Die Chemie (1914)
Die Naturwissenschaften sind im besten Sinne des Wortes international, wie denn auch ihre Errungenschaften dem ganzen Menschengeschlechte zugute kommen. Allein für die Entwicklung der Naturwissenschaften sind die Bedingungen bei den Kulturvölkern verschiedenartig und verschieden günstig zu verschiedenen Zeiten gewesen. Insofern ist eine Untersuchung berechtigt, die die Hauptfortschritte der Chemie in Deutschland während der letzten fünfundzwanzig Jahre zu schildern unternimmt. Freilich wird man das nicht dürfen, ohne in anderen Ländern erzielte Entdeckungen zu erwähnen, weil sonst jeder Vergleich der deutschen mit den ausländischen Leistungen verloren ginge, und diese Leistungen sich doch vielfach wechselseitig beeinflußt haben. Denn es liegt keineswegs so, daß die deutsche Chemie in allen Forschungsrichtungen die erste Stelle behauptet. Die Ideen, die zu den wichtigsten Entdeckungen führten, keimen meist da, wo ihnen die günstigsten Lebensbedingungen beschieden sind. Diese Bedingungen waren Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts unzweifelhaft in England und Frankreich günstiger als in unserem Vaterlande. Es bedurfte zäher erzieherischer Arbeit, bis sich in Deutschland die Bedingungen für die Entwicklung der Chemie so vorteilhaft gestalteten, daß unsere Nation im Verlauf der letzten 25 Jahre in der Fülle der Auffindung neuer chemischer Tatsachen alle anderen Nationen zu übertreffen vermochte. Die Ursachen dieser Erfolge liegen vor allem in der Organisation des deutschen chemischen Hochschulunterrichtes. Seit Justus Liebig gegen die Mitte vorigen Jahrhunderts in Gießen das erste chemische Unterrichtslaboratorium eingerichtet und mit beispiellosem Lehrerfolg dann Chemiker aller Kulturvölker ausgebildet hatte, waren die deutschen Regierungen einsichtig genug, auf ihren Hochschulen immer vollkommener eingerichtete chemische Institute zu schaffen. Von dort aus nahmen die wissenschaftlichen Forschungsmethoden ihren Einzug in die deutschen chemischen Fabriken, die ihre glänzenden Erfolge der Durchdringung der chemischen Technik mit wissenschaftlicher Forschung verdanken. Leider entziehen sich viele in den Fabriken gewonnene Forschungsergebnisse der Veröffentlichung. Das Ausland aber zog aus unserem chemischen Hochschulunterricht in zweifacher Hinsicht Nutzen. Deutsche Chemiker fanden im Ausland Stellung, dort Wissenschaft und Technik fördernd. Eine Reihe ausländischer Chemiker erhielten auf unseren Hochschulen eine Ausbildung in Chemie, die ihre späteren Leistungen wesentlich beeinflußte. Trotz dieses unlösbaren Zusammenhangs zwischen den chemischen
[1295] Forschungen aller Kulturländer sollen der Absicht des Buches entsprechend im folgenden naturgemäß die in Deutschland erzielten Fortschritte in erster Linie berücksichtigt werden.
Nach diesen einleitenden Betrachtungen gehen wir zur Behandlung der Entwicklung der theoretischen Chemie, der Fortschritte der anorganischen und der organischen Chemie über.
Entwicklung der Valenztheorie.
Die Grundlage für unsere Ansichten über den Bau der Moleküle chemischer Verbindungen ist August Kekulés Valenztheorie. Kekulés Valenztheorie war aus der Typentheorie von Charles Gerhardt abgeleitet: Valenz ist die „Idee der Typen“. Für Kekulé ist die Basizität oder Atomigkeit – den Ausdruck Valenz führte für diesen Begriff erst später Kekulés Schüler Wichelhaus ein – eine Grundeigenschaft der Atome, ebenso unveränderlich wie das Atomgewicht selbst. Von Anfang an lag das Schwergewicht der Kekuléschen Valenztheorie auf dem Gebiete der organischen Chemie. Die Annahme der Verkettung der konstant vierwertigen Kohlenstoffatome untereinander und mit den Atomen anderer Elemente machte nicht nur die gewaltige, stets wachsende Zahl der Kohlenstoffverbindungen begreiflich, sondern sie bildete die Grundlage ebenso für das Verständnis der genetischen Umwandlungsreaktionen, wie sie den zielbewußten Aufbau der Kohlenstoffverbindungen ermöglichte. Freilich hatte schon vor Kekulé der Engländer Edward Frankland auf die Gesetzmäßigkeit aufmerksam gemacht, daß namentlich Stickstoff, Phosphor, Antimon und Arsen die Tendenz zeigen, Verbindungen zu bilden, in denen drei oder fünf Äquivalente anderer Elemente enthalten sind, allein ohne eine Hypothese hinsichtlich dieser Übereinstimmung in der Gruppierung der Atome aufstellen zu wollen. Diese von Frankland für die Äquivalente hervorgehobene Gesetzmäßigkeit übertrugen Archibald Scott Couper, Alexander Williamson, Joseph Loschmidt, Naquet, Emil Erlenmeyer sen., Butlerow, Blomstrand u.a.m. auf die Atome, und so trat Kekulés Hypothese der konstanten Valenz die der wechselnden gegenüber. Kekulé hielt jedoch an der Konstanz der Valenz fest und erklärte die Verbindungen, die unter Annahme der konstanten Minimalvalenz überhaupt nicht zu formulieren waren, als Molekularadditionen.
Den nächsten Fortschritt brachte 1874 die Theorie von van’t Hoff und von Le Bel vom asymmetrischen Kohlenstoffatom, – auf das als Erklärungsmöglichkeit der Isomerie optisch aktiver Kohlenstoffverbindungen schon Pasteur hingewiesen hatte, – und damit die Annahme der im Raum nach den Ecken eines Tetraeders gerichteten Valenzwirkungen des Kohlenstoffatomes, eine Annahme, von der A. v. Baeyers 1885 aufgestellte „Spannungstheorie“ ausgeht.
Die Weiterentwicklung der Valenztheorie erfolgte in neuerer Zeit hauptsächlich in zwei Richtungen. Man hatte anfangs daran festgehalten, daß die Wertigkeit oder Valenz eines Elementes entweder in geraden oder in ungeraden Werten wechseln könne. Allmählich gab man diese Beschränkung auf und nahm an, daß ein- und dasselbe Element wie z. B. Eisen sowohl zwei- und dreiwertig, Mangan zwei, drei- und vierwertig, Kohlenstoff zwei-, drei- und vierwertig wirken könne. Trotzdem boten noch eine große Anzahl Komplexsäuren und ihre Salze, die man als Anlagerungsprodukte fertiger Moleküle [1296] auffaßte, Schwierigkeiten in der Formulierung. Alfred Werners Koordinationstheorie leitet diese Verbindungen aus der Nebenvalenz polyvalenter Kernatome ab. Im Abschluß an diese Theorie sollen die neueren Anschauungen über die Beziehungen zwischen Affinitäts- und Elektrizitätswirkung kurz behandelt werden. In der zweiten Richtung handelt es sich um die Valenzverteilung innerhalb der Moleküle von Kohlenstoffverbindungen, Betrachtungen, die sich zweckmäßig an die Erörterung der Fortschritte der organischen Chemie anschließen.
Werner nimmt also an, daß Verbindungen, die die Strukturchemie als gesättigt betrachtet − Verbindungen erster Ordnung − noch über Affinität verfügen zur Bindung anderer Moleküle erster Ordnung, wie dies Kekulé schon 1864 zur Deutung der Entstehung der von ihm als „molekulare Verbindungen“ bezeichneten Substanzen ausgesprochen hatte. Die entstehenden Additionsprodukte nennt Werner Verbindungen zweiter Ordnung. Er unterscheidet, um die Bildung der Verbindungen zweiter Ordnung verständlich zu machen, zwischen Haupt- und Nebenvalenzen. Die Hauptvalenzen entsprechen unseren gewöhnlichen Valenzen, die Nebenvalenzen entsprechen den Restvalenzen, die die Bildung von Verbindungen zweiter Ordnung verursachen, sie sind für jedes Element in einer bestimmten Anzahl vorhanden. Als Koordinationszahl bezeichnet er die Zahl der Atome, Atomgruppen und Moleküle, mit denen sich das Kernatom im Maximum unter Sättigung der Haupt- und Nebenvalenzen verbinden kann − die Summe der Haupt- und Nebenvalenzen − sie beträgt für die meisten Elemente 6. Den Raum, den die mit dem Zentralatom verbundenen Atome einnehmen, nennt Werner die erste Sphäre des Zentralatoms. Bei den Elementen mit der Koordinationszahl 6 kann man sich die angelagerten Atome, Radikale oder Moleküle räumlich so angeordnet denken, daß sie die Ecken eines Oktaeders bilden. Dadurch werden die auftretenden Isomerien verständlich. Die in der ersten Sphäre gelegenen Atome, Radikale können andere Atome binden, die sich dann in bezug auf das Zentralatom in einer zweiten Sphäre befinden. Das die erste Sphäre einnehmende komplexe Radikal, Ion, bekundet demnach eine Valenz, die nach seiner Natur ihren Wert wechselt, und das in manchen Fällen für sich existenzfähig ist. Diese Vorstellungsweise eröffnete das Verständnis für den Bau der Kieselfluorwasserstoffsäure, der Platinchlorwasserstoffsäure, der Ferro- und Ferricyanwasserstoffsäure, der Kobalt- und Platinammoniakverbindungen und vieler anderer komplexer Verbindungen. Sie beeinflußte auch die Auffassung der Ammoniumverbindungen, die dann der Borfluorwasserstoffsäure entsprechen, indem Stickstoff und Bor je drei Hauptvalenzen und eine Nebenvalenz, also die Koordinationszahl 4 besitzen.
Zu diesen rein chemischen Betrachtungen kommen die physikalisch-chemischen, die die Beziehungen zwischen Affinitäts- und Elektrizitätswirkung zum Gegenstand haben; sie gehören in das Gebiet der physikalischen Chemie. Hier sei nur auf einige Begriffsbestimmungen hingewiesen. Walter Nernst faßt die Ionen als Verbindungen der Atome mit Elektronen auf. Abegg und Bodländer bezeichnen mit Elektroaffinität die Affinität des Atoms zum Elektron. Die Valenz für Ionenladung nennt Abegg Elektrovalenz und sucht alle Affinitätsäußerungen auf die Wirkung entgegengesetzter Elektrovalenzen zurückzuführen. Er nimmt an, daß jedes Element sowohl eine positive wie eine [1297] negative Maximalvalenz besitzt, die sich beide bei allen Elementen zur Zahl 8 summieren. Er unterscheidet Normalvalenzen und Kontravalenzen, von denen die letzteren selten völlig abgesättigt sind. Stark nimmt Valenzelektronen an, die sich nahe an der Oberfläche des elektropositiven Atoms befinden und die Vereinigung der Atome bedingen. Tiefer in den Bau der Atome suchen die Physiker einzudringen auf Grund der Gesetzmäßigkeiten in den Spektren der Elemente und der Zerfallserscheinungen der radioaktiven Substanzen.
Entwicklung der anorganischen Chemie.
Während sich nach Aufstellung der Valenztheorie durch Kekulé 1858 und noch mehr nach seiner Theorie der aromatischen Substanzen 1865 die Mehrzahl der Chemiker der Fülle lockender Aufgaben und Streitfragen in der organischen Chemie zuwendete, die diese Theorien stellten, wurde die anorganische Chemie damals vernachlässigt. Dieser Zustand änderte sich jedoch im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. In dieser Zeit entwickelte sich hauptsächlich aus der Untersuchung physikalischer Eigenschaften anorganischer Substanzen die physikalische Chemie. Das periodische System der Elemente von Newlands, Lothar Meyer und Mendelejeff brachte die chemischen Urstoffe in eine Art gesetzmäßiger Beziehung zueinander. Die Ausfüllung von Lücken im periodischen Systeme durch das 1875 von Lecoq de Boisbaudran entdeckte Gallium, das 1879 von Nilson entdeckte Skandium und das 1886 von Clemens Winkler in Freiberg im Argyrodit entdeckte Germanium bestätigten Mendelejeffs Voraussagen über die Eigenschaften der von ihm vor ihrer Entdeckung Ekabor, Ekaaluminium und Ekasilizium genannten Elemente in glänzender Weise. So wuchs das Interesse an Forschungen auf dem Gebiet der anorganischen Chemie. Die Verwendung elektrischer Ströme zur Elektrolyse wässeriger Lösungen und die Schmelzelektrolyse brachten neue Entdeckungen. Im elektrischen Ofen erhielt die Chemie einen Apparat, in dem sich neue Reaktionen bei außerordentlich hohen Temperaturen hervorrufen ließen. Im Gegensatz dazu gestattete die Erfindung von Kältemaschinen die Erzeugung so niedriger Temperaturen, daß man schließlich alle gasförmigen Elemente in den flüssigen und die meisten auch in den festen Aggregatzustand überführen konnte. Diese Erfindungen und Entdeckungen gingen keineswegs ausschließlich aus den chemischen Instituten der Hochschulen hervor, sondern auch die Laboratorien technischer Betriebe sind an ihnen beteiligt. Stets wiederholt sich der Vorgang, daß, sowie früher schwer zugängliche Substanzen technische Verwendung finden, sie durch die chemische Industrie auch der wissenschaftlichen Forschung leichter zugänglich werden. Überall machen sich eben in dem unermeßlichen Gebiete der Chemie die innigen Beziehungen geltend zwischen Wissenschaft und Technik, einander fördernd und befruchtend.
