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ADB:Goedeke, Karl

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Artikel „Goedeke, Karl“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 422–430, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Goedeke,_Karl&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 05:42 Uhr UTC)
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Goedeke: Karl Friedrich Ludwig G., Litterarhistoriker, wurde am 15. April 1814 zu Celle als Sohn eines wohlhabenden Maurermeisters geboren. Die Eltern waren einfache Leute, und es scheint, daß die kastenmäßige Absonderung des cellischen Beamtenthums früh auf den Stolz des begabten Knaben drückte. Später hat er sie jedenfalls nicht ohne Reizbarkeit empfunden und in seinen Novellen den engherzigen Geist dieser Kreise drastisch verspottet. Eine gewisse Sprödigkeit gegenüber den Vornehmen und in Rang und Würden Festgesessenen ist ihm zeitlebens eigen geblieben. Nachdem G. die untern Classen des Celler Gymnasiums durchlaufen hatte, siedelte er Michaelis 1828 auf das Kgl. Pädagogium zu Ilfeld über, dessen Zögling er fünfthalb Jahr gewesen ist. Schon 1830 stand sein Entschluß fest, Philologie zu studiren, aber eifriger als den Schulfächern war er privater Lectüre zugewendet; seine stilistische Gewandtheit durfte sich in einer aufgetragenen Schulrede über den ältesten Ilfelder Rector Michael Neander und in Vorträgen über selbstgewählte Themata entfalten: Hans Sachs, Uhland, Grillparzer verrathen früh erwachte Sympathien, die wir durch Schiller und Platen schon für diese Zeit ergänzen dürfen. Eine Schülerrevolte im Frühjahr 1833 schien auch seinem Abgang Hemmnisse zu bereiten, aber schon damals hat er seine Abneigung gegen alles lärmende Auftreten bethätigt und sich zugleich unter seinen Mitschülern eine besondere Vertrauensstellung erworben. So behielt er denn auch zu einigen seiner Lehrer, wie zu dem Historiker Havemann, dauernd ein gutes Verhältniß, nachdem er die Anstalt glücklich mit dem Reifezeugniß verlassen und sich als stud. phil. in die Matrikel der Georgia Augusta [423] eingetragen hatte. In Göttingen hat er seine ganze Studienzeit verbracht: von Ostern 1833 bis Ostern 1838; Benecke, die Brüder Grimm, Gervinus, Dahlmann, K. Otfried Müller sind seine Lehrer gewesen; einen Abschluß durch Staatsexamen oder Promotion haben seine Studien nicht gefunden, weil zeitig rege und mit wachsender Liebe gepflegte poetische Neigungen und nächstdem die durch die Ereignisse von 1837 veranlaßte journalistische Bethätigung die wissenschaftlichen Interessen ablösten. Dem studentischen Treiben hat sich G. völlig fern gehalten, ihm genügte ein kleiner Kreis gleichgesinnter Freunde, unter denen ihm ein Theologe Stölting besonders eng verbunden war und blieb. Von seinen akademischen Lehrern hat Otfried Müller der durch Platen entzündeten Begeisterung für die schönen Formen der Antike festen Halt gegeben und den Studenten G. zu einer formvollendeten poetischen Huldigung hingerissen, Dahlmann ist ihm ein sicherer Führer in den politischen Wirren des auf seine Studienzeit folgenden Jahrzehntes geblieben, an Gervinus dagegen stieß ihn das an Eitelkeit grenzende Selbstbewußtsein ab, und in Stunden des Unmuthes hat er ihn wohl gar einer „wahrhaft unanständigen Langweiligkeit“ geziehen; Benecke’s gedachte er dankbar, aber doch stets mit einer leichten humoristischen Färbung: die Wortphilologie war ihm in diesem Lehrer liebenswürdig, doch nicht eben imponirend erschienen. Aber das ausdrucksvolle Auge des Greises leuchtete heller und seine Stimme bekam einen wärmeren Klang, sobald er auf Jacob Grimm zu sprechen kam: pygmäenhaft erschien ihm das ganze folgende Germanistengeschlecht neben diesem Gewaltigen, der doch