Joseph und sprach: „Dein Traum, o König, ist zwar scheinbar ein doppelter, bezeichnet jedoch in Wirklichkeit einen und denselben Vorgang. Denn was die Kühe betrifft (sie sind, nebenbei bemerkt, zum Pflügen bestimmt), die von den mageren verschlungen, 85 und die Ähren, die von den schlechteren verzehrt werden, so verkünden sie für Aegypten ebenso viele Jahre des Hungers und der Unfruchtbarkeit, als Jahre des Überflusses vorangegangen sind, und dass der Überfluss der letzteren von der Unfruchtbarkeit der folgenden verzehrt werden wird. 86 Und es wird die Not so gross werden, dass es schwer sein wird, ihr abzuhelfen, was ich daraus schliesse, dass die mageren Kühe, nachdem sie die fetten verschlungen, doch nicht satt werden konnten. Gott sagt aber sicherlich den Menschen die Zukunft voraus, nicht um sie zu erschrecken oder zu betrüben, sondern damit sie in kluger Vorsicht sich Erleichterung verschaffen können, wenn die vorherverkündeten Ereignisse eintreten. Wenn du daher den Ertrag der vorhergehenden Jahre aufspeicherst und weise verteilst, so werden die Aegyptier die nachfolgende Hungersnot nicht merken.“

(7.) 87 Der König aber bewunderte Josephs Weisheit und Klugheit, und er fragte ihn, wie denn zur Zeit des Überflusses für die Zukunft gesorgt werden könne; um die Unfruchtbarkeit erträglicher zu machen. 88 Darauf antwortete Joseph mit dem Rat, er solle mit der Ernte [88] möglichst sparsam umgehen und den Aegyptiern nicht gestatten, den Überfluss zu verschwenden, sondern ihnen befehlen, denselben für die Zeit der Not aufzubewahren. Auch ermahnte er ihn, er möge das Getreide von den Ackersleuten in Empfang nehmen, es in Scheunen bergen und jedem nur so viel verabfolgen lassen, als er zum Lebensunterhalt brauche. 89 Pharao bewunderte den Joseph sowohl seiner Traumauslegung als des guten Rates wegen, den er gegeben, und betraute ihn selbst mit der Anordnung; er solle alles so machen, wie er es für das Volk der Aegyptier und den König für erspriesslich halte, denn als der Urheber des guten Rates sei er auch der geeignetste Mann, ihn auszuführen. 90 Joseph erhielt also vom Könige die Befugnis, dessen Siegel zu gebrauchen und Purpur zu tragen. Im Wagen fuhr er durch ganz Aegypten, sammelte von den Landleuten das Getreide und teilte jedem nur so viel davon zu, als er zur Saat und Nahrung gebrauchte. Doch verriet er niemand den Grund, warum er so verfuhr.

Sechstes Kapitel.
Wie Joseph in Aegypten berühmt wurde und die Brüder in seine Gewalt bekam.

(1.) 91 Joseph war damals dreissig Jahre alt und wurde vom König mit allen erdenklichen Ehren überhäuft. Wegen seiner staunenswerten Weisheit gab er ihm den Beinamen Psothomphanech, das heisst „Entdecker verborgener Dinge.“ Auch ging Joseph eine sehr ehrenvolle eheliche Verbindung ein. Denn unter Vermittlung des Königs heiratete er die Aseneth, die jungfräuliche Tochter des Petephras, eines Priesters in Heliopolis. 92 Von dieser erhielt er noch vor der Hungersnot zwei Söhne, deren ältester Manasses hiess. Dieser Name bedeutet „vergessen,“ weil er sein früheres widriges Schicksal vergass, als er in glückliche Verhältnisse kam. Der jüngere Sohn hiess Ephraïm, das heisst „wiedereingesetzt,“ weil [89] er in die Freiheit seiner Vorfahren wieder eingesetzt worden war. 93 Als nun Aegypten die sieben glücklichen Jahre, wie sie Joseph in der Traumdeutung vorherverkündet, hinter sich hatte, brach im achten Jahre die Hungersnot herein. Und da man sich für dieselbe schlecht vorgesehen hatte, strömte alles in grosser Not zum königlichen Palast. 94 Der König liess den Joseph kommen, der das Getreide anwies und sich in Wahrheit als Erretter des Volkes zeigte. Und nicht allein den Einwohnern dieser Gegend öffnete er sein Haus, sondern er war auch bereit, den Auswärtigen Getreide zu verkaufen. Denn er hielt es für billig, dass alle ärmeren Menschen von denen, die im Überfluss lebten, unterstützt würden, da sie ja doch alle miteinander verwandt seien.

(2.) 95 Weil nun auch Chananaea sehr unter der Hungersnot litt (die Plage hatte nämlich das ganze Land ringsum ergriffen), schickte Jakob, der vernommen hatte, dass auch Auswärtige den dortigen Markt besuchen dürften, alle seine Söhne nach Aegypten, um Getreide einzukaufen. Nur den Benjamin, Josephs leiblichen Bruder, den Sohn der Rachel, behielt er bei sich. 96 Als diese nun nach Aegypten gekommen waren, baten sie den Joseph, auch ihnen den Ankauf von Getreide zu gestatten. Denn nichts geschah ohne Josephs Willen, und es nutzte nichts, dem König Verehrung zu erweisen, wenn man sie nicht vorher dem Joseph erwiesen hatte. 97 Dieser erkannte in ihnen seine Brüder, die aber ihrerseits an ihn nicht im entferntesten dachten; denn als er von ihnen getrennt wurde, war er noch jung, und jetzt war er schon zu einem Alter gelangt, in dem sich seine Gesichtszüge so verändert hatten, dass sie ihn nicht zu erkennen vermochten‚ zumal sie nicht ahnen konnten, dass er zu so hoher Würde erhoben worden sei. 98 Und Joseph dachte sie auf die Probe zu stellen und ihre Gesinnung zu erforschen. Denn er schlug ihnen das Getreide ab und sagte, sie seien nur gekommen, um zu spionieren; aus verschiedenen Gegenden seien sie zusammengetroffen und gäben nun vor, Verwandte zu sein. [90] Es sei nicht denkbar, dass ein Privatmann so viele und so wohlgestaltete Söhne erziehen könne, da Königen kaum ein solches Glück zu teil werde. 99 So sprach er aber nur, um etwas Sicheres über seinen Vater zu erfahren, wie es ihm gehe und was er erlebt habe, seit er (Joseph) von ihm weggegangen war; auch hätte er gern gehört, wie es mit Benjamin stehe, denn er fürchtete, sie hätten auch diesen Bruder, ebenso wie ihn selbst, aus dem Wege geräumt.

(3.) 100 Die Brüder wurden hierdurch beunruhigt und erschreckt, denn sie sahen sich von grosser Gefahr bedroht und dachten nicht im geringsten an ihren Bruder. Sowie sie sich aber etwas gefasst hatten, ergriff Rubel als der älteste das Wort 101 und entgegnete also: „Wir sind weder hierher gekommen, um jemand unrecht zu thun, noch um dem Könige Schaden zuzufügen, sondern nur um Hilfe für unser eigenes Leid zu erlangen, und wir hoffen bei eurer Menschenfreundlichkeit Zuflucht zu finden in der Not, die über unser Vaterland hereingebrochen ist. Denn wir haben vernommen, dass ihr nicht bloss euren eigenen Leuten, sondern auch Auswärtigen Getreide verkauft, und dass ihr allen helfen wollt, die der Hilfe bedürfen. 102 Dass wir aber Brüder sind und Blutsverwandte, geht schon daraus hervor, dass wir an Gestalt einander in hohem Grade ähnlich sind. Unser Vater ist Jakob, ein Hebräer, dem wir zu zwölf Söhnen von vier Frauen geboren wurden. So lange wir nun alle noch am Leben waren, waren wir glücklich; 103 seitdem aber unser Bruder Joseph umgekommen ist, hat sich unsere Lage mehr und mehr verschlimmert. Denn der Vater trauert beständig um ihn und auch wir beklagen das Unglück seines Todes und das Leid des alten Vaters gar sehr. 104 Und nun kommen wir hierher, um Lebensmittel zu kaufen, und haben unseren jüngsten Bruder Benjamin zur Pflege des Vaters und zur Verwaltung des Hauswesens daheim gelassen. Um die Wahrheit unserer Worte zu erproben, kannst du Boten in unsere Heimat schicken und dich erkundigen lassen.“

[91] (4.) 105 Mit diesen Worten versuchte Rubel dem Joseph eine günstigere Meinung von ihnen beizubringen. Joseph aber liess, da er gehört, dass Jakob noch am Leben und Benjamin nicht umgekommen sei, seine Brüder in Gewahrsam bringen, als wolle er sie bei Gelegenheit einem Verhör unterziehen. Am dritten Tage jedoch liess er sie vor sich führen und sprach zu ihnen: 106 „Da ihr behauptet, ihr wärst nicht gekommen, um dem König zu schaden, und ihr wäret Brüder und stammtet von dem Vater ab, den ihr genannt, so könnt ihr mir die Wahrheit dieser Behauptung dadurch beweisen, dass ihr einen von euch bei mir zurücklasst, dem kein Leid widerfahren soll; ihr anderen aber bringt das Getreide eurem Vater und kehrt dann hierher zurück mit dem Bruder, den ihr eurer Angabe gemäss zu Hause gelassen habt. Daran werde ich erkennen, ob ihr mich nicht belogen habt.“ 107 Darüber gerieten sie in ein noch schlimmeres Leid; sie vergossen Thränen und beklagten heftig Josephs Schicksal, als ob ihnen wegen des an ihm begangenen Unrechtes diese Drangsal von Gott als Strafe geschickt worden sei. Rubel aber hielt ihnen eindringlich vor, dass ihre Reue dem Joseph doch nichts mehr nützen könne, und er beschwor sie, alle Leiden starkmütig zu ertragen, da sie von Gott als Strafe für das an ihrem Bruder verübte Unrecht ihnen geschickt seien. 108 Also sprachen sie zu einander in dem Glauben, Joseph verstehe ihre Sprache nicht. Auf Rubels Vorstellungen hin aber ergriff sie Trauer und Reue, weil sie eine That verübt, für die Gott sie gerechterweise büssen lasse. 109 Da nun Joseph sie in solcher Not sah, weinte er sehr; weil er aber nicht wollte, dass sie dies sähen, entfernte er sich eine kleine Weile von ihnen. 110 Dann kam er zurück, hielt den Simeon als Bürgen für die Wiederkehr seiner Brüder fest und hiess die anderen nach Hause ziehen, sobald sie Getreide auf dem Markt eingekauft hätten. Einem Knechte aber befahl er, er solle das Geld, das sie zum Ankauf des Getreides mitgebracht [92] hatten, heimlich wieder in ihre Säcke legen, und dieser vollzog den Befehl.

(5.) 111 Als Jakobs Söhne nun nach Chananaea gelangten, erzählten sie dem Vater, was sich in Aegypten mit ihnen zugetragen habe. Sie seien für Spione gehalten worden, und ihrer Angabe, sie seien Brüder und hätten den elften beim Vater zurückgelassen, sei kein Glaube beigemessen worden. Den Simeon aber hätten sie dem Landpfleger als Bürgen stellen müssen, bis Benjamin selbst dorthin kommen und die Wahrheit ihrer Aussagen beweisen würde. 112 Sie baten also ihren Vater, er möge ohne Angst den Bruder ihnen mitgeben. Jakob aber war mit ihrem Beginnen unzufrieden und ärgerlich darüber, dass Simeon in Aegypten festgehalten worden war; für Thorheit erklärte er es, den Benjamin auch noch dahin bringen zu wollen. 113 Und selbst als Rubel ihm für diesen seine beiden Söhne als Pfand bot, die er töten könne, wenn dem Benjamin auf der Reise etwas zustosse, liess er sich nicht dazu bewegen. Bei dieser üblen Lage wurden sie ängstlich und unruhig; noch mehr aber verwirrte sie der Umstand, dass sie das Geld in ihren Säcken versteckt fanden. 114 Als nun später der mitgebrachte Weizen verbraucht war und die Hungersnot immer drückender wurde, gab Jakob nach und entschloss sich, den Benjamin mit seinen Brüdern zu schicken, 115 weil sie nicht nach Aegypten zurückkehren konnten, ohne ihn mitzubringen. Denn da die Hungersnot von Tag zu Tag heftiger wütete, und die Söhne ihn inständig baten, blieb ihm nichts anderes zu thun übrig. 116 Namentlich sprach Judas, der von Natur heftig war, eindringlich mit dem Vater: Er brauche sich nicht um ihren Bruder zu quälen und zu ängstigen, denn ohne den Willen Gottes könne ihm nichts zustossen; übrigens könne das, was ihm bestimmt sei, ihn auch zu Hause treffen. 117 Er möge sie doch nicht dem offenbaren Untergang überantworten und ihnen nicht aus thörichter Angst um seinen Sohn die notwendigen Lebensmittel vorenthalten, die ihnen Pharao gewähren wolle. Auch [93] müsse er das Wohlergehen Simeons bedenken und dürfe nicht zulassen, dass dieser vielleicht umkommen werde dadurch, dass er Benjamins Reise verweigere. Er möge also seinen Sohn Gott befehlen, denn er selbst werde ihn entweder wohlbehalten wieder nach Hause bringen, oder zugleich mit ihm zugrunde gehen. 118 Hierauf gab Jakob endlich nach und überliess ihnen den Benjamin. Auch gab er ihnen den doppelten Preis für Getreide mit sowie für Joseph Geschenke aus den Produkten Chananaeas: Balsam, Myrrhenharz, Terebinthen und Honig. Darauf vergossen sowohl der Vater als die scheidenden Söhne bittere Thränen: 119 denn jener war in Sorge, ob er seine Söhne noch einmal wohlbehalten wiedersehen würde; die Söhne aber fürchteten, sie möchten den Vater nicht mehr wiederfinden, da er vielleicht der Trauer um ihre Abwesenheit erliegen könnte. In dieser Bekümmernis brachten sie einen ganzen Tag zu. Dann begaben sich die Söhne auf den Weg nach Aegypten und suchten ihren Schmerz mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu lindern; der Greis aber blieb tiefgebeugt zu Hause.