Die Edelgase.
Selten hat eine chemische Entdeckung mehr Aufsehen erregt als die Auffindung eines neuen Elementes, des Argons, in der atmosphärischen Luft 1894 durch Lord Rayleigh und William Ramsay in London. Den Anstoß zu dieser Entdeckung gab die Beobachtung von Lord Rayleigh, daß das spezifische Gewicht des Luftstickstoffs in der dritten Dezimale höher ist als das des aus [1298] Ammoniak abgeschiedenen Stickstoffs. Rayleigh vereinigte sich mit Ramsay, und es gelang ersterem durch Ausfunken der Luft nach dem Vorgang von Cavendish schließlich ein unveränderliches Gas als Rückstand zu behalten, während Ramsay den Stickstoff mittelst Lithium oder Magnesium wegnahm. Dem neuen Element gaben Rayleigh und Ramsay seiner chemischen Indifferenz wegen den Namen Argon. Sie erkannten in dem Argon ein einatomiges Gas, dem das Atomgewicht 39 zukommt, sein Spektrum bewies die Eigenart, die Beziehung zwischen den beiden spezifischen Wärmen seine Einatomigkeit. Ramsay schien es wahrscheinlich, daß das Argon ein Glied einer ganzen Gruppe in ihren Eigenschaften miteinander verwandter Elemente sei. Er wurde aufmerksam auf die Beobachtung F. W. Hillebrands vom geologischen Institut zu Washington, daß uranhaltige Mineralien, besonders Cleveit, beim Auflösen in starken Mineralsäuren ein Gas abgeben, das Hillebrand für Stickstoff gehalten hatte. Ramsay wiederholte den Versuch und fand 1895, daß die gelbe Linie des Spektrums des Gases identisch war mit der des Elementes, das 1868 der französische Astronom Janssen in der Chromosphäre der Sonne entdeckt hatte und für das Frankland und Norman Lockier den Namen Helium vorgeschlagen hatten. Heinrich Kayser stellte spektralanalytisch die Anwesenheit von Helium sowohl in den Gasen der Quelle von Wildbad, als in der atmosphärischen Luft fest. Ramsay und Norman Collie bestimmten das Atomgewicht des Helium zu 4 und erkannten in ihm ein ebenfalls einatomiges und wie das Argon völlig indifferentes Gas. Ramsay und Travers entdeckten dann in dem von Stickstoff befreiten Argon der Luft noch vier andere sogenannte Edelgase: Helium, Neon, Krypton und Xenon mit den Atomgewichten 4, 20, 82, 128, bei deren Trennung die Abkühlung durch flüssige Luft und flüssigen Wasserstoff die besten Dienste leistete. Helium und ein sechstes Edelgas Niton stehen in einer höchst merkwürdigen genetischen Beziehung zu dem am besten untersuchten der sogenannten radioaktiven Elemente, dem Radium selbst. Mit dem Helium beginnend ist nunmehr in ihm, dem Neon, Argon, Krypton, Xenon und Niton eine Reihe chemisch indifferenter, einatomiger miteinander verwandter Elemente bekannt geworden, die nullwertig sind.
Die radioaktiven Elemente.
Den Anstoß zur Entdeckung der radioaktiven Elemente gab die Auffindung der X-Strahlen durch Wilhelm Röntgen 1895. Bei der Untersuchung der fluoreszierenden Uransalze auf etwa vorhandene unsichtbare Strahlen fand Henri Becquerel in Paris 1896, daß sie eine Strahlenart aussenden, die er Uranstrahlen nannte, die durch lichtundurchlässiges Papier, selbst durch dünne Metallplättchen auf die photographische Platte einwirken, Baryumplatinzyanür zum Phosphoreszieren bringen und Luft elektrisch leitend machen, d. h. ionisieren, worauf eine Methode zur Messung der Intensität der Strahlen gegründet werden konnte. Frau Sklodowska Curie in Paris fand 1898, daß neben Uran – auch die Thorverbindungen diese Eigenschaft besitzen, für die sie den Ausdruck „Radioaktivität“ einführte. Unabhängig davon entdeckte G. C. Schmidt in Erlangen gleichzeitig die Radioaktivität des Thors. Die beiden radioaktiven Elemente Uranium und Thorium haben die höchsten Atomgewichte, Uran 238,5 und Thorium 232,4. Aus großen Mengen der besonders stark radioaktiven Pechblende aus dem Bergwerk [1299] Joachimsthal in Böhmen arbeitete das Ehepaar Curie ein radioaktives Element heraus, dem sie den Namen Polonium gaben und das in seinen chemischen Eigenschaften dem Wismuth nahesteht. Dieser Entdeckung folgte die des dem Baryum verwandten Radiums aus Pechblende, bei dem das Ehepaar Curie von Bémont unterstützt wurde. 1899 fanden Debierne in Paris und unabhängig von ihm Giesel in Braunschweig neben dem Polonium das dem Lanthan nahestehende Aktinium. 1905 stellte Otto Hahn aus Thoriummineralien das Mesothorium und das Radiothorium dar.
Am besten von allen radioaktiven Substanzen ist das Radium untersucht, für seine elementare Natur spricht die Ähnlichkeit seiner Halogenverbindungen und seines Sulfates mit den entsprechenden Baryumverbindungen, wie die Unveränderlichkeit seines Spektrums. Sein Atomgewicht bestimmte Frau Curie zu 226,4. Durch Elektrolyse seiner Chloridlösung von Frau Curie und Debierne 1910 als Amalgam gewonnen, bleibt das Radium nach Abdestillieren des Quecksilbers als weißglänzendes, bei 700° schmelzendes radioaktives Metall zurück. Es sendet drei Arten von Strahlen aus, als α-, β-, γ- Strahlen unterschieden durch die Ablenkung, die sie im elektrischen oder magnetischen Felde erleiden. In diesen Strahlungen hat man eine freiwillige Zersetzung der Atome der radioaktiven Elemente zu sehen. Die α-Strahlen sind positiv geladene Heliumatome, eines der Zerfallprodukte des Radiums und der Radiumemanation. Die Engländer Rutherford und Soddy sprachen zuerst die Meinung aus, daß die α-Strahlen aus Heliumatomen bestehen könnten. Ramsay und Soddy fanden 1903, daß aus Radium in der Tat Helium entsteht. Die Radiumemanation verdichtete Rutherford 1909 mit flüssiger Luft, er sowie Whytlaw Gray und Ramsay erkannten in ihr ein zu den Edelgasen gehörendes Element vom Atomgewicht 222,5. Die flüssige Emanation unter dem Mikroskop betrachtet ist farblos durchsichtig. Die feste Emanation glüht wie eine winzige Glühlampe in hellem Glänze in stahlblauer Farbe, die bei tieferer Temperatur in ein leuchtendes Orangerot übergeht. Ramsay und Gray haben daher für das neue Element den Namen Niton vorgeschlagen. Beim weiteren Zerfall liefert das Niton α-Strahlen, positiv geladene Heliumatome, und Radium A, das sich dann weiter umwandelt. Zu den Umwandlungsprodukten des aus dem Uran entstehenden Radiums gehört auch das Polonium, und man vermutet, daß das schließlich daraus entstehende radioinaktive Element das Blei ist, eine Vermutung, die durch das Vorkommen von Blei in allen Uranmineralien gestützt wird.
Nach Rutherfords Theorie der Radioaktivität, der Desaggregationstheorie, verwandelt sich der radioaktive Urstoff stufenweise in andere, weniger beständige, bis schließlich ein radioinaktiver Stoff entsteht, dessen Natur allerdings bis jetzt in keinem Falle sicher erkannt ist. Diese Umwandlungen sind von einer Entfaltung von Wärme- und Strahlungsenergie begleitet, die unvergleichlich viel größer ist als bei irgendeinem anderen exoenergetischen Vorgang. Die Stoffmengen aber, die dabei in Betracht kommen, sind so gering, daß sie weder chemisch noch physikalisch aufzufinden gewesen wären, wenn nicht die Energie der Strahlung den Nachweis ermöglicht hätte.
Bis jetzt sind drei Familien radioaktiver Substanzen bekannt, die sich an Uran und Thorium anschließen und über 30 Glieder zählen, und die man alle als chemische, teilweise [1300] sehr kurzlebige Elemente anzusehen hat. Auf der ganzen Erdoberfläche verbreitet, rührt von ihnen der Heliumgehalt der Luft und mancher Mineralquellgase her, wie denn auch der Nachweis von Helium in der Atmosphäre der Sonne auf den Radiumgehalt dieses Gestirns schlichen läßt. In dem Spektrum einiger Sterne hat man ebenfalls Radium nachgewiesen. Radiumstrahlen üben die mächtigsten chemischen Wirkungen aus, sie zerlegen Wasser, wobei auch Wasserstoffsuperoxyd gebildet wird, sie ozonisieren Sauerstoff, sie färben Glas und Porzellan blau oder braun usw. Ihre zerstörende Wirkung auf lebende Gewebe benutzt neuerdings die Heilkunde zur Bekämpfung krebsartiger Geschwüre. Die Heilwirkung vieler Mineral- und Thermalquellen wird mit auf ihren Gehalt an radioaktiven Substanzen zurückgeführt.
Durch die Auffindung der Edelgase wurde die Chemie mit chemischen Elementen beschenkt, die sich anscheinend mit anderen Elementen nicht zu verbinden vermögen und daher für die Reaktionschemie noch ohne Bedeutung sind. Das gleiche gilt vorläufig von den radioaktiven Elementen, von denen zurzeit nur einige anorganische Radiumsalze bekannt sind.
Verflüssigung der elementaren Gase.
Schon bei der Besprechung der Entdeckung und der Trennung der Edelgase war von der flüssigen Luft und dem flüssigen Wasserstoff die Rede. Nach den Arbeiten von Raoul Pictet in Genf und Cailletet in Paris beschäftigten sich James Dewar in London, Wroblewski und Olszewski in Krakau mit der Gasverflüssigung. Olszewski gelang es 1883 zuerst, den Wasserstoff deutlich zu verflüssigen. Zur Herstellung größerer Mengen flüssiger Luft brauchbare, so genannte Gegenstromapparate erfanden 1895 Linde in München und Hampson in London. Morris Travers, damals Assistent von Ramsay, baute 1900 nach dem Vorbild des Hampsonschen Luftverflüssigers einen brauchbaren Wasserstoffverflüssiger. Beim fraktionierten Verdunsten größerer Mengen flüssiger Luft konnten Ramsay und Travers neben Argon Neon, Krypton und Xenon auffinden. Die Trennung von Helium und Neon gelang durch Abkühlung mit flüssigem Wasserstoff. Denn bei –252,5° wird Neon fest. Die größten Schwierigkeiten bot die Verflüssigung von Helium, die erst Kamerlingh Onnes in Leiden 1910 überwand. Es siedet unter Atmosphärendruck bei –269°. Durch Verdampfung von flüssigem Helium bei 0,15 mm Quecksilberdruck wurde die Temperatur auf –271,85° oder +1,15° absoluter Temperatur erniedrigt und so die tiefste, bis jetzt erreichte Temperatur hervorgebracht. Mit Hilfe flüssiger Luft und flüssigen Wasserstoffs lassen sich die Gase Fluor, Kohlenoxyd, Stickoxyd, Methan usw. unschwer in den flüssigen und festen Aggregatzustand überführen. Durch fraktionierte Verdunstung verflüssigter Luft kann man Sauerstoff und Stickstoff voneinander getrennt im Großen zu technischer Verwendung gewinnen.
Wasserstoff.
Am heftigsten von allen Elementen wirkt Wasserstoff auf das 1886 von Moissan isolierte Fluor ein. Wie Moissan 1903 gemeinsam mit Dewar zeigte, verbinden sich flüssiger Wasserstoff und festes Fluor unter Explosion zu Fluorwasserstoff. Von der Wirkung des Wasserstoffes auf Stickstoff und auf Metalle wird später die Rede sein.
