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Das Problem der Ostjuden

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Textdaten
Autor: Paul Nathan
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Titel: Das Problem der Ostjuden
Untertitel: Vergangenheit – Zukunft
aus: Universitätsbibliothek Bochum
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Erscheinungsdatum: 1926
Verlag: Philo Verlag und Buchhandlung G.m.b.H. Berlin
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
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Siehe auch Judaica
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Zusammenfassung

Paul Nathan setzt sich in diesem Werk mit der Verbesserung der Lage der jüdischen Menschen in Osteuropa auseinander.

Text

[1] PAUL NATHAN


Das
Problem
der
Ostjuden

Vergangenheit – Zukunft


1926




Philo-Verlag und Buchhandlung G. m. b. H.

Berlin SW 68

[2]

[3]
Vorbemerkung.

Es ist nicht meine Absicht, das Ostjudenproblem[WS 1] historisch, und dann die Gegenwart von allen Seiten beleuchtend, auf den nachfolgenden Seiten zur Darstellung zu bringen. Für mich handelt es sich nicht um eine Arbeit wissenschaftlichen Charakters, wie wohl ich meine Darlegungen und Folgerungen auf gesicherte, wissenschaftliche Grundlagen zu stützen suche. Ich will vielmehr – freilich von solcher festen Basis aus – praktische, unmittelbare Wirkungen erzielen.

Es sollen die folgenden Darleungen dazu beitragen, Millionen von Juden einer erträglichen Zukunft entgegenzuführen; es soll ein Krankheitsherd in Europa beseitigt werden, in dem Millionen von Mitmenschen dahin siechen, und aus dem schwere Gefahren für weitere Gebiete Mittel-Europas sich entwickeln können.

Um unmittelbar zu wirken, um unmittelbare Anteilnahme zu wecken, war daher eine ganz engzusammengefaßte, eine ganz knappe Darstellung geboten, bei einem Thema, das Stoff zu breiterer Ausmalung wohl gestattet hätte. Eine zustimmende oder eine abweisende Beurteilung des Zionismus[WS 2] spielt in die Erörterung des vorliegenden Problems in keiner Weise hinein. Auch die Zionisten sind der Ueberzeugung, daß die Millionen der Ostjuden niemals in dem kleinen Palästina untergebracht werden können. So bleibt die Frage: Wie soll die Not jener, für die eine Auswanderung unmöglich ist, behoben werden.

[4] Es handelt sich um die Zukunft von Millionen Juden, von Millionen menschlicher Wesen, um die Frage: Sollen diese Millionen auch in Zukunft verkommen, oder sollen die jetzigen politischen Möglichkeiten benutzt werden, jene Millionen einer menschenwürdigen Zukunft entgegenzuführen.

Auch der beschäftigte Jude sollte Zeit finden, um die wenigen folgenden Seiten zu lesen und um dann seinen Entschluß zu fassen, ob er entsprechend seinen Kräften der unglücklichen Bevölkerung Osteuropas ein Helfer sein will; – ob nicht.



[5]
Das Problem der Ostjuden


Vergangenheit – Zukunft.


Das Ostjudenproblem ist weder ein ausschließlich jüdisches, noch ein ausschließlich polnisch-russisches.

Wenn fünf bis sechs Millionen Menschen – vielleicht sind es auch mehr – eng zusammengepreßt in unerträglichen wirtschaftlichen und zum Teil auch politischen Verhältnissen sich befinden, so ist damit in dem kleinen Europa ein Krankheitsherd erzeugt, der zwar nicht von einer gefährlichen Bedeutung für den ganzen Weltteil ist, der aber für die unmittelbare Umgebung als gleichgiltig und bedeutungslos nicht bezeichnet werden kann. Unmittelbar angrenzend an die polnischen und an die russischen Gebiete, in denen Millionen von Juden leben, ist das Deutsche Reich, und so ist es nur naturnotwendig, daß die Experimente, die seinerzeit das Zarenreich unternommen hat, um die Judenfrage zu einer Lösung zu bringen, eine direkte Rückwirkung auf die westlichen Länder, damals auf Oesterreich-Ungarn und auch auf Deutschland, ausgeübt haben.

Politisch hat sich seitdem, also seit dem Weltkrieg, die Lage vollständig verschoben; aber das Ostjudenproblem in seinem Kernpunkt ist auch heute noch nicht gelöst. Die Tatsache ist bestehen geblieben, daß Millionen Juden auf einem verhältnismäßig sehr engem Raum zusammengepfercht sitzen mit allen jenen Folgewirkungen, die sich damit für die Juden selbst wirtschaftlich, intellektuell, moralisch ergeben und ergeben müssen; aber nicht nur für die Juden, [6] sondern auch für die unmittelbar umgebenden Staaten, wie für die Staaten in weiteren Umkreis, wenngleich für sie nach anderer Richtung hin und in anderem Ausmaß.

In den Gebieten der heutigen Republik Polen, wie in den westlichen Gebieten Sowjet-Rußlands gibt es mithin eine „Judenfrage“, zwar nicht in dem Sinne vulgären Antisemitismus, wohl aber in dem Sinne einer historisch gewordenen Zusammenstauung eines Bevölkerungselements von bestimmter Eigenart, vor allem von bestimmter wirtschaftlicher Eigenart. Und solche Zusammendrängung, die zunächt erzwungen war, erzeugt Folgeerscheinungen, die für die unmittelbar Betroffenen, wie für die nähere und fernere Umgebung nicht belanglos sind.

Die heutige Lage zu untersuchen; ihre Erscheinungsformen festzustellen; die Abhilfe der unerfreulichen Wirkungen ins Auge zu fassen, – das liegt im Interesse der unmittelbar in Mitleidenschaft gezogenen jüdischen Massen, wie der Bevölkerungsteile unter denen sie leben, wie der umgebenden und anliegenden Staaten.

Alle sich ergebenden, unerfreulichen Wirkungen mit dem einen Worte „Antisemitismus“ abzutun, ist zwar bequem; aber Hilfe wird auf diese Weise nicht geschafft. Es kommt darauf an, den Krankheitsprozeß, den man mit dem Worte „Ostjudenfrage“ bezeichnet, in seiner Eigenart sachgemäß zu erfassen, um auf diese Weise die Unterlage zu einer zweckentsprechenden Abhilfemethode zu gewinnen, und um so zu einer Beseitigung eines Zustandes zu gelangen, der furchtbar für die Juden und in seiner Rückwirkung wirtschaftlich schädigend und vor allem demoralisierend für die umgebende, nicht-jüdische Bevölkerung Jahr für Jahr in höherem Grade werden muß; eine Hinterlassen- [7] schaft der Barbarei und der reaktionären Beschränktheit zaristischer Regierungsmethoden.

Die Ostjudenfrage, geschaffen durch den russischen Despotismus, ist eine Krankheitsquelle in gewissem Umfange für Osteuropa und in geringerem Umfange für Mitteleuropa mit weiterer Ausstrahlung nach Westen. Diese Krankheitsquelle sollte verstopft, sollte in ihren schlimmen Rückwirkungen beseitigt werden.

Wie? Auf welche Weise?

Es wird ein zutreffendes Urteil nur zu fällen sein, wenn man auf die historische Entwicklung des Problems in knappen Zügen hinweist.

*       *       *

Die Zusammenballung von jüdischen Massen im nördlichen Osteuropa geht zurück auf die Zeit der Kreuzzüge.

Die religiöse Erregung der damaligen Epoche, das Erwachen der Lust an Abenteuern in fernen Landen, deren Reichtum märchenhaft erschien; die Hoffnung auf Beute, auf zügelloses Leben, auf ein Losgelöstsein von der Sorge und dem Elend des Alltags veranlaßte idealistische Einzelpersonen und verbrecherisch veranlagte Scharen, sich zunächst von Frankreich gen Deutschland in Bewegung zu setzen; Palästina, dem heiligen Land, entgegenstrebend. Der Marsch dieser schlecht geordneten, völlig mangelhaft überwachten Haufen wälzte sich aus Frankreich nach Osten, zunächst nach dem Rhein vorwärts. Auf ihrem Wege verübten diese Scharen erklärlicherweise Plünderungen, Brandstiftungen, Vergewaltigungen jeder Art und insonderheit gegen die Juden, über die herzufallen am ungefährlichsten war; und den zahlreichen Fanatikern und dem Gesindel jener Tage erschien Mord und Plünderung der Juden überdies als ein Werk wohlgefällig Gott und der Kirche.