(6.) 120 In Aegypten angekommen, wurden sie gleich zu Joseph geführt. Sie hatten aber nicht geringe Furcht, es möchten ihnen Vorwürfe wegen des Getreidepreises gemacht werden, gleich als hätten sie denselben betrügerischerweise wieder mitgenommen. Daher entschuldigten sie sich bei Josephs Hausverwalter mit den Worten, sie hätten das Geld zu Hause in ihren Säcken gefunden und es jetzt wieder mit zurückgebracht. 121 Als dieser aber entgegnete, er verstehe nicht, wovon sie redeten, verschwand ihre Angst. Simeon ward nun aus dem Gefängnis entlassen und gesellte sich seinen Brüdern bei. Unterdessen kam auch Joseph vom Dienste beim König zurück, und sie überreichten ihm die Geschenke. Als er sich nun erkundigte, wie sich ihr Vater befinde, sagten sie, sie hätten ihn wohlbehalten angetroffen. 122 Dann fragte er, da er den Benjamin erkannt hatte, ob das ihr jüngster Bruder sei. Und da [94] sie ihm diese Frage bejahten, sprach er: Gott lenkt alles, 123 und er fing vor Bewegung an zu weinen und entfernte sich, damit seine Brüder dies nicht merkten. Alsdann lud er sie zu Tische, und sie setzten sich in derselben Reihenfolge wie zu Hause. Joseph behandelte sie alle freundlich, den Benjamin aber ehrte er mehr als die anderen Tischgenossen und liess ihm von den Speisen doppelt so viel geben als den Brüdern.

(7.) 124 Als sie sich nun nach der Mahlzeit zum Schlafe niederlegten, befahl er dem Verwalter, er solle ihnen das Getreide zumessen und den Preis dafür wieder heimlich in die Säcke legen, in Benjamins Gepäck aber solle er seinen silbernen Becher verstecken, aus dem er zu trinken pflegte. 125 Auf diese Weise wollte er seine Brüder erproben, ob sie ihrem Bruder beistehen würden, wenn er, wegen Diebstahls angehalten, in Gefahr schwebe, oder ob sie ihn im Stiche lassen und, als wenn die Übelthat sie selbst nichts anginge, zu ihrem Vater zurückkehren würden. 126 Der Verwalter vollzog den Befehl, und ohne Ahnung von alledem zogen die Söhne Jakobs bei Tagesanbruch mit Simeon ab, doppelt erfreut, einmal, weil sie den Simeon wieder bei sich hatten, dann aber auch, weil sie den Benjamin wieder mit nach Hause brachten, getreu dem ihrem Vater gegebenen Versprechen. Da umringten sie auf einmal Reiter, die den Diener bei sich führten, welcher den Becher in Benjamins Gepäck gethan hatte. 127 Erschreckt ob des plötzlichen Angriffes, fragten sie nach der Ursache, warum sie so überfallen würden, da sie noch kurz zuvor von Joseph ehrenvoll seien bewirtet worden. 128 Jene entgegneten, sie seien nichtswürdige Menschen, da sie ohne Erkenntlichkeit für die gastliche‚ freigebige und freundliche Aufnahme, die Joseph ihnen habe angedeihen lassen, sich nicht gescheut hätten, Unrecht zu begeben und den Becher mitzunehmen, aus dem er ihnen wohlwollend zugetrunken. Für unrechtmässigen Gewinn hätten sie Josephs Freundschaft verscherzt und sich selbst in die Gefahr begeben, ertappt zu werden. 129 Doch würden sie dafür büssen [95] müssen; denn vor Gott könne es nicht verborgen bleiben, dass sie mit dem geraubten Gut entflohen seien, wenn es ihnen auch gelungen sei, den Knecht zu betrügen. Und nun fragten sie auch noch, weshalb die Reiter da seien, da sie doch wohl wüssten, dass sie bald ihre Strafe erhalten würden. Mit diesen und noch mehreren Worten schalt sie der Diener aus. 130 Sie aber hielten, da ihnen ein Betrug ferngelegen hatte, seine Worte für Scherz und verwunderten sich darüber, dass er so leichtfertig ihnen eine solche Handlung nachzusagen wage, da sie doch den Preis für das Getreide, den sie in ihren Säcken gefunden, nicht behalten, sondern wieder mitgebracht hätten, obgleich niemand darum gewusst habe. Sie seien also weit entfernt davon gewesen, etwas Böses zu thun. 131 Doch wollten sie, anstatt einfach zu leugnen, sich lieber einer Durchsuchung unterziehen, und sie wollten gern jede Strafe erleiden, wenn einer von ihnen des Diebstahls überführt würde. Denn da sie sich keines Verbrechens bewusst waren, hatten sie Mut und glaubten ihrer Sache ganz sicher zu sein. Die Reiter nahmen die vorgeschlagene Untersuchung an, doch sagten sie, derjenige müsse allein die Strafe erleiden, der des Diebstahls überführt würde. 132 Darauf schritten sie zur Untersuchung, und nachdem sie das Gepäck der anderen in Ordnung gefunden, kamen sie endlich zu dem des Benjamin, wohl wissend, dass in seinem Sacke der Becher versteckt sei. Doch wollten sie sich den Anschein geben, als ob sie mit aller Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen seien. 133 Die anderen aber waren, da sie selbst von ihrer Sorge befreit waren, nur wegen Benjamins noch etwas bekümmert. Voller Hoffnung indes, man werde auch ihm nichts nachweisen können, warfen sie ihren Verfolgern schon freimütig vor, diese seien schuld daran, dass sie nicht bereits einen guten Teil ihrer Reise hinter sich hätten. 134 Als aber bei der Durchsuchung des Gepäckes Benjamins der Becher sich fand, fingen sie an zu jammern und zu klagen, zerrissen ihre Kleider und [96] beweinten nicht nur ihren Bruder, weil er bald die Strafe für den Diebstahl zu erleiden hätte, sondern auch ihr eigenes Schicksal, weil sie das dem Vater bezüglich Benjamins gegebene Versprechen nun nicht halten könnten. 135 Vermehrt wurde ihr Leid noch dadurch, dass, als sie schon allem Unheil entronnen zu sein wähnten, widriges Geschick sie noch in dieses Unglück gestürzt habe. Und sie bekannten sich als Urheber nicht nur des Unglückes ihres Bruders, sondern auch der Trauer ihres Vaters, den sie wider seinen Willen veranlasst hatten, den Knaben mit ihnen zu schicken.

(8.) 136 Die Reiter ergriffen darauf den Benjamin und führten ihn zu Joseph zurück; die anderen Brüder aber folgten ihnen. Da nun Joseph den Benjamin gefangen genommen und die Brüder in Trauer um ihn versunken sah, sprach er zu ihnen: „Was denkt ihr, ihr Nichtswürdigen, von meiner Menschenfreundlichkeit und von Gottes Vorsehung, da ihr solches gegen euren Wohlthäter und Gastfreund verüben konntet?“ 137 Sie aber erboten sich, die Strafe für Benjamin zu erleiden, riefen sich auch ins Gedächtnis zurück, wie frevelhaft sie gegen Joseph gehandelt, und priesen ihn glücklich, dass er (wenn er gestorben sei) den Mühsalen des Lebens entrückt sei. Sei er aber noch am Leben, so erlitten sie jetzt die Strafe, die Gott ihnen für ihre Frevelthat auferlegt; und sie nannten sich des Vaters Unheil und Verderben, weil sie zu seinem Leid um Joseph noch die Trauer um Benjamin hinzugefügt hätten. Besonders heftige Vorwürfe machte ihnen Rubel. 138 Joseph aber erklärte, er wolle die anderen ziehen lassen, da sie ja nichts verbrochen hätten, und mit der Bestrafung des Knaben allein zufrieden sein. Denn es sei nicht weise gehandelt, diesen den Unschuldigen zu Gefallen frei zu lassen, noch sie zugleich mit dem offenkundigen Dieb zu bestrafen. Alsdann versprach er ihnen beim Abzug sicheres Geleit. 139 Sie waren hierüber bestürzt und vor Schmerz sprachlos. Judas aber, der den Vater beschwätzt hatte, den Knaben mit ihnen ziehen zu lassen, [97] und der überhaupt entschiedenen und thatkräftigen Charakters war, entschloss sich, für das Wohlergehen des Bruders der Gefahr zu trotzen, 140 und sprach: „Unrecht haben wir gegen dich, o Landpfleger, begangen und Strafe verdient, der wir uns alle unterziehen wollen, obgleich nur der jüngste die Schuld trägt. Eigentlich müssten wir seinetwegen an unserer Rettung verzweifeln, aber doch lässt uns deine Güte noch einige Hoffnung hegen und eröffnet uns Aussicht auf Befreiung aus der Gefahr. 141 Sieh daher nicht uns an noch die That, die wir verbrochen, sondern lass walten deine Herzensgüte und Tugend. Den Zorn aber, von dem kleinliche Menschen sich in allen Lebenslagen so leicht hinreissen lassen, weise ab von dir, lasse dich nicht von ihm überwinden und überantworte nicht die dem Verderben, die um ihr Heil nicht selbst Sorge tragen können, dasselbe von dir vielmehr flehentlich erbitten. 142 Denn nicht zum erstenmal zeigst du dich freigebig gegen uns, sondern du hast uns, als wir zu dir kamen, um Getreide zu kaufen, dazu Gelegenheit gegeben und uns so viel davon überlassen, als nötig war, um unsere Familie vor dem Hungertode zu bewahren. 143 Es ist aber kein Unterschied, ob du dich der Darbenden annimmst und sie vor dem Untergang bewahrst, oder ob du die von Strafe freisprichst, von denen die Menschen glauben, dass sie gefehlt haben, und die sie um der Wohlthätigkeit willen beneiden, welche du ihnen erzeigst. Es ist ganz dieselbe Gnade, wenngleich sie in verschiedener Weise erzeigt wird. 144 Erhalte also die, welche du bis jetzt gespeist hast, und rette uns das Leben, wie du uns vor dem Hungertode bewahrt hast. Es ist ebenso gross und bewunderungswürdig, uns das Leben zu schenken, als es durch Freigebigkeit vor dem Untergange zu bewahren. 145 Ich halte dafür, dass Gott dir nur den Weg zur Vermehrung deines Ruhmes hat zeigen wollen, als er uns in dieses Unglück stürzen liess, damit du nämlich ebensoviel Ruhm erlangest durch Vergebung des Unrechtes, das wir dir zugefügt, wie du schon erworben hast durch [98] menschenfreundliche Unterstützung derer, die aus anderen Gründen deiner Hilfe bedurften. 146 Denn es ist etwas Grosses, denen zu helfen, die in Not sind; doch noch viel grösser und herrlicher ist es, die zu begnadigen, die sich durch Frevel Strafe zugezogen haben. Und wenn es schon zu grossem Lobe gereicht, kleinere Vergehen zu verzeihen, so reicht es doch fast an Gott selbst heran, den Zorn zu bezähmen und denjenigen zu verzeihen, die uns beleidigt und so das Leben verwirkt haben. 147 Hätten wir nicht einen Vater, der sich um Josephs Tod abhärmt und der sich so schwer um den Verlust seiner Kinder grämt, so hätte ich nicht so viele Worte um unser Leben verloren, wenn ich es nicht in Ansehung deiner Güte gethan hätte, der du es für erhaben hältst, denen das Leben zu schenken, die nach ihrem Tode niemand beweinen würde; vielmehr hätten wir mit Gleichmut die Strafe erlitten, die du über uns verbringen würdest. 148 Jetzt aber, da wir nicht mit uns selbst Mitleid haben, obzwar wir noch jung sind und noch wenig von des Lebens Genüssen gekostet haben, sondern vielmehr mit unseres Vaters Greisenalter, bitten wir dich inständig und flehentlich, du wollest uns das Leben schenken, das wir durch unsere Übelthat gegen dich verwirkt haben. 149 Denn unser Vater ist nicht schlecht und hat auch uns nicht so erzogen, sondern er ist ein rechtschaffener und ehrbarer Mann, der ein solches Geschick nicht verdient hat und jetzt wegen unserer langen Abwesenheit von Kummer und Sorgen gequält wird. Wenn er aber von unserem Tode und dessen Ursache Kunde erhielte, so würde er um so eher wünschen, aus dem Leben scheiden zu können; 150 er würde sich verzehren in Trauer, und unsere Schmach würde seinen Tod beschleunigen und überdies ihn in Trostlosigkeit sterben lassen, da er doch jetzt schon, noch ehe er Nachricht über uns erhalten, fast von Sinnen ist. 151 Bedenke dies doch, und wenn auch unsere That deinen Zorn erregt hat, so lass dem Vater zulieb Gnade walten und dein Mitleid mit ihm grösser [99] sein, als unsere Ruchlosigkeit. Habe Rücksicht auf sein Greisenalter; er würde, wenn wir umkämen, in Verlassenheit leben und sterben. 152 Denn indem du so handelst, ehrst du auch deinen eigenen Vater und dich selbst, und mit Freuden wirst du seinen Namen tragen. Dazu verleihe dir seine Gnade Gott, der Vater aller; denn auch ihm wirst du mit solcher liebevollen Gesinnung Ehre erweisen, wenn du nämlich Mitleid hast mit unserem Vater und bedenkest, was er durch den Verlust seiner Kinder leiden würde. 153 Bei dir steht es daher, uns das Leben, das Gott uns gegeben hat, und das du uns jetzt nehmen kannst, wiederum zu schenken und so an Güte sein Ebenbild zu werden, so viel du das vermagst. Schön ist es, eine so grosse Macht zu anderer Nutzen und nicht zu ihrem Schaden zu gebrauchen und, wenn man andere verderben kann und das Recht dazu hat, dieses nicht auszuüben, gleich als wäre es nicht vorhanden, sondern seine Gewalt nur zum Heile anderer zu verwenden. Und je mehr Menschen man beglückt, desto grösseren Ruhm erwirbt man sich selbst. 154 Du kannst uns jetzt alle retten, wenn du unserem Bruder verzeihst, was er gegen dich gefrevelt. Denn auch uns wird es nicht mehr möglich sein zu leben, wenn er die Todesstrafe erleidet, da wir ohne ihn nicht zum Vater zurückkehren dürfen. 155 Darum verhänge über uns dieselbe Strafe, gleich als ob wir Genossen seines Verbrechens wären; denn wir wollen dasselbe Schicksal erleiden, das unserem Bruder bevorsteht. Es ist uns lieber, mit ihm verurteilt zu werden und zu sterben, als dass wir nach seinem Tode uns in Trauer aufreiben. 156 Ich will nicht davon reden, dass er noch jung, und sein Verstand noch nicht ausgebildet, und dass es deshalb nach menschlicher Sitte schicklich ist, ihm eher Verzeihung zu gewähren. Vielmehr will ich das alles deiner Beurteilung anheimstellen und zum Schluss meiner Rede kommen, damit, wenn du uns verurteilst, es meine eigene Schuld sei, dass ich nicht alles gesagt habe, was deinen Zorn gegen uns mildern [100] könnte, dass hingegen, 157 wenn du uns lossprichst, du das Bewusstsein habest, dies in deiner Güte und Milde gethan zu haben. Denn dann schenkst du uns nicht nur das Leben, sondern erweisest uns auch die Gnade, uns für besser zu halten, als wir sind, und bist mehr auf unser Wohl bedacht als wir selbst. 158 Hast du also beschlossen, ihn zu töten, so lass mich für ihn die Todesstrafe erleiden und sende ihn dem Vater zu. Willst du ihn aber lieber der Knechtschaft überantworten, so bin ich selbst noch tauglicher als er zu deinem Dienste. Zu beiden Strafen bin ich, wie du siehst, geeignet und bereit.“ 159 Hierauf warf sich Judas, der freudigen Herzens für das Wohlergehen seines Bruders leiden wollte, Joseph zu Füssen und versuchte so dessen Zorn zu besänftigen und zu beschwichtigen. Ebenso thaten auch die anderen Brüder und erboten sich unter Thränen, für Benjamin zu sterben.

