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ADB:Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von

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Artikel „Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von“ von Carl Christian Redlich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 60–66, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gerstenberg,_Heinrich_Wilhelm_von&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 05:54 Uhr UTC)
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Band 9 (1879), S. 60–66 (Quelle).
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Gerstenberg: Heinrich Wilhelm v. G., geboren am 3. Januar 1737 zu Tondern, gestorben am 1. November 1823 zu Altona. Ueber seine Abstammung ist wenig bekannt. Die Angabe des dänischen Adelslexikons, daß die Gerstenberg’s eine alte oldenburgische Familie seien, scheint auf einer Verwechslung von Oldenburg mit Altenburg zu beruhen, wo das Stammgut der Familie liegt. Der Umstand, daß die Frau eines mit unserem G. befreundeten [61] Officiers, eine geborene v. Helmolt, sich seine Cousine und nächste Verwandte von väterlicher Seite nennt, weist auf Thüringen, denn die v. Helmolt’s sind Gothaer. G. selbst drückt sich den Anfragen thüringischer Namensverwandten gegenüber immer sehr zurückhaltend aus. Er habe Gründe, sagt er einmal, seinem Namen gram zu sein; 1772 ging er sogar mit dem Gedanken um, sich unter einem dänischen Namen in Kopenhagen naturalisiren zu lassen. Sein Vater war sehr jung mit einem verwandten Diplomaten nach Stockholm und von da nach Dänemark gekommen und hatte bei den dänischen Hülfstruppen unter Bernh. Joach. v. Mörner im polnischen Erbfolgekriege Dienste genommen. Ueber seine Heirath fehlen nähere Nachrichten. Er starb als dänischer Rittmeister nach 1763; die Wittwe lebte noch 1772. Unser Heinrich Wilhelm scheint ihr einziges Kind gewesen zu sein. Durch die Dedication der ersten Ausgabe der „Tändeleien“ kennen wir zwei Schwestern des Vaters, eine verwittwete Landräthin v. Meihern, und eine andere, die unvermählt im Herbst 1759 starb, auf Erbhof, das wohl nur eine kleine Landstelle in der Gegend von Puls war. G. besuchte zuerst die Schule von Husum, dann 1751–57 das Altonaer Gymnasium; er machte schon auf der Schule Verse und las bei seinem Abgang eine Abschiedsode „Der Sieg der Musen“. Von seinen Tanten unterstützt bezog er die Universität Jena, um Jurisprudenz zu studiren, und wurde dort gleich Mitglied der 1730 gestifteten deutschen Gesellschaft, die unter der Aufsicht des Prof. Reusch und nach dessen Tode des Hofraths Daries sich gemeinsam in Prosa und Versen übte und durch ihren Senior Karl Gotthelf Müller bereits ein paar Bände von Schriften aus schönen und höhern Wissenschaften hatte herausgeben lassen. In diesem Kreise entstanden Gerstenberg’s langweilige, von ihm selbst bald verworfene „Prosaische Gedichte“ (Altona 1759) und die im Rococostil gehaltenen, mit Versen untermischten „Tändeleien“ (Leipzig 1759), ebenso sein erster, ungedruckt gebliebener dramatischer Versuch, die Tragödie „Turnus“, die der von ihm um eine Kritik gebetene Gellert seinem Freunde Weiße zur Beurtheilung zusandte und durch welche eine dauernde freundschaftliche Verbindung des Verfassers mit Weiße angebahnt wurde. In der deutschen Gesellschaft verkehrte er u. a. mit dem durch den Hamburger Theaterstreit bekannt gewordenen Joh. Ludw. Schlosser, mit dem Gothaer Jacob Friedrich Schmidt, mit Balthasar Münter und mit