[8] Den Rhein entlang und weiter nach Osten entwickelten sich damals furchtbare Judenmetzeleien; ganze Gemeinden wurden vernichtet, abgeschlachtet, beraubt, so daß, wer von den Juden konnte, vor den heranziehenden Kreuzfahrern nach Osten floh. Diese fliehenden jüdischen Massen fanden damals ein Asyl in den slavischen Ländern östlich von Deutschland; unter den Polen, den Litauern, den Russen; dort wurden sie wieder seßhaft und begannen eine besondere wirtschaftliche Funktion in diesen Staaten einer damals völlig unentwickelten Kultur zu erfüllen. Sie brachten aus den rheinischen Gegenden die Fertigkeiten einer handwerklichen Entwicklung und geschäftlichen Regsamkeit mit, die für den Polen einen wesentlichen Fortschritt zu jener Zeit bedeuteten, und als die Träger und Vermittler dieser städtischen Kulturgüter waren sie unangefeindet willkommen, und nutzbringend in den weiten ausschließlich agrarischen Gebieten des Ostens. Als Erinnerung an ihre rheinische Herkunft bewahrten diese ausgewanderten, vertriebenen Juden des Westens ihren westdeutschen Dialekt, den Tonfall und zum Teil ihren alten Wortschatz, und wenn die Antisemiten unserer Zeit über das „Mauscheln“ der Nachkommen jener höhnen, so verhöhnen sie geistreicherweise die Art zu Sprechen und zum Teil den Wortschatz jener Germanen, die vor länger als anderthalb Jahrtausenden in den westlichen deutschen Grenzmarken sich festgewurzelt hatten. Die Weltgeschichte erlaubt sich häufiger solche Scherze mit ungebildeten Fanatikern.

Andere weit weniger zahlreiche jüdische Scharen waren längs den Küsten des Mittelmeeres in das heutige Südrußland eingewandert, und hier wurde die Zahl der Bekenner jüdischer Religion dadurch noch vermehrt, daß der Khan der Chasaren den Entschluß faßte, zum Judentum überzutreten, und entsprechend [9] den Gewohnheiten jener Zeit, taten alsdann den nämlichen Schritt seine Untertanen, die keine Semiten waren, und nunmehr als Juden schlecht und recht in Treue zu ihren jüdischen Fürsten weiterlebten. Auch ein beachtenswerter Beitrag zu Rassenfrage, insbesondere zur Frage der Reinheit der Rassen, diese südrussischen Juden, die jedenfalls keine Semiten gewesen sind und nun als Juden auftraten. Es gibt denn auch in Rußland Juden mit ganz unverkennbarem slavischen Typus, vor allem in Südrußland. Augenscheinlich ein gehässiger verschleiernder jüdischer Winkelzug gegen die gradlinige Doktrin wahrheitssuchender Antisemiten.

Festzuhalten bleibt also, daß die riesigen Gebiete des europäischen Ostens in geringem Umfang durch das Einströmen von Juden, die längs den Küsten des Mittelmeeres gewandert waren, besiedelt wurden; hinzu kamen zum Judentum übergetretene Chasaren, die bestimmt keine Semiten waren. Die nördlicheren Gebiete der sarmatischen Tiefebene aber erhielten jüdischen Zustrom aus den Ländern alter Kultur in Westdeutschland, und diese Juden waren für den Osten Kulturträger, Ueberbringer städtischer, handwerklicher Fertigkeiten, die dem Osten wertvolle Anregungen gebracht haben.

Als feindlicher Einbruch wurde die Einwanderung im Süden wie im Norden nicht empfunden; sie war kulturfördernd, und Juden und Nichtjuden wohnten, religiös und in ihren wirtschaftlichen Funktionen getrennt, ohne empfindliche Reibung bis zur Neuzeit in Osteuropa nebeneinander.



[10]
Wachsender Antisemitismus.
Wachsende Verfolgungen.


Dieser Zustand änderte sich mit dem stärkeren Hervortreten der Nationalitätenfrage. Die allgemeine tatsächliche, größere oder geringere Rechtlosigkeit der Masse aller Untertanen in der Vergangenheit wurde mit dem Heraufkommen der Neuzeit differenziert; blieben auch alle zunächst rechtlos, so bildeten sich doch stärkere Unterschiede heraus, und jene von abweichender Religion, abweichenden Sitten und abweichender Sprache, also Deutsche und Juden vor allem, die geistigen Anreger in diesen Gebieten, werden stärker und stärker zurückgedrängt, bis aus diesem wachsenden Gegensatz sich schließlich Abneigung und Feindschaft und Verfolgung entwickelt.

Hinzu kam, daß die Juden, die im Osten auf wirtschaftlichem Gebiet willkommene Anreger gewesen waren, in dem Augenblick als lästige Konkurrenten empfunden wurden, da die einheimischen Volksmassen sich fähig hielten oder wähnten, die Funktionen der Juden im Wirtschaftsleben zu übernehmen, ein Verlauf, der sich vielerorten wiederholte, und natürlich auch dann, wenn es sich nicht um Juden handelte.

Je unfreier und politisch zurückgebliebener aber ein Land war, um so rücksichtsloser setzte die Reaktion und die Repression gegen die Juden ein und zwar überall auf der Welt; in dem zaristischen Rußland, das auch die westlichen Randgebiete inzwischen politisch aufgesogen hatte, natürlich gleichfalls; und vor [11] allem die letzte Hälfte, ganz besonders stark aber das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts bis zum Ende des Weltkrieges ist eine Epoche neuesten, furchtbaren Martyriums des östlichen Judentums.

An den Namen des Ministers Plehwe und des Oberprokurators der heiligen Synode Pobjedonosczew vor allen knüpften sich die Tendenzen und die Maßregeln entsetzlicher Unterdrückung des russischen Judentums durch die Gesetzgebung, durch die Verwaltungspraxis, die willkürlich die Gesetzgebung noch verschärfte, und durch Abschlachtung und Ausplünderung der Juden, seitens des Verbrechertums und des Mobs der Städte, die von den russischen Behörden des Zarentums je nach Bedürfnis aufgestachelt, geleitet und vorübergehend dann auch wieder bei ihren Mord- und Raubzügen unterdrückt wurden.

Judenprogrome waren in jener Zeit ein stets parates Aushilfsmittel zur Bereicherung für die russische Bureaukratie und zur Ueberwindung politischer Schwierigkeiten der inneren russischen Politik. Diese Politik des Verbrechens im Dienste des Zarentums kostete zehntausenden von Juden das Leben, brachte über hunderttausende von Juden Verwundung, Verstümmelung, bleibendes Siechtum und durch die Plünderungen äußerste wirtschaftliche Not und wirtschaftlichen Zusammenbruch.

Auf die Zustände, die sich damals herausgebildet haben, gehen in ihrem Ursprung die charakteristischen Erscheinungen zurück, die noch heute dem Ostjudenproblem seinen eigenartigen Charakter aufdrücken.

Waren durch eine Entwicklung von Jahrhunderten die Juden überall und so auch im Osten von dem Betriebe der Landwirtschaft fast vollkommen ausgeschlossen worden, so kam in Rußland hinzu, daß dort [12] die Institution des Ghetto rund ein Jahrhundert länger aufrecht erhalten worden ist, als im übrigen Europa.

Der Charakter des russischen Ghetto entsprach nicht vollkommen den verwandten westeuropäischen Einrichtungen.

In Rußland waren die Juden durch die historische Entwicklung im Wesentlichen in den ursprünglich polnischen Gebieten ansässig, vor allem also in jenen Gegenden, die sich längs der Westgrenze des Polenreiches hinziehen. Einzelne Gruppen waren tiefer in das Innere vorgestoßen, so vor allem in die Hauptsitze des Handels und Verkehrs nach Petersburg, nach Moskau und nach Odessa. Allein diese vorgeschobenen jüdischen Kolonien waren doch nur vereinzelte Inseln im riesigen Meer des Ostreiches, in ihrer Existenz immer wieder leicht bedroht, zu hunderten und tausenden ausgewiesen, wenn auf eine Zeit milderer Praxis seitens der Bureaukratie wieder Zeiten ausgesprochener Judenverfolgung einsetzten. Im wesentlichen waren es nur Kaufleute erster Gilde, also die reichen Juden; Juden, die die Berechtigung für die Universität hatten; Handwerker, die ihr Handwerk praktisch ausübten, auch Hebammen, die den Judenrayon verlassen durften. Aber auch diese Normen wurden bei dem Charakter der russischen Bureaukratie, bald einengend, bald mit einer gewissen Lässigkeit die Bestimmungen erweiternd und unter Beihilfe von Bestechungen durchbrochen.