(9.) 160 Joseph aber wurde von Mitleid überwältigt und konnte sich nicht länger zornig stellen. Und er befahl den Anwesenden, sich zu entfernen, damit er ohne Zeugen sich seinen Brüdern zu erkennen geben könne. Als nun alle sich zurückgezogen hatten, gab er sich seinen Brüdern zu erkennen und sprach: 161 „Eure liebevolle Gesinnung gegen unseren Bruder muss ich loben, und ich sehe, dass ihr doch ein besseres Gemüt habt, als ich nach dem erwarten konnte, was ihr einst gegen mich ins Werk gesetzt habt. Denn ich habe alles, was ihr hier an euch erfahren habt, nur deshalb angeordnet, um eure brüderliche Liebe auf die Probe zu stellen. Ich glaube auch, dass ihr von Natur nicht bösartig gegen mich gesinnt waret, sondern ich schreibe alles dem Willen Gottes zu, der uns den Genuss der gegenwärtigen Güter gestattet und den der zukünftigen nicht vorenthalten wird, wenn er fortfährt, uns gnädig zu sein. 162 Da ich nun auch erfahren habe, dass der Vater gegen meine Erwartung noch wohlbehalten ist, und dass ihr euren Bruder so sehr liebt, so will ich weiterhin dessen, was ihr an mir gesündigt, nicht mehr gedenken. Auch [101] will ich euch deswegen keinen Hass nachtragen, vielmehr euch Dank abstatten‚ weil ihr mit mir die Ursache gewesen seid, dass Gott so gnädig für uns sorgte. 163 Und so wünsche ich, dass auch ihr das Geschehene vergesst. Freut euch, dass eure damaligen bösen Anschläge zum Guten gediehen sind, und betrübt euch nicht darüber, dass ihr etwas gethan, dessen ihr euch schämen müsst. Auch lasst es euch nicht schmerzen, dass ihr so übel mit mir verfahren seid, da eure Absicht ja nicht verwirklicht worden ist. 164 Freut euch vielmehr, dass Gott es so gelenkt hat, und nun zieht hin und verkündet es dem Vater, damit er nicht länger von Sorge um euch gequält werde und er so vielleicht eher sterbe, als ich ihn wiedergesehen und ihn zum Teilhaber aller dieser meiner Güter gemacht habe. 165 Nehmt also den Vater, eure Weiber und Kinder und eure ganze Verwandtschaft und wandert hierher. Denn es ziemt sich nicht, dass die, die mir die liebsten sind, sich an meinem Glücke nicht erfreuen sollten, zumal da die Hungersnot noch fünf Jahre anhalten wird.“ 166 Nach diesen Worten umarmte Joseph seine Brüder. Diese aber brachen in Thränen und Klagen aus, indem sie des Bösen gedachten, das sie gegen ihn verübt; denn sie hatten noch immer Angst, hinter dem freundlichen Gebaren ihres Bruders möchte sich die verdiente Strafe verbergen. Darauf wurde ein Mahl hergerichtet. 167 Und auch der König freute sich über die Ankunft der Brüder Josephs gar sehr, und er stellte sich an, als ob ihm selbst etwas Gutes zu teil geworden sei. Dann schenkte er ihnen Wagen, mit Getreide hoch beladen, und Gold und Silber für ihren Vater. Und nachdem sie auch von Joseph noch viele Geschenke, teils für ihren Vater, teils für sich, am meisten aber für Benjamin erhalten hatten, zogen sie nach Hause.

[102]
Siebentes Kapitel.
Wie Jakob infolge der Hungersnot mit seiner ganzen Familie zu seinem Sohne Joseph zog.

(1.) 168 Als nun Jakob von seinen Söhnen bei der Rückkehr hörte, dass Joseph, den er schon als tot betrauert hatte, nicht nur noch am Leben sei, sondern dass er auch in Glanz und Glück lebe, zugleich mit dem König Aegypten regiere und fast die ganze Verwaltung unter sich habe, 169 zweifelte er um so weniger an der Wahrheit der Nachricht, als er der Herrlichkeit Gottes und seiner Güte gedachte, die nur eine Zeitlang sich nicht zu offenbaren schien. Und sogleich machte er sich auf den Weg und eilte zu Joseph.

(2.) 170 Nachdem er zum Brunnen des Bündnisses gekommen, opferte er Gott; denn er besorgte, seine Söhne möchten aus Aegypten seiner Fruchtbarkeit wegen nicht mehr wegziehen wollen, und ihre Nachkommen möchten nicht mehr nach Chananaea zurückkehren, das doch nach Gottes Verheissung in ihrem Besitz verbleiben sollte. 171 Weiterhin fürchtete er, sein Geschlecht möchte, da er die Reise nach Aegypten ohne den Rat Gottes angetreten, irgend ein schweres Unglück treffen, oder er werde aus dem Leben scheiden müssen, ehe er den Joseph wiedergesehen hätte. Über diesen Gedanken schlief er ein.

(3.) 172 Im Traume aber erschien ihm Gott, rief ihn zweimal beim Namen und sprach auf seine Frage, wer er sei, also zu ihm: „Es ist nicht denkbar, dass du, Jakob, den Gott nicht kennen solltest, der deinen Vätern und dir stets getreulich beigestanden hat. 173 Denn als dein Vater beabsichtigte, dir die Herrschaft zu entziehen, habe ich sie dir erhalten. Unter meinem Schutze bist du allein nach Mesopotamien gereist, hast dort gut geheiratet, und reich an Kindern und Vermögen bist du von dort zurückgekehrt. 174 Meine Vorsehung erhielt dir alle deine Nachkommen unversehrt und erhob den [103] Joseph, den du schon verloren glaubtest, zum glücklichen Herrn von Aegypten, der sich nicht viel vom König unterscheidet. 175 Und nun komme ich und will dein Führer auf diesem deinem Wege sein, und ich verkündige dir, dass du in Josephs Armen sterben wirst, dass dein Geschlecht viele Jahrhunderte hindurch gross und berühmt sein wird, und dass ich es in das Land zurückführen werde, welches ich ihm verheissen habe.“

(4.) 176 Durch diesen Traum wurde Jakob mit Vertrauen erfüllt und zog nun um so williger mit seinen Kindern und Kindeskindern nach Aegypten, die im ganzen siebzig an der Zahl waren. Ihre Namen wollte ich zuerst nicht anführen, da sie schwierig auszusprechen sind; 177 indes glaubte ich dies doch thun zu müssen, um diejenigen zu widerlegen, die behaupten, wir stammten nicht aus Mesopotamien, sondern aus Aegypten. Jakob also hatte zwölf Söhne, von denen Joseph ausgeschieden werden kann, da er schon erwähnt ist. 178 Von den anderen Söhnen hatte Rubel vier Söhne: Anoch, Phallus, Assaron und Charmis; Simeon sechs: Jamuel‚ Jamin, Jaod, Jachin, Soar und Saul; Levis drei: Gersom, Kaath, Marari; Judas ebenfalls drei: Sales, Phares und Zaras, und ausserdem zwei Enkel von Phares: Esron und Amyr. Isachar hatte vier Söhne: Thulas, Phuas, Jasub und Samaron; 179 Zabulon drei: Sarad, Elon und Jalel. Diese stammten nebst der Dina von der Lia, zusammen dreiunddreissig. 180 Rachel hatte zwei Söhne. Von diesen hatte Joseph wieder zwei Söhne, Manasses und Ephraïm, der andere, Benjamin, deren zehn: Bolosor, Bachar, Asabel, Gera, Naëman, Jes, Ros, Momphis, Optaïs und Arad. Diese vierzehn machen mit den vorher genannten zusammen siebenundvierzig aus. 181 Das waren Jakobs rechtmässige Kinder. Von Balla, Rachels Dienerin, wurden ihm geboren Dan und Nephthali, von denen der letztere vier Söhne hatte: Jesel, Gunis, Issares und Sellim, Dan aber nur einen: Usis. 182 Diese zu der obigen Zahl zugezählt giebt vierundfünfzig. Von der Zelpha, Lias Dienerin, stammten Gad und Aser. [104] Gad führte sieben Söhne mit sich: Sophonias, Augis, Sunis, Azabon, Aeris, Eroedes und Arielas; 183 Aser aber eine Tochter Sara und sechs Söhne: Jomnes, Isus, Isuis, Baris, Abar und Melchiel. Diese sechzehn den genannten vierundfünfzig zugezählt ergeben die oben angegebene Zahl, bei der Jakob selbst nicht mitgezählt ist.

(5.) 184 Als nun Joseph von seines Vaters Ankunft Kunde erhalten (Judas war nämlich vorausgeeilt, um ihm dieselbe zu melden), ging er ihm entgegen und traf ihn bei der Stadt der Heroën. Vor allzu grosser Freude wäre da Jakob beinahe gestorben. Joseph aber erfrischte ihn wieder; obgleich auch er sich vor Freude kaum halten konnte, hatte sie ihn doch nicht so ergriffen wie den Vater. 185 Dann hiess Joseph seinen Vater langsam nachkommen; er selbst aber eilte mit fünf seiner Brüder zum König und meldete ihm, dass Jakob mit seiner ganzen Familie angekommen sei. Dieser nahm die Nachricht freudig auf und erkundigte sich bei Joseph, welche Lebensweise sie vornehmlich führten, damit er ihnen zur Fortsetzung derselben behilflich sein könne. 186 Joseph entgegnete, sie seien vortreffliche Hirten, ausserdem aber verständen sie keinen anderen Beruf. So wollte er verhüten, dass sie von einander getrennt würden. Sie sollten vielmehr zusammen wohnen und für den Vater sorgen und nicht zu viel Verkehr mit den Aegyptiern pflegen, wie es geschehen wäre, wenn sie mit ihnen dieselbe Lebensweise geführt hätten. Denn den Aegyptiern war es verboten, Herden zu weiden.

(6.) 187 Da nun Jakob zum König kam, ihn begrüsste und ihm Glück zu seiner Regierung wünschte, fragte ihn Pharao, wie alt er sei. 188 Und als Jakob antwortete: hundertunddreissig Jahre, bewunderte ihn der König ob seines hohen Alters. Jakob aber fügte hinzu, er habe das Alter seiner Vorfahren noch nicht erreicht. Alsdann wies Pharao ihm und seinen Söhnen Heliopolis als Wohnsitz an, wo auch die Hirten des Königs Weideplätze hatten.