zeitlebens so ein schlichter, lieber, herzensguter Mensch geblieben war. Das Verhältniß der Treue zu diesem unvergleichlichen Gelehrten und Menschen war der kostbarste Besitz seines Lebens, und wenn er, in späteren Jahren zur gelehrten Arbeit hingewandt, auch selten auf Gebieten sich bethätigt hat, die Jacob Grimm’s eigentliches Arbeitsfeld waren, eine wahre Herzensfreude gewährte ihm jeder Fund, der um das alte feste Band ein neues Fädchen zu schlingen erlaubte: so das niederdeutsche Lied zur Dietrichsage „Koninc Ermenrikes dot“ (Hannover 1851), so die Studien über den Hessen „Burchard Waldis“ (Hann. 1852) und wieder die Jacobsbrüder des „Kunz Kistener“ (Hann. 1851) oder die Beisteuer zum Deutschen Wörterbuch. Das Dichterwort „Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu thun“ schien ihm wie auf Jacob Grimm geprägt zu sein. Die erste Gelegenheit, diese Liebe zur hellen Flamme zu entfachen, brachte im Spätjahr 1837 das mannhafte Auftreten der Göttinger Sieben gegenüber dem hannöverschen Verfassungsbruch: damals hat sich der Studiosus G., der bisher nur als zarter Lyriker in den Spalten des Stuttgarter „Morgenblattes“ und der Frankfurter „Didaskalia“ aufgetaucht war, zuerst als Journalist versucht: in ausführlichen Berichten über die Göttinger Vorgänge für die Augsburger Allgemeine Zeitung, die dann ihren Weg durch einen großen Theil der deutschen Presse fanden. Aber auch zu dichterischem Ausdruck drängte es ihn, und als die geeignetste Form zur Kritik der Gegenwart erschien ihm das aristophanische Lustspiel, wie es Platen jüngst erneuert hatte. So entstand im J. 1838 „König Codrus. Eine Mißgeburt der Zeit". Zunächst handschriftlich an Jacob Grimm mitgetheilt fand das Stück dessen lebhaften Beifall: „Ich wüßte keinen, der vielleicht Platen’s Verlust so schnell zu ersetzen vermöchte“ schrieb er damals an Dahlmann (Briefw. I, 269 f.). Wir kennen das Werkchen nur in der um alle gefährlichen politischen Anspielungen verkürzten Gestalt, in der die Censur den Druck gestattete: Leipzig 1839 unter dem Pseudonym Karl Stahl, das G. auch in den Folgejahren zunächst festhielt. Die sprudelnde Munterkeit in der Handhabung des Reimes und der wechselnden Rhythmen und dann wieder der pompöse Schritt der anapästischen Parabase, die reine [424] und tapfere Gesinnung, die sich in prickelndem Witz über unwürdige Tändelei, in grimmigem Spott über moralische Erbärmlichkeit und in kraftvoller Begeisterung für schlichte Menschengröße Luft macht, all das rechtfertigt des Lehrers freundliches Vorurtheil, während wir eine starke künstlerische Originalität weder in der Erfindung noch im Aufbau erkennen. Auch die Novellen und Novelletten, die G. seit 1838 in verschiedenen belletristischen Zeitschriften pseudonym erscheinen ließ und dann (Celle 1841) als „Novellen“ unter seinem wirklichen Namen gesammelt herausgab, verrathen bei einer gewissen Vielseitigkeit der Stimmungen und Töne und wohlgepflegter sprachlicher Form nur schwache Erfindungsgabe. Zum bühnenmäßigen Lustspiel hat G. noch viel später (1857) verschiedene Anläufe gemacht, die aber weder zum Abschluß, noch zum Druck gelangten: für einen dieser Entwürfe nahm er den Stoff aus J. J. Engel’s Roman „Herr Lorenz Stark“. Wie so viele keimende Talente hatte der biedere Gustav Schwab auch unsern G. unter seine Fittiche genommen und sich vergeblich bemüht, für seine epische Dichtung in Romanzenform „Herzog Ernst“ einen Verleger zu beschaffen. Mehr zu bedauern ist es, daß die politischen Gedichte der Jahre 1837/38 auch in der Schweiz, wohin das Manuscript gewandert war, keinen Drucker fanden (J. Grimm’s Annahme im Brief an Dahlmann vom 8. Nov. 1838 ist irrig); sie würden G. dauernd einen Platz unter unsern vornehmsten politischen Lyrikern gesichert haben.