Als Ergebnis bildete sich heraus, daß in den Westgebieten Rußlands die Masse der Juden zusammengedrängt saß, und daß mit der fortschreitenden Reaktion, die Juden auch vom flachen Lande vollkommen, aus den Dörfern vollkommen und auch in weiterem Umfange aus den kleineren Städten gewaltsam heraus- [13] gedrängt wurden, so daß ihnen nichts übrig blieb, als in die größeren Städte und in die Großstädte zu übersiedeln.

Diese Maßregel, die ebenso grausam wie sinnlos war, geht im wesentlichen auf den russischen Minister des Inneren Plehwe zurück, der ein gerissener Bureaukrat, als Staatsmann eine der verhängnisvollsten Erscheinungen des Ostreiches, Reaktionär und zugleich erfolgreicher Wegbahner für die Revolution gewesen ist.

Das Ergebnis dieser Politik war, daß die Masse der Juden in Rußland zusammengepfercht wurde im sogenannten Juden-Rayon, in jenen Gebieten Rußlands also längs der westlichen Grenze.

Und diese jüdische, furchtbarste, mittelalterliche Leidensperiode in der Neuzeit, wurde verstärkt durch jüdische Massenabschlachtungen, deren Folge wiederum die Flucht von tausenden von Juden über die westliche Grenze war. Durch die Hilfsaktionen größten Umfanges der westlichen Juden wurden diese Flüchtlinge zum ganz überwiegenden Teil dann in die Vereinigten Staaten von Amerika hinübergeführt. Das übervölkerte Europa hat für solche Massen keinen Platz, und auf diese Ursachen ist es zurückzuführen, daß heute New-York die größte jüdische Gemeinde der Welt ist.

Was die Juden der Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Gebiete der Hilfe für die Juden Rußlands getan haben, gehört zu den gewaltigsten humanitären Leistungen, die jemals, seit es historische Ueberlieferungen gibt, vollbracht worden sind. Die materielle großartige Hilfe und das Einfügen der russischen Juden in das amerikanische Leben ohne ernste Rückschläge, ist das Werk der amerikanischen Juden. [14] Die Durchführung der russischen Juden durch Europa bis auf die Ueberseedampfer, die Organisation, die es zu Wege brachte, daß Tausende und Tausende durch Deutschland und zum Teil durch Westeuropa ohne alle wesentliche allgemeine Störungen, ohne begründete und daher wirkungsvolle antisemitische Vorstöße, unter Vermeidung der Einschleppung von Krankheiten sich bewegen konnten, ist eine große Tat der europäischen Juden und in diesem Falle entsprechend den geographischen Vorbedingungen ganz überwiegend der deutschen Juden und der deutschen Regierungen, die in Sachlichkeit jedem verständigen Vorschlag von jüdischer Seite ihre Zustimmung gaben.

Eine Völkerwanderung von Ostjuden aus Rußland und dann im wesentlichen über See hat stattgefunden, aber auch diese Massenflucht, der eine freiwillige Auswanderung folgte, als die in Uebersee langsam zu Besitz gelangten Juden Verwandte, Freunde, Arbeitsgenossen nachkommen ließen, hat doch nicht erheblich den Charakter der Judenfrage in Westrußland zu ändern vermocht. Bei vorsichtiger Schätzung wird man sagen können, daß der Geburtenzuwachs der Juden in Rußland nicht mehr zum Ausdruck kam. Es mögen so viel Erwachsene ausgewandert sein, wie jüdische Geburten in diesen Gebieten Rußlands zu verzeichnen waren. Da zuverlässige Statistiken nicht zur Verfügung stehen, so muß die Schätzung als Ergänzung benutzt werden.

Man kann also daran festhalten, daß die Politik Plehwes und des Zarismus zwar das natürliche Wachstum der Juden in den Westgebieten des Reiches durch eine Methode furchtbarster Greuel niedergehalten hat; aber mehr auch nicht.

Dann kam der Weltkrieg, und damit neue unerhörte Leiden für die russischen Juden. [15] Das Zarentum hatte die russischen Juden entlang der deutschen und der österreichischen Grenze gewaltsam zusammengepfercht, und nunmehr glaubte die russische Regierung die Entdeckung machen zu müssen, daß diese von der russischen Regierung auf das Entsetzlichste malträtierten Juden zu den getreuesten Untertanen Seiner Majestät des Zaren wohl nicht zu zählen sein würden. Ohne jeden strickten Beweis, allein auf die Vermutung hin, daß die verfolgten, mißhandelten, gesetzlich mit Füßen getretenen Juden in dem Rayon wohl schwerlich unbedingte Anhänger des Zaren sein würden, wurde die Abschiebung dieser Massen in das Innere Rußlands, dessen Betreten ihnen bisher verboten war, beschlossen und bei der Annäherung der deutschen Heere zur Durchführung gebracht.

Wie Vieh wurden die Juden, deren man habhaft werden konnte, zusammengetrieben. Kinder und Greise, Frauen und Männer, Kranke und Sieche, Wöchnerinnen und junge Mädchen, Gesunde und Sterbende und die Ansteckung weiter Tragende wurden von der Soldateska verfrachtet nach dem Innern Rußlands hinein. Ihre kleinen Häuser, wenn sie welche besaßen, ihr Besitztum, ihre Werkzeuge, alles, was sie in einem mühseligen Leben zusammengebracht hatten, mußte im Allgemeinen zurückgelassen werden. Die meisten dieser Vertriebenen gingen einer völlig vagen Zukunft, vielfach bettelarm entgegen. Wer nicht unterwegs starb, stand einer Zukunft in einer feindlichen Fremde meist ohne alle Hilfsmittel gegenüber.

Bei solchem Ausblick in die Zukunft floh ein großer Teil jener Juden, die abgeschoben werden sollten, in die polnischen und litauischen Wälder, um erst wieder in die heimatlichen Ortschaften zurückzugehen, nachdem die Truppen des Zaren abgezogen und die deutschen und österreichischen Truppen die verlassenen [16] Gebiete besetzt hatten. Bei dem Hin- und Herfluten des Kampfes geschah es dann oft, daß die wiedereinrückenden zaristischen Truppen jene Juden, die nicht schnell genug die schützenden Wälder wieder aufgesucht hatten, als „Landesverräter“ festnahmen und zu Zwecken der Abschreckung völlig Unschuldige aufhängten.

Auch diese furchtbare Leidenszeit überstanden die Ostjuden, sowohl die in die Wälder Geflohenen, wie die in das Innere Rußlands Abgeschobenen, und wenn viele Tausende zu Grunde gingen, so überlebten den Krieg doch Millionen. Diese waren Zuschauer beim Zusammenbruch des Zarentums und bei der Aufrichtung der sogenannten Randstaaten, wie bei der Errichtung der Union der Sowjet-Republiken.

Das Ostjudenproblem, das bis zur Beendigung des Weltkrieges eine Einheit gebildet hatte, zerfiel nunmehr seit den Friedensschlüssen in eine Reihe einzelner Probleme, die, entsprechend der Entwicklung in den verschiedenen Staaten, ihren besonderen Charakter aufweisen.



[17]
Die gegenwärtige Lage.


Vor allem sind in Betracht zu ziehen: Litauen, Polen und die Union der Sowjet-Republiken.

In Litauen wurde – und das ist zu betonen – unter Einflußnahme einiger führender, jüdischer Einzelpersonen ein Experiment zunächst versucht, das verlockend modern, das verlockend fortschrittlich erschien, und dann sich als vollständig verfehlt herausgestellt hat.

