RE:Essig

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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meist durch Gärung aus Wein gewonnene Säure
Band VI,1 (1907) S. 689692
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Essig, griechisch ὄξος, -ους, von ὀξύς abgeleitet: Orion Theb. Etymol. ed. Sturz 118, 11f. (Philoxenos) und Etym. M. 626, 51: ἐκ δὲ τοῦ ὀξὺς γίνεται ὄξος (ὡς ταχὺς, τάχος usw.) τουτέστιν ὁ εἰς ὀξὺ μεταβεβληκὼς οἶνος, ἐπειδὰν τέμνῃ καὶ κεντρίζῃ (ὡς εἰπεῖν) τὴν γεῦσιν .... (Oros) vgl. aber auch 627, 5. Lateinisch acetum, was Isid. Etym. XX 3, 9 in seiner Art erklärt: Acetum vel quia acutum, vel quia aquatum. Vinum enim aqua mixtum cito in hunc saporem redigitur. Unde et acidum, quasi aquidum. Die im E. enthaltene E.-Säure war die älteste dem Menschen zugängliche Säure. E. kannten bereits die alten Inder und Ägypter (Berendes Die Pharmazie bei den alten Kulturvölkern I 14. 68). Die Juden hatten Wein- und Bier-E. (ebd. I 94. Riehm Handwörterbuch d. bibl. Altertums I 405).

In den homerischen Gedichten wird E. nicht erwähnt; dagegen Aischyl. Agam. 307 und in einem Fragment bei Plut. quaest. conviv. II 1, 7. Aristoph. Plut. 720; Aves 534; Acharn. 35; Ran. 620. Theocr. XV 147. Nicandros u. a. m. Das klassische Altertum verwandte hauptsächlich Wein-E., der durch die E.-Gärung aus Wein [690] entstand (daher vini vitium Plin. n. h. XXIII 54. XIV 131; acetum culpatum vinum est Macrob. Sat. VII 6, 12; vgl. Hor. sat. II 8, 49 u. a.) und wohl nur geringe Schärfe hatte (nach Aristot. Ethic. ad Eudem. VIII 2, 1235 b 39 kann ein Trunkenbold E. nicht von Wein unterscheiden); οἴνινον ὄξος Archestratos (frg. 28 R.) bei Athen. VII 310 d. Das älteste uns erhaltene Rezept für die E.-Bereitung bietet Cato de agricult. 104. Dort gibt er an, man könne seinem Gesinde einen guten Haustrunk für den Winter bereiten, wenn man bestimmte Quantitäten von Most, scharfem E., Mostsyrup und Wasser mische und fünf Tage lang täglich dreimal umrühre. Dann wird altes Seewasser zugegeben und das Gefäß fest verschlossen. Was nach der Sonnenwende noch übrig ist, gibt einen sehr scharfen und schönen E. Um kahmigen Wein in E. zu verwandeln, empfiehlt Columella XII 5 einen Zusatz von Sauerteig, trockenen Feigen, Salz, Honig und E., oder aber von gerösteter Gerste, glühenden Walnüssen und grüner Minze. Auch rotglühendes Eisen bewirkt, in Wein gestoßen, dessen Verwandlung in E., ebenso der Einwurf von entkernten, glühenden Pinien- oder Fichtenzapfen. Indes machte man auch E. aus Birnen, Äpfeln, Speierlingen (Pallad. III 25, 11. 19. II 15, 5) sowie aus Feigen (Plin. n. h. XIV 103. Colum. XII 17); an letzterer Stelle wird wohl auch des E.-Kahms (Arist. hist. an. V 19, 552 b 5 ... σκώληκες οἳ γίνονται ἐκ τῆς περὶ τὸ ὄξος ἴλυος), der E.-Mutter und der E.-Alchen (Anguillula aceti Ehrb.) gedacht (neque unquam situm aut mucorem contrahit quae res prohibet vermiculos aliave innasci animalia). Xenophon anab. II 3, 14 (vgl. Athen. XIV 651 b und Suidas) spricht von einem aus Datteln gekochten E. (vgl. Strab. XVI 742); E. aus der Frucht des libyschen λωτὸς erwähnt nach Polyb. XII 2 Hu. Athen. XIV 651 e.