In den Abschluß seiner Studienzeit fällt auch ein erster litterarhistorischer Versuch Goedeke’s, die Charakteristik seines Lieblingsdichteres Platen, die er zu der Cottaischen Gesammtausgabe von 1839 beisteuerte und die dann noch wiederholt gedruckt worden ist. Im Frühjahr 1838 kehrte er zunächst nach Celle zurück und brachte hier vier Jahre unter vielseitiger, zerstreuender litterarischer Beschäftigung zu: er schrieb für eine ganze Anzahl meist Norddeutscher Blätter politische und litterarische Correspondenzen, lieferte Kritiken und novellistische Beiträge und erweiterte seine Bibliothek und seine Kenntniß der deutschen Litteratur zunächst der Gegenwart, dann auch der Vergangenheit. Die Stagnation des geistigen Lebens seiner engern Heimath bedrückte ihn, und er machte mit gutgesinnten, aber schwachgerüsteten Freunden allerlei wenig erfolgreiche Versuche, seine schwerfälligen Landsleute aufzurütteln, die er liebte, aber niemals überschätzt hat. Da sich Celle als der denkbar ungeeignetste Ort für solche Bestrebungen erwies, siedelte er 1842 nach Hannover über und trat hier als litterarischer Helfer und Rathgeber in ein näheres Verhältniß zu der damals energisch aufstrebenden Hahn’schen Verlagsbuchhandlung. 1844 erschien seine erste litterargeschichtliche Monographie „Adolph Freiherr von Knigge“, hervorgewachsen aus einer Neubearbeitung des „Umgangs mit Menschen" (1843); denn solche Arbeiten, ja sogar die neue Herrichtung eines bewährten und buchhändlerisch rentablen Briefstellers mußte er in dieser Stellung erledigen. Erfreulicher waren die Aufgaben, die er sich selbst stellte. Auf einen Novellen-Almanach für das Jahr 1843 folgte 1844 die erste seiner großen Anthologien: „Deutschlands Dichter von 1813–1843“, eine Auswahl aus 131 Dichtern mit biographischen und charakterisirenden Vorbemerkungen und einer umfangreichen Einleitung über die technische Bildung poetischer Formen, welche beweist, daß die Sicherheit in der Handhabung der verschiedensten Versmaße, wie sie G. selbst eigen ist, ihm nicht mühelos zugefallen, sondern das Ergebniß überaus ernsthafter Studien war. Die Auswahl ist nach Landschaften geordnet, und das Bestreben des Niedersachsen, der Eigenart der deutschen Stämme und der landschaftlichen Entwicklung unserer poetischen Cultur gerecht zu werden, bereitet uns schon auf werthvolle Tendenzen von Goedeke’s litterarhistorischem Hauptwerk vor. Wohl erregt die Zahl der Kleinen und Kleinsten, denen hier Beachtung [425] geschenkt wird, Besorgniß, aber für die Proben starken Talentes und die liebenswürdigen Gaben schwächerer Kraft zeigt sich im allgemeinen doch ein sicheres Unterscheidungsvermögen. Ergreifend wirkt die Wärme, mit der die deutschen Poeten des Elsaß dem Herzen der Nation nahe gelegt werden. Goedeke’s Geschmacksurtheil ist hier im wesentlichen gefestigt, wie wir es später kennen lernen, aber noch fehlt die Entschiedenheit der Sympathie und Antipathie, die sich im „Grundriß“ oft zur Schroffheit steigert. Mit besonderer Herzlichkeit zeichnet er unter den Niedersachsen Emanuel Geibel aus: „seine politischen Gedichte, in Opposition mit der waffenklirrenden Richtung des Tages, sprechen aus, was der besonnene Liberalismus, der Liberalismus des treuen, auf Gott mehr als auf Menschen bauenden Geistes im Herzen trägt". In diesem Sinne hat er an den Schluß der „Zeitgedichte“, die in einem besonderen Anhang vereinigt sind, Geibel’s Gedichte „An Georg Herwegh“ und „An den König von Preußen“ (aus dem Februar und December 1842) gesetzt.