Daß dieses Experiment zusammenbrechen würde, ließ sich voraussehen; sah ich voraus; aber trotz aller Warnungen wurde es unter Führung zionistischer litauischer Juden ins Leben zu rufen unternommen, und im Rausche demokratischer Freiheit glaubten auch die fortschrittlich gesinnten, nicht–jüdischen Kreise Litauens zustimmen zu sollen. So machte man denn in dem kleinen litauischen Staate den Versuch, den dort ansässigen Juden eine durchgeführte Autonomie zu gewähren. Man schuf eine zwiefache Behördenorganisation von unten hinauf bis zum Ministerium, und es hatten die litauischen Juden eine kurze Zeit hindurch das Vergnügen, jüdische Beamte aller Art, auch einen jüdischen Landsmannschaftsminister zu haben. Schnell trat dann ein, was eintreten mußte. Diese doppelte Behördenorganisation war in dem kleinen, durch den Krieg stark mitgenommenen Lande natürlich finanziell nicht zu tragen, und statt dem Zusammenhalt aller Bürger Litauens zu dienen, trat durch dieses Auseinanderreißen der Bevölkerung eine Entfremdung ein. Litauen, das zur Zeit des Zarismus den Antisemitismus kaum, man [18] kann wohl sagen, überhaupt nicht gekannt hatte, wurde nun bei der Absonderung der Juden dem Antisemitismus zugänglich. Zugleich tauchte die weitere Frage auf, wenn die Juden ihre besondere Behördenorganisation hatten, warum dann nicht auch die Katholiken gegenüber den anderen christlichen Bekenntnissen.

Das Denken der Litauer war zu solide, auch das der dortigen Juden glücklicherweise, so daß der Spuk der jüdischen Autonomie in diesem Ländchen schnell entschwand, und die Autonomie wurde beseitigt; freilich ließ sich das alte, tatsächlich ausgezeichnete Verhältnis zwischen christlichen Litauern und Juden nicht eben so schnell wieder vollkommen herstellen. Die Zeit wird die unsinnige Improvisation der ideologischen, jüdischen Theoretiker vergessen machen.

Völlig anders war die Entwicklung in dem wiedererstandenen polnischen Staat.

Polen gab sich eine moderne, demokratische Verfassung, mit der auch die Juden zufrieden sein konnten, und diese Verfassung wurde auf dem Verwaltungswege von einer Bureaukratie interpretiert und gehandhabt in so antisemitischen Sinne, daß der Geist des verstorbenen Ministers Plehwe seine Freude an diesen Schülern hätte haben können. Die Verfassung war für die Juden in Polen ein totes, freilich modernes Wort; und die polnische Bureaukratie von oben bis unten und von unten bis oben handelte im Geiste des ausgesprochensten Antisemitismus. Es gibt heute keinen Staat in der Welt, in dem der Antisemitismus in diesem Umfang ungescheut staatlicherseits in die Erscheinung tritt, wie die Polnische Republik; nicht einmal Rumänien und Ungarn kann als Rivale auftreten.

Steht Polen auch in dieser Beziehung vor einem Umschwung? [19] Nachdem die bisherigen polnischen Regierungen das Land finanziell an den Rand des Abgrunds gebracht hatten, ist nunmehr durch einen revolutionären, „trockenen“ Umsturz Pilsudski der Präsident des Staates geworden, und es wäre nicht ausgeschlossen, daß er eine moderne Politik zu verfolgen geneigt ist, – und zwar auch in Bezug auf das jüdische Element in Polen. Das sind Möglichkeiten, für die es leider sichere Unterlagen nicht gibt.

Endlich die Union der Sowjet-Republiken.

Seitdem die inneren Kämpfe in Sowjet-Rußland aufgehört haben, seitdem der revolutionäre Ansturm gegen die Sowjets überall niedergeschlagen worden ist, gibt es in dieser mächtigen Republik des Ostens antisemitische Ausschreitungen nicht mehr. Unter den ukrainischen Banden, unter den Heeren der Gegenrevolution hatten die Juden furchtbar zu leiden; damals fanden wiederum Abschlachtungen von Tausenden und Tausenden von Juden im Süden von Sowjet-Rußland seitens der Führer gegen Moskau statt. Seitdem die Sowjet-Republiken unangefochten die Sieger sind, haben diese Massakres und diese Plünderungen, bei denen ganze Ortschaften zu Grunde gingen, und die Ueberlebenden, vor allem die Kinder in die Wälder flüchteten, vollständig aufgehört. In Sowjet-Rußland sind seitdem die Juden Bürger wie jeder andere Bürger mit allen Rechten, freilich auch mit allen jenen Beschränkungen, denen alle Bewohner des Staatsgebietes unterworfen sind.

Es muß festgestellt werden, daß das Rußland der Sowjet-Republiken die Juden auf seinen Territorien Sonderbeschränkungen nicht unterwirft; der Jude ist nicht mehr ein Staatsbürger minderen Rechts; er hat alle Rechte ohne Ausnahme jedes Bürgers der Sowjet- [20] Staaten. Damit ist in Rußland ein ungeheurer Fortschritt erzielt. Die Gleichheit aller Bewohner Rußlands vor dem Gesetz ist verfassungsmäßig eine Tatsache geworden, und so ist ein durchgreifender, ein ungeheurer Wandel für die russischen Juden erzielt. Das ist mit letzter Klarheit, ohne jede Einschränkung anzuerkennen.

Die Feststellung dieser Tatsache bedeutet aber nicht, daß die Lage der russischen Juden in Sowjet-Rußland nunmehr in jeder Beziehung eine befriedigende ist. In zwei Richtungen bestehen ernste Schwierigkeiten.

Die Regierung der Sowjet-Republiken glaubt ihr Staatsideal nur verwirklichen zu können, indem sie die altüberkommenen religiösen Anschauungen zurückdrängt, zu beseitigen sucht; das geschieht gegenüber allen ihren Bürgern, und damit auch gegenüber den jüdischen Sowjet-Bürgern.

Unter dieser Staatsanschauung leidet der orthodoxe Jude in Rußland schwer, wie der streng religiöse Mensch jeder anderen Konfession. Nur im Geheimen kann der strenggläubige Jude und der strenggläubige Christ seine religiösen Verpflichtungen, die ihm heilig sind, erfüllen. Diese Tatsache empfinden zahlreiche Juden in Rußland als ernste Bedrückung. Und doch ist diese Bedrückung von ganz anderer Art, als es die Vergewaltigungen zur Zeit des Zarentums gewesen sind. Damals litten die Juden, weil sie Juden waren; jetzt ist es den Orthodoxen erschwert, ihre Religion zu pflegen, weil die russische Regierung die Orthodoxie aller Bekenntnisse ohne jede Ausnahme in ihrer Betätigung und Entfaltung zurückzudrängen sucht. Nicht die Juden und die jüdische Religion werden verfolgt, sondern die Religiosität strenger Observanz aller [21] Bekenntnisse unterliegen gleicher Einengung. Von denselben Gedankengängen ist die Sowjet-Regierung beherrscht, wie die Machthaber der großen französischen Revolution, die gleichfalls die Religion abschafften, um ein philosophisches Gebilde, die Religion der Vernunft, zu proklamieren, die damals nur ein kurzes offizielles Dasein geführt hat, und die Masse des Volkes nie ausfüllte.

Das Leiden der jüdischen Orthodoxie in Rußland ist schwer; aber antisemitisch sind diese Maßregeln nicht gedacht; sie entspringen einer Weltanschauung, die die streng religiöse Richtung innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums gleichmäßig trifft, und daher ist es denn auch nicht wunderbar, daß dieser Kampf gegen die jüdische Orthodoxie ganz wesentlich auch von jüdischen Radikalen innerhalb der Regierung in Moskau gefördert und immer wieder von Neuem angefacht worden ist.

Die beiden Prinzipien der Neuzeit, die einander gegenüberstehen, sind etwa folgendermaßen zu formulieren: Religion ist Privatsache, sagt die Demokratie unserer Tage. Die Sowjet-Republik aber, die den Bürger nach allen Richtungen hin, politisch wie wirtschaftlich, intellektuell wie gefühlsmäßig nach einem ganz bestimmten Ideal, nach ihrem Ideal zu modeln und zu formen sucht, - sie sagt, den Menschen, den wir bilden wollen, können wir nicht den starken religiösen Einwirkungen aus vergangenen Zeiten ausliefern, ohne befürchten zu müssen, daß unsere Aufzüchtung des Menschen und Bürgers unserer Tage und jener Zukunft, die wir heraufführen wollen, Schiffbruch leidet.