Matthias Claudius. Die juristischen Studien, denen G. schwerlich je mit Ernst und Eifer obgelegen hat, wurden nach dem glänzenden Erfolge der „Tändeleien“, die Lessing im 32. und 33. Litteraturbriefe (vgl. Herder in seinen Fragmenten, II. S. 369) gepriesen hatte, abgebrochen. Nachdem er sich in seines Freundes Weiße Bibliothek der schönen Wissenschaften auch als Kritiker versucht hatte – das zweite Stück des fünften Bandes enthält von ihm Urtheile über Lessing’s Philotas, J. Fr. Schmidt’s poetische Gemälde und Bernis’[WS 1] Oeuvres mêlées unter der Chiffre B. –, kehrte er schon im Herbst 1759 nach Holstein zurück. Aber der ländlichen Abgeschiedenheit bei den Seinen, die damals in dem Dorfe Puls bei Hohenwestedt lebten, scheint er bald überdrüssig geworden zu sein, obgleich er dort Muße zur Umarbeitung seiner „Tändeleien“, zum Studium der englischen Sprache und der altnordischen Geschichte und zur Förderung dramatischer Entwürfe aus dieser Geschichte fand und in Altona an Dusch und Henrici[WS 2], in Rendsburg an dem Auditeur Oertling[WS 3] leicht zu erreichende, anregende Freunde besaß. Die langsame Vorbereitung auf ein Amt durch Uebernahme irgend einer Secretärstelle war schwerlich nach seinem Geschmack. Der Kriegsdienst verhieß ein rascheres Fortkommen: so folgte er dem Beispiel des Vaters und trat im Sommer 1760 als Cornet ein. Der Anfang seiner militärischen Laufbahn war hoffnungsvoll. Das Wohlwollen des Generalmajors v. Gähler[WS 4], dessen Adjutant G. während des kurzen und unblutigen Feldzugs [62] gegen die Russen im Sommer 1762 war, und die Gunst des Feldmarschalls Grafen St. Germain[WS 5] ließen ihn schnell zum Rittmeister avanciren und eröffneten ihm die sichere Aussicht auf die Stelle eines Referenten für die holsteinischen Militärangelegenheiten im Kriegsdepartement. Im Vertrauen auf eine vermeintlich sorgenfreie Zukunft hatte er sich im September 1763 zu Schleswig mit Sophie Trochmann, der Tochter eines dortigen Rathsverwandten, verlobt und die Braut am 12. Juli 1765 heimgeführt. Der Tod Friedrichs V.[WS 6] und der Abgang St. Germain’s änderte alles: G. wurde nicht allein nicht befördert, sondern auch aus einer 700 Thaler tragenden Stelle auf ein geringfügiges Wartegeld von 150 Thalern gesetzt. Dieser unerwartete Rückschlag ist bedeutsam für sein ganzes übriges Leben geworden: eine in den nächsten Jahren sich häufende Schuldenlast, deren Abtragung bei dem reichen Kindersegen des Hauses auch nach der Gewinnung einträglicher Aemter nicht gelang, legte den Grund zu finanziellen Verlegenheiten, von denen er eigentlich bis an sein Lebensende nicht frei geworden ist. Seine schriftstellerische Thätigkeit, die während seines militärischen Lebens eine mannichfaltige und zum Theil originelle gewesen war, wurde durch pecuniäre Sorgen gelähmt, von deren Schwere selbst seine nächsten Freunde keine Ahnung hatten. Fast sollte man glauben, daß die seltsame Wahl der Verhungerungsgeschichte aus dem Dante zu dem Trauerspiel, das seinen Namen am bekanntesten gemacht hat, durch die eigene Furcht, mit den Seinen einem unabwendbaren Ruin entgegenzugehen, beeinflußt sei. G. hatte als Offizier zunächst in Schleswig gestanden. Dort übersetzte er d’Espagnac’s „Versuch über den großen Krieg“ (Kopenh. 1763), schrieb unter dem Namen Ohle Madsen das kleine „Handbuch für einen Reuter“ (Altona 1763) und veröffentlichte die nach Gleim’s Vorbild gedichteten „Kriegeslieder eines königl. dänischen Grenadiers bei Eröffnung des Feldzugs 1762“ (o. O., gedruckt Schleswig 1763), deren Zahl nur auf drei gewachsen war und deren Heldenthaten sich auf den Marsch an die Trave und über die Trave beschränkten, weil Peters III.