Die Beschäftigung mit den politischen Angelegenheiten des großen und des engern Vaterlandes erschien G., ohne daß er je einen sonderlichen Beruf zum Politiker empfunden hätte, mehr und mehr als eine Verpflichtung, auch wenn sie ihm vielleicht auf Jahre hinaus den Verzicht auf seine Studien und als unvermeidlich die Trennung von dem streng conservativen Buchhändler Hahn auferlegte. Es ist für seine Gründlichkeit bezeichnend, daß er sich in diesen Jahren auch mit der politischen Geschichte seiner Heimath näher vertraut machte: ein Actenfund, wie er dem glücklichen Finder – denn ein solcher war G. – in die Hände fiel, gab ihm Veranlassung zu einer eindringenden Studie „Hannovers Antheil an der Stiftung des deutschen Fürstenbundes“ (Archiv d. histor. Vereins für Niedersachsen 1847). Als Redacteur der „Zeitung für Norddeutschland“ sowie vorübergehend der „Hannöver’schen Presse“ hat er vom Frühjahr 1848 ab die Anschauungen seiner Landsleute im Sinne des gemäßigten Liberalismus und einer nationalen Politik, welche über der freiheitlichen Ausgestaltung der hannöverschen Verfassung die höheren Ziele einer Einigung der Nation nicht aus den Augen verlieren dürfe, kräftig beeinflußt, und nachdem er während des Jahres 1848, das in Hannover ruhiger als anderwärts verlief, auch im Vereinsleben stark hervorgetreten war, wählte ihn die Residenzstadt zu einem ihrer beiden Vertreter in der zweiten Kammer der Stände, die auf Grund der freisinnigen Verfassung vom 5. September 1848 im Februar 1849 zusammentraten.

Schon in der Commissionsberathung einer Antwort auf die deutungsreiche Thronrede, zu der G. von seiner Kammer einstimmig deputirt war, traten jene Schwierigkeiten hervor, die der Tagung ein rasches Ende bereiten mußten: die Abneigung des Ministeriums Stüve und der ersten Kammer, sich auf die Anerkennung der deutschen Grundrechte, die in Frankfurt beschlossene Reichs-Verfassung und die Uebertragung der deutschen Kaiserkrone an den König von Preußen irgendwie einzulassen. Am 15. März wurden die Stände vertagt, am 25. April wurden sie definitiv aufgelöst. G. hat im Auftrage der ständischen Opposition unter dem unmittelbaren Eindruck der beiden Actionen der Regierung zwei Schriften verfaßt: „Hannover und Deutschland. Darstellung des Conflicts zwischen Regierung und Ständen in Betreff der deutschen Sache“ und „Die Auflösung der zweiten Kammer“, die in würdiger Sprache die Haltung der Kammer rechtfertigen und die Stimmung der Mehrheit des hannöverschen Volkes, die hinter ihr stand, kundgeben. Die Agitation für die deutsche Reichsverfassung und die preußische Kaiserwürde – ich folge hier fragmentarischen Aufzeichnungen Goedeke’s – ging ganz allein von ihm aus. Der Kampf gegen die Schwerfälligkeit und Nüchternheit seiner Landsleute, den [426] der Belletrist G. vergeblich geführt hatte, war in der politischen Sphäre dem Publicisten G. aussichtsvoll erschienen: er hatte die Hannoveraner aufgerüttelt – aber nun trat ihm in dem starrsinnigen Westfalen Karl Bertram Stüve der engherzige niedersächsische Particularismus und Utilitarismus verkörpert gegenüber. Nie hat er einen persönlichen Gegensatz schärfer empfunden. – Einen großen Tag brachten ihm jene Wochen doch: am 31. März durfte er an der Spitze der politischen Vereine der Landeshauptstadt die Kaiserdeputation auf der Durchreise nach Berlin begrüßen und als ihre Seele seinen innig verehrten Lehrer Dahlmann feiern. Der Höhepunkt seiner politischen Bethätigung aber war vorüber, bei den Neuwahlen unterlag G. einem ministeriellen Candidaten, und eine spätere Wiederwahl (1854/55) hat ihm keine neuen Lorbeeren gebracht. Daß ihm inzwischen das Vertrauen seiner Mitbürger nicht fehlte, konnte er als Bürgervorsteher und bei vielen Anlässen im öffentlichen Leben erfahren.