Ob diese Stellungnahme falsch, ob sie im Interesse des russischen Staates richtig ist, darüber in eine Auseinandersetzung einzutreten, ist hier nicht die [22] Stelle. Es ist nicht meine Absicht, die Prinzipien, auf denen der Sowjet-Staat aufgebaut ist, einer Kritik zu unterziehen; sie zu billigen oder zu mißbilligen. Ich wünsche die Lage der Ostjuden zu schildern, wie sie zur Zeit sich darstellt, und auf jene Wege hinzuweisen, die sich heute bereits einschlagen lassen, um das jüdische Elend im Osten zu mildern und nach Möglichkeit zu beseitigen.

Soweit ich die russischen Verhältnisse heute überblicke, scheint mir der Widerstand gegen eine Lockerung der religiösen Einschränkungen des orthodoxen Judentums in Rußland stärker von den Juden in der Regierung als von den Nichtjuden der politisch maßgebenden Kreise auszugehen. Ob jene Juden in der Regierung in ihrem religiösen Radikalismus nicht schließlich zu anderen Anschauungen sich bekehren werden, und ob nicht die Nicht-Juden in der Regierung sich der Ueberzeugung - sie hat schon heute ihre Vertreter - immer stärker zuneigen werden, daß die Verwirklichung des Sowjet-Ideals mit religiösen Fragen, mit Gottgläubigkeit in irgendeiner Form, und mit Atheismus und Adeismus gar nichts zu tun hat, - das muß abgewartet werden.

Es ist jedenfalls nicht einzusehen, warum ein orthodoxer Jude und ein orthodoxer Christ nicht gleichzeitig ein glühender Verehrer des Sowjet-Ideals sein sollte. In den Ursprüngen des Judentums stecken sehr starke sozialistisch-kommunistische Elemente, und das Christentum hat Zeiten mit ausgeprägt kommunistischen Anschauungen durchgemacht. Es gibt eine Reihe von Kirchenvätern und berühmten Lehrern des Katholicismus, deren Aussprüche jedes öffentliche Gebäude der Sowjet-Staaten als Inschrift schmücken könnten. [23] Basilius sagte: „Der Reiche ist ein Dieb“; und Ambrosius sagte: „Die Natur predigt das Recht der Gemeinschaft, und nur ein Unrecht hat das Eigentum geschaffen“; und Johannes Chrysostomus ließ sich vernehmen: „Der Reiche ist ein Räuber . . . Es wäre besser, wenn alle Güter gemeinschaftlich wären“. Und diese Liste ließe sich vervollständigen.

Daß Judentum und Christentum an irgend eine Form der Staatskonstruktion oder an irgend eine Form der Güterverteilung gebunden sind, ist ein Vorurteil, das nur dadurch entstehen konnte, daß die kirchlichen Vertreter jener Religionen sich oft genug, aber mit Unrecht, zugleich als die geborenen Stützen bestimmter Regierungssysteme ausgegeben und betätigt haben. Das entsprach vielfach ihren persönlichen Interessen und ihren persönlichen Neigungen; aber es entspricht nicht den innersten Kräften der Religionen, die sie zu vertreten hatten und tatsächlich zu vertreten vorgaben.

Warum die Sowjet-Republik nicht religiös tolerant im modernen Sinne sein kann, und zwar der Orthodoxie gegenüber, ist daher aus dem innersten Wesen ihrer Staatsidee schwerlich abzuleiten, und somit sollte dieser Staat in dieser Beziehung auch wandlungsfähig sein. Wie man annehmen kann, liegt eine solche Evolution nicht außer dem Bereich der Möglichkeit.

Ob jüdische Kreise in Rußland orthodox oder religiös-liberal oder atheistisch gerichtet sind, berührt ganz gewiß nicht die Grundlagen des Sowjet-Staates und überhaupt nicht seine Konstruktion.

Völlig anders geartet und tiefgreifend sind die ökonomischen Probleme, denen im Sowjet-Staate das russische Judentum gegenübersteht. [24] Durch die historische Entwicklung, die zu Beginn dieser Darlegungen kurz skizziert worden ist, war in dem großen mittelalterlichen Polenreiche die Einwanderung der Juden aus dem Westen begrüßt und erleichtert worden, weil die neuen Ankömmlinge aus den in der Kultur höherstehenden Rheinischen Gebieten die Fähigkeiten des Handwerkers und des Kaufmannes mitgebracht hatten. Die westlichen Juden wurden im Osten zunächst zu Kulturträgern, weil sie über Fähigkeiten verfügten, die der dort bereits ansässigen Bevölkerung noch fehlten. In diesen Berufen hielt alsdann das Zarentum die Juden fest und zwar mit Gewalt; es hinderte namentlich im ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert die Juden auf das Land zu ziehen und sich mit Landwirtschaft zu beschäftigen. Und nun als die Sowjet-Gesetzgebung einsetzte, unterband sie wiederum die Tätigkeit der Einzelnen als Händler und Vermittler im weiten Umfang und machte durch diese Maßregeln erneut die Juden in sehr großer Zahl brotlos.

Die Lage für die Juden war damit die folgende: Zusammengedrängt in Polen und in den Westgebieten Rußlands, in Städten und in kleineren Ortschaften waren sie in ihrer Tätigkeit als kleine Vermittler im Handel durch den prinzipiellen Standpunkt der Moskauer Regierung wirtschaftlich ihrer Basis beraubt, oder doch fast beraubt. Da der Handel zum Staatsmonopol geworden war, verloren die Juden in weitem Umfang ihre Existenzmöglichkeit. Waren sie arm seit Langem, so verarmten sie jetzt vollständig; und diese Verarmung wurde noch gesteigert durch die Zusammenballung der jüdischen Massen auf verhältnismäßig engem Raum in den Westgebieten Rußlands. Die Juden wurden durch die Sowjetregierung nicht gehindert, sich aus der Enge zu flüchten; [25] die Auswanderung nach Westen wurde ihnen nicht versperrt, und ebensowenig die Auswanderung nach Osten in die Gebiete bis zum Ural und darüber hinaus bis nach Innerasien und bis zum stillen Ozean. Allein auch diese Freiheit war für die Juden, wie die Verhältnisse einmal lagen, nur scheinbar von Wert.

Die Auswanderung nach dem Westen wurde tatsächlich zu einer Unmöglichkeit, seitdem die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Grenzen so gut wie vollkommen für die Einwanderer jeder Rasse und Konfession gesperrt hatten; seitdem nur noch die sogenannte Quoteneinwanderung gestattet ist, das heißt, seitdem in die Vereinigten Staaten nur eine bestimmte Einwandererzahl zugelassen wird, und diese Zahl ist für die Einwanderer jeder Kategorie, auch der Juden, so gering, daß durch Auswanderung die jüdische Frage in Rußland ganz gewiß nicht gelöst werden kann. Der Geburtenüberschuß ist weit größer als die Abwanderung im besten Falle betragen kann; oder mit anderen Worten, die Ueberfüllung der mit Juden vollgepfropften Westgebiete Rußlands muß noch weiter von Jahr zu Jahr wachsen und weiter wachsen, und damit die Armut dieser schon jetzt trostlosen jüdischen Bevölkerungsmassen sich steigern und weiter steigern.

Natürlich stände es diesen Menschen frei, ihre Schritte nach Osten zu wenden und tiefer nach Rußland hineinzuziehen in einer Binnenwanderung.

Dieser gesunde Trieb ist bei diesen Juden kaum entwickelt. Das Elend, in dem sie jetzt seit fast hundert Jahren und darüber leben, hat ihre Energie und ihre Initiative erheblich, stark herabgemindert. Sie sitzen, wo sie sitzen, und ihre An- [26] strengungen aus dem Elend zu entkommen, das sie unentrinnbar festzuhalten scheint, sind schwächer und schwächer geworden; freilich muß man billigerweise zugleich anerkennen, daß für diese Opfer der politischen Entwicklung Osteuropas die ausschließliche Selbsthilfe fast zu einer Unmöglichkeit geworden ist.

Die Hilfe muß von außen kommen.

Worin sie nicht bestehen kann, ist mit Leichtigkeit zu sagen.