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Sauerstoff.
Seit Aufstellung der Valenztheorie wurde dem Sauerstoff bis in die neueste Zeit stets eine konstante Wertigkeit zugeschrieben. Die Engländer Collie und Tickle sprachen 1899 zuerst die Ansicht aus, daß in einer Reihe additioneller organischer sauerstoffhaltiger Verbindungen mit Säuren sich dieser eben so vierwertig verhalte wie der Stickstoff in den Ammoniumsalzen fünfwertig. Sie bezeichneten daher diese Substanzen als Oxoniumsalze. A. v. Baeyer und Villiger entwickelten die Oxoniumtheorie ausführlicher und suchten sie durch eine große Zahl neuer Beobachtungen fester zu begründen. Neben die alte ringförmige Formel des Ozons trat eine neue, in der ein vierwertiges mit zwei zweiwertigen Sauerstoffatomen in Bindung steht. Seit 1903 beschäftigt sich Harries mit der Einwirkung von Ozon auf ungesättigte Kohlenstoffverbindungen. Zur Darstellung eines 11–14% ozonhaltigen Sauerstoffs bedient er sich eines neuen sehr wirksamen Ozonisators der Firma Siemens und Halske.
Wasser, Wasserstoffsuperoxyd.
Tammann, der die Eisbildung bei niederen Temperaturen bis –180° und einem bis 4000 Atmosphären gesteigerten Druck untersuchte, fand zwei weitere Arten von Eis auf, die dichter als Wasser sind. Wolffenstein lehrte 1896 reines Wasserstoffsuperoxyd durch Destillation unter vermindertem Druck bereiten; es siedet unter 26 mm Quecksilberdruck bei +69° und wird bei –2° fest.
Schwefelwasserstoffe und andere Schwefelverbindungen.
Wir gehen zu den Verbindungen des Schwefels über. Aus dem rohen Hydropolysulfid gelang es 1908 Ignaz Bloch und Fritz Höhn durch fraktionierte Destillation unter vermindertem Druck Hydrodisulfid und Hydrotrisulfid rein zu gewinnen. Moissan und Lebeau entdeckten 1900 das bei gewöhnlicher Temperatur gasförmige, auffallend beständige Schwefelhexafluorid, das eine neue Stütze für die maximale Sechswertigkeit des Schwefels darstellt. Das 1898 eingerichtete Kontaktverfahren zur Gewinnung von Schwefelsäureanhydrid verdankt man einer Jahre lang fortgesetzten mustergültigen Experimentalarbeit von R. Knietsch, einem Chemiker der Badischen Anilin- und Sodafabrik, über die Bildungs- und Spaltungsgrenzen von Schwefeltrioxyd. Festes hydroschwefligsaures Natrium, das als Reduktionsmittel für Indigo und andere Küpenfarbstoffe, sowie als Ätzmittel für Azofarbstoffe große technische Bedeutung besitzt, lehrten August Bernthsen und Bazlen bereiten. Auf Grund seiner Untersuchungen faßt Binz die hydroschweflige Saure als gemischtes Anhydrid der schwefligen Säure und der hypothetischen Sulfoxylsäure auf. H. Caro entdeckte 1898 durch Einwirkung von Schwefelsäure auf überschwefelsaure Salze die Sulfomonopersäure. A. v. Baeyer und Villiger erhielten sie 1899 durch Oxydation von Schwefelsäure mit Wasserstoffsuperoxyd und erkannten in ihr ein eigenartig wirkendes Oxydationsmittel für manche Klassen organischer Substanzen. Schon 1896 hatte H. Klinger auf die Möglichkeit des Bestehens der Caroschen Säure hingewiesen. Das Sulfamid lehrte W. Traube 1893 kennen.
Stickstoffwasserstoffe.
Überraschende Entdeckungen förderten die Stickstoffchemie. Haber gelang die Synthese des Ammoniaks aus freiem Stickstoff und freiem Wasserstoff unter Vermittlung fein zerteilten Eisens bei [1302] 500° und 200 Atmosphären Druck, eine Entdeckung, die von großer technischer Bedeutung zu werden verspricht. 1889 erhielten Theodor Curtius und Jay das Hydrazin- oder Diamidhydrat als Zersetzungsprodukt des Diazoessigesters, später lehrten es Thiele aus Nitroguanidin, Duden aus Hexamethylentetramin, v. Pechmann und Mauck aus diazomethandisulfosaurem Kalium darstellen. Aus anorganischen Substanzen lieh sich Hydrazin ebenfalls gewinnen: durch Reduktion von Stickoxydkaliumsulfit, Nitramid und untersalpetriger Säure. Raschig fand 1907 eine technisch brauchbare Methode zur Hydrazinbereitung in der Einwirkung von Bleichkalk auf Ammoniak, wobei sich das zunächst entstehende Chloramin mit Ammoniak zu Hydrazin umsetzt. 1895 lehrte Lobry de Bruyn in Amsterdam das wasserfreie Hydrazin bereiten. Die Einführung des Hydrazins in die organische Chemie hauptsächlich durch Curtius und seine Schüler führte zur Entdeckung zahlreicher neuer Klassen von Hydrazinabkömmlingen. 1890 fand Curtius in dem Azoimid oder der Stickstoffwasserstoffsäure, dem Spaltungsprodukt von Benzoyl- und Hippuroylazoimid ein höchst merkwürdiges Analogon der Halogenwasserstoffsäuren. Später wurden Bildungsweisen des Azoimides aus anorganischen Substanzen bekannt. So zeigten Curtius 1893, daß Stickstoffwasserstoffsäure aus Hydrazin mit salpetriger Säure entsteht, W. Wislicenus, daß sich Natriumamid bei 150–200° mit Stickoxydul zu Natriumazid umsetzt, und der Russe Tanatar fand, daß Hydrazin und Chlorstickstoff aufeinander unter Bildung von Stickstoffwasserstoffsäure einwirken. Wie die Halogenwasserstoffsäuren gibt die Stickstoffwasserstoffsäure schwer lösliche Silber-, Blei- und Merkurosalze. Diese Salze sind wie die freie Säure sehr explosiv.
Stickstoffsauerstoffverbindungen.
Auch auf dem Gebiet der Stickstoffsauerstoffverbindungen sind zahlreiche neue Beobachtungen zu verzeichnen, von denen nur wenige hervorgehoben werden können. Das reine Hydroxylamin lehrte Lobry de Bruyn in Amsterdam 1891 kennen, es schmilzt bei +33° und siedet unter 22 mm Druck bei + 58°. Die Verfahren von Birkeland und Eyde, zwei norwegischen Forschern, und von Schönherr, Stickstoffoxyd aus Luft durch elektrische Flammen darzustellen, werden in der technischen Chemie besprochen. Das mit der Untersalpetersäure isomere Nitramid fanden 1894 Thiele und Lachmann bei der Behandlung von Nitrourethan mit Kalilauge.
Der elektrische Ofen.
Schon Ende 1891 gelangte W. Borchers zu der Überzeugung, daß sich durch Kohlenstoff bei genügend hoher Temperatur, wie sie elektrische Schmelz- und Reduktionsöfen hervorzubringen gestatten, alle Oxyde reduzieren lassen müssen. Einen sehr zweckmäßigen einfachen elektrischen Ofen führte Henri Moissan 1892 in die Wissenschaft ein. In der Hitze des elektrischen Flammenbogens schmelzen die feuerbeständigsten Oxyde, die meisten metallischen Elemente lassen sich verdampfen und mit Kohlenstoff zu Karbiden verbinden. Die Karbide sollen nach den Metallen behandelt werden und den Übergang zur organischen Chemie bilden.
Künstliche Diamanten.
Moissan gelang es auch, künstliche, allerdings sehr kleine, teils schwärzliche, teils farblose Diamanten darzustellen, indem er geschmolzenes, bei hoher Temperatur mit Kohlenstoff gesättigtes [1303] Eisen rasch abkühlte. Auch geschmolzener Olivin löst, wie Immanuel Friedländer 1898 zeigte, Kohlenstaub auf, der sich beim Erkalten in Form sehr kleiner Diamanten wieder abscheidet. R. v. Haslinger erhielt aus Kohle, die er in Schmelzen von der Zusammensetzung der den Diamant führenden Gesteine auflöste, beim Erkalten mikroskopisch kleine Diamanten.
Die metallischen Elemente.
Die Atomgewichte der Elemente sind im Verlauf der letzten 26 Jahre fast alle genauer bestimmt worden. Die Methoden zur Trennung der nahe miteinander verwandten Elemente hat man verbessert und einige neue Elemente entdeckt oder schon bekannte in reinerem Zustande dargestellt. 1904 trennten Urbain und Lacombe in Frankreich das Europium von Samarium. 1905 erwies Urbain das Terbium sicher als eigenartiges Element. 1908 zerlegten Urbain einer- und Auer von Welsbach andererseits das Ytterbium in Neo-Ytterbium oder Aldebaranium und Lutetium oder Cassiopeium. Durch Schmelzelektrolyse ihrer Chloride stellte Muthmann im Verein mit mehreren Schülern von 1901 an die seltenen Elemente Cer, Lanthan, Neodym, Praseodym und Samarium in so großen Mengen rein dar, daß ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften genauer untersucht werden konnten. Im elektrischen Ofen gelang es Moissan 1903, Chrom, Mangan, Molybdän, Wolfram, Uran, Vanadin, Zirkonium, Titan, Silizium und Aluminium aus ihren Oxyden mit Kohlenstoff zu reduzieren. Allerdings waren die Metalle meist mit einer mehr oder weniger großen Menge von Metallkarbid verunreinigt. Das Schmelzverfahren in elektrischen Ofen hat auch in der Technik Eingang gefunden. Die Reduktion von Oxyden mittelst Magnesium lehrten Gattermann 1889 und Clemens Winkler 1890 kennen. Unterwirft man Siliziumdioxyd und Bortrioxyd der Einwirkung von Magnesium, so verbinden sich Silizium und Bor mit Magnesium, wenn man es im Überschuß anwendet. Noch geeigneter zur Reduktion mancher Metalloxyde als Magnesium ist, wie Th. Goldschmidt 1895 zeigte, Aluminium. Man mischt die Oxyde mit der berechneten Menge Aluminium und leitet die Reaktion von der Oberfläche der Mischung durch eine Zündmasse ein. Auf diese Weise kann man Eisen, Mangan, Chrom und andere Metalle aus ihren Oxyden abscheiden. Die Reaktionstemperatur steigt auf 3000°, daher schmelzen nicht nur die reduzierten Metalle, sondern auch das daneben entstandene Aluminiumoxyd. Ein Gemisch von Aluminium und Eisenoxyd, „Thermit“ genannt, findet technische Verwendung. Für die Glühlampenindustrie ist es wichtig, daß Werner von Bolton im Laboratorium der Firma von Siemens und Halske das hochschmelzende Tantal im duktilen Zustand herstellen konnte. Am höchsten von allen bekannten Metallen schmilzt das Wolfram, bei 2965° nach Pirani und Meyer, bei 2800° nach K. v. Wartenberg, das das Tantal allmählich verdrängt, nachdem der Amerikaner Witney es neuerdings zu feinsten Drähten ausziehen lehrte.
Daß fein zerteilte Metalle als Katalysatoren zu wirken vermögen, wurde bereits weiter oben bei der Synthese von Ammoniak angeführt. Von vielen Metallen sind in den letzten 20 Jahren, in denen die Kolloidchemie, besonders in Deutschland, sich rasch entwickelte, kolloidale Lösungen hergestellt worden. Von der Reduktion organischer Verbindungen durch Wasserstoff bei gewöhnlicher Temperatur unter Vermittlung [1304] von kolloidalem Palladium, ebenso von der Übertragung von Wasserstoff auf ungesättigte Kohlenstoffverbindungen in Berührung mit fein zerteiltem Nickel wird später die Rede sein.
Metallegierungen.
Über Metallegierungen ist in rein wissenschaftlicher Richtung besonders von Tammann, ebenso auch von anderen Forschern in technischer Absicht außerordentlich viel gearbeitet worden. Sehr bemerkenswert sind die 1903 von Fritz Heusler aufgefundenen magnetischen Legierungen aus unmagnetischen Metallen, wie Mangan, Zinn, Kupfer, Aluminium, Arsen, Antimon, Wismuth und Bor.
Metalle und Wasserstoff.