Als den besten E. rühmte nach Athen. II 67 c der Philosoph Chrysippos den ägyptischen und knidischen (vgl. Cic. fr. F 5, 89 M. Aegyptium: Plin. n. h. XXIV 102 Alexandrinum; Mart. XIII 122 Niliacum; Iuven. 13, 85 Pharium). Daneben werden an der gleichen Athenaiosstelle genannt sphettischer, kleonäischer und dekeleischer E.; methymnäischer Hor. sat. II 8. 49: thasischer Plin. n. h. XXXIV 114: Falerner Schol. Iuven. 13, 216. Entsprechend den Würzweinen stellte man auch aromatische E. her, so besonders durch Maceration der Zwiebel von Scilla maritima L. (ὄξος σκιλλητικόν Diosk. m. m. V 25. Galen. XIV 567ff. XIII 111. 320. XI 749 und Spätere: ὄξος σκιλλιτικόν Geopon. II 47, 8; acetum scilliticum. Celsus de m. V 19 p. 179; a. scillites Scrib. Larg. comp. 76; a. scillinum Plin. n. h. XXIII 59 u. ö.), ferner extrahierte man mit E. die vettonica (Plin. n. h. XXIV 84, vgl. den Art. Betonica), laserpicium (Cato de agricult. 116), Stoechas (Diosk. V 53), Thymian (Diosk. V 24) u. a. m., versetzte ihn mit Pfeffer (Colum. XII 59, I. Geopon. VIII 39), Salz (Plin. n. h. XXIV 10), Sandarach (Plin. n. h. XXXV 117) u. a.

Unendlich mannigfaltig war seine Verwendung im täglichen Leben, so daß ihn Plinius mit Recht als wichtiges Erfordernis zu einem behaglichen Leben bezeichnete (n. h. XIV 125). Daher nannte man ihn auch ἦδος (ἧδος, ἇδος), so nach Athen. [691] II 67 c. Poll. VI 65. Eustath. 1417, 21 u. a. die Attiker, während Schol. Plat. p. 9. Etym. M. 626, 57. Hesych. s. ἦδος u. a. dieses Wort den Chalkidiern oder Kyrenaeern zuschreiben (vgl. Henr. Stephanus Thesaur. und Schmidts Noten zu Hesych.). Auch γλυκίδιον (nach Schol. Nik. Ther. 594 euphemistisch) und (wenn richtig) ἁδύθεμον (Hesych.) soll er genannt worden sein. In der Küche gab man ihn, wie bei uns, teils mit teils ohne Öl, Salz und andern Zutaten zu Speisen aller Art, zu Salaten, Gemüsen usw.; auch diente er, mit Wasser verdünnt, als Getränke (Belege im Thesaur. L. L. s. acetum und im Art. Posca). Einer ägyptischen Brotsorte, κυλλᾶστις genannt, setzte man E. zu. Athen. III 114 c. d. Blümner Techn. I 76.

Fernerhin kannte man seine fäulniswidrige Wirkung (Plin n. h. XXIII 57) und benützte sie zur Konservierung von Nahrungsmitteln, sowie zum Schutze lebender Pflanzen, Samen, Geräte und gegen Fäulnis und Ungeziefer (Thesaur. L. L. a. a. O. Geopon. II 30, 3. 37, 1) und zum Gerinnenmachen der Milch (Varro r. r. II 11, 4).