Es ist für Goedeke’s Streben nach richtiger Selbsteinschätzung bezeichnend, daß er seine politische Thätigkeit im Gespräch selten und nie anders als im Sinne einer Episode berührte, aus der er mit einem reinen und stolzen Gewissen hervorgegangen war. Die Brücke von den im März 1848 liegen gelassenen zu den nun wieder aufgenommenen Studien schlägt das zweibändige Werk, das noch mit der Jahreszahl 1849 herauskam: „Elf Bücher Deutscher Dichtung. Von Sebastian Brant (1500) bis auf die Gegenwart". „Aus den Quellen“ durfte er mit berechtigtem Stolz hinzusetzen, denn eine Anthologie von diesem Umfang und dieser gründlichen Kenntniß der Ueberlieferung von drei und einem halben Jahrhundert war kein Werk müßigen Liebhaberthums. Auch diesmal bilden den Schluß des Ganzen, an dessen Eingang in der Widmung an die Brüder Grimm die eben überwundenen Stürme nachzittern, politische Gedichte der neuesten Zeit: Nic. Becker’s Rheinlied und „Schleswig-Holstein meerumschlungen“! Das Werk verlangte eine Ergänzung nach rückwärts, für die G. nicht gleichmäßig gerüstet war. Sie erschien 1852/54 unter dem Titel „Deutsche Dichtung im Mittelalter“, wiederum in elf Bücher eingetheilt, denen 1871 in einer Titelauflage ein zwölftes „Niederdeutsche Dichtung im Mittelalter" von H. Oesterley angefügt wurde. Als wissenschaftliche Leistung läßt es sich dem philologisch festgegründeten Altdeutschen Lesebuche von Wilhelm Wackernagel nicht zur Seite stellen, aber es hat doch einen wenig genug bekannten Eigenwerth: seit von der Hagen’s und Büsching’s „Litterarischem Grundriß“ von 1812 war es der erste, und es ist bis heute der einzige Versuch geblieben, für die einzelnen Dichtungen das handschriftliche Material vollständig zu verzeichnen.

Alle diese Sammlungen waren Vorarbeiten oder waren erwachsen aus den Vorarbeiten zu dem großen Unternehmen, zu dessen Ausarbeitung sich G. 1855 mit seiner schönen Bibliothek zu der Mutter in das stille Celle zurückzog, und dessen Druck, Fortführung und Neugestaltung ihn durch 32 Jahre: bis an sein Lebensende, ja bis in seine Todesstunde begleitet hat, dem „Grundriß der Geschichte der Deutschen Dichtung aus den Quellen“, von dem 1856–1859 Band 1 und 2, 1862–1881 Band 3 erschienen ist; von einer Neubearbeitung, zu der ihm der Stoff gewaltig anschwoll, hat er in den Jahren 1884–1887 drei Bände fertig gestellt, die ihn aber nur bis an das Zeitalter des siebenjährigen Krieges heranführten. Mit diesem Riesenwerke ist G. einer der mächtigsten Förderer der deutschen Litteraturgeschichte und der größte Wohlthäter für alle geworden, die auf diesem weiten Felde arbeiten. Für das Mittelalter freilich konnte er nicht mehr bieten, als eine wohlgeordnete Sammlung alles dessen, was die deutsche Philologie bald sauber verarbeitet bald nur roh zusammengehäuft hatte. Seine sprachlich-philologische Bildung war nie in dem Maße gefestigt, daß sie ihn hier [427] zur Mitarbeit oder auch nur zu fördernder Kritik befähigt hätte, er verkannte bei aller Verehrung auch für den Grammatiker Jacob Grimm doch den eminenten Werth sprachgeschichtlicher Schulung auch für die historische Einordnung der Litteraturdenkmäler und hat sich von dem Vorurtheil gegen die von der classischen Philologie ausgehende „Bevormundung“ nie völlig befreit. Aber für die Zeit vom Ausgang des Mittelalters ab hat er uns nicht nur das litterarische Material in ungeahnter Fülle zugänglich gemacht und mit unvergleichlicher Uebersicht geordnet, er hat uns auch ganz neue Arbeitsfelder erschlossen, Aufgaben gestellt und Gesichtspunkte gegeben, die sich auch da fruchtbar erwiesen haben, wo sie vom Beginn der wissenschaftlichen Nacharbeit ab den Widerspruch herausforderten. Schon von der Schulzeit her wohnten zwei Seelen in Goedeke’s Brust: der schönheitsfrohe Formensinn, den unsere Classiker und die Antike genährt hatten, und die patriotische Freude an der Entfaltung urwüchsiger Eigenart auch da, wo sie den Sinn für äußere Schönheit völlig zu ersticken droht. So ist der treue Schüler Platen’s und der warme Freund Geibel’s achtzig Jahre nach Goethe ein neuer Herold des Hans Sachs geworden, dessen Dichtung ihm das Wesen unseres Volkes reiner verkörperte, als die großen Meister der Form um 1200 oder um 1800: „ein wahrer Dichter im vollsten Sinne“, „der alle Elemente der bewegenden Volksbildung umfaßte und beherrschte, der fast alles dichterisch darzustellen wußte, was bis dahin im deutschen