[105] (7.) 189 Die Hungersnot aber nahm von Tag zu Tag zu und wurde für die Aegyptier immer drückender. Denn es fehlte die Bewässerung des Landes, da der Nil nicht aus den Ufern trat‚ und auch Gott keinen Regen sandte. Das Volk aber hatte keine Vorsorge für die Zukunft getroffen, da es sie nicht voraussehen konnte, und Joseph liess Getreide nur gegen bares Geld verabfolgen. Als nun das Geld zu mangeln anfing, bezahlte man mit Vieh und Sklaven, und wer Äcker hatte, gab diese für Getreide hin. 190 So gelangte aller Grundbesitz in das Eigentum des Königs, und der eine musste hierhin, der andere dorthin ziehen, damit der König um so sicherer und unbehelligter das Eigentumsrecht an Grund und Boden behielt. Nur den Priestern verblieb ihr Besitz. 191 Die grosse Not führte schliesslich dazu, dass man nicht nur den Leib, sondern auch die Seele verkaufte und so gezwungen war, auf unsittliche Weise sein Leben zu fristen. Als aber endlich die Hungersnot nachliess, der Fluss das Land wieder überschwemmte, und dieses wieder reichlich Frucht erzeugte, 192 begab sich Joseph zu jeder Gemeinde, rief das Volk zusammen und gab das Land, das dem Könige abgetreten worden war, und von dem er allein die Nutzniessung hatte, den früheren Eigentümern zurück. Diese ermahnte er, wohl zu bedenken, dass das Land von Rechts wegen Eigentum des Königs sei; sie sollten sich also dessen Bebauung nicht dadurch verdriessen lassen, dass sie fortan den fünften Teil des Ertrages an den König abliefern müssten. 193 Sie aber freuten sich, so unverhofft wieder in den Besitz ihres Ackerlandes gekommen zu sein, und verpflichteten sich zur strengen Beobachtung dieses Befehle. Hierdurch wuchs sowohl das Ansehen Josephs bei den Aegyptiern, als auch die Anhänglichkeit der Unterthanen an den König in hohem Grade. Dieser Gebrauch, den fünften Teil des Ertrages abzuliefern, blieb auch unter den folgenden Königen unverändert bestehen.

[106]
Achtes Kapitel.
Vom Hinscheiden Jakobs und Josephs.

(1.) 194 Als Jakob siebzehn Jahre in Aegypten gelebt hatte, erkrankte er und starb in Gegenwart seiner Söhne, nachdem er ihnen zuvor noch alles Gute gewünscht und in prophetischer Weise verkündet hatte, dass ihre Nachkommen das Land Chananaea bewohnen würden, wie es auch später wirklich geschehen ist. 195 Dem Joseph aber erteilte er besonderes Lob, weil er nicht nur das Unrecht verziehen, das seine Brüder ihm zugefügt, sondern ihnen nur noch desto mehr Güte erwiesen habe, indem er sie mit Wohlthaten überhäufte, die sie nicht vergelten konnten. Deshalb befahl er seinen Söhnen, sie sollten die Söhne Josephs, Ephraïm und Manasses, in ihre Zahl aufnehmen und das Land Chananaea mit ihnen teilen, wovon später die Rede sein wird. 196 Dann verlangte er noch, in Chebron begraben zu werden. Und er starb im Alter von hundertsiebenundvierzig Jahren. Niemand seiner Vorfahren übertraf ihn an Frömmigkeit, und für seine ausgezeichneten Verdienste war ihm der gebührende Lohn zu teil geworden. Joseph brachte mit Einwilligung des Königs den Leichnam seines Vaters nach Chebron und bestattete ihn dort mit aller Pracht. 197 Als aber seine Brüder sich weigerten, mit ihm nach Aegypten zurückzukehren (sie fürchteten nämlich, er werde nach des Vaters Tode sich an ihnen für das begangene Unrecht rächen, weil niemand mehr da sei, dem er mit der ihnen erzeigten Freundlichkeit einen Gefallen erweisen könne), bat er sie, die Furcht und das Misstrauen gegen ihn abzulegen. Sie gingen nun auch wieder mit ihm, und er beschenkte sie mit grossem Landbesitz und liess nicht nach, ihnen sein ganzes Wohlwollen zuzuwenden.

(2.) 198 Als Joseph aber hundertzehn Jahre alt war, starb er auch selbst. Er war mit hervorragenden Eigenschaften begabt, lenkte und leitete alles mit grosser [107] Weisheit und machte von seiner angesehenen Stellung nur guten und verständigen Gebrauch. Diese Eigenschaften bewirkten sein grosses Glück bei den Aegyptiern, obwohl er ein Fremdling und den Ränken und der schimpflichen Behandlung ausgesetzt gewesen war, deren wir oben Erwähnung gethan. 199 Auch seine Brüder starben in Aegypten, nachdem sie glücklich gelebt. Ihre Gebeine brachten ihre Kinder und Kindeskinder später nach Chebron und setzten sie hier bei. 200 Josephs Gebeine aber nahmen die Hebräer erst dann nach Chananaea mit, als sie aus Aegypten auszogen; denn hierzu hatte sie Joseph eidlich verpflichtet. Welche Geschicke nun die einzelnen Nachkommen zu bestehen hatten, und unter welchen Mühseligkeiten es ihnen gelang, Chananaea in Besitz zu nehmen, werde ich später erzählen, nachdem ich die Veranlassung erörtert habe, weshalb sie Aegypten verliessen.

Neuntes Kapitel.
Bedrückung der Hebräer. Moyses’ Geburt und Erziehung.

(1.) 201 Die Aegyptier aber waren genusssüchtig und träge, hingen an sinnlichem Vergnügen und jagten nach Gewinn. Daher beneideten sie die Hebräer um ihres Glückes willen und wurden feindselig gegen sie gesinnt. 202 Da sie nämlich bemerkten, wie sehr die Israëliten sich vermehrten und wie sie durch Fleiss und Tüchtigkeit zu grossem Reichtum gelangten, befürchteten sie, dieselben möchten ihre Macht zum Verderben der Aegyptier anwenden. Und da auch das Andenken an Josephs Wohlthaten mit der Zeit verblasste, und die Regierung an eine andere Dynastie übergegangen war, wurden die Israëliten misshandelt und zu allerlei schweren Arbeiten herangezogen. 203 Man befahl ihnen, den Fluss in viele Bäche abzuleiten, Mauern um die Städte zu ziehen und Dämme zu errichten, damit das Wasser nicht aus den Ufern treten und Sümpfe bilden könne. Auch erschöpften [108] sie die Unseren durch den Bau von Pyramiden und zwangen sie, mancherlei Künste zu erlernen und sich an schwere Arbeit zu gewöhnen. 204 Dieses Schicksal ertrugen sie volle vierhundert Jahre, und es schien beiderseitig ein Wetteifer zu entstehen, in welchem die Aegyptier die Israëliten durch übermässige Arbeit zu Grunde richten, diese hingegen darthun wollten, dass ihnen keine Anstrengung zu gross sei.

(2.) 205 Während sich die Unseren mit solchen Arbeiten befassen mussten, ereignete sich etwas, das bei den Aegyptiern den Wunsch, uns zu vertilgen, noch reger machte. Einer von ihren Schriftkundigen (denn diese waren in der Vorhersagung der Zukunft bewandert) weissagte dem König, es werde um jene Zeit aus hebraeischem Blute ein Knabe geboren werden, der, wenn er erwachsen sei, die Herrschaft der Aegyptier vernichten, die Israëliten hingegen mächtig machen werde. An Tugend werde er besonders hervorragen, und sein Andenken werde ein ruhmvolles sein. 206 Durch diesen Spruch wurde der König erschreckt, und er befahl, alle israëlitischen Knaben gleich nach der Geburt in den Fluss zu werfen und zu töten. Die aegyptischen Geburtshelferinnen sollten genau erforschen, wann die hebraeischen Weiber niederkommen würden, und die Geburt sorgsam überwachen. 207 Und nur aegyptische Geburtshelferinnen sollten bei Hebräerinnen Dienste thun, weil nur von diesen eine strenge Befolgung des Gebotes zu erwarten war. Diejenigen aber, die dieses Gebot überträten und ihre neugeborenen Kinder zu verbergen wagten‚ sollten mit ihrer ganzen Familie den Tod erleiden. 208 Den Hebräern erschien das Gebot grausam, nicht nur, weil sie ihre Kinder verlieren und noch selbst Henkersdienste an ihnen verrichten sollten, sondern auch, weil sie daran dachten, dass nach der Tötung ihrer Kinder auch sie selbst nicht lange mehr leben würden, da sie von Unglück und Trübsal würden niedergebeugt werden, und dass so ihr Geschlecht von Grund aus vernichtet werden würde. 209 Sie waren also in einer trostlosen Lage. Aber [109] gegen Gottes Ratschluss kann man nicht ankämpfen, wenn man auch tausend Listen dagegen ersinnt. Denn der Knabe, vor dem jener Schriftkundige gewarnt hatte, wurde den Nachstellungen des Königs zum Trotz heimlich erzogen, und alles, was er von ihm vorhergesagt hatte, bewahrheitete sich. Der Hergang war folgender.

(3.) 210 Amaram, ein vornehmer Jude, war um sein Volk besorgt, da keine männliche Jugend mehr nachwuchs, und auch in Bezug auf sich selbst war er äusserst beängstigt, denn seine Gattin war schwanger. 211 Und er rief Gott an und flehte zu ihm, er möge sich doch des Schicksals derjenigen erbarmen, die ihn bisher so treu verehrt hätten, und sie aus ihrer gegenwärtigen Not befreien, indem er den Aegyptiern die Hoffnung auf gänzliche Vernichtung der Israëliten raube. 212 Gott erbarmte sich seiner, erhörte sein Gebet, erschien ihm im Schlafe und ermahnte ihn, an der Zukunft nicht zu verzweifeln. Er erinnere sich der Frömmigkeit der Israëliten und werde sie dafür geziemend belohnen, da er doch auch ihren Vorfahren gnädig gewesen sei und sie aus einer geringen Anzahl zu einem grossen Volke habe anwachsen lassen. 213 Denn Abram sei allein von Mesopotamien nach Chananaea gezogen und glücklich gewesen; auch habe seine Gattin, die vorher unfruchtbar gewesen, später seinem Wunsche gemäss noch Kinder geboren, und dem Ismaël und dessen Nachkommen habe er Arabien, den Söhnen der Chetura Troglodytis, dem Isak aber Chananaea hinterlassen. 214 „Und wenn ihr nicht,“ fuhr Gott fort, „gottlosen und undankbaren Gemütes seid, so müsst ihr euch erinnern, was für Kriegsthaten er unter meinem Schutze verrichtet hat. Jakob ist wegen des grossen Glückes, in dem er selbst gelebt und das er seinen Kindern und Enkeln hinterlassen, bei den auswärtigen Völkerschaften zu grosser Berühmtheit gelangt. Mit siebzig Angehörigen im ganzen kam er nach Aegypten, und ihr seid schon auf mehr als sechshunderttausend angewachsen. 215 Jetzt aber, das merke dir, bin ich für euer Wohlergehen und deinen Ruhm besorgt. Denn jener [110] Knabe, dessen Geburt die Aegyptier so fürchten, dass sie die israëlitischen Kinder alle töten wollen, wird dir geboren werden. 216 Er wird denen verborgen bleiben, die ihm nachstellen, auf wunderbare Weise wird er erzogen werden und das Volk der Hebräer aus aegyptischer Knechtschaft befreien. Und sein Andenken wird in alle Zeiten fortdauern nicht nur bei den Hebräern, sondern auch bei den Fremden. Diese Gnade will ich dir und deinen Nachkommen erweisen. Auch wird er einen Bruder haben, der den Ruhm geniessen wird, mit seinen Nachkommen mein Priestertum zu versehen bis in ewige Zeiten.“

(4.) 217 Nachdem ihm dies im Traume kund geworden, erwachte Amaram und erzählte den Vorfall seiner Gattin Joachebed. Doch fürchteten sie sich sehr wegen dessen, was ihnen im Traum war verkündigt worden. Denn sie waren nicht nur wegen des Knaben besorgt, sondern auch wegen der Grösse des ihm bevorstehenden Glückes. 218 Einen Beweis für die Wahrheit der Prophezeiung bot aber schon die Niederkunft der Frau; denn diese erfolgte leicht und ohne heftige Geburtswehen und blieb auch den Spähern verborgen. Drei Monate lang zogen sie den Knaben heimlich zu Hause auf. 219 Dann aber fürchtete Amaram doch, die Sache könne entdeckt werden, und der König in seinem Zorne ihn mitsamt seinem Söhnchen umbringen lassen, und es möchte so die Verheissung Gottes zu nichte werden. Deshalb entschloss er sich, lieber das Heil des Knaben dem Willen Gottes anheimzugeben, als ihn noch länger im Versteck zu behalten. Denn so drohe nicht nur dem heimlich auferzogenen Knaben, sondern auch ihm selbst die grösste Gefahr. 220 Gott dagegen habe es in der Hand, für dessen Sicherheit zu sorgen und so seine Verheissung zu verwirklichen. Als sie dieses beschlossen, verfertigten sie ein Körbchen aus Papyrusbast, einer Wiege ähnlich und so gross, dass es den Knaben bequem aufnehmen konnte. 221 Dann dichteten sie dasselbe gehörig mit Harz (denn dieses lässt Wasser nicht eindringen), legten den Knaben hinein, setzten ihn [111] im Flusse aus und befahlen ihn der Obhut Gottes. Das Körbchen schwamm leicht auf dem Wasser, und Mariamme, die Schwester des Knaben, ging auf Geheiss der Mutter am Ufer entlang, um zu beobachten, wohin das Körbchen getrieben würde. 222 Und jetzt bewies Gott, dass menschliche Klugheit nichts vermag, sondern dass er alles nach seinem Willen zum besten wenden kann, 223 und dass diejenigen, die zu ihrer Sicherheit anderen Verderben bereiten wollen, auch bei grösster Beharrlichkeit nicht zum Ziele gelangen, dass hingegen diejenigen, die nach Gottes geheimem Ratschluss verloren zu sein scheinen, wider Erwarten gerettet und mitten aus der Drangsal zum Glücke geleitet werden können. So wird auch aus dem Schicksal dieses Knaben Gottes Allmacht kund und offenbar.