Eine Auswanderung in großem Maßstabe kommt nicht mehr in Betracht, seitdem die Vereinigten Staaten von Amerika nur noch die sogenannte „Quote“, wie angeführt, hereinlassen. Andere Länder sind in erheblichem Umfange auch nicht aufnahmefähig für Auswanderer; ganz und gar nicht Europa, das minderbemittelte und arme Schichten bereits im Uebermaß auf eigenem Boden hat.

Wenn nicht durch Auswanderung, so muß die Ostjudenfrage durch russissche Binnenwanderung gelöst oder doch wenigstens einer Lösung entgegengeführt werden.

Das Reich der Sowjet-Unionen, das, an den westlichen Grenzen beginnend, das gesamte nördliche Gebiet Asiens bis zum stillen Ozean ausfüllt, ist vielfach außerordentlich dünn bevölkert; es bietet sich hier Raum für Millionen unter einer Voraussetzung, daß nämlich nicht nur die fruchtbarsten Ländereien im europäischen Rußland, sondern auch die städtischen Siedlungen in Europa, sowie das flache Land in Asien mit in Betracht gezogen werden.

Es ist vor allem ein Betrachtungsfehler, der nur allzuhäufig auftaucht, mit der Wurzel auszurotten. [27] Da die Ostjuden zur Zarenzeit der unmittelbaren Vergangenheit von der Besiedlung des flachen Landes so gut wie völlig ausgeschlossen waren, so ist nunmehr der Gegenstoß erfolgt, und die Auffassung wurde die herrschende, daß so etwa die überwiegende Masse der Juden zweckmäßigerweise zu Bauern gemacht werden müßten; eine Anschauung und ein Ziel, das ich für völlig verfehlt erachte.

Schon eine einzige Ueberlegung sollte Klarheit in dieser Beziehung schaffen.

Ein erfolgreicher Betrieb der Landwirtschaft, ganz besonders der bäuerlichen Landwirtschaft, setzt eine ganz bestimmte körperliche, aber auch intellektuelle Eignung für diese Art der wirtschaftlichen Betätigung voraus; im Einzelnen diese Eignung zu charakterisieren, ist umso weniger geboten, da diese Materie oft genug behandelt worden ist.

Bauern und Städter sind verschiedene körperliche und intellektuelle Typen. Der Mechaniker und der Schneider können der körperlichen Kraft und der Widerstandsfähigkeit gegen Witterungseinflüsse entbehren, die der Bauer unter allen Umständen besitzen muß. Und diese Unterschiede und Gegensätze lassen sich durch zahlreiche Berufe hindurch verfolgen.

Demnach wäre es ein vollkommener Mißgriff, die Masse der Juden des sogenannten früheren Rayons ausnahmslos oder zum ganz überwiegenden Teil in die Landwirtschaft hinüberführen zu wollen. Es muß differenziert werden, und es müssen landwirtschaftlichen Betrieben nur jene zugeführt werden, die für diese Arbeit die Eignung und Voraussetzungen bieten; andere eignen sich als Arbeiter in Fabriken oder in Bergwerken – sehr gute Erfahrungen haben wir in den westfälisch-rheinischen Gruben mit jüdisch-russischen Arbeitern während des letzten Krieges und nach [28] dem Kriege gemacht -; und eine dritte Kategorie endlich von der kaufmännischen Betätigung im weitesten Sinne auszuschließen, wäre sinnlos, wenn jene auf diese Weise sich und dem russischen Reiche nationalökonomisch besonders nützlich sein können. Dabei ist es selbstverständlich, daß solche kaufmännische Arbeit sich nur in jenem Rahmen bewegen kann und bewegen darf, der allen Bürgern der Sowjetstaaten gezogen ist; im Rahmen des gesetzlich Zulässigen.

Es muß besonders und nachdrücklich betont werden, daß der Wunsch, die Ostjuden vor allem, und wenn nicht ausschließlich, so doch zum ganz überwiegenden Teil zu Landbebauern zu machen, ebenso einseitig und damit verfehlt sein würde, wie es der Zwang in der russischen Vergangenheit gewesen ist, sie ausschließlich in den Städten festzuhalten. Individualisierung je nach den Anlagen und Fähigkeiten des Einzelnen ist das naturgemäße und damit das Gebotene.

Das amerikanische „Joint Distribution Committee“, das bisher allein in großem Umfange, weil auf große Geldmittel gestützt, sich der Umschichtung und Fortführung der Juden des Rayons neben der „Ica“ und den kleineren Unternehmungen der „Orth“ und „Ozet“ angenommen hat, schuf bereits im Zusammenwirken mit der offiziellen staatlich-russischen Organisation des „Comzet“ eine ganze Reihe von Kolonien in Südrußland. Sie scheinen klug angelegt, und ihre Entwicklung verspricht eine gute zu sein. Immerhin möchte ich auf eines aufmerksam machen.

Eine Anzahl dieser Kolonien ist von den westlichen Grenzen der Sowjetstaaten nicht gerade erheblich weit entfernt. Darin liegt eine Gefahr.

Ob in absehbarer Zeit neue europäische Kriege ausbrechen werden, in die auch Rußland verwickelt [29] sein wird, kann niemand wissen; niemand es ahnen und vermuten. Nur eines steht fest; solche Kriege liegen im Bereiche der politischen Möglichkeit, und kämen sie, so würden jene jüdischen Kolonien wiederum das furchtbare Schicksal der jüdischen Ansiedlungen teilen, die im letzten Weltkrieg verwüstet, niedergebrannt, von der jüdischen Bevölkerung evakuiert worden sind. Bei der Bedrohlichkeit solcher Möglichkeiten sollte die treffliche Kolonisationstätigkeit des „Joint“, wie alle anderen derartigen Versuche, auch die der Sowjet-Staaten weiter in das Innere Rußlands hinein, wesentlich weiter nach Osten, verlegt werden, und daß die Amerikaner sie erweitern und immer mehr erweitern werden, dafür bürgt ihre große Opferbereitschaft, ihr Reichtum, wie ihre kluge Philanthropie.[1]

Aber neben die ländliche Siedlung, die gewiß geboten ist, muß rationeller Weise auch die Ueberführung anderer jüdischer Elemente in städtische Arbeitsbetriebe, in Handwerksbetriebe, in die langsam in Rußland, wie es den Anschein hat, sich wieder entwickelten kaufmännischen Betriebe in Angriff genommen werden, und zwar, wie hervorgehoben, im tieferen Innern des europäischen Rußlands, wie in den asiatischen Ländern der Sowjet-Union.[2]

Solche Abwanderung der Juden nach dem zentralen und östlichen Rußland erfordert Vorarbeiten.

Gesetzliche Hindernisse stehen freilich nicht im Wege. Gleichwohl kann ein solcher Plan ohne die ausdrückliche Zustimmung der Moskauer Re- [30] gierung nicht in Angriff genommen und nicht zur Durchführung gebracht werden.

Eine generelle Zustimmung Moskaus, aber auch nur eine generelle Zustimmung, liegt vor. Als Herr Tschitscherin, der Leiter der auswärtigen Politik Rußlands, in Berlin anwesend war, hatte eine kleine Abordnung deutscher Juden, auch ich, mit ihm über die russisch-jüdischen Fragen eine Aussprache, bei der in allgemeinen Zügen zugleich die Frage der jüdischen Binnenwanderung berührt worden ist, und das Interesse des russischen Ministers und seine generelle Billigung gefunden hat. Eine solche generelle Billigung, so erfreulich sie ist, bedarf natürlich der Bestätigung im Einzelnen, die nicht in einer Unterhaltung, sondern nur in eingehenden Verhandlungen erzielt werden kann.

Sollen demnach, dem Gedankengang dieser Ausführungen entsprechend, Erwägungen und Pläne in Taten umgesetzt werden, so müssen weitere Schritte vorwärts getan werden.

Welche sind dies? Was hat zu geschehen, um die Ostjudenfrage unserer Tage zu einer greifbaren Lösung zu bringen?

Es müssen die zunächst noch nicht festverbindlichen Erörterungen mit Herrn Tschitscherin in Moskau endgültiger Formulierung entgegengeführt werden.