Volke lebendig gewirkt hatte“. Aber diese Ueberschätzung des Hans Sachs und seiner Zeit hat ihm eben die Freudigkeit gegeben, das fast undurchdringliche Dickicht des 16. Jahrhunderts zu durchforschen und der Arbeit der Jüngern Aufgaben als mahnend und lockend hinzustellen, an die freilich die Lachmann und Haupt, zu denen sich G. stets im starken Gegensatz fühlte, nicht gedacht hatten. Niemand hat das dankbarer anerkannt als Wilhelm Scherer, der seine Vorlesungen über das 16. Jahrhundert ganz auf Goedeke’s Grundriß basirte, und wenn er selbst an die reizvolle Aufgabe einer Geschichte des Dramas im 16. Jahrhundert – des deutschen wie des lateinischen – dachte, sich wohl bewußt war, wer uns die Tafel so schmackhaft hergerichtet hatte. In der Neubearbeitung sind ganze Capitel neu aufgebaut: die lateinische Poesie des Frühhumanismus und die späthumanistischen Neulateiner werden in fast erdrückender Schaar vorgeführt, die Kunstlyrik der Uebergangszeit vom 16. zum 17. Jahrhundert in ihrer engen Verbindung mit der Musik wird uns zu vorläufiger Würdigung bereitgestellt, und so noch Vieles andere, was noch auf Menschenalter hinaus unsere Kräfte in Anspruch nehmen wird.

G. selbst griff eifrig zu, um den Reichthum und die Anziehungskraft der neu erschlossenen Gebiete energisch zu demonstriren, später auch sie weiteren Kreisen nahezubringen. In rüstiger Arbeit raffte er, wenig besorgt um feinere Eigenthumsfragen, die Preßerzeugnisse des Basler Buchdruckers und Poeten „Pamphilus Gengenbach“ zusammen (1856) und rüstete, ein unermüdlicher Copist, zahlreiche Editionen, die später in der Sammlung der „Deutschen Dichter des 16. Jahrh.“ (1867 ff.), denen sich „Deutsche Dichter des 17. Jahrh.“ (1869 ff.) anschlossen, unter seinem und Tittmann’s Namen erschienen sind. Aus ihnen sei die Ausgabe der „Narrenbeschwörung“ (1879) mit einer temperamentvollen Rettung Murner’s besonders hervorgehoben – die Stimmung, aus der sie geflossen ist, läßt die erste Entdeckerfreude der fünfziger Jahre wieder aufleben. –

Das Unabhängigkeitsgefühl Goedeke’s war zeitlebens von einer fast verhängnißvollen Stärke – er hat nie energisch nach einer festen Stellung gestrebt, obwol seine Mittel nicht ausreichten, um ihm ein ruhiges Leben zu sichern und die Unterhaltung einer großen Privatbibliothek zu gestatten, wie er sie für seine Studien nothwendig brauchte. Zweimal winkte ihm durch die warme [428] Fürsprache seines edlen Freundes Geibel die Aussicht, in München eine sorgenfreie und arbeitsfrohe Existenz zu erlangen: 1854, als sich König Max II. lebhaft für die von G. begründete und mit ausgezeichnetem Tact geleitete „Deutsche Wochenschrift“ interessirte, und dann wieder 1859, als ihm die ersten Bände des „Grundrisses“ wenigstens eine königliche Ehrengabe eintrugen. In diesem Jahre entschloß er sich dann auch, seinen Wohnsitz nach Göttingen zu verlegen, im Interesse seiner wissenschaftlichen Pläne und insbesondere der Weiterführung des Hauptwerkes. Hier hat er die letzten 28 Jahre seines Lebens zugebracht, zunächst als schlichter Privatgelehrter, seit 1862 mit dem Titel eines Ehrendoctors der philosophischen Facultät zu Tübingen geschmückt, seit 1873 außerordentlicher Professor an der Universität. Die Bibliothek war seine eigentliche Heimstätte, zumal er sich 1858 des kostbaren eigenen Bücherbesitzes hatte entäußern müssen, und ihren reichen Schätzen wie dem persönlichen Umgang mit Benfey verdanken wir eine bedeutungsvolle Erweiterung seines Gesichtskreises: die Richtung auf vergleichende Litteraturgeschichte, vor allem auf vergleichende Stoffgeschichte, Schwank- und Novellenkunde; unter dem wenigen rein Erfreulichen, was die trotz allen Programmen noch immer recht junge Disciplin aufzuweisen hat, stehen Goedeke’s Aufsätze in der Benfey’schen Zeitschrift „Orient und Occident“, insbesondere der bahnweisende mit dem Titel „Asinus vulgi“ (1861), der uns zuerst die Bedeutung der „Exempla“ oder Predigtmärlein würdigen gelehrt hat, und dann die höchst anziehende Monographie „Every-man, Homulus und Hekastus“ (1865) noch heute obenan. Die Sammlungen, die sich G. in jenen Jahren anlegte, hat er in mehr als uneigennütziger Weise Andern zur Verfügung gestellt, und viele die aus Oesterley’s Anmerkungen zu den „Gesta Romanorum“ oder zu Pauli’s „Schimpf und Ernst“ ihre Weisheit bequem vermehren, wissen gar nicht, daß das alles nur aus dem Ueberflusse Karl Goedeke’s stammt.