[WS 7] Tod es zu keinem Kampfe kommen ließ. Außerdem hatte er sich vor dem Feldzuge lebhaft an der von seinem bereits oben genannten Universitätsfreunde Jacob Friedrich Schmidt unternommenen holsteinischen Wochenschrift „Der Hypochondrist“ betheiligt. Der Herausgeber, der eine durch Gerstenberg’s Vermittlung in Holstein gefundene Hauslehrerstelle bald wieder verlassen hatte, versuchte, unterstützt von Kleen[WS 8], Loppnau[WS 9], Oertling und G., mit derselben eine Nachahmung des Tatler. Sie brachte es vom 2. Januar bis 19. Juni 1762 nur auf 25 Nummern, von denen G. mehr als ein Viertheil geliefert hat. Eine neue Ausgabe, die er 1771 von derselben besorgte, machte seinen Antheil noch größer, da er 6 von den alten Stücken ganz strich und 9 neue hinzufügte, während er die übrigen mehr oder weniger veränderte. Es kann also nicht auffallen, daß bald die ganze Wochenschrift ihm zugeschrieben und der eigentliche Begründer derselben vergessen wurde. Von Schleswig aus hatte G. schon 1761 mit seinem General Kopenhagen besucht und war dem deutschen Kreise nahe getreten, den Bernstorff nach der dänischen Hauptstadt gezogen hatte. Als er 1763 ganz dahin übersiedelte, wurde er von Klopstock und Sturz, von J. A. Cramer und Funk, von Resewitz und J. H. Schlegel[WS 10] als lange herbeigesehnter Freund mit offenen Armen empfangen. Seine liebenswürdige Gattin, musikalisch ebenso glücklich begabt als er selbst, vermehrte die Freuden des reichen geselligen Verkehrs, und das Clavier in der Hütte des jungen Paares zu Lyngbye nahe bei Bernstorff war oft genug der Sammelpunkt für die deutschen Freunde, zu denen sich bald auch Schönborn und vorübergehend Claudius gesellte, um dem Wechselgesang Gerstenberg’s und seiner Sophie zu lauschen (vgl. Sturz, Schriften, I. S. 184). In dieser Periode erreichte Gerstenberg’s Schriftstellerruhm seinen Höhepunkt. Nachdem [63] er 1765 eine Uebersetzung der „Braut“ von Beaumont[WS 11] und Fletcher[WS 12] nebst kritischen und biographischen Abhandlungen über die vier größten Dichter des älteren britischen Theaters seinem alten Freunde Weiße gewidmet hatte, erschienen in den drei nächsten Jahren die drei Dichtungen, welche von allem, was er geschrieben, die weiteste Verbreitung gefunden haben: Das „Gedicht eines Skalden“ (Kopenh. 1766), „Ariadne auf Naxos“ (Kopenh. 1767) und „Ugolino“ (Hamburg 1768), und gleichzeitig machten seine, nach ihrem Verlagsort gewöhnlich als Schleswig’sche Litteraturbriefe bezeichneten „Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur“ (Schleswig 1766/67) als kritisches Organ der (mit Herder zu reden) vierten Faction, neben der Leipziger, Schweizer und Berliner, die einen skaldischen Geschmack zur Bildung Deutschlands aufbringen wollte, bei Freund und Feind wenigstens vorübergehend großes Aufsehen. Das „Gedicht eines Skalden“, ein Geschenk für J. A. Cramer, dessen Gut Sandholm in seinem Gehölz das Grab barg, aus welchem G. den Geist seines Skalden heraufsteigen läßt, hat das freilich zweifelhafte Verdienst, die altnordische Mythologie in die deutsche Litteratur eingeführt zu haben. Daß die Litteraturgeschichten Klopstock zum Erfinder der Bardenpoesie machen, ist ein althergebrachter Irrthum; denn Klopstock ist erst durch den Skalden zur Entfernung der antiken Götterwelt aus seinen Oden angeregt