Viel leichter, als man vermuten konnte, vereinigen sich besonders die Alkali- und Erdalkali-, sowie auch Erdmetalle mit Wasserstoff zu konstant zusammengesetzten Hydriden. Im Jahre 1902 zeigte dies Moissan für die Alkali- und Erdalkalimetalle, Gautier in Paris für die Erdalkalimetalle unter Verwendung ihrer Kadmiumlegierungen, Muthmann für Cer und Lanthan. Das wichtigste Hydrid ist das Kalziumdihydrid, das mit Wasser umgesetzt zur raschen Darstellung von Wasserstoff dienen kann.
Quarzglas, Uviolglas, Synthetische Rubinen und Saphire.
In der hohen Temperatur des elektrischen Ofens werden nicht nur die beständigsten Metalloxyde durch Kohlenstoff reduziert, sondern sie lassen sich auch schmelzen. Im Knallgasgebläse läßt sich Bergkristall schmelzen und zu durchsichtigen Apparaten verarbeiten, deren fast unglaubliche Unempfindlichkeit gegen schroffe Temperaturänderungen für die Ausführung vieler chemischer Versuche besonders wertvoll ist. Wegen ihrer Durchlässigkeit für ultraviolette Strahlen dienen solche Gefäße aus geschmolzenem Bergkristall zur Herstellung der Quarzquecksilberlampe der Firma Heraeus. Um die Herstellung von chemisch widerstandsfähigen Glassorten, sogenanntem Normalglas, machten sich auf Grund zahlreicher wissenschaftlicher Versuche die Firmen Schott und Zeiß verdient. Die Uviolquecksilberlampe von Schott ist aus dem für ultraviolette Strahlen durchlässigen Uviolglas angefertigt. In der Knallgasflamme wird nach dem 1902 von Verneuil in Paris erfundenen Verfahren der Rubin in höchster Vollkommenheit synthetisch dargestellt. Auf dieselbe Weise hat Hermann Wild synthetische Saphire gewonnen.
Metallnitride.
Außer den weiter oben erwähnten stickstoffwasserstoffsauren Metallsalzen oder Metallaziden, in denen drei untereinander verbundene Stickstoffatome auf eine Metallwertigkeit kommen, bildet der Stickstoff mit vielen Metallen sogenannte Nitride, bei denen jede der drei Stickstoffvalenzen, wie bei dem Borstickstoff, durch eine Metallvalenz befriedigt ist. Diese Nitride zersetzen sich im Gegensatz zu den gegen Wasser beständigen Metallaziden mehr oder weniger leicht mit Wasser unter Entwicklung von Ammoniak und Bildung von Metallhydroxyden. Maquenne in Frankreich stellte 1892 durch Erhitzen der Erdalkalimetallamalgame im Stickstoffstrom die Erdalkalinitride dar. Daß die leichte Entstehung der Nitride von Lithium und Magnesium zur Wegnahme des Luftstickstoffes bei der Bereitung der Edelgase verwendet wird, findet sich weiter oben bereits erwähnt. Die Nitride von Cer und [1305] Lanthan lehrte 1902 Muthmann kennen. Neuerdings scheint das Aluminiumnitrid für die Gewinnung von Ammoniak technische Bedeutung zu erlangen.
Metallkarbide.
Wie bei der Reduktion der Oxyde durch Kohlenstoff im elektrischen Ofen bereits mitgeteilt wurde, entstehen dabei leicht Metallkarbide. So entdeckte E. G. Acheson 1893 in Amerika, als er auf Edisons Anregung im elektrischen Ofen durch Auflösung von Kohlenstoff in geschmolzenem Aluminiumsilikat künstliche Diamanten herzustellen versuchte, das Siliziumkarbid oder Karborundum, das infolge seiner außerordentlichen Härte als Bohr- und Schleifmittel verwendet wird. Karborundum und die Karbide verwandter Elemente entstehen durch unmittelbare Vereinigung der Elemente mit Kohlenstoff im elektrischen Ofen, in dem Moissan eine größere Anzahl von ihnen darstellte: Borkarbid, Chromkarbid, Wolframkarbid, von Alkalikarbiden das Lithiumkarbid, von Erdalkalikarbiden das wichtige, von Wöhler 1862 entdeckte Kalziumkarbid, ferner Baryum- und Strontiumkarbid, von Erdmetallkarbiden das Cer-, Lanthan-, Yttrium-, Thorium- und das Aluminiumkarbid, das Mangankarbid und das Urankarbid.
Die Karbide mögen den Übergang zur Erörterung der Fortschritte der organischen Chemie bilden. Für den Aufbau anderer Kohlenstoffverbindungen sind allerdings nur die Karbide von Bedeutung, die sich leicht in die entsprechenden Wasserstoffverbindungen umwandeln lassen, also die mit Wasser Azetylen und Methan gebenden Karbide. Am wichtigsten ist das Kalziumkarbid, das technisch zur Darstellung des für die Beleuchtungsindustrie wichtigen Azetylens und durch Erhitzen im Stickstoffstrom zur Bereitung des als Düngemittel wertvollen Kalkstickstoffs, dem Kalziumsalz des Zyanamids, verwendet wird. Das Aluminiumkarbid gibt dagegen, mit Wasser zersetzt, glatt Methan.
Entwicklung der organischen Chemie.
Bei der Schilderung der Fortschritte der anorganischen Chemie haben wir nur wenige Forschungsrichtungen verfolgen können. Noch viel schwieriger ist die Auswahl in der organischen Chemie bei der überwältigenden Fülle neuer Entdeckungen. Hier wird das Gesamtbild noch mehr Lücken zeigen müssen.
Einer besonderen Aufmerksamkeit der Naturforscher erfreuten sich von jeher die medizinisch oder technisch wertvollen Pflanzen- und Tierstoffe. Seit der 1828 erreichten künstlichen Darstellung des Harnstoffs durch Wöhler steckte sich die organische Chemie das Ziel, auch die am verwickeltsten zusammengesetzten Tier- und Pflanzenstoffe aufzubauen. Dem Aufbau oder der Synthese ging der Abbau, die Analyse voraus, die auf Grund der Valenztheorie einen Einblick in die Konstitution, die Bindungsweise der die Moleküle zusammensetzenden Atome ermöglichte und so die theoretischen Voraussetzungen für die Synthese schuf. War durch die Synthese die Konstitution festgestellt, so handelte es sich darum, der betreffenden Tier- oder Pflanzensubstanz, sowie ihren Umwandlungsprodukten den richtigen Platz im System der Kohlenstoffverbindungen anzuweisen. Wenn sich auch die organische Chemie ursprünglich an der chemischen Untersuchung der Pflanzen-und Tierstoffe entwickeln mußte, so wuchs doch besonders nach Aufstellung der Valenztheorie und der Theorie der aromatischen Substanzen durch Aug. Kekulé die Zahl der [1306] künstlich dargestellten Kohlenstoffverbindungen ganz außerordentlich rasch. Die Arbeit der Chemiker in der organischen Chemie stellt in der Tat eine schöpferische Tätigkeit von überwältigender Größe dar. Denn die Zahl der künstlich dargestellten Kohlenstoffverbindungen, von denen wir mit Gewißheit behaupten können, daß sie nie als Produkt der Lebenstätigkeit der Pflanzen oder Tiere auftreten werden, also der wissenschaftlichen Arbeit der Chemiker ausschließlich ihr Dasein verdanken, übertrifft die Zahl der in der Natur vorkommenden bekannten Pflanzen- und Tierstoffe um das Vielhundertfache.
In den letzten 25 Jahren hat das System der Kohlenstoffverbindungen eine feste Gliederung angenommen, die auf der Bindungsweise der Kohlenstoffatome beruht. Man teilt sie demgemäß ein in drei große Gruppen: azyklische Substanzen oder Fettkörper, karbozyklische und heterozyklische Kohlenstoffverbindungen. Unterabteilungen bilden die gesättigten und ungesättigten Kohlenstoffverbindungen. Bei den azyklischen bilden die sauerstoffhaltigen Substanzen, die Alkohole und ihre Oxydationsprodukte, die Grundlage für die weitere Einteilung. Die Zahl der Klassen der gesättigten Alkohole und ihrer Oxydationsprodukte läßt sich nach R. Anschütz unter Anwendung der Summenformel für Kombinationen mit Wiederholung berechnen. An der Hand dieser Berechnungen kann man den Entwicklungsgrad dieser Gebiete bequem überblicken.
Nach diesen Vorbemerkungen behandeln wir zunächst Entdeckungen auf dem Gebiete der Pflanzen- und Tierstoffe, sowie ihrer Umwandlungsprodukte.
Steinöl.
Die Annahme, daß das Steinöl oder Petroleum tierischen Ursprungs ist, hat eine experimentelle Stütze durch C. Engler erhalten, der 1893 fand, daß beim Erhitzen von Fischtran unter Druck dem amerikanischen Petroleum ähnliche Produkte entstehen. Von verschiedenen Seiten ist überdies gezeigt worden, daß eine Reihe Steinölarten optisch aktiv sind.
Alkoholgärung.
Eduard Buchner fand 1897, daß der nach mechanischer Zerstörung der Hefezellen gewonnene Preßsaft Kohlenhydrate in Alkoholgärung zu setzen vermag. Ob in dem gärkräftigen Preßsaft als Ursache der Gärung ein Enzym, die Zymase, oder lebendes Protoplasma anzusehen ist, bleibt noch zu entscheiden. Felix Ehrlich fand 1905, daß die Bildung der Fuselöle auf Spaltung von Eiweißsubstanzen, die teils im rohen Zuckersaft vorkommen, teils aus der zugesetzten Hefe stammen, zurückzuführen ist.
Glyzerinsynthese.
Eine neue Synthese des Glyzerins lehrte 1897 Oskar Piloty kennen, dem es gelang, L. Henrys Nitrotertiärbutylglyzerin in Glyzerin überzuführen.
Blätteraldehyd.
Theodor Curtius und Hartwig Franzen bewiesen 1912, daß die von J. Reinke 1881 im Destillat grüner Blätter entdeckte aldehydartige Substanz αβ-Hexylenaldehyd ist, der wahrscheinlich ein wichtiges Zwischenprodukt für die Bildung der in Pflanzen vorkommenden Fettsäuren darstellt.
Kohlenhydratchemie.
Eine mächtige Förderung der Chemie der mehrsäurigen Alkohole und ihrer Oxydationsprodutte, zu denen Mannit, Sorbit, Traubenzucker und Fruchtzucker gehören, verdankt man in erster Linie den großzügigen Arbeiten von Emil Fischer, die mit der Einführung des Phenylhydrazins [1307] in die Chemie der Kohlenhydrate 1884 einsetzten. In seiner Hand wurde 1890 die optisch-inaktive Lävulose oder α-Akrose aus Akroleindibromid der Ausgangspunkt zur Synthese von Fruchtzucker und Traubenzucker, von denen er den letzteren in ersteren überführte. Von den Reaktionen, die dabei eine Rolle spielen, sei die 1885 von Kiliani gefundene Anlagerung der Blausäure an Aldosen und Ketosen erwähnt, ferner die von Emil Fischer gefundene Reduktion der Polyoxymonokarbonsäurelaktone zu Aldosen und die Umlagerung von Polyoxymonokarbonsäuren durch Erhitzen mit Chinolin zu Stereoisomeren, bei denen nur die Anordnung von Hydroxyl und Wasserstoff an dem mit Karboxyl verbundenen Kohlenstoff geändert ist. Es gelang E. Fischer weiter, aus den nach van’t Hoffs Theorie möglichen 16 stereochemischen Formeln der Aldohexosen die Formel für den Traubenzucker auszuwählen, für alle bekannten Aldopentosen, Aldohexosen und Ketohexosen die Raumformeln abzuleiten und die Zahl dieser Zucker durch eine Reihe damit genetisch zusammenhängender, synthetisch gewonnener Aldosen mit sechs, sieben, acht und neun Kohlenstoffatomen zu vermehren. 1893 lehrte A. Wohl, daß man das Oxim einer Aldohexose benutzen kann, um die Aldohexose zu der entsprechenden Aldopentose abzubauen. Otto Ruff verwertete 1898 zum Abbau der Aldosen die Oxydation der aus ihnen leicht entstehenden Oxymonokarbonsäuren mit Wasserstoffsuperoxyd bei Gegenwart von Ferrichlorid.
Eiweißchemie.