(5.) 224 Der König hatte eine Tochter mit Namen Thermuthis. Als diese am Ufer des Flusses lustwandelte, sah sie ein Körbchen auf dem Wasser schwimmen und befahl einem Schwimmkundigen, ihr dasselbe zu holen. Als dieser den Befehl vollzogen, und sie den Knaben in dem Körbchen erblickte, freute sie sich sehr ob seiner Grösse und Schönheit. 225 Denn mit so grosser Huld beschirmte Gott den Moyses, dass er sogar von denen ernährt und erzogen werden musste, die aus Furcht vor seiner Geburt den grausamen Befehl erlassen hatten, alle hebraeischen Knaben zu töten. Darauf liess Thermuthis ein Weib herbeiholen, die den Knaben säugen sollte. 226 Als aber das Kind weder von dieser, noch von anderen Ammen, die man eine nach der anderen herbeigeholt, Nahrung annehmen wollte, da erschien Mariamme, die scheinbar unabsichtlich herzugekommen war, um zu sehen, was es gebe, und sagte: „Es nützt nichts, o Königstochter, dass du diesem Knaben Ammen giebst, die nicht eines Stammes mit ihm sind. Willst du aber eine hebraeische Amme holen lassen, so würde er wohl von dieser, als einer Stammesgenossin, sogleich die Brust nehmen.“ 227 Da dies der Königstochter einleuchtete, hiess sie Mariamme selbst gehen und eine Amme herbeiholen. [112] Diese führte den Auftrag aus und kam mit ihrer eigenen Mutter zurück, die sonst niemand von Angesicht bekannt war. Und weil der Knabe von ihr willig die Brust nahm und sich innig an sie schmiegte, so bat die Königstochter sie, denselben aufzuziehen und zu ernähren.

(6.) 228 Darauf gab sie ihm, weil er im Flusse ausgesetzt worden war, hiervon den Namen, denn die Aegyptier nennen Wasser „Mo“, „yses“ aber diejenigen, die man dem Wasser entreisst. Aus diesen beiden Worten ist der Name Moyses zusammengesetzt. 229 Moyses aber übertraf zweifellos an Seelengrösse und Fähigkeit zur Ertragung von Beschwerden alle anderen Hebräer, wie Gott verheissen hatte. Von Abram an war er der siebente, denn er war ein Sohn des Amaram, des Sohnes des Kaath, dessen Vater Levis ein Sohn Jakobs war, der von Isak stammte. Isak aber war ein Sohn Abrams. 230 Das Alter des Knaben aber blieb hinter seinem Verstande und seiner Klugheit zurück, denn er war an Weisheit und Ausbildung des Geistes so entwickelt, dass er einem vorgerückteren Alter Ehre gemacht hätte. Und was er in der Jugend that, liess die Hoffnung berechtigt erscheinen, er werde später noch grösseres vollbringen. Als er drei Jahre alt war, verlieh Gott ihm einen hohen, schlanken Wuchs 231 und eine so grosse Schönheit, dass niemand, wenn er auch noch so unempfänglich für äussere Vorzüge war, ihn anschauen konnte, ohne von seiner Gestalt entzückt zu sein. Und oft geschah es, dass jemand, der ihm begegnete, seine Geschäfte vergass und, in bewunderndem Anschauen versunken, stehen blieb. Denn seine kindliche Anmut, verbunden mit der Einfachheit seines Wesens, fesselte die Zuschauer so, dass sie sich kaum von ihm trennen konnten.

(7.) 232 Da er nun von so herrlicher Gestalt und hoher Begabung war, nahm Thermuthis, weil sie ohne rechtmässige Nachkommen war, ihn an Kindesstatt an. Und als sie ihn einst zu ihrem Vater brachte, sprach sie den Wunsch aus, ihn zu ihrem Erben einzusetzen, falls Gott ihr keinen anderen Sohn schenken würde, und fügte [113] hinzu: „Diesen Knaben mit seiner göttlichen Gestalt und seinem edlen Gemüte habe ich auferzogen, und da ich ihn auf wunderbare Weise aus dem gütigen Flusse erhalten habe, so habe ich beschlossen, ihn zu meinem Sohne und zum Nachfolger in deiner Herrscherwürde zu machen.“ 233 Mit diesen Worten legte sie den Knaben in die Arme ihres Vaters. Dieser nahm ihn, drückte ihn an seine Brust und setzte ihm, um seiner Tochter gefällig zu sein, aus Scherz seine Königskrone auf. Moyses aber warf sie zur Erde, rollte sie kindisch umher und trat sie mit Füssen. 234 Das schien böse Vorbedeutung für die Königswürde zu sein. Jener Schriftkundige aber, der aus seiner Geburt den Untergang der aegyptischen Herrschaft geweissagt hatte, hatte kaum den Vorgang bemerkt, als er herzueilte, um den Knaben zu töten, 235 indem er voll Schrecken ausrief: „Das ist der Knabe, o König durch dessen Tötung wir unsere Sicherheit nach Gottes Verkündigung erlangen werden. Denn ein Zeichen für die Wahrheit der Prophezeiung ist es, dass er deine Königswürde verspottet und deine Krone mit Füssen tritt. Lass ihn daher töten und befreie so die Aegyptier von der Furcht vor ihm, den Hebräern aber nimm die Hoffnung, die sie auf ihn setzen.“ 236 Thermuthis aber kam ihm zuvor und verbarg den Knaben, und auch der König zögerte, ihn umzubringen, weil Gott, der um das Leben des Moyses Sorge trug, ihm dies eingegeben hatte. Moyses wurde auf das sorgfältigste erzogen, und die Hebräer setzten alle ihre Hoffnung auf ihn; 237 den Aegyptiern dagegen war seine Erziehung nicht nach dem Sinn. Da aber der König ihm durch Adoption verwandt war und deshalb vor seiner Tötung zurückscheute, und auch sonst sich niemand fand, der den Aegyptiern zu Gefallen infolge jener Weissagung sich dazu hergegeben hätte, so unterblieb dieselbe.

[114]
Zehntes Kapitel.
Wie Moyses gegen die Aethiopier Krieg führte.

(1.) 238 Als nun Moyses auf diese Weise geboren, erzogen und gross geworden war, zeigte er bei einer besonderen Gelegenheit, dass Tapferkeit ihm in hohem Grade eigen war, und dass er der Mann sei, um die Aegyptier zu unterdrücken, die geknechteten Hebräer aber aufzurichten. 239 Die Aethiopier nämlich, die den Aegyptiern benachbart waren, waren in deren Land eingefallen und hatten geraubt und geplündert. Die Aegyptier, darüber erzürnt, beschlossen, ihre Schmach zu rächen und rüsteten ein Heer gegen sie aus. Jedoch wurden sie geschlagen; ein Teil von ihnen fiel, in der Schlacht, der andere zog sich in schmählicher Flucht nach Hause zurück. 240 Die Aethiopier, die es für ein Zeichen von Feigheit hielten, wenn sie nicht ganz Aegypten sich unterjochten, setzten den Fliehenden nach und verwüsteten das Land weithin; und da sie reiche Beute machten, konnten sie es nicht unterlassen, von Tag zu Tag aufs neue anzugreifen. Weil sie nun die nächsten Gegenden durchstreift hatten, ohne dass sich ihnen jemand zur Wehre setzte, rückten sie bis nach Memphis und ans Meer vor, und keine Stadt konnte ihren Ansturm aushalten. 241 In dieser Bedrängnis nahmen die Aegyptier zu Orakeln und Weissagungen ihre Zuflucht. Und da ihnen Gott den Rat gab, sie sollten einen Hebräer zu Hilfe rufen, verlangte der König von seiner Tochter den Moyses, um ihn zum Befehlshaber seiner Truppen zu machen. 242 Diese willigte ein, nachdem er ihr eidlich versprochen hatte, nichts zu Moyses’ Verderben ins Werk zu setzen. Denn sie hielt dafür, dass sie dem Lande damit eine Wohlthat erweise, für die ihr Dank gebühre, und warf den Priestern vor, dass sie sich jetzt nicht schämten, dessen Hilfe zu begehren, den wie einen Feind zu töten sie früher geraten hatten.

(2.) 243 Moyses aber unternahm, da Thermuthis ebenso wie der König ihn darum baten, bereitwillig den Kriegszug, worüber die beiderseitigen Schriftkundigen sich sehr freuten, [115] die der Aegyptier, weil sie Gelegenheit zu finden hofften, den Moyses nach Überwindung der Aethiopier mit List aus dem Wege zu räumen, die der Hebräer aber, weil sie unter Führung des siegreichen Moyses aus der Knechtschaft der Aegyptier sich frei zu machen gedachten. 244 Moyses nun wollte die Feinde überfallen, ehe sie von seiner Ankunft Kunde erhielten, und führte daher seine Truppen nicht am Ufer des Flusses entlang, sondern mehr durch das Innere des Landes dem Feinde entgegen. Hierbei zeigte er seine bewundernswerte Weisheit. 245 Da nämlich der Weg wegen der Menge der Schlangen sehr schwer zu passieren war (denn dieser Landstrich erzeugt dieselben in übergrosser Zahl, darunter auch einige Arten, die sich sonst nirgendwo finden und die sich durch ihre Schädlichkeit und ihren ungewohnten Anblick sehr von den anderen unterscheiden, ja sogar geflügelte, die nicht nur auf der Erde verborgen schaden, sondern auch aus der Höhe oft plötzlich Unheil bringen), ersann er, um das Heer sicher und ungefährdet weiterführen zu können, folgenden wunderbaren Plan. 246 Er liess Geflechte aus Papyrusbast in Gestalt von Kästchen anfertigen und führte dieselben, mit Ibissen gefüllt, bei sich. Denn die Schlangen fürchten diese Tiere sehr und fliehen vor ihnen, da sie von ihnen ebenso wie von Hirschen verschlungen werden. Die Ibisse sind übrigens nur wild gegen Schlangen, sonst aber zahm und gutmütig. 247 Doch will ich mich nicht weiter darüber verbreiten, da die Griechen den Ibis wohl kennen. Da nun das Heer in die Gegend kam, die von Schlangen wimmelte, liess er die Ibisse auf sie los, die mit Wut über sie herfielen und sie unschädlich machten. So vollendete er unangefochten seinen Marsch, überfiel unversehens die Aethiopier, 248 schlug sie und nahm ihnen die Hoffnung auf die Eroberung Aegyptens. Auch griff er ihre Städte an, zerstörte dieselben und richtete unter den Aethiopiern ein grosses Blutbad an. Nach diesen glänzenden Kriegsthaten des Moyses schreckte das Heer der Aegyptier vor keiner Anstrengung mehr zurück, sodass schliesslich den [116] Aethiopiern nur die Wahl zwischen Gefangenschaft und gänzlicher Vernichtung blieb. 249 Zuletzt wurden sie nach Saba, der Königsstadt Aethiopiens, zurückgedrängt, die später Kambyses nach seiner Schwester Meroë nannte, und hier belagert. Dieser Platz war aber fast uneinnehmbar, da der Nil rings um ihn floss, und auch noch andere Flüsse, Astapus und Astabora, den Angriff erschwerten. 250 So bildete die Stadt gleichsam eine Insel; ausser dem Schutz, den die Flüsse gewährten, hatte sie auch eine starke Ringmauer, und zudem noch grosse Dämme hinter der Mauer zur Abhaltung von Überschwemmungen, die der Stadt beim Anschwellen der Flüsse drohen. Das alles machte dem Feind, auch wenn er die Flüsse überschritten hatte, die Einnahme der Stadt sehr schwierig. 251 Während nun Moyses darüber verstimmt war, dass sein Heer hier müssig liege (denn der Feind wagte keinen Kampf), begab sich folgendes. 252 Der König der Aethiopier hatte eine Tochter namens Tharbis. Diese sah, wie Moyses sein Heer an die Stadtmauer führte und selbst tapfer kämpfte, und wunderte sich über das, was er schon ausgedacht und in Angriff genommen hatte, wie er nämlich nicht nur den Aegyptiern, die an ihrer Befreiung schon verzweifelten, dieselbe glücklich verschafft, sondern auch die Aethiopier, die bereits ruhmreiche Thaten verrichtet, in die äusserste Enge getrieben hatte; und sie wurde von heftiger Liebe zu ihm ergriffen. Und da ihre Neigung von Tag zu Tag grösser wurde, schickte sie ihre vertrautesten Diener zu ihm und liess ihm die Ehe anbieten. 253 Moyses ging hierauf ein unter der Bedingung, dass ihm die Stadt übergeben würde. Und als er einen Eid darauf geleistet, dass er sie zur Ehe nehmen und dass er nach Übergabe der Stadt an dem Vertrage festhalten wolle, schritt man vom Worte zur That. Darauf dankte er Gott für die Besiegung der Aethiopier, feierte seine Hochzeit und führte das Heer der Aegyptier in die Heimat zurück.