worden. „Ariadne“ ist, abgesehen von einer ziemlichen Anzahl von Umdichtungen fremder Lieder zu dem Zweck der Anpassung an bekannte Melodien, Gerstenberg’s einzige Singcomposition, die vollendet worden ist. Diese tragische Cantate wurde gleich nach ihrer Entstehung von Scheibe componirt; eine zweite Bearbeitung durch den Bückeburger Bach, den Componisten von Gerstenberg’s „Mohrenmädchen“, blieb unvollendet; später setzte Reichardt sie noch einmal in Musik, nachdem Brandes sie in ein Duodrama verwandelt und mit Georg Benda’s[WS 13] Musik als erstes deutsches Melodrama zu einem vielgesehenen Paradestück seiner Frau gemacht hatte. Eine andere Cantate, „Clarissa im Sarge“, blieb unvollendet liegen. Von einer Oper „Peleus“, die G. noch zehn Jahre später beschäftigte, ist nur der Anfang in einem Brief an Klopstock erhalten. Die Bezeichnung einer „unnatürlichen Zwischengattung musikalischer Poesie, die ohne Musik die Wirkungen der Musik affectirt“ (wie Gervinus sie irrthümlich auffaßte), paßt nicht auf die „Ariadne“, deren wechselnde Rhythmen nicht die Musik ersetzen, sondern dem Componisten das geeignete Substrat für die Herstellung eines „Tongemäldes der Empfindung“ liefern sollten. Bei diesen Arbeiten war Gerstenberg’s Interesse vorwiegend ein musikalisches. Ueber die Mangelhaftigkeit der italienischen Singgedichte, deren heterogene Bestandtheile, Recitativ und Arie, eine schlechte Composition gäben, hat er sich 1770 in einem kleinen Aufsatz ausgesprochen, der in der Sammlung seiner vermischten Schriften wieder abgedruckt ist. Brieflich hat er mit dem Bückeburger Bach sogar über die Möglichkeit einer Programmmusik ohne Worte verhandelt und demselben als Thema zu einer solchen die Geschichte der Cleopatra vorgeschlagen. Der „Ugolino“ hat seinem Verfasser von Seiten Goethe’s mit Recht den Namen eines bizarren Talentes eingetragen. Schwerlich kannte irgend ein Deutscher damals den Shakespeare genauer als G., und doch wählte er mit Bewußtsein einen Stoff, der so unpassend als möglich für die dramatische Behandlung war, häufte die ohnehin kaum zu bewältigenden Schwierigkeiten durch eigensinniges Festhalten an der Einheit der Zeit und des Ortes und hatte seine Freude daran, Leser zu empören, die erst aus dem Buche eines Kunstrichters erfahren wollen, ob es ihnen erlaubt sei, sich rühren zu lassen. Es war ein Virtuosenkunststück, wie das jener Geiger, die auf ihrem Instrument polyphone Sätze auszuführen verstehen. Lessing nannte die Tragödie einen Knochen für die kritischen Hunde; er wollte seinen Knittel drunter werfen, wenn sie sich genug [64] darüber zerbissen hätten. Aber er hat sich öffentlich nicht weiter vernehmen lassen, obwohl Klotz in seiner Bibliothek und Herder in der Nicolai’schen das Stück eingehend besprachen; sein Brief an G. zeigt deutlich genug den Grund seines Schweigens. Döbbelin, der Held des tragischen Würgens, brachte mit großem Erfolg den „Ugolino“ 1769 in Berlin auf die Bühne; seine Frau, seine Tochter und sein Sohn spielten die Rollen der drei Kinder. – Die „Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur“ haben in Beziehung auf ihre Verfasser schon den Zeitgenossen viel zu rathen aufgegeben. Ohne handschriftliche Notizen Gerstenberg’s wäre es unmöglich, die vielen falschen Angaben über die Mitarbeiter an denselben zu berichtigen, da G. absichtlich nicht allein durch Datirung der Briefe von allen möglichen Orten, sondern auch durch künstlich verstellte Schreibart den Glauben zu erwecken suchte, als