Es muß die Sowjet-Regierung bereit sein, einer Lösung der Ostjudenfrage nach der Richtung hin zuzustimmen, wie sie generell bereits in Aussicht genommen ist; das bedeutet allmähliche Ueberführung der Juden des früheren Rayon in die geeigneten Städte und auf geeignete Ländereien im inneren Rußlands, wie in das asiatische Rußland.

Damit wären die Vorfragen erledigt.

Zur praktischen Durchführung hätte alsdann unter Zustimmung und unter Beihilfe der Sowjet- [31] Behörden eine Expedition Rußland zu bereisen, um festzustellen, in welche Städte eine Uebersiedlung durchführbar und wirtschaftlich zweckmäßig wäre. Ebenfalls zu untersuchen wären durch eine Expedition jene ländlichen Gebiete, die für die Ansiedlung von Bauern in Betracht kommen, und die durch die Sowjet-Regierung zur Verfügung gestellt werden können.

Es wird nicht ganz leicht sein, für diese Aufgaben geeignete Personen zu finden, die über Sachkenntnis auf ihrem Gebiet, über Zuverlässigkeit und über schnelle Urteilsfähigkeit verfügen müssen.

In den Städten wird sich die Aufgabe leichter lösen lassen. In Anlehnung an die bereits vorhandene wirtschaftliche Entwicklung sind die Entscheidungen zu treffen. Die Nachfrage nach Arbeitern, soweit sie vorhanden, ist ein sicherer Maßstab; weit schwerer schon ist die Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten vorhandener Arbeitsgebiete, und die Einführung neuer wirtschaftlicher Betätigungen. Es ist ganz klar, daß auf diesem Gebiete tastend, experimentierend vorgegangen werden muß, sollen ernste Rückschläge vermieden werden. Kleine und kleinere Gruppen müssen zunächst aus dem früheren Rayon in jene Gebiete übergeführt werden, die ihnen neue Lebens- und Erwerbsmöglichkeiten bieten sollen. Haben diese kleinen Gruppen dann festen Fuß gefaßt, so können je nach der Aufnahmefähigkeit weitere Trupps folgen, wobei einer Uebersättigung des einzelnen Gebietes mit Sorgfalt vorzubeugen ist.

Noch größere Verantwortung bietet die Auswahl der zur Verfügung stehenden Ländereien für die Ansiedlung von Bauern. Wo Bauernsiedlungen in der Nähe vorhanden sind, kann durch Analogieschlüsse mit einiger Sicherheit über die Gesundheitsverhältnisse und über die zuverlässige Ergiebigkeit des [32] Bodens wohl ein Urteil gefällt werden, das mehr bedeutet als nur wissenschaftlich-theoretische Untersuchungen, die auch bei größter Vorsicht nicht alle Möglichkeiten und Gefahren gleichmäßig in Rechnung stellen können.

Ich erinnere mich des Schicksals einer jüdischen Kolonie in Anatolien, also in der asiatischen Türkei, die elend zugrunde ging und aufgelöst werden mußte. Die Fruchtbarkeit des Bodens, das Klima erwies sich als durchaus günstig, aber die Malaria warf die Kolonisten auf das Krankenbett, entkräftete sie, machte sie zu jeder schweren Arbeit untauglich und stieß viele auch ins Grab. Es war nämlich nicht beachtet worden, daß in recht erheblicher Entfernung von der Kolonie sich Sümpfe befanden, Brutstätten für die Malariamücken, die Träger des Fiebergiftes. Um sie unschädlich zu machen, gab es freilich einige Möglichkeiten, die alle aber nicht in Betracht kommen konnten. Es wäre möglich gewesen, die Sümpfe auszutrocknen; die Durchführung wäre zu kostspielig, unverhältnismäßig kostspielig gewesen. Es wäre möglich gewesen zwischen Sumpf und Kolonie durch Aufforstungen die Mücken von ihrem Flug zu den Menschen abzuhalten; eine Prozedur, deren Erfolg viel zu langsam wirksam geworden wäre, voraussichtlich erst, nachdem die größte Zahl der Kolonisten zugrunde gegangen wäre. So blieb nichts übrig, als diese Siedlung, die in schöner Entwicklung zu sein schien, wieder aufzugeben.

Aber die Lehre, die diese Erfahrung darbietet, sollte wenigstens für die jüdische Kolonisation nicht verloren gehen. Diese Lehre liegt offen zu Tage. Eine koloniale Gründung darf erst dann als bleibend entwicklungsfähig betrachtet werden, wenn sie eine nicht unerhebliche Zeit hindurch sich als zukunftsreich erwiesen hat. [33] Aus dieser Erfahrung folgt, daß zunächst nur ein Vorversuch mit dem Ansetzen einiger weniger Kolonisten gemacht werden darf, und erst auf Grund weiterer günstiger Erfahrungen kann alsdann die Kolonie ausgebaut werden; das gilt wenigstens für koloniale Versuche in noch nicht erschlossenen Gebieten, und um die wird es sich im Wesentlichen für eine jüdische Kolonie handeln; solche Gebiete wird am ehesten die russische Regierung zur Verfügung stellen; sie sind am leichtesten zu erhalten, aber sie bergen auch größere Gefahren, und darum ist besondere Vorsicht notwendig.

Die Kolonisten, die aus dem ursprünglichen Judenrayon stammen, werden zum ganz überwiegenden Teil auch nicht vertraut mit landwirtschaftlicher Beschäftigung sein. Sie müssen für die Viehhaltung, wie für den Ackerbau angelernt werden.

Es hat sich bereits herausgestellt, daß diese Ueberführung in einen neuen Beruf sich unschwer und zugleich mit größter Schnelligkeit ermöglichen läßt. Die Erfahrungen des „Joint“ sind die besten. In kürzester Zeit haben sich die Juden aus dem Rayon, die der „Joint“ in seinen Kolonien angesetzt hat, in den landwirtschaftlichen Beruf unter geeigneter Anleitung eingearbeitet, und das Ueberraschende hat sich ereignet, daß diese jüdischen Kolonien landwirtschaftlich sodann schnell auf eine höhere Stufe gelangten, als die landwirtschaftlichen Betriebe der älteren nichtjüdischen Kolonisten der Umgegend bis dahin gewesen sind. Es trat ferner die erfreuliche Rückwirkung ein, daß jüdischer Kolonialbetrieb anfeuernd und fördernd auf die bisherige russische bäuerliche Landwirtschaft einwirkte.

Wenn solche Möglichkeiten vorliegen, so bleibt nur noch die Frage der Finanzierung dieser Unternehmungen zu lösen. [34] Nur noch! Diese Worte bergen gewiß ein sehr ernstes Problem.

Die alte Welt ist gegenüber dem Zustand vor dem Weltkrieg verarmt, fast ganz Europa zum mindesten, und nur die Vereinigten Staaten von Amerika sind reich geblieben und weit reicher geworden, als sie vor dem Weltkriege gewesen sind. Diese Tatsache muß allen Entschließungen zugrunde gelegt werden. Freilich zunächst handelt es sich nicht um erhebliche Summen.

Eine Reise nach Moskau, die der oder die Unterhändler mit der Sowjet-Regierung zu unternehmen haben, fällt zunächst geldlich nicht ins Gewicht. Und haben die Moskauer Unterhandlungen das erwartete Ergebnis gehabt, so ist auch die Bereisung der Sowjet-Republiken, um die von der russischen Regierung vorgeschlagenen Gebiete für die ländliche Kolonisation zu prüfen, und um die Entwicklungsmöglichkeiten einer Reihe von Städten daraufhin zu untersuchen, ob die Ueberführung von Handwerkern und Arbeitern dorthin wirtschaftlich zu empfehlen ist, keine riesige Belastung. Die Leistung dieser Vorarbeit – selbst wenn an ihr eine Reihe kompetenter Personen beteiligt ist – erfordert keine unerschwinglichen Beträge.

Erst wenn die erforderlichen Unterlagen vorhanden sind, und die Uebersiedlung selbst in Angriff genommen wird, steigen stark die Beträge, die sich als notwendig erweisen.