Das bei der hydrolytischen Spaltung der Eiweißsubstanzen entstehende Gemisch von Aminosäuren lehrte E. Fischer durch fraktionierte Destillation ihrer Ester in seine Bestandteile zu zerlegen. Alle diese Spaltungsprodukte sind synthetisch dargestellt worden. Hervorgehoben sei die Synthese des Zystins, das man als Hauptträger des Schwefelgehaltes der Eiweißsubstanzen ansieht durch E. Erlenmeyer jun. 1904. Auf Grund der Annahme, daß die Aminosäuren in den Eiweißsubstanzen amidartig miteinander vereinigt sind, unternahm es E. Fischer besonders im Verein mit Abderhalden seit 1903, unter Verwendung der Ester der Aminosäuren und der Chloride der Aminosäurechlorhydrate, sowie anderer Abkömmlinge eiweißähnliche Substanzen synthetisch zu gewinnen. Th. Curtius benutzte zu dieser Verknüpfung der Aminosäuren ihre Azide. Die so entstehenden in mancher Hinsicht den Peptonen ähnlichen Aminazylaminokarbonsäuren nannte E. Fischer Peptide und unterscheidet nach der Zahl der verketteten Aminosäuren: Di-, Tri-, Tetrapeptide usw., von denen über hundert verschiedenartige Vertreter gewonnen worden sind. E. Fischer und Abderhalden gelang es, als Spaltungsprodukte von Eiweißsubstanzen neben Aminosäuren Di- und Tetrapeptide zu isolieren, die mit synthetisch gewonnenen identisch sind.
Purinchemie.
Im Tierkörper entstehen aus Eiweißsubstanzen Harnstoff, Harnsäure und ihre Verwandten Guanin, Xanthin, Hypoxanthin und Adenin. Xanthin und Hypoxanthin finden sich auch im Teeextrakt neben den methylierten Xanthinen Theophyllin, 1888 von Kossel entdeckt, und Thein, das auch im Kaffee vorkommt. Theobromin, ebenfalls ein methyliertes Xanthin, ist im Kakao enthalten. Alle diese Substanzen sind synthetisch dargestellt worden. Die erste Synthese der Harnsäure gelang 1888 R. Behrend und O. Roosen, die dabei von Azetessigester und Harnstoff [1308] ausgingen. Ganz nahe war schon 1863 Adolf Baeyer diesem Ziel gekommen, der das Uramil in Pseudoharnsäure überführte, aus der E. Fischer und L. Ach 1895 durch Wasserentziehung Harnsäure bereiten lehrten. 1898 gelang es E. Fischer, den Grundkörper dieser Gruppe, das Purin selbst, und schließlich auch alle anderen oben genannten Verwandten der Harnsäure synthetisch darzustellen.
Thyrojodin. Adrenalin.
Auf tierphysiologischem Gebiet sind zwei Entdeckungen von hervorragender Bedeutung anzuführen. 1905 entdeckte E. Baumann das Vorkommen von Jod in der Schilddrüse. Es gelang ihm, eine 9proz. Jod enthaltende organische Substanz unbekannter Struktur, das Thyrojodin, herauszuarbeiten und so eine wissenschaftliche Grundlage für die medizinische Behandlung der Schilddrüsenerkrankungen zu schaffen. 1901 isolierte der Japaner Jokichi Takamine aus dem Nebennierenextrakt in reinem Zustand das Adrenalin oder Suprarenin, wie Otto von Fürth diese merkwürdige Substanz nannte, mit der er sich schon früher beschäftigt hatte. Hermann Pauly einer- und der Engländer Jowett andererseits klärten 1904 die Konstitution des Adrenalins auf, der Chemiker Friedrich Stolz der Höchster Farbwerke gewann es in demselben Jahre synthetisch. Das Adrenalin ist physiologisch und pharmakologisch von hervorragender Wichtigkeit, da es selbst in sehr geringen Mengen eine hochgradige Steigerung des Blutdruckes, verbunden mit einer Kontraktion der peripheren Gefäße hervorruft.
Tier- und Pflanzenfarbstoffe.
Schwierige chemische Aufgaben bilden die Blut- und Gallenfarbstoffe, ferner das Chlorophyll, die Cholsäure, das Cholesterin, sehr verwickelt zusammengesetzte Substanzen, über die eine Reihe ausgezeichneter Arbeiten von Marchlewski aus Krakau, Piloty, Willstätter, Diels, Abderhalden, Windaus u.a. vorliegen, ohne daß dadurch die Konstitution der genannten Verbindungen weit genug aufgeklärt worden wäre, um an ihre Synthese herangehen zu können. Indessen glaubt man die Verwandtschaft von Bilirubin, Hämoglobin und Chlorophyll dadurch erwiesen zu haben, daß man aus ihnen chemisch nahe miteinander verwandte Substanzen erhalten hat. Während im Hämoglobin Eisen vorhanden ist, enthält, wie Willstätter 1906 bewies, das Chlorophyll Magnesium als wesentlichen Bestandteil.
Eine ähnliche Verwandtschaft, wie sie zwischen Blutfarbstoff und Chlorophyll besteht, findet sich öfter bei Tier- und Pflanzenstoffen. So ist der Farbstoff der Cochenille-Schildlaus, die Karminsäure, ein mit dem Alizarin, das im Krapp vorkommt, verwandtes Anthrachinonderivat, wie Dimroth kürzlich fand. Der antike Purpur, aus dem Sekret der Purpurschnecke gewonnen, ist, wie 1909 Paul Friedländer bewies, identisch mit einem synthetisch dargestellten Dibromindigo, also dem Indigo der Indigoferaarten ganz nahe verwandt. 1890 gelang es Heumann, auf Grund der von A. Baeyer analytisch und synthetisch 1880−1882 abgeleiteten Konstitution die erste Darstellungsmethode des Indigos in der Alkalischmelze von Phenylglyzin oder Phenylglyzinorthokarbonsäure und darauf folgende Oxydation zu ermitteln, die in verschiedenen Formen zu technisch brauchbaren Verfahren der Indigogewinnung in deutschen Teerfarbenfabriken ausgebildet wurde. Die gelben Farbstoffe des Gelbholzes: Morin, des Wau: Luteolin, der Querzitronrinde: [1309] Querzetin, sind von Kostanezki, einem russischen Polen, im Verein mit mehreren Schülern in den Jahren 1901–1906 synthetisch dargestellt worden. Den gelben Flechtenfarbstoff Vulpinsäure aus Cetraria vulpina lehrte 1894 J. Volhard synthetisch darstellen. Angleich verwickelter zusammengesetzt sind die nahe miteinander verwandten Farbstoffe des Blauholzes und des Rotholzes: das Hämatoxylin und das Brasilin, deren Konstitution noch nicht völlig aufgeklärt ist. Die meisten dieser Pflanzenfarbstoffe kommen, wie Indigo, Alizarin, Querzetin u. a. m., in den Pflanzen, ursprünglich in Verbindung mit verschiedenen Zuckerarten, als Glykoside vor.
Pflanzenriechstoffe.
Andere Pflanzenstoffe sind ihres aromatischen Geruches halber hochgeschätzt und zum Teil bereits synthetisch dargestellt worden. Besonderes Aufsehen erregte die Abscheidung des Irons aus dem ätherischen Öle der Veilchenwurzel, die Ferd. Tiemann und Paul Krüger 1893 gelang. Auf Grund des Einblickes, den diese Forscher in die Konstitution des Irons gewannen, stellten sie im Ionon einen dem Iron nahe verwandten, und ähnlich nach Veilchen riechenden Stoff synthetisch dar. Die Synthese des Irons selbst erreichten 1909 G. Merling und R. Melde.
Terpene und Kampher.
Eine Reihe von Forschern wendete sich mit wachsendem Erfolg in den letzten Jahrzehnten der Untersuchung der ätherischen Öle zu. Besonders wichtige Bestandteile der ätherischen Öle sind die als Terpene bezeichneten Kohlenwasserstoffe und die Sauerstoff enthaltenden Kampher. Die Schwierigkeit der Untersuchung der Terpene lag in der großen Ähnlichkeit dieser Substanzen und in ihrer leichten Veränderlichkeit, die zu vielen Umwandlungen ineinander führt. In erster Linie verdankt man den von Otto Wallach 1884 begonnen und rastlos bis zur Gegenwart fortgesetzten Versuchen die Klärung des schwerzugänglichen Gebietes und die Einordnung der Terpene in das System der organischen Verbindungen. Außer Wallach beschäftigten sich erfolgreich mit dem Studium der Terpene A. v. Baeyer, Jegor Wagner in Warschau, W. H. Perkin jun. in England, Aschan in Helsingfors, Semmler, Auwers, die Franzosen Bouveault, Blanc, Haller u. a. m. In manchen Fällen, so beim Dipenten, Terpinen, Sylvestren und Karvestren, ist bereits die vollständige Synthese, in anderen Fällen wie beim Pinen, Phellandren, Kamphen und Fenchen wenigstens eine Partialsynthese geglückt. Weit leichter gelingt die Isolierung und Reindarstellung der Kampherarten, von denen viele durch großes Kristallisationsvermögen ausgezeichnet sind, andere aus ihren charakteristischen Derivaten leicht in reiner Form regeneriert werden können. Hervorgehoben sei die experimentelle Aufklärung der Konstitution des medizinisch und technisch wichtigen Kamphers durch Julius Bredt 1893 und die darauf gegründete Synthese dieses Stoffes durch Gustav Komppa in Helsingfors 1909.
Kautschuk.
Verwandt mit den Terpenen sind die Kautschukarten, die eine so vielseitige technische Verwendung finden. Harries zeigte 1905 durch Aufspaltung mittels Ozon, daß der Parakautschuk als Polymerisationsprodukt des Dimethylzyklooktadiens aufzufassen ist, eine Erkenntnis, die sowohl Harries als Fritz Hofmann zu erfolgreichen synthetischen Versuchen führte, künstlich Kautschuk aus dem einfachen [1310] Kohlenwasserstoff Isopren durch Polymerisation darzustellen. Isopren ist in kleiner Menge 1860 zuerst von dem Engländer Williams durch Erhitzen von Kautschuk gewonnen worden. Es steht zu den Terpenen in engen genetischen Beziehungen, da es sich auch zu Dipenten, das sich ebenfalls unter den Zersetzungsprodukten des Kautschuks findet, polymerisieren läßt.
Pflanzenalkaloide.
Eine besondere Bedeutung beanspruchen wegen ihrer stark giftigen, aber zum Teil pharmakologisch sehr geschätzten Wirkungen die stickstoffhaltigen, basisch reagierenden Pflanzenstoffe, die man unter dem Namen Pflanzenalkaloide zusammenfaßt. Die wichtigsten sind die bekannten Heilmittel Atropin, Kokain, Chinin und Morphin. Verwickelt zusammengesetzt, ist die Konstitution der meisten erst in den letzten Jahrzehnten aufgeklärt worden und erst zum kleinsten Teil ist ihre Synthese gelungen. Die synthetischen Versuche beginnen 1886 mit der Synthese des Koniins des im Samen des gefleckten Schierlings enthaltenen Alkaloides durch A. Ladenburg, besonders wichtig geworden durch die Entdeckung einer Methode zur Zerlegung razemischer Basen in ihre optisch aktiven Komponenten. In demselben Jahre hat A. Hantzsch das Nikotinsäurebetain synthetisch dargestellt, dessen Identität mit dem im Bockshornsamen von Trigonella foenum graecum vorkommenden Trigonellin E. Jahns im folgenden Jahre bewies. 1894 stellten A. Ladenburg und M. Scholtz das Piperin, das Alkaloid des Pfeffers, aus synthetisch gewonnener Piperinsäure und Piperidin dar. In dem Jahre 1904 bauten Amé Pictet in Genf im Verein mit mehreren Schülern das Nikotin, das Alkaloid des Tabaks auf, damit die 1895 von A. Pinner aufgestellte Konstitutionsformel dieses Alkaloids bestätigend. Die Partialsynthese des Atropins aus seinen Spaltungsprodukten Tropin und Tropasäure führte A. Ladenburg schon 1882 aus. 1903 gelang es Willstätter, das Tropin aufzubauen, womit die Totalsynthese des Atropins erreicht war. In demselben Jahre gelang es R. Willstätter im Verein mit A. Bode das dem Tropin nahe verwandte Kokain, in seiner razemischen Form zu gewinnen. Durch hauptsächlich von Skraup, W. Königs, v. Miller und Rhode ausgeführte ausgezeichnete Experimentaluntersuchungen erhielt man einen Einblick in die verwickelte Konstitution der wichtigsten in der Chinarinde vorkommenden Alkaloide: Cinchonin und Chinin, ein Methoxycinchonin. Paul Rabe ist es geglückt das Cinchotoxin 1911 zu einer Partialsynthese des Cinchonins zu verwenden. Im Opium, dem eingedickten Milchsaft der grünen Samenkapseln des Mohns kommen die Alkaloide Morphin, Kodein, Thebain, Papaverin, Laudanosin, Narkotin und Narzein vor. Die wichtigste dieser Basen ist das Morphin, dessen Konstitution ebensowenig wie die seiner nächsten Verwandten Kodein und Thebain durch die bis auf die Gegenwart fortgeführten Untersuchungen von L. Knorr und R. Pschorr völlig aufgeklärt ist. Dagegen stellte Amé Pictet 1909 das Papaverin, dessen Konstitution Guido Goldschmidt ermittelt hatte, und das Laudanosin synthetisch dar. Die Konstitution des Narkotins klärte W. Roser 1389 auf. Ein isomeres Narkotin lehrte 1896 Liebermann aufbauen. Die Synthese des Narkotins selbst führte 1911 W. H. Perkin in England aus, nachdem das eine Spaltungsprodukt, das Metonin, 1898 von Paul Fritsch und das zweite Spaltungsprodukt, [1311] das Kotarnin, 1910 unabhängig voneinander A. H. Salvay in England und H. Decker und P. Becker synthetisch bereitet hatten. Die Konstitution des dem Narkotin nahe verwandten Hydrastins, das neben Berberin im Sauerdorn und in der Wurzel von Hydrastis canadensis vorkommt, ist durch die Arbeiten von W. Roser und M. Freund 1892 aufgeklärt worden. Sein Spaltungsprodukt, das Hydrastinin, erhielt 1895 Paul Fritsch auf synthetischem Wege. Einen Einblick in die Konstitution des Berberins gewährten die 1890 veröffentlichten Arbeiten von W. H. Perkin, die Synthese führte 1911 Amé Pictet aus. Den Bau der Korydalisalkaloide, die teils zum Berberin, teils zum Apomorphin in naher Beziehung stehen, hat J. Gadamer aufgeklärt. Das eine dieser Alkaloide, das Glauzin, gewann er 1913 aus dem von Amé Pictet synthetisierten Laudanosin, damit den nahen Zusammenhang beider Alkaloide beweisend.