sei die Zahl der Mitarbeiter sehr groß. Die Mehrzahl der Briefe rührt aber von ihm selbst her, und für die drei Sammlungen, die den ersten Band bilden, haben nur Etatsrath Fleischer[WS 14], Funk und Oberkriegscommissar Kleen beigesteuert. Die Beiträge der beiden ersten lassen sich noch feststellen. Mit Kleen und Fleischer zusammen hatte G. 1765 ein dänisches Journal herausgegeben, „Samling af adskillige Skrifter til de skiönne Videnskabers og det Danske Sprogs Opkomst og Fremme“. Als G. seinen „Ugolino“ in der Officin von Bode und Lessing hatte drucken lassen – ursprünglich sollte mit demselben das von ihnen beabsichtigte deutsche Museum eröffnet werden – , kaufte Bode dem Schleswig’schen Verleger die Briefe ab, um sie fortzusetzen und warb Dusch, Sonnenfels, Klopstock, Cramer, Herder und einen ganz obscuren E. E. Buschmann[WS 15] für Beiträge. Von der Fortsetzung ist aber nur ein Heft 1770 erschienen, das an fremden Beiträgen ein Klopstock’sches Fragment und eine Uebersetzung aus dem Pindar von Schönborn enthält. Die Form der drei ersten Sammlungen ist den Berliner Litteraturbriefen nachgebildet. An litterarische Neuigkeiten vom deutschen und ausländischen Büchermarkt, wie sie gerade das Interesse des Herausgebers erregen, werden in oft sehr pretiöser Sprache seitab liegende Erörterungen angeknüpft. Am bedeutendsten sind die Betrachtungen über Shakespeare, die G. noch der Aufnahme in seine Schriften gewürdigt hat; freilich nicht ohne sie vorher einer völligen Umarbeitung zu unterziehen. Ursprünglich sind sie an eine sehr abfällige Beurtheilung der Wieland’schen Shakespeareübersetzung geknüpft, die erste öffentliche Kriegserklärung Gerstenberg’s gegen Wieland, nachdem er einen früher schon beabsichtigten Angriff in Weiße’s Bibliothek zurückgezogen hatte. Und dieser Kampf wurde auf anderem Felde in den nächsten Jahren unerbittlich durchgeführt. Durch Klopstock und Lessing kam G. in Verbindung mit dem Etatsrath Leisching[WS 16], dem Begründer des Hamburger Adreßcomtoirs und Eigenthümer der seit 1767 erscheinenden Neuen Zeitung, und war mit einigen Unterbrechungen vom Sommer 1768 bis Ende 1770 der Hauptrecensent für den gelehrten Artikel derselben, dessen scharfe, bisweilen durch lange Excurse erweiterte Kritiken den ganzen Klotzischen Kreis in Wuth versetzten. Leisching hatte im Herbst 1768 G. ganz nach Hamburg ziehen wollen; die alten Altonaer Freunde freuten sich schon auf das Wiedersehen, auch Claudius, der als Mitarbeiter an den Adreßcomtoirnachrichten die Correspondenz in Angelegenheiten der Zeitung zu besorgen hatte, aber vergebens: ein Anerbieten Bernstorff’s, das den Eintritt in den dänischen Civildienst in Aussicht stellte, lockte natürlich mehr. Das Genauere ist nicht mehr festzustellen. Gerstenberg’s eigene Angabe, er sei 1768 als geh. Conferenzsecretär in die deutsche Kanzlei eingetreten, muß auf einem Gedächtnißfehler beruhen, denn er war erst im October 1767 als Rittmeister in Eickstedt’s Dragonerregiment der Escadron zugetheilt, die in Kiöge lag. Aus dieser Stellung, und damit überhaupt aus dem Militärdienst, ist er erst im [65] Januar 1771 entlassen, als er unter Struensee’s Verwaltung zum Committirten in der deutschen Kammer und darauf zum Mitglied der Commerzdeputation ernannt wurde. Inzwischen scheint er seine Garnison nie besucht zu haben und mag wol provisorisch schon von Bernstorff als Secretär verwendet sein. Völlig geregelt ist seine Stellung erst nach Struensee’s Sturz, durch den er keinerlei