[117]
Elftes Kapitel.
Wie Moyses aus Aegypten floh und nach Madian kam.

(1.) 254 Statt aber dem Moyses für ihre Errettung zu danken, verlegten sich die Aegyptier eifrig darauf, Ränke gegen ihn zu schmieden. Denn man argwöhnte, er werde infolge seines Kriegsglückes übermütig werden und den Aegyptiern neuen Schaden ersinnen, und drang deshalb in den König, ihn töten zu lassen. 255 Dieser aber hatte auch schon dasselbe überlegt, teils aus Neid über Moyses’ glücklichen Feldzug, teils aus Furcht, von ihm gestürzt zu werden. Und da er auch noch von den Schriftkundigen aufgereizt wurde, brannte er vor Verlangen, ihn umbringen zu lassen. 256 Als aber Moyses von diesen Plänen hörte, suchte er sich zu verbergen, und da die Wege durch Wächter besetzt waren, nahm er seine Flucht durch die Wüste; an diese Möglichkeit hatten seine Feinde nicht gedacht. Und obgleich er hier Mangel an Nahrung litt, so ertrug er denselben doch geduldig und starkmütig. 257 Endlich kam er zur Stadt Madian, die am Gestade des Roten Meeres lag und von einem der Söhne Abrams und der Chetura ihren Namen hatte. Hier ruhte er, von seinen Mühen erschöpft, zur Mittagszeit an einem Brunnen nicht weit von der Stadt aus, als er infolge der Gebräuche des Landes Gelegenheit fand, seine Tugend offenkundig zu machen und sich den Weg zur Verbesserung seiner Lage zu bahnen.

(2.) 258 Da nämlich in jener Gegend Wassermangel herrschte, gaben sich die Hirten Mühe, zuerst die Brunnen in Beschlag zu nehmen, damit nicht, wenn sie von anderen geleert wären, ihr Vieh des Wassers entbehre. Zu dem Brunnen kamen nun sieben Schwestern, Töchter des Priesters Raguel und noch Jungfrauen, deren Vater von den Bewohnern der Gegend hochgeehrt wurde. 259 Sie hüteten die Herden ihres Vaters, denn nach alter Sitte der Troglodyten mussten auch Weiber diesen Dienst verrichten. Als sie nun, bevor die anderen kamen, hinreichend Wasser für ihr Vieh in die dazu verfertigten [118] Mulden aus dem Brunnen geschöpft hatten, 260 wollten die Hirten, die etwas später anlangten, sie vertreiben und das Wasser für sich in Beschlag nehmen. Moyses aber, der es für unwürdig hielt, das Unrecht, das den Jungfrauen angethan wurde, ruhig geschehen zu lassen und zuzugeben, dass die rohe Gewalt der Männer mehr gelte als das gute Recht der Jungfrauen, leistete den Hirten Widerstand und half den Mädchen, wie es sich geziemte. 261 Jene bedankten sich für die Hilfe, und als sie zu ihrem Vater kamen, berichteten sie ihm von der schlechten Handlung der Hirten und dem Beistand, den ihnen der Fremdling geleistet. Darauf baten sie den Vater, die Wohlthat nicht unbelohnt lassen zu wollen. Raguel aber lobte ihre dankbare Gesinnung gegen ihren Wohlthäter und hiess sie den Moyses zu ihm geleiten, damit er ihm den Gefallen vergelten könne. 262 Als dieser angelangt war, teilte er ihm mit, was seine Töchter ihm von seiner bereitwilligen Hilfe erzählt hatten, bewunderte sein edles Verhalten und sagte ihm, er habe diese Wohlthat keinem Undankbaren erwiesen. Vielmehr werde er ihm nicht nur mit gleichem, sondern mit noch viel grösserem Danke vergelten. 263 Und einige Zeit nachher nahm er ihn an Kindesstatt an und gab ihm eine von seinen Töchtern zur Ehe. Ausserdem machte er ihn zum Hüter und Herrn seiner Viehherden, in welchen damals der ganze Reichtum der Barbaren bestand.

Zwölftes Kapitel.
Von der brennenden Brombeerstaude und dem Stabe des Moyses.

(1.) 264 Da nun Moyses von Jothor (das war der Beiname Raguels) solche Wohlthaten erfahren, blieb er bei ihm und hütete seine Herde. Als er nun einst wieder das Vieh weidete, kam er zum Berge Sinai, 265 der der höchste von allen Bergen der Gegend war und die schönsten Weideplätze darbot. Denn er war reich an guten Gräsern und vorher nie abgeweidet worden, weil man allgemein [119] glaubte, hier wohne Gott selbst, und fromme Scheu den Hirten verbot, ihn zu besteigen. Dort bot sich ihm ein wunderbares Ereignis dar. 266 Feuer nämlich ergriff einen Brombeerstrauch, und die Flamme liess die Blätter und Blüten, wie auch die fruchttragenden Zweige unversehrt, obgleich sie hell und stark leuchtete. 267 Von dieser ihm neuen und wunderbaren Erscheinung ward Moyses betroffen; noch mehr aber erstaunte er, als aus dem Feuer eine Stimme ertönte, die ihn beim Namen nannte und ihm seine Verwegenheit vorwarf, da er sich nicht gescheut, diesen heiligen und noch von keinem Menschen bisher berührten Ort zu betreten, auch ihm den Rat gab, sich so weit als möglich von der Flamme zu entfernen und sich an dieser Erscheinung genügen zu lassen, die zu sehen er wegen seiner und seiner Vorfahren Tugend gewürdigt worden sei, und über die er nicht weiter neugierig nachforschen solle. 268 Ferner verkündete ihm die Stimme, wie grosse Ehre und wie grossen Ruhm er bei den Menschen durch Gottes Vorsehung und Hilfe erlangen werde, und sie hiess ihn vertrauensvoll sich nach Aegypten wenden. Dort werde er der Führer des hebraeischen Volkes werden und seine Stammesgenossen von der grausamen Tyrannei der Aegyptier erlösen. 269 „Denn dein Volk,“ fuhr die Stimme fort, „wird jenes glückliche Land bewohnen, das Abram, euer Stammvater, dereinst besessen hat, und alle Güter geniessen, und du sollst es durch deine Weisheit dorthin führen.“ Und nachdem er die Hebräer aus Aegypten geführt, solle er daselbst ihm ein Dankopfer darbringen. Da erkannte Moyses, dass Gottes Stimme aus dem Feuer zu ihm gesprochen habe.

(2.) 270 Moyses aber, von Staunen ergriffen über das, was er gesehen, und noch mehr über das, was er gehört, sprach zu Gott: „Deiner Macht, o Herr, die ich selbst verehre, und die, wie ich weiss, meinen Vorfahren hilfreich und gnädig gewesen ist, zu misstrauen, halte ich für die grösste Thorheit, die ich begehen könnte. 271 Ich sehe aber nicht ein, wie ich, ein einfacher Mensch und [120] ohne jede Gewalt, meine Stammesgenossen überreden könnte, das Land, das sie jetzt bewohnen, zu verlassen und mir zu folgen, wohin ich sie auch führen möge. Wenn ich sie aber auch dazu überreden könnte, wüsste ich nicht, wie ich den Pharao dahin zu bringen vermöchte, dass er die Hebräer ziehen liesse, durch deren Mühe und Arbeit der Wohlstand der Aegyptier sich mehrt.“

(3.) 272 Gott aber riet ihm, wohlgemut zu sein, da er ihm beistehen werde. Wo er der Worte bedürfe, werde er ihm Überredungsgabe verleihen, Kraft aber, wo er Thaten brauche. Und zur Bekräftigung seiner Verheissung hiess er ihn seinen Stab auf die Erde werfen. Als er das gethan, ward daraus eine Schlange, die auf dem Boden kroch, sich in Windungen wickelte und ihren Kopf erhob, als wenn sie ihre Verfolger bedrohen wollte; und darauf wurde sie wieder zum Stabe. 273 Danach gebot er ihm, die rechte Hand in seinen Busen zu stecken. Und als er das gethan und sie hervorzog, war sie weiss und an Farbe dem Kalk ähnlich, worauf sie ihr früheres Aussehen wiedererhielt. Auch wurde ihm befohlen, Wasser in der Nähe zu schöpfen und es auf den Boden zu giessen, und es bekam Blutfarbe. 274 Als nun Moyses sich hierüber verwunderte, ermahnte ihn Gott, er solle Mut fassen und versichert sein, dass er ihm ein mächtiger Helfer sein werde, und zur Bekräftigung solle er sich bei allen derselben Wunder bedienen, damit er sie überzeuge, dass er von Gott gesandt sei und seine Befehle vollziehe. „Thu also, wie ich dir geheissen, begieb dich ohne jeden Verzug nach Aegypten und eile Tag und Nacht hindurch, damit du keine Zeit verlierst und die harte Knechtschaft der Hebräer nicht in die Länge ziehst.“

(4.) 275 Moyses aber zweifelte nicht weiter an Gottes Verheissungen, da er der Augen- und Ohrenzeuge so vieler Wunderzeichen geworden war, und er bat Gott, ihm dieselbe Kraft, wenn es not thue, auch in Aegypten zu verleihen und ihm ferner die Kenntnis seines Namens nicht vorzuenthalten, sondern ihm dieselbe zu gewähren, [121] da er ihn doch auch seines Anblickes und seiner Stimme gewürdigt habe. 276 Da verkündete ihm Gott seinen Namen, der früher noch keinem Menschen war kundgethan worden. Diesen Namen[3] aber darf ich nicht aussprechen. Moyses erhielt also die Macht, solche Wunderthaten zu verrichten, so viele ihrer und so oft sie erforderlich seien. Durch alle diese Zeichen ward er noch mehr überzeugt von der Wahrheit dessen, was er aus dem brennenden Brombeerstrauche vernommen, und er glaubte, dass Gott ihm ein gnädiger Helfer sein werde. Auch hoffte er, seine Stammesgenossen befreien und den Aegyptiern Unheil anthun zu können.

Dreizehntes Kapitel.
Moyses und Aaron ziehen in Aegypten ein und gehen zum König.

(1.) 277 Da nun Moyses erfahren hatte, dass Pharao,[4] der König der Aegyptier, der damals regierte, als er geflohen war, gestorben sei, erbat er sich von Raguel die Erlaubnis, zum Besten seiner Stammesgenossen nach Aegypten ziehen zu dürfen, und er nahm sein Weib Sepphora, die Tochter Raguels, und die Söhne, die sie ihm geboren, Gersus und Eleazar, und begab sich auf die Reise. 278 Von diesen beiden Namen bedeutet Gersus im Hebraeischen: „in ein fremdes Land gekommen,“ und Eleazar: „unter dem Beistande des Gottes seiner Väter den Aegyptiern entflohen.“ 279 Nachdem sie sich nun der Grenze genähert, begegnete ihm auf Gottes Geheiss sein Bruder Aaron, dem er sofort mitteilte, was ihm auf dem Berge begegnet war und was Gott ihm aufgetragen hatte. Als sie aber weiterzogen, kamen ihnen die vornehmsten der Hebräer entgegen, die von ihrer Ankunft Nachricht erhalten [122] hatten; 280 und da sie seinen Worten keinen Glauben schenken wollten, führte Moyses ihnen die Wunderzeichen vor Augen. Und sie wurden von Verwunderung ob des Geschehenen ergriffen, fassten Mut und gaben sich der frohen Hoffnung hin, Gott werde für ihre Sicherheit sorgen.

(2.) 281 Als er so die Hebräer sich willfährig gemacht, die sich ganz ihm anzuvertrauen versprachen, da sie ein lebhaftes Verlangen nach Befreiung trugen, ging Moyses zum König, der jüngst die Regierung angetreten hatte,[5] 282 und erinnerte ihn daran, wie nützlich er sich den Aegyptiern erwiesen habe, als ihre Äcker von den Aethiopiern verwüstet, und sie diesen zum Gespött geworden seien, und wie er die Beschwerden des Kriegsdienstes für sie ertragen habe, als wären sie seine eigenen Angehörigen gewesen. Dann zeigte er ihm, dass er sich der höchsten Gefahr ihretwegen unterzogen habe, wofür sie ihm noch nicht einmal Dank gewusst hätten. 283 Auch teilte er ihm mit, was ihm auf dem Berge Sinai begegnet, wie Gott zu ihm geredet und zur Bestätigung seines Befehles vor seinen Augen Wunder vollbracht habe, und er beschwor ihn, an seine Sendung zu glauben und dem Willen Gottes sich nicht zu widersetzen.