Nach Theophr. de igne 25 u. 59 (Plin. n. h. XXXIII 94. Plut. quaest. conv. III 5, 2) löscht er Feuer schneller als Wasser, er ist einfach, wie alles obenauf Schwimmende (de odor. 65 frg. 159 u. 166, vgl. Aristot. Meteor. 7, 384 a 13). Sehr viel verwandt wurde E. in der Medizin. So wird er in den Hippokratischen Schriften in verschiedenen Mischungen (Wasser, Honig, Nitrum, aromatischen Pflanzen) und mit allerlei Zutaten verordnet in Gestalt von Umschlägen, Dampfbädern und als Getränk bei Gehirnleiden, Fiebern und deren Begleiterscheinungen (VII 35. 41. 83. 97 Litt.), bei Wunden, Zerrung eines Lungenlappens, Angina, Phrenitis (VI 249. 415. 417. VII 83. II 26. VI 219), bei Frauenkrankheiten verschiedener Art (VIII 117. 193. 269, 271. 389), gegen Lichen u. a. m. Im allgemeinen bekommt er Pikrocholikern besser als Melancholikern, Männern als Frauen. Einige medizinische Wirkungen des E.s (Angreifen der Schleimhäute und Linderung des Schluckens) erwähnen auch die Aristotelischen Problemata (I 21, 959 b 7. III 5, 962 a 2). Über die Ansichten der folgenden Ärzte unterrichten uns hauptsächlich Dioskorides, Plinius. Galen und Oribasius. Nach ersterem (m. m. V 21) ist er kühlend und zusammenziehend, Verdauung und Appetit fördernd, er stillt Blutungen und heilt Koliken; er nützt bei Wunden, Entzündungen und Hautkrankheiten aller Art in verschiedener Anwendung; auch gegen Wassersucht, Ohrenleiden, Vergiftungen. Halsleiden und vieles andere wurde er angewandt. Noch ausführlicher ist Plinius, der an ca. 500 Stellen der medizinischen Verwendung des E.s gedenkt (Hauptstelle n. h. XXIX 51–60). Galen erörtert namentlich (XI 413ff.) die schon von Aristoteles (frg. 212. 213, 1517 a 38. vgl. Galen XI 661) berührte Frage, ob E. warm oder kalt sei und entscheidet sich mehr für letzteres, die Heilwirkungen und Anwendungen gibt er im ganzen wie seine Vorgänger an. Nicht anders ist es bei den späteren griechischen Ärzten; ebensowenig lassen sich die Stellen einzeln angeben, an denen z. B. Celsus, Scribonius Largus, Serenus Samonicus, Cassius Felix, Caelius Aurelianus, Theodorus Priscianus, Marcellus Empiricus u. a. [692] den E. erwähnen; natürlich spielte er auch in der Tierheilkunde eine große Rolle (vgl. die Indices von E. Oder Claudii Hermeri Mulomedicina Chironis, M. Ihm Pelagonii artis vet. quae ext. sowie in Schneiders Ausgabe der Script. Rer. rust. u. a.). Plinius und Dioskorides überlieferten auch Angaben über chemische Wirkungen des E. So wird Silber, das durch Berührung mit Eigelb geschwärzt wurde (Silbersulfid), durch E. und Putzen mit Kreide wieder weiß (Plin. n. h. XXXIII 131); auch zur Bereitung des Grünspans (s. Art. Aerugo), zur Gewinnung des (künstlichen) Quecksilbers (Plin. n. h. XXXIII 123) und Zinkoxydes (Hüttenrauch, auch weiße Zinkblume, pompholyx und spodos genannt. Blümner Technolog. IV 173, Plin. n. h. XXXIV 128f. Diosc. m. m. V 85), des Bleiweißes (s. Art. Blei), zum Löschen von Stahl und Eisen (? vgl. Blümner Technol. IV 359), zum Beizen von Edelsteinen (ebd. III 302ff.), fernerhin bei der Herstellung von Filz, Öl und Teer (ebd. I 213ff. 350. II 352) usw. bediente man sich des E. Ebenso wußte man, daß kohlensaurer Kalk durch E. gelöst wird, wie das Kunststück mit den Eiern beweist, welche man durch einen Ring ziehen kann, nachdem man sie einige Zeit in E. gelegt hat (Plin. n. h. X 167. XXIX 49), und die bekannte Erzählung von der Perle der Kleopatra (Plin. n. h. IX 119ff. Val. Max. IX 20. Hor. sat. II 3. 240), sowie, daß er, auf gewisse Erdarten gegossen, heftiges Schäumen verursacht (Plin. n. h. XXIII 54). Hieran schließt sich die Verwendung von E. und Feuer als Sprengmittel, am bekanntesten aus Livius XXI 37 (weitere Stellen Thesaur. L. L. s. acetum 381; s. a. Gesta Berengarii I 129). Das Feuersetzen ist altüblich und wird gelegentlich noch heute angewendet (Spamers [Buch d. Erfindungen III 74ff. J. Fuchs Hannibals Alpen-Übergang, Wien 1897, 131. Blümner Technol. III 71. IV 115). Über die Verwendung des E.s hiezu äußert sich Berthelot im Journ. Sav. 1889, 244ff. (De l'emploi du vinaigre dans le passage des Alpes par Annibal et les travaux de mines chez les anciens) dahin, die Alten hätten einerseits auch andere Chemikalien wie Alaunlösungen u. s. w. als E. bezeichnet, andererseits aber die Wirkungen verwechselt. So habe man speziell dem E., ausgehend von dessen Einwirkung auf kohlensauren Kalk, Blei und Kupfer, eine Kraft zugeschrieben, die schon das kalte Wasser allein besitzt, nämlich nach vorhergehender Erhitzung Gesteine auf rein physikalischem Wege mürbe zu machen.

Natürlich wurden die Wörter ὄξος und acetum auch in übertragener Bedeutung für beißenden Witz und sauertöpfisches Wesen angewandt (vgl. Athen. II 67 c. Theocr. a. a. O. u. a.); näheres hierüber in den Lexicis.