„Ich spende gern königlich“ hat er wol gelegentlich mit dem liebenswürdigen Pathos der Selbstironie geäußert, das ihm so gut anstand. Er hat nicht viel Glück dabei gehabt, denn weder Tittmann hat je eine Aufgabe so erledigt, wie sie sein Auftraggeber selbst (der ihm alles bereit legte!) mit leichter Hand fertig gestellt haben würde, noch sind die Göttinger Mitarbeiter der historisch-kritischen Schillerausgabe, die durchgeführt zu haben immer ein Verdienst Goedeke’s bleiben wird (17 Bände 1867–1876), seinen Ansprüchen gerecht geworden: er selbst hat den Hauptantheil der Arbeit getragen, bei der ihn im übrigen nur Reinhold Köhler und vor allem Wilhelm Vollmer ganz nach Wunsch unterstützten, und Leistungen wie die Wortregister (insbesondere das zu Bd. 5 I), die er prunklos wie selbstverständliche Parerga beisteuerte, wollen wir ihm trotz ihrer Unvollkommenheit hoch anrechnen.

Die wunderliche Ueberschätzung des 16. Jahrhunderts hat G. nicht gehindert, unseren Classikern ein bewundernder Verehrer und treu dienender Priester zu bleiben: zog ihn sein Herz auch mehr zu Schiller hin, so verkannte er doch nicht die überragende Bedeutung Goethe’s für die gesammte geistige Cultur unseres Volkes. Und die gründliche, zu selbständigen Monographien sich auswachsende und fast den Rahmen des „Grundrisses“ sprengende Behandlung der beiden Gewaltigen zeigte, daß ihm der Maßstab für wahre Größe in dem Bücherwuste nicht abhanden gekommen war, und war eine ernste Mahnung, vor dem Cultus der Bücher den Cultus großer Menschen nicht zu vergessen. Als künstlerische Leistungen freilich treten diese Biographien, sowie die selbständige Goethebiographie, die G. 1874 im Cotta’schen Verlag erscheinen ließ („Goethe’s Leben und Schriften“), weit zurück vor dem ausgezeichneten Buche, das unter fast tragischen Verhältnissen zum Torso geworden ist: „Emanuel [429] Geibel. Erster Theil.“ 1869. Es war nicht Schuld Goedeke’s, daß der zweite Band nie erschienen ist – der Held dieser Biographie selbst, der der Entstehung des Werkes ganz ferngestanden hatte, verhielt sich gegenüber der bloßen Existenz dieses ersten Bandes so ablehnend, daß damit für G. die Fortsetzung fallen mußte. Geibel übte keine Kritik: er erklärte dem Duzfreund rundweg, daß er das Buch nie lesen werde. Das Verhalten beider Freunde in der Sache war gewiß höchst ehrenhaft – aber wir dürfen es auch bei einer veränderten Einschätzung von Geibel’s Dichterwerth lebhaft beklagen, daß diese Biographie nicht fortgeführt worden ist: ein Altersgenosse und früher Freund, der ihn von seinen ersten Anfängen an mit liebevollem Interesse begleitet hatte, der vertraut war mit seinem äußeren und inneren Leben, der alle Bildungseinflüsse kannte, die auf den Menschen und Dichter gewirkt hatten, dieser Freund in der Reife der späten Mannesjahre, ausgestattet mit einem Bildungsbesitz wie wenige, geschult als Litterarhistoriker und Biograph an großen Aufgaben – was konnte er uns in der ruhigen und mit freiem künstlerischen Behagen ausgestalteten Darstellung dieses Dichterlebens bieten, für das ihm die Quellen so reichlich zuströmten und die schönsten Quellen, die Dichtungen selbst, so beredt erschienen! Der eine Band, bei dem es geblieben ist, erscheint mir als Goedeke’s liebenswürdigstes Buch und als eine seiner allerbesten wissenschaftlichen Leistungen. Aber wer liest ihn?