(3.) 284 Als aber der König ihn verlachte, gab Moyses ihm eine Probe von den Wundern, die er auf Sinai erblickt hatte. Der König jedoch erzürnte und schalt ihn einen Frevler, der einst der aegyptischen Knechtschaft entflohen, jetzt aber mit Betrug und Bosheit zurückgekehrt sei, um durch Blendwerk und magische Künste das Volk in Erstaunen zu setzen. 285 Nach diesen Worten hiess er seine Priester dieselben Wunderthaten vollbringen; denn auch die Aegyptier verständen diese Künste, und Moyses besitze nicht allein göttliche Kraft, da er doch seine Gaukeleien nur vorführe, um das rohe und ungebildete Volk zum Glauben an ihn zu verleiten und es zu täuschen. Und da sie ihre Stäbe zu Boden [123] warfen, wurden auch diese zu Schlangen. 286 Moyses aber wurde davon nicht im geringsten betroffen und sprach: „Ich verachte zwar die Weisheit der Aegyptier nicht, aber ich behaupte, dass meine Werke ihre magischen Künste ebenso übertreffen, als Gottes Werke die der Menschen. Und ich will beweisen, dass meine Werke keine Gaukeleien sind und kein Betrug, sondern dass sie durch Gottes Einfluss und Kraft geschehen.“ 287 Nach diesen Worten warf er seinen Stab zur Erde und hiess ihn sich in eine Schlange verwandeln. Derselbe gehorchte dem Befehl, griff die Stäbe der Aegyptier, die dem Auge in der Gestalt von Schlangen erschienen, einen nach dem anderen an und verschlang sie sämtlich. Dann erhielt er wieder seine frühere Gestalt, und Moyses hob ihn auf.

(4.) 288 Der König aber wurde hierdurch um nichts mehr gerührt, sondern geriet in Zorn und sagte, er werde mit seiner Geschicklichkeit und Schlauheit doch nichts gegen die Aegyptier ausrichten. Und er befahl dem Aufseher der Hebräer, er solle ihnen keine Erholung von den Arbeiten mehr bewilligen, sie vielmehr mit noch schwereren Arbeiten als früher belasten und zum Gehorsam zwingen. 289 Dieser gewährte ihnen also fürder keine Spreu mehr zur Verfertigung von Ziegelsteinen wie früher, sondern am Tage quälte er sie mit den drückendsten Arbeiten und zwang sie dann des Nachts auch noch, die Spreu zu sammeln. Und als so ihre Plackereien sich verdoppelten, zürnten sie dem Moyses, weil er die Schuld trage, dass sich ihre Arbeit und ihr Elend vermehrt habe. 290 Er aber wich weder den Drohungen des Königs, noch den Klagen und Vorwürfen der Hebräer, sondern er blieb festen Gemütes und scheute keine Mühe, um den Seinigen die Freiheit wiederzugeben. 291 Und so ging er wieder zum König, um ihn zu überreden, die Hebräer auf den Berg Sinai zu entlassen, wo sie Gott nach dessen Vorschrift opfern wollten. Gottes Willen aber solle er keinen Widerstand entgegensetzen, sondern sein Wohlwollen allem anderen [124] vorziehen und ihnen den Abzug gestatten, damit er nicht dereinst seine Hartnäckigkeit sich vorzuwerfen habe, wenn er das erdulden müsse, was dem zu geschehen pflege, der Gottes Befehle missachte. 292 Denn auf diejenigen, die Gottes Zorn sich zuzögen, ströme von allen Seiten Unglück heran, da weder der Himmel, noch die Erde, noch ihre eigene Nachkommenschaft ihnen wohlgesinnt seien, vielmehr überall Hass und Feindschaft auf sie lauere. Und alle diese Übel würden über die Aegyptier verhängt werden, während das Volk der Hebräer trotz ihrem Widerstande dennoch den Auszug aus ihrem Lande bewerkstelligen werde.

Vierzehntes Kapitel.
Von den zehn Plagen, die Aegypten heimsuchten.

(1.) 293 Da aber der König des Moyses Worte verachtete und auf seine Mahnungen nicht im mindesten hörte, befielen schwere Übel Aegypten, die ich einzeln aufzählen werde, teils weil nie einem Volke ähnliches zugestossen ist, teils weil Gott dadurch die Wahrheit dessen, was Moyses verkündet hatte, erweisen wollte, und endlich auch, weil es den Menschen von Nutzen sein kann, sie kennen zu lernen. Dann werden sie um so eher sich der Beleidigung der göttlichen Majestät enthalten und Gottes Zorn nicht durch Ungerechtigkeit reizen. 294 Zunächst also färbte sich das Wasser des Stromes blutrot, sodass es zum Trinken untauglich wurde; eine andere Wasserquelle aber war nicht da. Das Wasser hatte jedoch nicht nur eine blutrote Farbe, sondern verursachte auch denen, die es trinken wollten, Schmerzen und heftige Qual. 295 So erschien es aber nur den Aegyptiern, den Hebräern dagegen süss und trinkbar und seiner Natur nach nicht verändert. Durch dieses Wunderzeichen wurde der König sehr in Angst versetzt, und da er wegen der Aegyptier besorgt war, gestattete er den Hebräern den Abzug. Kaum hatte die Plage indes [125] nachgelassen, so änderte er seine Gesinnung und nahm die Erlaubnis zurück.

(2.) 296 Gott aber schickte, da der König sich so undankbar bewies und nach der Befreiung von dem Unglück keine bessere Einsicht bekam, den Aegyptiern eine andere Plage. Eine ungeheure Menge Frösche verwüstete ihr Land, und auch der Fluss wimmelte von ihnen, sodass die, welche Wasser schöpfen wollten, nur solches erhielten, das mit dem Blute dieser Tiere, die zu tausenden darin untergingen und verfaulten, verunreinigt und besudelt war. 297 Auch war das ganze Land der Aegyptier mit stinkendem Schlamm bedeckt, da die Frösche in Menge zu Grunde gingen. Verwirrung aber brachten sie in das häusliche Leben, denn sie fanden sich in Speisen und Getränken und hüpften in den Betten umher. Der Geruch von den schnell dahinsterbenden Tieren endlich verpestete die Luft. 298 Da nun die Aegyptier von diesen Plagen sehr gequält wurden, hiess der König den Moyses mit den Hebräern abziehen. Sofort, nachdem er dies befohlen, verschwand die Menge der Frösche, und Land wie Fluss kehrten in ihren früheren Zustand wieder zurück. 299 Sobald aber das Land von der Plage frei war, vergass Pharao die Ursache derselben und hielt die Hebräer fest. Und grade als ob er noch viel Unheil hätte erfahren wollen, verhinderte er den Moyses und sein Volk am Wegzug, den er ihnen vorher mehr aus Furcht als aus gutem Willen gestattet hatte.

(3.) 300 Da strafte Gott seine Arglist mit einer neuen Plage. Eine unzählige Menge von Läusen entstand aus den Leibern der Aegyptier, welche davon hart bedrängt wurden, da sie weder durch Baden noch durch Salben mit Arzneien umzubringen waren. 301 Der König aber, bestürzt und in Furcht, sein Volk möchte zu Grunde gehen und dazu noch auf eine so schmähliche Weise, kam deshalb zu besserer Einsicht. 302 Er gab nämlich den Hebräern die Erlaubnis zum Abzuge; kaum aber war er etwas zur Ruhe gekommen, als er auch gleich wieder forderte, dass [126] die Weiber und Kinder als Geiseln zurückgelassen werden müssten. Dadurch reizte er Gott noch mehr, da er glaubte, seine Vorsehung hintergehen zu können, als ob Moyses und nicht Gott die Aegyptier wegen der Hebräer strafe. 303 Und Gott erfüllte das Land mit mancherlei und vielgestaltigen Tieren, dergleichen niemand früher gesehen. Diese bereiteten vielen Menschen den Untergang, sodass das Land unbebaut und wüst dalag. Und was dem Verderben auf diesem Wege entging, erlag einer Krankheit, von der die Menschen befallen wurden.

(4.) 304 Als aber Pharao dem Willen Gottes nicht gehorchen und zwar die Weiber mit den Männern abziehen lassen, die Kinder dagegen zurückhalten wollte, unterliess Gott nicht, seine Bosheit mit mannigfaltigen und noch schwereren Übeln als vorhin zu züchtigen. Denn er liess die Leiber der Aegyptier sich mit ekelhaften Blattergeschwüren bedecken, welche die Eingeweide in langsamem Schwund verzehrten; so kam ein grosser Teil der Aegyptier um. 305 Und da auch nach dieser Plage der König nicht zur Einsicht kam, liess Gott einen Hagel vom Himmel fallen, wie er früher nie in Aegypten gefallen war und wie er anderswo zur Winterzeit nicht fällt, ja sogar noch stärker, als er in den nördlichen Ländern gegen den Frühling hin vorkommt. 306 Dadurch wurden die Feldfrüchte zerschlagen, und was vom Hagel noch verschont blieb, frassen Heuschrecken auf, so dass den Aegyptiern keine Hoffnung auf Ernte blieb.

(5.) 307 Jedem nun, der nicht gottlos und unverständig zugleich war, würden die genannten Plagen genügt haben, um ihn zur Einsicht und Überlegung zu bringen. Pharao aber widerstand Gott nicht so sehr aus Unverstand als aus Bosheit, obgleich er die Ursache des Übels wohl erkannte, und verschloss sich hartnäckig jeder besseren Einsicht. Daher befahl er wohl dem Moyses, er solle mit Weibern und Kindern abziehen, jedoch sollten die Hebräer all ihr Besitztum den Aegyptiern überlassen, die durch so viele Plagen alles verloren hatten. 308 Als nun Moyses geltend machte, das sei eine unbillige Forderung, [127] weil sie ihre Habe brauchten, um Gott davon ein Opfer darzubringen, und über dem vielen Wortwechsel die Zeit verstrich, wurden die Aegyptier plötzlich von einer dichten Finsternis umhüllt, sodass sie nicht sehen und auch wegen der Schwere der Luft nicht atmen konnten. Und so starben viele in dem dichten Nebel elend dahin. 309 Nach drei Tagen und ebenso vielen Nächten lichtete sich endlich die Finsternis, und es zerstreute sich der Nebel. Da aber Pharao noch immer zögerte, den Hebräern freien Abzug zu gestatten, ging Moyses zu ihm und sprach also: „Wie lange gedenkst du noch dem Willen Gottes zu widerstreben? Denn er selbst befiehlt dir, die Hebräer ziehen zu lassen, und ihr werdet nicht eher von den Plagen befreit werden, bis du das gestattest.“ 310 Der König aber, erzürnt über diese Sprache, drohte, ihm den Kopf vom Rumpfe trennen zu lassen, wenn er noch einmal komme und ihn mit der Sache belästige. Moyses entgegnete ihm, er wolle keine Worte mehr deswegen verlieren; es werde aber noch dahin kommen, dass er mit den vornehmsten der Aegyptier die Hebräer anflehen werde, so bald als möglich abzuziehen. Und nach diesen Worten entfernte er sich.

(6.) 311 Gott aber gedachte noch mit einer Plage die Aegyptier zu bedrängen, um sie zur Entlassung der Hebräer zu zwingen. Er befahl daher dem Moyses, dem Volke zu verkündigen, sie sollten das Opfer bereit halten und sich rüsten vom zehnten des Monats Xanthikos (der so bei den Mazedoniern, bei den Aegyptiern aber Pharmuthi und bei den Hebräern Nisan heisst) bis zum vierzehnten. Alsdann solle er selbst die Hebräer wegführen, und sie sollten all ihre Habe mitnehmen. 312 Und als Moyses die Hebräer zum Auszug vorbereitet hatte, ordnete er sie nach Stämmen und hielt sie an einem Orte beisammen. In der Frühe des vierzehnten Tages brachten sie, zum Auszug gerüstet, ein Opfer dar, nahmen darauf Hyssop-Büschel, besprengten ihre Häuser mit Opferblut und reinigten sie so. Und nachdem sie gespeist hatten, verbrannten sie die Fleischreste, als wollten [128] sie gleich ausziehen. 313 Daher stammt unsere Sitte, dass wir auch heute noch so opfern an einem Feste, welches wir Pascha nennen, das heisst „Übergang,“ weil an jenem Abend Gott an den Hebräern vorüberging, den Aegyptiern aber die Pest sandte. Denn in dieser Nacht ging alle Erstgeburt der Aegyptier zu Grunde, sodass sehr viele, die in der Nähe des königlichen Palastes wohnten, zusammenliefen und dem Pharao rieten, er solle die Hebräer entlassen.

314 So liess sie denn endlich der König mit Moyses abziehen in der Hoffnung, es werde nach ihrem Wegzug aus dem Lande das letztere von Plagen befreit sein. Und sogar Geschenke gab man den Hebräern, teils damit sie um so schneller ausziehen möchten, teils auch aus nachbarlicher Gefälligkeit.

Fünfzehntes Kapitel.
Wie die Hebräer unter Moyses’ Führung Aegypten verliessen.

(1.) 315 So zogen die Hebräer aus; die Aegyptier aber weinten, denn es reute sie, dass sie die Hebräer so schlecht behandelt hatten. Diese nahmen ihren Weg durch Latopolis, das damals Wüste war und wo später zur Zeit, als Kambyses Aegypten verwüstete, Babylon erbaut wurde. Und da sie schnell marschierten, kürzten sie die Wege ab und gelangten schon am dritten Tage nach Belsephon am Roten Meere. 316 Die Gegend aber war wüst und öde, sodass sie von Früchten nicht leben konnten; sie mussten daher mit Brot ihr Leben fristen, das sie aus Mehl leicht geknetet und dann an schwachem Feuer gebacken hatten. Davon lebten sie bis zum dreissigsten Tage, denn länger reichte das nicht aus, was sie aus Aegypten mitgenommen hatten, und um davon leben zu können, mussten sie sparsam damit umgehen und durften nicht bis zur Sättigung davon geniessen. 317 Zum Andenken an diese Not feiern wir acht [129] Tage hindurch das Fest der ungesäuerten Brote. Und die Menge der aus Aegypten Auswandernden war so gross einschliesslich der Weiber und Kinder, dass man sie kaum zählen konnte; an streitbaren Männern waren sechshunderttausend vorhanden.