Die vorstehenden Abschnitte zeigen, welche Fortschritte die Chemie bereits in Ermittlung und Aufhellung der Konstitution und in der Synthese selbst sehr verwickelt zusammengesetzter Tier- und Pflanzensubstanzen erreicht hat. Aus verschiedenen Stellen ging hervor, daß die Untersuchung dieser Substanzen zu verwandten, in der Natur nicht vorkommenden Kohlenstoffverbindungen mit ähnlichen Eigenschaften führte. Dazu kommen Ergebnisse von Versuchen, die nur zu dem Zweck ausgeführt wurden, um bestimmte Reaktionen kennen zu lernen. So hat man Wege aufgefunden, auf denen man zu zahllosen künstlichen Teerfarbstoffen gelangen kann, so genannt, weil im Steinkohlenteer vorkommende aromatische Kohlenwasserstoffe zu ihrer Gewinnung dienten. Ferner fanden sich unter den künstlich gewonnenen organischen Substanzen physiologisch höchst wirksame Heilmittel, Riechstoffe und Süßstoffe. Überall macht sich das Bestreben der Wissenschaft geltend, uns von der Natur unabhängig zu machen, indem wertvolle Naturstoffe künstlich hergestellt oder durch künstlich hergestellte Ersatzstoffe verdrängt werden. Mit einigen dieser letzteren Substanzen wollen wir uns zunächst beschäftigen.
Teerfarbstoffe.
Die Zahl der künstlich dargestellten Teerfarbstoffe ist in den letzten 26 Jahren ganz außerordentlich angewachsen. Überaus fruchtbar für die Aufsuchung neuer Farbstoffe erwiesen sich die von O. N. Witt 1876 und von R. Nietzki 1888 aufgestellten Gesetzmäßigkeiten über den Zusammenhang zwischen Farbe und Konstitution, ein Gegenstand, über den neuere Forschungen von C. Liebermann, A. Hantzsch, Hugo Kauffmann u. a. vorliegen. Soweit die technische Bedeutung der Teerfarbstoffe in Frage kommt, sind sie in dem Abschnitt über die Fortschritte der technischen Chemie zu behandeln. Hier muß nur auf einige Farbstoffe hingewiesen werden, deren Konstitution man ermittelt hat, und die in das System der Kohlenstoffverbindungen eingereiht, dort Lücken ausfüllten oder es erweiterten.
Die Konstitution des Methylenblaus klärte 1889 August Bernthsen auf. In dem 1884 von J. H. Ziegler entdeckten Tartrazin liegt, wie R. Anschütz 1896 bewies, eine Substanz vor, die den Pyrazolonring enthält. Die Konstitution des längst bekannten Anilinschwarz gelang es 1909 R. Willstätter im Verein mit seinen Schülern zu ermitteln. Der erste sogenannte Schwefelfarbstoff ist das 1893 von dem französischen Chemiker Vidal durch Erhitzen von Paraamidophenol und Paraphenylendiamin mit Schwefel [1312] und Natriumpolysulfiden dargestellte und nach ihm benannte Vidalschwarz. Auf ähnliche Weise kam man zu einer großen Anzahl von Schwefelfarbstoffen, in denen wahrscheinlich Di- und Polysulfide der Paradiazinreihe vorliegen. Wenigstens zeigten 1904 R. Gnehm und F. Kaufler, daß man aus dem Immedialreinblau einen Thiazinabkömmling erhalten kann. Paul Friedländer entdeckte 1905 im Thioindigo einen roten Küpenfarbstoff, in dem die Imidyle des Indigos durch Schwefelatome ersetzt sind. Er bahnte damit der Gewinnung der sogenannten indigoiden Farbstoffe den Weg, die durch Kondensation von Isatin sowie Thionaphtenchinon und deren Derivaten mit Substanzen, die eine reaktionsfähige Methylengruppe enthalten, entstehen. Wie die indigoiden Farbstoffe sind das 1901 von R. Bohn aufgefundene Indanthren und Flavanthren Küpenfarbstoffe. Beide entstehen aus β-Amidoanthrachinon durch Verschmelzen mit Kali bei verschiedenen Temperaturen; ihre Konstitution ermittelte Roland Scholl 1908–1911. Das 1905 von R. Scholl und O. Bally aufgefundene Benzanthron bildete in O. Ballys Händen das Ausgangsmaterial für die Gewinnung der dunkelblauen Küpenfarbstoffe, Violanthron und Isoviolanthron, deren Konstitution 1912 von R. Scholl mittels einer durchsichtigen Synthese sichergestellt wurde. Ebenfalls zu der Klasse der Küpenfarbstoffe gehört das 1905 von R. Scholl entdeckte Pyranthron oder Indanthrengoldorange, dessen nahe Beziehung zu dem im Steinkohlenteer vorkommenden Pyren er 1912 durch eine von diesem Kohlenwasserstoff ausgehende Synthese erweisen konnte.
Künstliche Arzneimittel.
Wir wenden uns zu den künstlich dargestellten, in der Natur nicht vorkommenden Kohlenstoffverbindungen bestimmter physiologischer Wirkung. Hauptsächlich in den Teerfarbenfabriken dargestellt und zum Teil auch in den dort eingerichteten pharmakologischen Laboratorien untersucht, hat man an den künstlichen Arzneimitteln eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten zwischen Zusammensetzung und Wirkungsweise ermittelt. Man suchte bei vielen die Wirkung abzuschwächen oder zu erhöhen, schädliche Nebenwirkungen auszuschalten durch Einführung oder Entziehung bestimmter Radikale oder Umwandlung von Säuren in Salze oder Ester. Man hat so Heilmittel erhalten, die manche ähnlich wirkende Naturstoffe in ihrer Wirkung ersetzen, oder sie noch übertreffen. Viele der hier in Betracht kommenden Stoffe waren schon vor 1888 bekannt, aber ihre Heilwirkung wurde erst später ermittelt. Erwähnt seien die Antipyretika: Antipyrin (1887 Knorr ), Antifebrin oder Azetanilid, Phenazetin oder Azetparaamidophenetol (1889 Hinsberg), Aspirin oder Azetylsalizylsäure, die Schlafmittel: Sulfonal (1886 ' E. Baumann) und Veronal (1882 M. Conrad und M. Guthzeit), die Lokalanästhetika, Ersatz für Kokain: Eukain (1896 Merling) Novokain (Einhorn), Stovain (Fourneau).
Von hervorragender chemotherapeutischer Bedeutung sind wegen ihrer Trypanosomen tötenden Wirkung bei der Bekämpfung von Schlafkrankheit, Malaria, Rückfallfieber, Frombösie und vor allem der Syphilis, arsenhaltige Arzneimittel geworden. Arrhenal ist das Dinatriumsalz der 1858 von A. Baeyer in Kekulés Heidelberger Privatlaboratorium entdeckten Methylarsinsäure. In dem 1863 von Béchamp in Lille dargestellten Atoxyl erkannten 1907 Paul Ehrlich und A. Bertheim das paraamidophenylarsinsaure Natrium. Beim Aufsuchen noch wirksamerer spirillozider Arzneimittel nach Ehrlichs [1313] Ideen wurde in dem salzsauren Diamidodioxyarsenobenzol eine Verbindung aufgefunden, in der Ehrlich und der Japaner Hata ein sehr wichtiges Medikament gegen Syphilis erkannten, das unter dem Namen Salvarsan Ehrlich-Hata 606 weltbekannt geworden ist.
Neue Umwandlungsreaktionen.
Schon öfter war von der außerordentlich großen Zahl der künstlich dargestellten Kohlenstoffverbindungen die Rede, der gegenüber die Zahl der in der Natur vorkommenden organischen Substanzen gering ist. Wie rasch sich die Kohlenstoffverbindungen vermehren, mögen einige statistische Mitteilungen veranschaulichen; sie betrugen 1883 etwa 20 300, 1899 schon 74 200 und sind 1910 auf 144 000 angewachsen. Heute werden sie über 160 000 betragen und man kann berechnen, daß seit 1888 etwa 133 000 organische Substanzen künstlich dargestellt worden sind. Eine jährliche Zunahme ist bis jetzt stets in wachsendem Maße eingetreten. Man wird kaum fehlgreifen mit der Annahme, daß im Durchschnitt zurzeit täglich etwa 20 neue organische Substanzen aufgefunden werden, ein Ende ist nicht abzusehen und dazu kommen die Fortschritte der anorganischen Chemie! Die Chemie verdankt diese Fortschritte teils der weiteren Anwendung und Entwicklung älterer Reaktionen, teils der Auffindung neuer Arbeitsmethoden, die es ermöglichen, früher nicht oder nur schwierig zugängliche Substanzen zu gewinnen. Wenigstens einige dieser neuen Reaktionen sollen in nachstehendem behandelt werden.
Die Entdeckung der katalytischen Übertragung des Wasserstoffs mittels fein verteilten Nickels durch P. Sabatier und J. B. Senderens in Toulouse 1897 gestattet es, die früher nur außerordentlich schwer reduzierbaren aromatischen Substanzen in glatter Weise in hydroaromatische Verbindungen umzuwandeln, die wegen ihrer nahen Beziehungen zu den Terpenen und Kampherarten besonders bemerkenswert sind und die Grundlage für zahlreiche auf diesem Gebiete ausgeführte Synthesen bilden. Den Bemühungen von C. Paal und C. Amberger, R. Willstätter, A. Skita, dem Russen S. Fokin gelang es in den letzten Jahren, diese nur bei höheren Temperaturen verlaufenden Reaktionen durch Ersatz des Nickels durch fein zerteiltes Platin oder Palladium, letzteres auch in kolloidalem Zustand verwendet, zu einer noch bei tiefen Temperaturen verlaufenden Reaktion umzugestalten. Die Technik hat sich diese Methode ebenfalls zunutze gemacht, um die wohlfeilen flüssigen Fette, das Leinöl, den Waltran und andere durch Anlagerung von Wasserstoff in wertvollere feste Fette umzuwandeln. Erwähnt seien auch die von J. Tafel auf elektrolytischem Wege von 1898 an bewirkten Reduktionen, die besonders bei der Reduktion von Alkaloiden und Substanzen der Harnsäuregruppe vortreffliche Dienste leisteten.
Die den Reduktionsmethoden gewissermaßen entgegengesetzten Reaktionen der Oxydation haben durch die von C. Harries seit 1903 untersuchte Wirkung des Ozons auf Substanzen mit doppelten Kohlenstoffbindungen eine bedeutsame Bereicherung erfahren. Es bilden sich unter Anlagerung von Ozon an die doppelt gebundenen Kohlenstoffatome Ozonide, die sich an der Stelle der Sauerstoffanhäufung leicht spalten unter Bildung sonst schwer zugänglicher Aldehyde und Ketone. Aus dem Ozonid des Parakautschuks entsteht so der Aldehyd der Lävulinsäure, eine Reaktion, die für die Konstitutionsbestimmung [1314] des Kautschuks grundlegende Bedeutung hat. A. Baeyer und Villiger erkannten 1899 in der Caroschen Säure oder Sulfomonopersäure, ein eigenartig wirkendes Oxydationsmittel, mit dem sie karbozyklische Ketone in heterozyklische Laktone umwandeln konnten, während die einfachen Ketone und die Aldehyde in Peroxyde übergehen (1900). Aus Diäthylsulfat erhielten sie mit Wasserstoffsuperoxyd das Äthylhydroperoxyd und das Diäthylperoxyd. Wolffenstein zeigte, daß Azeton und Wasserstoffsuperoxyd ein Azetonperoxyd geben (1896) und Trialkylamine in Trialkylaminoxydhydrate übergehen (1901). Ein sehr mildes Oxydationsmittel ist in Gegenwart von Eisensalzen Wasserstoffsuperoxyd für aliphatische Oxyverbindungen, wie Fenton in Cambridge 1894 fand, der damit Weinsäure in Dioxymaleinsäure, Glylol in Glykolylaldehyd umwandeln konnte.