Schaden erlitt. Er trat zunächst in die neuorganisirte allgemeine Rentkammer ein und wurde 1775 dänischer Resident und Consul zu Lübeck. In diesem Amt hätte er die ersehnte Muße zur Ausführung seiner vielen dichterischen Pläne finden können, wenn er die alten drückenden Schulden los gewesen wäre. Seine Musikliebhaberei, sein vielseitiger Verkehr, seine großartige Gastlichkeit bei den gesteigerten Anforderungen, die sieben heranwachsende Kinder und eine kränkelnde Gattin machten, haben das Deficit von Jahr zu Jahr vermehrt. Außer den alten Freunden kehrten gern die Genossen des Göttinger Hain’s bei ihm ein, die schon um seiner Freundschaft mit Klopstock willen für ihn schwärmten und in der feurigsten Zeit des Bundes seine Aufnahme geplant hatten. Am nächsten traten ihm C. F. Cramer und Voß, von Kiel und Wandsbeck wiederholt herbeikommend; dem ersten war er Vertrauter seiner unglücklichen Liebe zu einer verheiratheten Frau, den zweiten warnte er aus eigener Erfahrung vor Schließung seiner Ehe in ungesicherter Lage; Overbeck hatte er in derselben Stadt; Boie, die Stolberg’s, Sprickmann, Biester sprachen gelegentlich vor und blieben dann mit ihm in Briefwechsel. Mit diesen jüngeren Freunden ward 1777 viel und gern über einen abenteuerlichen Plan, gemeinsam nach Otaheite auszuwandern, verhandelt. Einflußreiche Freunde in Kopenhagen versuchten endlich 1783 eine gründliche Besserung von Gerstenberg’s Verhältnissen dadurch herbeizuführen, daß sie ihm die Erlaubniß verschafften, gegen alles Herkommen in Dänemark seine Stelle zu verkaufen, und der allzeit dienstfertige Boie schaffte einen Käufer, der sie für 20000 Thaler erwarb. Damit wäre nun allerdings geholfen gewesen, wenn G., wie er beim Abschluß des Handels sicher erwartete, ein anderes Amt erhalten hätte. Aber für alle darauf gerichteten Bitten hatte man in Kopenhagen kein Ohr. Der jüngere Bernstorff und Schimmelmann[WS 17] hielten ihn für unzuverlässig in Geldsachen und arbeitsscheu und wollten ihm weder eine Amtmannsstelle, noch ein Bibliothekariat anvertrauen. So wurde G., dem nach Regulirung seiner Verpflichtungen wenig mehr als die Hälfte seines Capitals übrig blieb, ein unruhiger Projectenmacher, wollte bald Leisching’s Zeitungsprivilegien kaufen, bald ein großes Gut pachten; ja, als seine Frau im Mai 1785 zu Eutin, wohin er vorläufig übergesiedelt war, ihrem Leiden erlag, machte er den Versuch, durch eine Geldheirath seine Lage zu verbessern. Erquicklich war ihm in dieser neuen Wartezeit die Wiedervereinigung mit Voß, der als Rector in Eutin stand. Im traulichen Verkehr mit diesem kam er wirklich zur Ausführung noch eines poetischen Planes: sein tragisches Melodrama „Minona oder die Angelsachsen“, das er selbst für sein bestes Werk hielt und dem er darum in der Sammlung seiner Schriften den Ehrenplatz angewiesen hat, wurde in Eutin vollendet und von Voß’ Verleger Hoffmann in Hamburg gedruckt. Das kalte und langweilige Stück hat nie Beifall gefunden. Im Herbst 1786 zog G. nach Altona und drei Jahre später hatten seine und seiner Kopenhagener Freunde unausgesetzte Sollicitationen den Erfolg, daß er dort zum Mitdirector des Lottojustizwesens ernannt wurde. In Altona fand er auch 1796 eine zweite Mutter für seine Kinder und eine treue Pflegerin seines Alters in Sophie Stemann, der Tochter eines aus Holstein gebürtigen Londoner Kaufmanns, die nach dem Tode ihres durch den Colonialkrieg ruinirten Vaters Jahre lang ihre aus London gebürtige Mutter als Mustermalerin