Im Sommer 1873 erhielt G. in seinem 60. Lebensjahre durch das Verdienst des Ministers Falk eine außerordentliche Professur an der Göttinger Universität. Daß keine ordentliche daraus wurde, kam nicht ohne Goedeke’s eigene Schuld: mit einem gewissen Eigensinn beschränkte er sich von vornherein auf einstündige Publica, deren Repertoire freilich, wie er selbst scherzte, das aller Collegen in Göttingen und außerhalb durch seine zeitliche und räumliche Ausdehnung übertraf: „es reichte von Confucius bis H. Heine“. Zu den wohlvorbereiteten, formvollendeten Vorträgen versammelte er regelmäßig einen großen Zuhörerkreis, aber ein wissenschaftlicher Erzieher ist er auf dem Katheder nicht mehr geworden; und schwere Schicksalsschläge, die ihn an der Schwelle des Alters trafen, haben auch seinen Ehrgeiz und sein berechtigtes Selbstgefühl in milde Resignation gewandelt. Seit ihm ein grausames Geschick den einzigen Sohn (Emanuel) raubte, in dem er voll frühen Stolzes den Erben seiner gelehrten Interessen, den zweiten Bauherrn am „Grundriß“ erblickt hatte, zog er sich mehr und mehr zurück. Aber immer blieb er ein hilfreicher Freund, auch gegen Schwache und Unwürdige, und gab ohne Zögern her, was immer er noch besaß von alten Abschriften und Auszügen. In angeregten Stunden konnte er einen Zauber der liebenswürdigen Plauderei entfalten, den hundert gedankenlose Benützer des „Grundriß“ nicht ahnen mögen, den aber wohl verstehen wird, wer Goedeke’s schriftstellerische Thätigkeit als Ganzes kennt. Zu seinem Wesen gehörte eine wunderliche Mischung von Akribie und Unordnung, von Arbeitsenergie und Sorglosigkeit. Bis zu seinem Ende überschätzte er immer wieder das Maß seiner gewiß ungewöhnlichen Arbeitskraft, und schwere Verdrießlichkeiten, in die er darüber mit dem Verleger seines Hauptwerkes gerieth, haben seine letzten Jahre getrübt. Mit wehmüthigem Lächeln hat er sich dann wol zuweilen einen Fronarbeiter genannt: so auch noch an jenem letzten Abend, wo er sich in später Stunde zu nächtlicher Arbeit zurückzog, um am Morgen nicht wieder zu erwachen. Ein Herzschlag hat ihn in der Frühe des 27. October 1887 sanft hinweggenommen. Die Trauer um ihn war aufrichtig und wahrhaft herzlich bei allen, die ihm persönlich nahe gestanden sind, und die Erinnerung an Karl Goedeke ist ein theurer Besitz insbesondere für die wenigen [430] überlebenden Fachgenossen, die zur Dankbarkeit gegenüber seinen Büchern den innigen Dank für seine persönliche Güte fügen dürfen.

G. Roethe in d. National-Zeitung 1888 Januar 27. – K. Vollmöller, Deutsche Dichtung III. Bd., 5. Heft, v. 1. Dec. 1887 (werthvoll durch die Beisteuer von Ferd. Frensdorff). – M. Heyne u. E. Jeep im Goethe-Jahrbuch IX (1888), 279–285. – Den Nachlaß des Verstorbenen hat mir die hochbetagte, aber geistesfrische Wittwe Frau Sophie Goedeke geb. Lohmeyer persönlich zugänglich gemacht, und im Gespräch mit ihr durfte ich die Erinnerung an manches auffrischen, was ich einstmals aus Goedeke’s eigenem Munde erfahren hatte.