Neue Kernsynthesen.
Wir gehen zu Kernsynthesen über. Eine Methode von fast unbeschränkter Anwendbarkeit wurde 1898 von Barbier in Lyon entdeckt und auf seine Veranlassung von seinem Schüler Grignard ausgebildet, sie beruht auf der Bildung und Anlagerungsfähigkeit organischer Magnesiumhaloidverbindungen und liefert eine überraschende Möglichkeit der Ausführung von Kernsynthesen. Durch Zersetzung der in Äther leicht entstehenden Magnesiumverbindungen kann man Kohlenwasserstoffe, Alkohole, Aldehyde, Ketone, Karbonsäuren und manche andere Klassen früher schwer zugänglicher Kohlenstoffverbindungen in einfacher Weise gewinnen. In außerordentlichem Umfang sind in den letzten 25 Jahren die Azetessigester-, Malonester- und Zyanessigestersynthesen angewendet worden. Am ihre Ausgestaltung haben sich Ludwig Claisen, Knoevenagel, der Amerikaner Arthur Michael, W. H. Perkin jun., Vorländer, W. Wislicenus, R. Anschütz u. a. Forscher erfolgreich bemüht. Die Kolbe-Kekulésche elektrolytische Spaltung aliphatischer Mono- und Dikarbonsäuren übertrugen 1891 Alex. Crum Brown und J. Walker in Edinburg auf die Salze von Dikarbonestersäuren und erreichten dadurch die Synthese von Ditarbonsäureestern. Die Lichtenergie benutzten von 1886 an H. Klinger sowie Ciamician in Padua, später Stobbe, der Italiener Paternò, Störmer, Benrath u. a. m., um sonst nicht oder nur schwierig herbeizuführende Umsetzungen, Umlagerungen, Aufspaltungen und Synthesen von organischen Verbindungen zu bewirken. Als Lichtquellen dienten neben dem Sonnenlicht in neuerer Zeit die ultravioletten Strahlen der Quecksilberlampen. Zu den katalytischen Reaktionen gehört die wesentlich von F. Ullmann in den letzten Jahren untersuchte reaktionserleichternde Wirkung fein zerteilten Kupfers auf im allgemeinen reaktionsträge aromatische Halogenverbindungen.
Neue Klassen von Kohlenstoffverbindungen.
Überblickt man das System der organischen Chemie, so sind im Laufe der letzten 26 Jahre eine Reihe neuer Körperklassen dargestellt worden, von denen eine ganze Anzahl in den vorausgegangenen Abschnitten bereits erwähnt wurde. Im nachfolgenden sollen noch einige der merkwürdigeren angeführt werden. Manche früher nur in aromatischen Vertretern bekannte Klassen von Verbindungen sind auch in der aliphatischen Chemie aufgefunden worden. Aliphatische Jodidchloride lehrte [1315] J. Thiele 1909 kennen. Durch die Untersuchungen von Th. Curtius und von J. Thiele und ihren Schülern sind zahlreiche aliphatische Hydrazin- oder Diamid-, sowie Diimidabkömmlinge bekannt geworden. Die Grundsubstanz des von Th. Curtius entdeckten Diazoessigesters, das Diazomethan, fand 1894 von Pechmann auf. Aliphatische Isoazotate bereitete J. Thiele 1910, aliphatische Diazoamidoverbindungen Dimroth. Die aromatischen Isodiazotate entdeckten C. Schraube und C. Schmidt 1894. Diese Beobachtung bildete dem Ausgangspunkt für eingehende Untersuchungen über die Isomerien der aromatischen Diazoverbindungen von E. Bamberger und von A. Hantzsch. 1893 stellten E. Bamberger und Ludwig Storch die den Diazoverbindungen nahe verwandte Diazobenzolsäure dar. 1894 zeigte E. Bamberger, daß bei der Reduktion von Nitrobenzol als neues Zwischenprodukt das Phenylhydroxylamin entsteht. Merkwürdig sind die von Staudinger 1905 entdeckten, höchst reaktionsfähigen Ketene. Nahe verwandt mit den Ketenen ist das von Diels und O. Wolf 1908 aus Malonsäure und ihrem Äthylester erhaltene Kohlensuboxyd, neben den altbekannten Substanzen Kohlenoxyd und Kohlendioxyd eine dritte, nur aus Kohlenstoff und Sauerstoff bestehende Verbindung. Dem Kohlensuboxyd ganz ähnlich im Verhalten ist, wie Stock und Prätorius kürzlich zeigten, das 1893 von Lengyel in Budapest entdeckte Kohlensubsulfid. Eine vierte nur aus Kohlenstoff und Sauerstoff bestehende Verbindung ist das neuerdings von Hans Meyer und Karl Steiner dargestellte Mellithsäureanhydrid. Eine Eigenschaft der einfachsten Kohlenstoffsauerstoffverbindung, des Kohlenoxyds, die Ludwig Mond, Langer und Quincke 1890 entdeckten, ist seine Fähigkeit, sich mit Nickel zum flüchtigen Kohlenoxydnickel zu verbinden. Bildung und Zersetzung dieser Substanz ist die Grundlage eines Kreisprozesses zur technischen Gewinnung des Nickels geworden.
Benzolringbildung und -spaltung.
Für die karbozyklische Chemie sind besonders wichtig die Ringbildungs- und Ringspaltungsreaktionen. Die von A. Baeyer 1885 aufgestellte sogenannte Spannungstheorie ließ die größere Ringfestigkeit der aus fünf oder sechs Kohlenstoffatomen gegenüber der geringeren Beständigkeit der aus drei oder vier, sowie der aus mehr als sechs Kohlenstoffatomen bestehenden Ringsysteme verständlich erscheinen; sie bildet immer noch eine vortreffliche Arbeitshypothese. Hierfür sind insbesondere die von J. Wislicenus, W. H. Perkin, Knoevenagel, Vorländer, Dieckmann und G. Blanc in Paris aufgefundenen Umwandlungsreaktionen azyklischer Substanzen in karbozyklische einleuchtende Beispiele. Von allen karbozyklischen Substanzen hat das Benzol, seitdem 1865 Aug. Kekulé seine bekannte Formel dafür aufgestellt hatte, bis in die neueste Zeit immer wieder Betrachtungen über die Bindungsverhältnisse und die Valenzverteilung der sechs den Benzolring bildenden Kohlenstoffatome hervorgerufen. Besonders bemerkenswert sind die von A. Baeyer auf Grund seiner Untersuchung der Hydroverbindungen des Benzols und der Phtalsäuren angestellten Betrachtungen, die ihn zur Verteidigung der sogenannten zentrischen Formel des Benzols veranlaßten (1888–1894). Ausgehend von A. Baeyers bei der Reduktion der Terephtal- und Muconsäure festgestellten Tatsachen entwickelte 1899 J. Thiele seine Hypothese von den Partialvalenzen und der Valenzverteilung bei konjugierten Doppelbindungen, Anschauungen, die unter anderem die Additionsträgheit [1316] des Benzols bis zu einem gewissen Grad verständlich erscheinen lassen. Thieles Ausführungen veranlaßten mit die Untersuchung achtgliedriger zyklischer Kohlenwasserstoffe durch E. Willstätter, bei der er im Zyklooktatetraen ein Azetylenhomologes des Benzols auffand. Das überraschend verschiedene Verhalten des Zyklooktotetraens und des Benzols oder Zyklohexatriens bei Additionsreaktionen zeigte aufs neue die Unzulänglichkeit unserer Konstitutionsformeln. Wenn auch die Formel für Benzol, die Kekulé für die wahrscheinlichste hielt, Schwierigkeiten für die Ableitung der Stellungsisomerien und manche Additionsreaktionen bietet, so stehen doch die Benzolringbildungen und die zahlreichen Benzolringspaltungen mit Kekulés Zyklohexatrienformel für Benzol im besten Einklang, und stützen sie geradezu. Durch Oxydation von Benzolderivaten haben Kekulé, Harries, O. Doebner, R. Kempf, R. Anschütz und G. Rauff, Jaffé, Gustav Schultz und O. Löw, durch gleichzeitige Oxydation und Chlorierung Th. Zincke, durch alkalische Reduktion Einhorn, Vorländer, R. Willstätter Spaltungsprodukte gewonnen, deren Entstehung auf Grund der Zyklohexatrienformel zu deuten keine Schwierigkeit bietet. Besonders hervorgehoben seien von diesen Spaltungsreaktionen die Umwandlung des Benzoltriozonids durch Harries in Glyoxal, und die im Tierkörper nach Einführung von Benzol durch Jaffé festgestellte Bildung von Mukonsäure. Im Verlauf seiner Versuche, den Benzolring nach Belastung mit Chloratomen zu sprengen, erhielt Zincke das Tetrachlororthobenzochinon. Das Orthobenzochinon selbst lehrte R. Willstätter 1904 kennen. Die Chemie der merkwürdigen und für die Farbstoffchemie wichtigen Klasse der Chinone ist, wie im Anschluß an das Orthobenzochinon bemerkt werden mag, durch Untersuchungen über Zweikernchinone, Methylenchinone, Chinole und verwandte Substanzen außerordentlich erweitert worden. Außer den vorgenannten beiden Forschern haben sich noch Auwers, Bamberger und Thiele um die Ausgestaltung dieses Gebietes verdient gemacht.
Von den mehrkernigen Kohlenwasserstoffen und den heterozyklischen Ringsystemen, die ganz ähnliche Probleme darbieten wie das Benzol, muß wegen Raummangel abgesehen werden, so viele experimentell schwierige und in den Ergebnissen wichtige und erfolgreiche Untersuchungen von deutschen und ausländischen Chemikern auch über diese Körperklassen vorliegen.
Entwicklung der theoretischen organischen Chemie.
Die Theorie der organischen Chemie hat sich großenteils an den Versuchen, die Isomerieerscheinungen zu erklären, weiter entwickelt. Die stereochemischen Vorstellungen sind seit Aufstellung der zur Erklärung der isomeren optisch aktiven Kohlenstoffverbindungen bestimmten Theorie vom asymmetrischen Kohlenstoffatom durch van’t Hoff und Le Bel (1877) immer tiefer in die Wissenschaft eingedrungen. So bemühte man sich erfolgreich, optisch-aktive Kohlenstoffverbindungen darzustellen, bei denen die optische Aktivität auf die Asymmetrie des Atomes eines anderen Elementes als Kohlenstoff zurückzuführen ist. In den letzten Jahren sind optisch-aktive Kohlenstoffverbindungen bekannt geworden mit asymmetrischem Stickstoff durch den Engländer W. J. Pope, durch Meisenheimer und durch Wedekind, mit asymmetrischem [1317] Phosphor durch Meisenheimer, mit asymmetrischem Schwefel und Zinn durch die Engländer F. Challenger und F. S. Kipping, mit asymmetrischem Kobalt, Eisen, Chrom und Rhodium durch Werner. Die Isomerien, die sich bei olefinischen Substanzen finden, haben schon van't Hoff und Le Bel stereochemisch zu erklären versucht. Die experimentelle Brücke zwischen der Isomerie olefinischer und optisch aktiver Substanzen stellten Aug. Kekulé und R. Anschütz bereits 1880 und 1881 her, indem sie durch Oxydation Fumarsäure in Traubensäure und Maleinsäure in Mesoweinsäure überführten. J. Wislicenus hat den Mechanismus der Übergänge der olefinischen Isomeren, die er als axial- und plansymmetrische Modifikationen unterscheidet, ineinander auf Anlagerung und Abspaltung der die Polymerisation bewirkenden anorganischen Moleküle zurückgeführt. Die Unzulänglichkeit dieser Erklärung bewiesen R. Anschütz, sowie der Amerikaner A. Michael. Die Versuche diese Übergänge zu erklären, die von Vorstellungen über das Wesen der mehrfachen Bindung von Kohlenstoffatomen ausgehen, ziehen sich bis in die Gegenwart hinein.