für eine Hamburger Cattunfabrik erhalten hatte. Die Verbindung mit dieser edlen Persönlichkeit [66] half tröstend über mancherlei neue Sorgen der Kriegszeit und aufregende Erlebnisse in den Häusern seiner verheiratheten Söhne hinweg. Dazu erlaubte ihm seine ungeschwächte Sehkraft, die umfangreiche Muße seiner Sinecure ganz für seine Studien zu verwenden. Die Dichtkunst ruhte; nur mit Mühe brachte ihn sein Freund Gähler dazu, das Beste von seinen älteren Schriften zu einer kleinen dreibändigen Sammlung zu vereinigen (Altona 1815/16); er hatte sich ganz in die Metaphysik versenkt. Die Beschäftigung mit Kant’s Werken verjüngte ihn noch einmal so, daß er nicht allein mit der geistreichen Gattin Christian Stolberg’s, F. H. Jacobi und Charles de Villers brieflich philosophirte, sondern auch allen Ernstes noch als Sechziger daran dachte, einen Lehrstuhl der kritischen Philosophie in Kiel anzunehmen. Die Welt hat von seinen philosophischen Arbeiten, die er zum Theil selbst wieder zerstört hat, wenig zu sehen bekommen. Die drei kleinen Aufsätze im dritten Bande seiner Schriften und ein paar andere in Eggers’ Deutschem Magazin und Hennings’ Genius der Zeit sind Alles, was er davon herausgegeben hat.

Hauptquelle über Gerstenberg’s Leben ist seine auch im Supplementband zu Jördens’[WS 18] Lexikon abgedruckte Biographie von Schmidt von Lübeck[WS 19] mit Anhängen von Gerstenberg’s eigner Hand, die zuerst im Freimüthigen 1808 Nr. 210 ff. und 1809 Nr. 2 f. erschienen war und später zu dem Aufsatz im Neuen Nekrolog I. S. 698 ff. verarbeitet ist.[1] Durch die gütige Mittheilung der Reste des Gerstenberg’schen Nachlasses hat uns die Familie in den Stand gesetzt, ihre Angaben zu controliren und mehrfach zu berichtigen.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 66. Z. 20 v. o.: Ueber die Schleswiger Literaturbriefe vgl. das inzwischen erschienene Buch von M. Koch: Helf. Peter Sturz nebst einer Abhandlung über die Schleswiger Literaturbriefe. München 1879 (namentl. S. 76–136). [Bd. 9, S. 796]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Französischer Kardinal, Politiker und Schriftsteller; Siehe Wikipedia: Bernis, François-Joachim de Pierre de (1715–1794)
  2. Henrici, Paul Christian (1715–1794), Gymnasiallehrer und Justizrat
  3. Oertling, Philipp Ernst (ca. 1712–1764), Jurist und Auditeur beim jütländischen Infanterieregiment
  4. Peter Elias von Gähler (1718–1783)
  5. Französischer General, ab 1762 in dänischen Diensten; Siehe englische Wikipedia: Comte de Saint-Germain, Claude Louis (1707–1778)
  6. König von Dänemark und Norwegen; Siehe Wikipedia: Friedrich V. (1723–1766)
  7. Zar von Russland; Siehe Wikipedia: Peter III., Fjodorowitsch (1728–1762)
  8. Kleen, Peter (1732–1766), deutscher Oberkriegskommissar
  9. Loppnau, Karl Friedrich (1732–1803), Prediger
  10. Schlegel, Johann Heinrich im Sammelartikel Schlegel, Johann Adolf
  11. Englischer Dramatiker; Siehe Wikipedia: Beaumont, Francis (1584–1616)
  12. Englischer Dramatiker; Siehe Wikipedia: Fletcher, John (1579–1625)
  13. Im Sammelartikel Benda
  14. Fleischer, Christian (1713–1768), dänischer Etatsrat
  15. Buschmann, Ehrenfried Engelbert (1745–1808), Schriftsteller
  16. Leisching, Polycarp August (1730–1793)
  17. Graf Ernst Heinrich Schimmelmann in dem Sammelartikel
  18. Literaturhistoriker; Siehe Wikipedia: Jördens, Karl Heinrich (1757–1835)
  19. Norddeutscher Lyriker; Siehe Wikipedia: Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766–1849)