Es sollte zu erreichen sein, daß auch die Sowjet-Republiken an der weiteren Aufbringung dieser Mittel sich beteiligen, entweder durch geldliche Beihilfen oder durch Gewährung von staatlichen Diensten ohne Entgelt. Die Ueberführung der in andere Gebiete zu Transportierenden kostenlos auf den Eisenbahnen; geldliche Beihilfe für die Anschaffung von Maschinen und Baumaterialien; die Freistellung der Uebersiedler [35] von öffentlichen Lasten, wenigstens für eine Reihe von Jahren, wären Forderungen, die vom Standpunkt der russischen Allgemeininteressen aus durchaus zu vertreten sind. Wenn zunächst Hunderte, und dann Tausende und schließlich Millionen in Rußland in eine Lage gebracht werden, um das volkswirtschaftliche Niveau des Sowjet-Staates wesentlich zu heben, so liegt in dieser Tatsache für Rußland ein so großer Vorteil, daß eine Regierung, um dieses Ziel zu erreichen, auch vor Opfern in bestimmten Grenzen nicht zurückzuschrecken braucht. Eine Lösung der Ostjudenfrage ist zugleich ein russisches Interesse. Diese Frage ist nicht nur eine humanitäre Frage, sondern zugleich eine russisch-politische Frage, der die Sowjet-Regierung ihr staatliches Interesse weiter zuwenden sollte und, wie es scheint, auch zuzuwenden, nicht abgeneigt ist.

Immerhin kann darüber kein Zweifel bestehen, daß eine solche Umsiedlung sehr erhebliche Kosten erfordern wird, die von den Juden der zivilisierten Welt aufgebracht werden müssen. Diese großen Beträge wären freilich nicht eines schönen Tages bereit zu halten; sie wären nur allmählich zur Verfügung zu stellen, denn aus vorsichtiger Klugheit, wie ausgeführt, sollen nicht sogleich Massenverpflanzungen vorgenommen werden, sondern den ersten kleinen Trupps von Pionieren werden erst allmählich, je nach dem Erfolge der Kolonisationstätigkeit, weitere größere Gruppen folgen.

Es ist noch eines in Rechnung zu stellen. Entwickeln sich die Kolonien günstig, und fassen andererseits die Handwerker und Handeltreibenden in den Städten Fuß, so wird das eintreten, was in großem Umfange die Auswanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika bewirkt hat. Die Vorausgezogenen, die in der neuen Umgebung sich eingewurzelt haben, [36] werden auf eigene Kosten Verwandte und auch Freunde, die ihnen alsdann auch Arbeitsgehilfen sein können, nachkommen lassen. Auch die Binnenwanderung wird aus eigener Kraft weitere Binnenwanderer hinter sich herziehen.

Trotz allem ist nicht zu verkennen, ohne sehr große Geldmittel, die nach Lage der heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse im wesentlichen nur aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommen können, ist die Umsiedlung der Ostjuden in großem Umfange nicht durchzuführen. Im anderen Falle bleibt diese Aufgabe im wesentlichen ungelöst; sie kann eine individuelle Wohltat sein für Einzelne, für Familien, für Hunderte allmählich; eine Lösung oder auch nur eine wesentliche Beeinflussung der Ostjudenfrage, dieses Problems, das Millionen betrifft, ist allein unter den angedeuteten Voraussetzungen zu erreichen.

Ist es möglich, diese erheblichen Beträge in gegebener Zeit, also allmählich, aufzubringen? Bei entsprechender Opferwilligkeit der amerikanischen Juden, die sich in so hohem Grade bewährt haben, und der Juden der ganzen Welt, sollte das vorgesteckte Ziel zu erreichen sein, wenigstens im Laufe von Jahren; und es muß immer wieder hervorgehoben werden, daß Riesenbeträge für den Anfang durchaus nicht erforderlich sind.

Und jedenfalls sollten die Vorarbeiten geleistet werden: das sind

1. die Verhandlungen und die Festsetzungen mit der Sowjet-Regierung in Moskau;
und sind sie zu einem günstigen Abschluß gelangt,

2. die Bereisung Rußlands von einer geeigneten, zweckmäßig zusammengesetzten Kommission, die alsdann die konkreten Vorschläge zu machen [37] hätte, auf Grund deren erst die Umsiedlung tatsächlich in Angriff genommen werden kann.

Das Ziel ist ein großes; die Schwierigkeiten sind gewiß keine geringen; aber die Schwierigkeiten lassen sich überwinden, und nach menschlicher Voraussicht ist das Ziel durchaus erreichbar.

Millionen von Juden im Sowjetstaat aus ihrer furchtbaren heutigen Lage zu befreien, und damit auch den Millionen von Juden in Polen freiere Lebensmöglichkeiten rückwirkend in Aussicht zu stellen – das ist eit Ziel, für das sich einzusetzen, wohl lohnt.

Dem Einzelnen kann es nicht beschieden sein, die Rettung zu bringen; aber wenn die Ueberzeugung allmählich ein Gemeingut aller Juden wird, daß Hilfe geschaffen werden muß, wenn die deutschen Juden hierfür zunächst arbeiten, so werden die Juden anderer Länder nicht zurückstehen, und es wird schließlich eine Bewegung einsetzen von einer Kraft, von einer unwiderstehlichen Kraft, die auch die Nüchternsten und Gleichgiltigsten mit fortreißt zu einer Tat großartiger jüdischer Solidarität auf humanitärem Gebiet. Es sollte sich lohnen, Millionen von Menschen, Millionen von Juden vor der Verkümmerung und dem Untergang zu retten unter Beihilfe der Sowjet-Regierung.

Wenn der Wille, zunächst der deutschen Juden, hierzu vorhanden ist, wie kann er in die Tat umgesetzt werden?

Der Wille selbst Vieler ist nur wirkungsvoll, wenn es ein organisierter Wille ist, wenn die vielen, die zustimmen, sich eine Organisation geben, die alsdann Wünsche, Absichten in die Tat umzusetzen vermag. Wenn hunderttausende deutscher Juden sich für die Lösung dieser Aufgabe einzusetzen bereit sind, so wird ihr Beispiel auf die anderen europäischen Länder vorbildlich einwirken, und es wird eine Cooperation [38] mit den vorangegangenen Amerikanern zustande kommen; es werden die stärkeren amerikanischen Kräfte angefeuert werden, nicht zu erlahmen; sie werden getragen sein von der Zustimmung der gesamten jüdischen Welt. Einem jüdischen und menschlichem Weltunglück gegenüber wird die jüdische Solidarität auf humanitärem Gebiet sich erneut bewähren.

Und eine Aufgabe können auch schon die deutschen Juden für sich allein lösen; sie können jene Kosten tragen, die erforderlich sind, um die Vorexpedition nach Moskau und gegebenenfalls in das russische Land hinein aufzubringen.

Wollen wir deutsche Juden das tun? Wollen wir einer Bewegung den ersten starken Anstoß geben, um den Weg zu ebnen, der Millionen von Ostjuden in eine bessere Zukunft führen kann, und auf dem die Amerikaner vorangegangen sind?

Wer an diesen meinen Ausführungen ein genügendes Interesse nimmt, der sende seine Adresse an den Philo Verlag, Berlin SW., Lindenstraße 13, und wenn auch nur hunderttausend deutsche Juden dies tun, und jeder auch nur eine einzige Mark beizusteuern bereit ist und einsendet, so sind die Kosten für alle Vorarbeiten gedeckt, und was weit wichtiger ist, es ist dann durch eine greifbare Handlung allen einleitenden Schritten in Moskau jener ernste Rückhalt gesichert, der notwendig ist, um einem Unternehmen von der Größe des vorliegenden das gebotene starke Gewicht zu verleihen.

Sollen die entwickelten Gedanken weiter verfolgt werden?

Bei Euch, deutsche Juden, steht zunächst die Antwort! Erteilt sie schnell; erteilt sie sogleich!

     Berlin, 4. August 1926.

Paul Nathan.

Fußnoten

  1. Vergleiche die sehr interessante Zusammenstellung über die "jüdische Agrakolonisation" von Mark Wischnitzer in der Zeitschrift "Osteuropa", Juli 1926.
  2. Vergleiche die wertvollen Ausführungen von Jakob Lestschinsky "Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Ostjuden nach dem Kriege" in "Weltwirtschaftliches Archiv" Band 24, Juli 1926, Heft I, Jena. Gustav Fischer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe dazu auch: Rosenberg, Leo: Das Ostjudenproblem und Palästina, Berlin 1919.
  2. Zionismus