Schon van’t Hoff sicherte die Ansicht, daß das Auftreten optischer Aktivität bei Kohlenstoffverbindungen durch Enantiomorphismus der Molekulartonfiguration veranlaßt werden könne, ohne daß ein asymmetrisches Kohlenstoffatom in der Verbindung vorhanden sei. Experimentell begründeten 1909 die Engländer W. H. Perkin und W. F. Pope in Gemeinschaft mit O. Wallach diese Auffassung. Von 1883 ab beginnen Arbeiten von P. Walden in Riga über die nach ihm benannte „Waldensche Umkehrung“, das heißt, die gegenseitige Umwandlung optisch aktiver Antipoden ineinander. Diese Arbeiten brachten in erster Linie die Annahme ins Wanken, daß die vier Valenzen eines Kohlenstoffatomes im Raum nach den Ecken eines dem Kohlenstoffatom umschriebenen regulären Tetraeders gerichtet seien, eine Annahme, die schließlich bei manchen zu der eigenartigen Vorstellung geführt hatte, das Kohlenstoffatom selbst habe Tetraederform. In gleicher Richtung wirkten die Erfahrungen über wechselseitige Umwandlung olefinischer Isomeren, ferner die Erscheinungen der sogenannten Tautomerie, die intramolekularen Atomverschiebungen, das Ausbleiben von Analogiereaktionen, das mehr oder weniger leichte Eintreten von Anlagerungs- und Abspaltungsreaktionen. Untersuchungen über die Abhängigkeit der verschiedensten Reaktionen von Substanzen aus gleicher homologer Reihe von der Konstitution ließen die verschiedene Affinitätsbeanspruchung durch ein und dieselbe Gruppe deutlich hervortreten. Betrachtungen über die Affinitätsbeanspruchung des Kohlenstoffatomes ergaben sich auch aus der Entdeckung des Triphenylmethyls oder Hexaphenyläthans durch den Amerikaner Gomberg (1900), zu deren Verallgemeinerung und Deutung die Arbeiten von Schmidlin und Schlenk wesentlich beitrugen. Eine große Zahl von Forschern haben sich mit der Untersuchung der von Conrad Laar seinerzeit als Tautomerieerscheinungen gekennzeichneten Reaktionen beschäftigt. Die Annahme Laars, daß derartige Verbindungen aus einem beständig in Neubildung begriffenen Gemisch der Strukturisomeren bestehen, indem ein leicht bewegliches Wasserstoffatom zwischen zwei Gleichgewichtslagen oszilliert, hat sich als unhaltbar erwiesen. Denn 1896 fanden ziemlich gleichzeitig Ludwig Claisen, A. Hantzsch und Schultze, der Holländer Hollemann, W. Wislicenus und Knorr bei einer Anzahl tautomerer [1318] Substanzen beide Formen auf. Als typisches Beispiel für Tautomerie kann man den Azetessigester ansehen, der zu so vielen Umwandlungs-, Abbau- und Aufbaureaktionen verwendet worden ist. Knorr gelang es 1911 die Enolform des Azetessigesters von der Ketoform zu trennen. Das Verdienst von A. Michael aber ist es, 1888 die Ansicht ausgesprochen zu haben, daß in allen Fällen, wo ein sauerstoffhaltiger organischer Bestandteil sich mit einem Metallatom zu einem Salz vereinigt, wahrscheinlich stets der negative Sauerstoff das Metall an sich kettet und nicht der Kohlenstoff. Demgemäß nahm er im Natriumazetessigester und ähnlichen Verbindungen das Natrium an Sauerstoff gebunden an. Bei dem leichten Übergang tautomerer Verbindungen ineinander findet die Verschiebung eines Wasserstoffatoms statt. Solche Wasserstoffverschiebungen sind bei zahlreichen intramolekularen Atomverschiebungen beobachtet worden, die nicht zu tautomeren Substanzen führen, wie z. B. bei den von R. Fittig eingehend untersuchten Verschiebungen der doppelten Bindung bei ungesättigten Säuren. Mit derselben Leichtigkeit findet bei anderen intramolekularen Atomverschiebungen die Wanderung von Alkyl, Aryl und Hydroxyl statt. Um die experimentelle Aufklärung des Reaktionsmechanismus derartiger intramolekularer Atomverschiebungen wie der Benzilsäureverschiebung, der Umlagerung der Säureamide, Säureazide und Ketoxime haben sich Georg Schroeter und Stieglitz, um die Pinakolinbildung Tiffeneau in Paris, P. J. Montagne in Leyden und Hans Meerwein erfolgreich bemüht. Veranlaßt durch die Auffindung einer Gesetzmäßigkeit bei der Bildung freier Phenolkarbonsäurechloride wies R. Anschütz 1904 darauf hin, daß das Ausbleiben von erwarteten Analogiereaktionen durch intramolekulare Nebenbindungen veranlaßt sein könne. Er ging dabei von dem Grundgedanken aus, daß in der kleinen Welt des Moleküls jedes Atom an jedes andere darin enthaltene Atom gebunden sei. Aber diese Bindungen sind von sehr verschiedener Stärke. In unseren üblichen Strukturformeln kommen nur die Hauptbindungen zur Anschauung, die Bindungen erster Ordnung, die zur Erklärung der meisten Reaktionen genügen. Daß aber Nebenbindungen, Bindungen niederer Ordnung von nicht zu vernachlässigender Stärke vorhanden sind, zeigt das Ausbleiben von zu erwartenden Analogiereaktionen, sowie die leichte Abspaltung und schwierige Anlagerung einfacher Moleküle, hauptsächlich anorganischer Natur. Ferner wird das Verständnis intramolekularer Atomverschiebungen durch die Annahme von Nebenbindungen erleichtert. Aus diesen Darlegungen geht hervor, wie sehr der Begriff der Wertigkeit seine ursprüngliche Starrheit hat verlieren müssen. Die Chemiker dürfen sich in vielen Fällen nicht mehr mit der Aufstellung einer nur die Hauptbindungen ausdrückenden Strukturformel begnügen, sondern sie müssen die Affinitätsverteilung sämtlicher eine Verbindung zusammensetzender Atome in Betracht ziehen, wenn sie eine dem Gesamtverhalten entsprechende Formel aufstellen wollen.
Äußere Bedingungen wissenschaftlicher chemischer Arbeit in Deutschland.
Untersuchen wir die äußeren Bedingungen für die wissenschaftliche chemische Arbeit in Deutschland in bezug auf die Fachliteratur und die wissenschaftlichen Forschungsstätten, so sind auch in dieser Hinsicht die erfreulichsten Fortschritte festzustellen. Früher als bei anderen Nationen [1319] führte innerhalb des letzten Vierteljahrhunderts in Deutschland die Entwicklung der einzelnen Zweige der Chemie zur Gründung neuer Zeitschriften. Schon 1877 gaben Wilhelm Ostwald und van’t Hoff den ersten Band der Zeitschrift für physikalische Chemie heraus, dem bis zur Gegenwart über achtzig Bände gefolgt sind. Die Zeitschrift für anorganische Chemie eröffnete Gerhard Krüß 1892; sie ist ebenfalls auf achtzig Bände angewachsen. Die Zeitschrift für Elektrochemie trat 1894 ins Leben, die Zeitschrift für Kolloidchemie 1906. Neben diesen bieten die schon länger bestehenden Zeitschriften Liebigs Annalen der Chemie, das Journal für praktische Chemie und die Berliner Berichte, das Organ der Deutschen Chemischen Gesellschaft, hauptsächlich Raum für die Fülle der Abhandlungen aus dem Gebiete der organischen Chemie, ohne sich indessen Arbeiten aus anderen Gebieten chemischer Wissenschaft zu verschließen.
Das Bedürfnis, mit möglichst geringem Zeitverlust Auskunft über jede chemische Verbindung zu erhalten, hatte schon im Anfang des vorigen Jahrhunderts zur Herausgabe von Handwörterbüchern und Handbüchern der Chemie geführt, die zwar rasch veralteten, aber doch zur Zeit ihrer Herausgabe eine sehr schätzenswerte Literaturquelle darstellten. Seit 1870 ist das neue Handwörterbuch der Chemie im Erscheinen, seit 1901 die von Friedheim begonnene Neuauflage von Gmelin-Krauts Handbuch der anorganischen Chemie, seit 1905 das Abeggsche Handbuch der anorganischen Chemie. Einen unvergänglichen Dienst leistete Beilstein der organischen Chemie mit seinem bis jetzt in drei Auflagen erschienenen Handbuch der organischen Chemie. Trotzdem blieb es schwierig, besonders in der Chemie der Kohlenstoffverbindungen mit ihren willkürlich gewählten, oder oft sehr verwickelt zusammengesetzten Namen, sich rasch über jede Kohlenstoffverbindung unterrichten zu können. Allgemeinen Beifall fand daher bei den organischen Chemikern Max Moritz Richters bereits in dritter Auflage erschienenes großes Lexikon der Kohlenstoffverbindungen, zu dem er die Anregung von Adolf Pinner empfing. Sowohl Liebigs Annalen, als die Berliner Berichte geben seit einigen Jahren neben Namen- und Sachregister, Formelregister nach dem Muster von M. M. Richters Lexikon heraus. Seit einigen Jahren ist ein auf derselben Grundlage beruhendes Lexikon der anorganischen Verbindungen von M. K. Hoffmann im Erscheinen begriffen. Die Deutsche Chemische Gesellschaft zu Berlin erhielt das Eigentumsrecht von Beilsteins Handbuch der organischen Chemie und M. M. Richters Lexikon der Kohlenstoffverbindungen, so daß die Besorgung nötig werdender Neuauflagen oder Ergänzungen dieser von den Chemikern des In- und Auslandes benutzten Werke sichergestellt ist. Das seit 1861 bestehende Chemische Zentralblatt hat die Deutsche Chemische Gesellschaft 1897 erworben und zu einem mustergültigen Referatenwochenblatt für die Leistungen auf allen Gebieten der Chemie ausgebildet.
Die literarischen Hilfsmittel erleichtern die experimentellen wissenschaftlichen chemischen Untersuchungen, die hauptsächlich in den chemischen Laboratorien und Instituten der Universitäten und technischen Hochschulen ausgeführt werden. In allen Schichten des deutschen Volkes hat sich die Überzeugung Bahn gebrochen, daß in erster Linie die wissenschaftliche Chemie die Grundbedingung für die Erfolge der chemischen Industrie ist. In allen chemischen Fabriken Deutschlands sind auf den Hochschulen wissenschaftlich [1320] ausgebildete Chemiker angestellt, deren Zahl in jeder der großen Teerfarbenfabriken mehrere Hundert beträgt. Die wissenschaftliche Arbeit dieser technischen Chemiker vollzieht sich in besonders dazu eingerichteten Laboratoiren, in denen sie oft genug über weit mehr Hilfsmittel und Hilfskräfte verfügen, als die an den Hochschulen wirkenden Gelehrten.
In dem Maße, in dem im Laufe der letzten 25 Jahre der Zudrang zu den deutschen Hochschulen wuchs, nahmen akademische Berufsgeschäfte und die Verwaltung der immer größer werdenden Institute Zeit und Kraft der Institutsleiter mehr und mehr in Anspruch, ihre Forschertätigkeit hemmend und beschränkend. Es machte sich das Bedürfnis nach ausschließlich der Forschung gewidmeten Instituten geltend. Man hätte zunächst erwarten können, daß die alten deutschen Akademien derartige Institute gründen würden. Allein die Mittel der Akademien sind zum Teil schon zu der Errichtung von Universitätsinstituten verwendet, auch den vielseitigen, an sie herantretenden Ansprüchen längst nicht mehr gewachsen.
So mußte die Hilfe von anderer Seite kommen. Der weitblickenden Initiative unseres Kaisers ist es zu verdanken, daß 1911 die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften mit dem Sitze in Berlin und dem ausdrücklichen Zwecke der Gründung von Forschungsinstituten ins Leben trat. Dem Rufe des Kaisers folgend, stellten hochherzige Stifter reiche Mittel zur Verfügung. Mehrere Institute dieser neuen Kaiser Wilhelm-Gesellschaft haben bereits ihre Pforten geöffnet, darunter eines für allgemeine Chemie und eines für physikalische Chemie.
Die an diesen Instituten wirkenden Gelehrten sind frei von der Bürde des akademischen Lehramtes, frei in der Wahl ihrer Aufgaben. Und so mag denn der Überblick über die Fortschritte der Chemie in den letzten 25 Jahren mit dem Wunsche geschlossen werden, daß den naturwissenschaftlichen Forschungsinstituten, die den Namen ihres kaiserlichen Begründers tragen dürfen, in alle Zukunft reiche wissenschaftliche Erfolge beschieden sein mögen.