(2.) 318 Sie verliessen aber Aegypten im Monat Xanthikos um die Zeit des Vollmondes am fünfzehnten Tage, im vierhundertdreissigsten Jahre nach der Ankunft unseres Vaters Abram in Chananaea und im zweihundertfünfzehnten nach dem Zuge Jakobs gen Aegypten. 319 Moyses war damals 80 Jahre alt, und sein Bruder Aaron war drei Jahre älter. Und sie führten mit sich die Gebeine Josephs, wie dieser seinen Söhnen befahlen hatte.

(3.) 320 Die Aegyptier aber reute es bald, die Hebräer ziehen gelassen zu haben, und da der König unwillig war, weil er glaubte, die Plagen seien nur den Zaubereien des Moyses zuzuschreiben, beschloss er ihnen nachzusetzen. Die Aegyptier griffen daher sogleich zu den Waffen und ihrer sonstigen Kriegsausrüstung und verfolgten die Hebräer, um sie wieder in die Knechtschaft zu führen, falls sie ihrer habhaft werden könnten. Man glaubte, sie würden nicht weiter Gott anflehen, nachdem ihnen der Auszug geglückt war, 321 und da sie wehrlos und vom Marsche ermattet seien, hoffte man sie leicht überwinden zu können. Die Aegyptier fragten nun jeden, der ihnen begegnete, wo die Hebräer hingezogen seien und verfolgten sie in Eilmärschen, obgleich der Weg schon für gewöhnliche Wanderer, geschweige denn für ein Kriegsheer, recht beschwerlich war. 322 Moyses aber hatte die Hebräer deshalb diesen Weg nehmen lassen, damit die Aegyptier, falls sie der Auszug der Hebräer gereuen sollte, und sie ihnen mit Heeresmacht nachsetzten, die Strafe für ihre Bosheit und für die Verletzung des Vertrages finden sollten; dann aber wollte er auch vor den Palaestinern sicher sein, die noch einen alten Groll gegen die Hebräer hatten, und deren Land an Aegypten grenzte. 323 Darum führte er das Volk nicht geradeswegs auf Palaestina zu, sondern wollte lieber [130] durch die Wüste auf grossen Umwegen, wenn auch unter Mühen und Beschwerden, Chananaea zu erreichen suchen. Hierzu kam noch der Befehl Gottes, der geboten hatte, das Volk solle zum Berge Sinai geführt werden und ihm dort opfern. 324 Als nun die Aegyptier die Hebräer eingeholt hatten, rüsteten sie sich zum Kampfe, schlossen die Hebräer mit grosser Macht ein und trieben sie in die Enge. Denn sie hatten sechshundert Wagen, fünfzigtausend Reiter und zweihunderttausend Fusssoldaten; auch hatten sie alle Wege besetzt, auf denen die Hebräer ihnen hätten entkommen können. So hielten sie dieselben zwischen unzugänglichen Abhängen und dem Meere eingeschlossen. 325 Denn an letzteres grenzt ein steiles und unwegsames Gebirge, das jeden Ausweg abschneidet. Zwischen diesem und dem Meere sassen also die Hebräer fest, und den einzigen Ausweg in die Ebene hatten die Aegyptier durch ein hier angelegtes Lager versperrt.

(4.) 326 Da nun die Hebräer einerseits aus Mangel an Lebensmitteln keiner Belagerung standhalten, andererseits aber auch keinen Ausweg zur Flucht entdecken konnten, und da ihnen, selbst wenn sie hätten kämpfen wollen, die Waffen dazu fehlten, so blieb ihnen, wollten sie nicht zu Grunde gehen, keine andere Hoffnung, als sich den Aegyptiern auf Gnade oder Ungnade zu ergeben. 327 Dem Moyses aber machten sie Vorwürfe, da sie die Wunder, welche Gott zum Zwecke ihrer Befreiung gewirkt hatte, bereits vergessen hatten. Ja, sie gingen so weit, dass sie den Propheten, der sie zum Ausharren ermahnte und ihnen ihre Errettung in Aussicht stellte, steinigen und sich wieder in die Gewalt der Aegyptier begeben wollten. 328 Die Weiber und Kinder aber jammerten und wehklagten, da sie den sicheren Tod vor Augen sahen; denn ringsum waren sie von Bergen, Meer und Feinden eingeschlossen, und kein Rettungsweg war zu entdecken.

(5.) 329 Obwohl nun die Menge gegen ihn aufgebracht war, liess Moyses doch nicht im mindesten von der [131] Fürsorge für dieselbe ab. Vielmehr vertraute er auf Gott, er werde, wie er sonst seinem Versprechen gemäss für ihre Erlösung gesorgt, so auch jetzt sie nicht ihren Feinden überantworten, die sie entweder wieder in die Knechtschaft schleppen oder töten würden. 330 Daher begab er sich in ihre Mitte und sprach zu ihnen: „Es wäre schon unbillig, wenn ihr Menschen, die bis jetzt eure Angelegenheiten gut verwaltet haben, misstrauen würdet, gleich als ob sie in Zukunft dazu weniger geeignet wären; um wie viel thörichter wäre es da, an Gottes Vorsehung zu verzweifeln, 331 der euch alles gewährt hat, was er euch durch mich zu eurem Heile und in Hinsicht eurer Erlösung aus der Knechtschaft gegen alle eure Erwartung verheissen hat. Vielmehr geziemt es euch, in eurer jetzigen Notlage auf Gottes Hilfe zu bauen. Denn nur deshalb hat er eure Einschliessung in diesen Engpass zugelassen, 332 um euch gegen eurer Feinde Erwarten aus dieser Gefahr zu erlösen und euch dadurch seine Allmacht und besondere Fürsorge zu beweisen. Gott erzeigt nämlich denen, auf die er mit Wohlgefallen sieht, nicht nur in kleinen Angelegenheiten seine Hilfe, sondern erst recht dann, wenn die Menschen jedwede Hoffnung auf Besserung ihrer Lage aufgegeben haben. 333 Vertraut daher fest auf einen solchen Helfer, der aus Kleinem Grosses zu erzeugen und auch die Kraft solcher gewaltigen Heeresmassen zu schwächen vermag, mit denen euch die Aegyptier schrecken. Wollet auch nicht verzweifeln, weil euch durch Meer und Berge die Flucht abgeschnitten ist; denn wenn Gott will, werden die Berge in Ebenen und das Meer in trockenes Land verwandelt werden.“

Sechzehntes Kapitel.
Wie das Meer sich vor den Hebräern teilte und ihnen die Flucht vor den Aegyptiern ermöglichte.

(1.) 334 Nach diesen Worten führte er sie im Angesichte der Aegyptier ans Meer. Diese konnten nämlich die [132] Hebräer erblicken, hielten es aber, da sie von der Verfolgung ermüdet waren, für ratsam, den Kampf auf den kommenden Tag zu verschieben. Und als nun Moyses das Gestade erreicht hatte, ergriff er seinen Stab und flehte zu Gott um Schutz und Hilfe mit diesen Worten: 335 „Du weisst, o Herr, dass wir vergeblich zu menschlicher Kraft und Überlegung unsere Zuflucht nehmen, um der gegenwärtigen Not zu entgehen. In deiner Macht aber liegt es, deinem Volke, das in Gehorsam gegen deinen Willen aus Aegypten auszog, Erlösung zu gewähren. 336 Daher nehmen wir, hoffnungslos und ratlos wie wir sind, zu dir allein unsere Zuflucht und flehen dich an. Angstvoll erwarten unsere Herzen das Eingreifen deiner Vorsehung, damit wir den Händen der wutentbrannten Aegyptier entrissen werden. Doch komme schnell und zeige uns deine Macht; flösse dem Volke, das aus Verzweiflung zusammenzubrechen droht, Mut ein und richte wieder auf seine Hoffnung und sein Vertrauen auf Erlösung. 337 Du vermagst unsere Not zu beseitigen – denn dein ist das Meer, und dein sind die Berge, die uns umschliessen. Willst du, so thun sie sich auf, und das Meer verwandelt sich in trockenes Land. Ja, durch die Luft können wir fliegen und so entkommen, wenn deine Allmacht uns also erretten will.“

(2.) 338 Nach diesem Gebete zu Gott schlug Moyses mit seinem Stabe aufs Meer. Dieses aber gab dem Schlage nach, wich zurück und liess das Land trocken, um den Hebräern die Flucht zu ermöglichen. 339 Daran erkannte Moyses Gottes Gegenwart, und da er sah, dass das Meer von seinem Grunde gewichen war, schritt er zuerst hinein und hiess die Hebräer ihm folgen auf dem Pfade, den Gott ihnen gebahnt. Dann ermahnte er sie in der Freude über die Gefahr, in welche die nachsetzenden Feinde zu stürzen drohten, sie sollten Gott danken, der ihnen einen so unverhofften Weg zur Rettung geöffnet habe.

(3.) 340 Als die Hebräer nun im Vertrauen auf Gottes Gegenwart ohne Zögern nacheilten, glaubten die Aegyptier, sie seien von Sinnen, da sie offenbar ihrem Verderben [133] entgegenliefen. Doch als sie sahen, dass die Hebräer wohlbehalten weiter vorrückten, ohne Schwierigkeiten und Hindernisse anzutreffen, begannen sie ihnen zu folgen, als ob auch vor ihnen das Meer ruhig zurückweichen würde; ihre Reiterei schickten sie dabei voraus. 341 Indes sie sich aber ihre Waffen angelegt und damit Zeit verloren hatten, waren die Hebräer schon wohlbehalten am jenseitigen Ufer angelangt. Dadurch wurden die Aegyptier noch mehr angestachelt zur Verfolgung, in dem Glauben, dass auch ihnen nichts Übles widerfahren würde. 342 Sie hatten aber ausser acht gelassen, dass der Weg nur für die Hebräer, nicht aber für andere geschaffen worden, und dass er zur Erlösung der Gefährdeten, nicht aber für die bestimmt war, die ihn zum Verderben anderer benutzen wollten. 343 Als daher das gesamte Heer der Aegyptier den Weg betreten hatte, strömte plötzlich das Meer wieder zusammen und begrub, von Sturm gepeitscht, mit gewaltigem Andrang die Aegyptier in seinen Fluten. Zugleich stürzten Regengüsse vom Himmel, und grause Donnerschläge wechselten mit zuckenden Blitzen; 344 kurz, was Gottes Zorn den Menschen zu schicken pflegt, schien hier vereinigt zu sein, denn auch dichte Finsternis und Nacht gesellte sich hinzu. So gingen die Aegyptier sämtlich unter, und es blieb noch nicht einmal einer übrig, der die Botschaft von dem Unglück hätte nach Hause bringen können.

(4.) 345 Die Hebräer aber konnten sich vor Freude über ihre unverhoffte Errettung und die Vernichtung ihrer Feinde kaum halten, und sie glaubten nun einer festen und gesicherten Zukunft entgegenzugehen, da Gott sie so offenbar beschützt hatte. 346 Und weil sie selbst der Gefahr so wunderbar entronnen waren, ihre Feinde aber von einem Strafgericht ereilt sahen, wie es seit Menschengedenken nicht dagewesen, verbrachten sie die Nacht mit Gesang und in freudigem Jubel. Moyses selbst verfasste zur Ehre Gottes ein Lied in sechsfüssigen Versen, das Gottes Lob besang und ihm für seine Wohlthaten dankte.

[134] (5.) 347 Alles dies habe ich aufgezeichnet, wie ich es in den heiligen Büchern geschrieben fand. Niemand aber möge sich darüber verwundern und es für unglaublich halten, dass die damaligen Menschen, die in Schlechtigkeiten noch nicht so bewandert waren, einen Weg zu ihrer Errettung, sei es nach Gottes Willen oder von selbst, durch das Meer gefunden haben sollen. 348 Denn es ist noch nicht so lange Zeit verstrichen, da auch vor dem Heere Alexanders, des Königs von Mazedonien, das Pamphylische Meer zurückwich und ihm, da es keinen anderen Weg zu Gebote hatte, einen solchen eröffnete. Gott bediente sich nämlich seiner Hilfe, um die Herrschaft der Perser zu stürzen. Das bezeugen alle, welche die Kriegsthaten Alexanders beschrieben haben. Doch möge hierüber jeder denken, wie ihm beliebt.

(6.) 349 Als nun am folgenden Tage die sturmbewegten Meereswogen die Waffen der Aegyptier ans Gestade geworfen hatten, liess Moyses, der darin ein Zeichen der Vorsehung Gottes erblickte, dieselben sammeln und rüstete mit ihnen die Hebräer aus, damit diesen von jetzt an die Wehr nicht fehle. Alsdann führte er sie zum Berge Sinai, um dort Gott zu opfern und ihm für die Errettung des Volkes zu danken, wie derselbe ihm früher befahlen hatte.


  1. 1 Mine (Mna), griechische Silbermünze, = 100 attischen Drachmen = 78,6 Mark.
  2. Potiphar.
  3. Jehovah.
  4. Nach Hommel, Geschichte des alten Morgenlandes‚ war dieser Pharao kein anderer als Ramses II.
  5. Mer-en-Ptah, Sohn Ramses des Zweiten.
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