Zum Inhalt springen

ADB:Stein, Karl Freiherr vom und zum

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom“ von Alfred Stern in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 614–641, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stein,_Karl_Freiherr_vom_und_zum&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 12:42 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 35 (1893), S. 614–641 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein in der Wikipedia
Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein in Wikidata
GND-Nummer 118617273
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|35|614|641|Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom|Alfred Stern|ADB:Stein, Karl Freiherr vom und zum}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118617273}}    

Stein: Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom St., geboren am 26. October 1757 zu Nassau, † am 29. Juni 1831 zu Cappenberg in Westfalen. Er stammte aus einem rheinfränkischen Adelsgeschlecht, dessen zerfallene Burg unweit der des Hauses Nassau hoch über der Lahn gelegen ist. Sein Vater, der kurmainzische Geheimrath Karl Philipp Freiherr vom St., war ein ehrenfester, energischer Mann, die Mutter, Henriette Karoline geb. Langwerth v. Simmern, verwittwete v. Löw, eine anmuthige, verständige Frau von frommem Sinn und wirthschaftlicher Thatkraft. Sieben Kinder überlebten die Eltern: vier Söhne, von denen St. der jüngste war, und drei Töchter. Aus ihrer Zahl standen die beiden Schwestern Johanna Louise, die auf den jungen Hardenberg flüchtig Eindruck machte, später nicht glücklich mit dem sächsischen Geheimrath von Werthern verheirathet, und die jüngste Marianne, nachmals Aebtissin des Stiftes Wallerstein, dem Bruder besonders nahe. Im Stein’schen Hause herrschten die Ideen von Vaterlandsliebe und Familienehre, wie sie den besten Abkömmlingen der Reichsritterschaft eigen waren. Von ihnen erfüllt, durch das Landleben gekräftigt und bei Unterricht wie Lectüre namentlich durch die Geschichte angezogen, bezog St. im Herbste 1773 mit seinem Hofmeister die Universität Göttingen. Nach dem Wunsche seiner Eltern studirte er Jurisprudenz, machte sich aber auch mit Statistik, Nationalökonomie und Geschichte, besonders des englischen Volkes vertraut, und verlebte anregende Stunden im Umgang mit gleichgesinnten jungen Männern, wie Rehberg und Brandes. Nachdem er Ostern 1777 die Universität verlassen hatte, folgte ein mehrmonatlicher Aufenthalt in Wetzlar, dem Sitze des Reichskammergerichtes, wo sich Stein’s Abneigung gegen den juristischen Beruf keineswegs minderte, hierauf eine Zeit der Wanderjahre, in der er an die Höfe von Mannheim, Darmstadt, Stuttgart, München, nach Regensburg, wo der Reichstag saß, nach Wien und von da nach Steiermark und Ungarn geführt wurde. Im Februar 1780 machte er in Berlin Halt, entschlossen unter Friedrich dem Großen in die Beamtenlaufbahn einzutreten. Die Eltern gaben seinem Wunsche nach. Es war ein bedeutsamer Schritt. Der Reichsritter, der nach einem Familienvertrag zum Stammhalter und Erben des [615] väterlichen Gutes erkoren war, band sein Schicksal an das des preußischen Staates.

Er dankte dem Minister v. Heinitz, einem Freunde seiner Eltern, eine sofortige Anstellung im Bergwerks- und Hütten-Departement. Noch im Alter rühmte er, daß die dreizehn Jahre, die er ihm angehörte, den Nutzen gehabt hätten, „den Körper zu stärken, den praktischen Geschäftssinn zu beleben, und das Nichtige des todten Buchstabens und der Papierthätigkeit kennen zu lernen“. – Der Besuch naturwissenschaftlicher Vorlesungen in Berlin, Begleitung des Ministers auf lehrreichen Dienstreisen, Besichtigung der Bergwerke Galiziens, Schlesiens, Thüringens, des Harzes, ein eifriges Studienjahr in Freiberg machten ihn bald mit seinem Fache vollkommen vertraut. Schon im Februar 1784 wurde ihm die Leitung des Bergwesens und der Fabriken Westfalens übertragen, die er, eigenem Geständniß nach, „mit Eifer aber etwas einseitig durchgreifend“, betrieb. Für kurze Zeit ward er 1785 aus seiner amtlichen Thätigkeit herausgerissen, um für eine diplomatische Mission verwandt zu werden. Es handelte sich darum, den Beitritt des Kurfürsten von Mainz zum Fürstenbunde zu Wege zu bringen, was ihm in Gemeinschaft mit dem Legationsrathe v. Böhmer gelang. In der Folge war sein ältester Bruder, Johann Friedrich, als preußischer Gesandter beim kurfürstlichen Hofe, für die Befestigung und Ausbildung dieses Bündnisses thätig. St. selbst dagegen, vom diplomatischen Treiben und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Müssiggang angewidert, kehrte freudig auf seinen Posten nach Wetter an der Ruhr unter die kernige Bevölkerung der Grafschaft Mark zurück. Nicht lange darauf, im October 1786, ward er zum Oberbergrath ernannt. Es hing mit seinem Berufe zusammen, als er in Begleitung seines Freundes, des Grafen Reden, vom November 1786 bis zum August 1787 „eine mineralogische und technologische Reise“ nach England machte. Doch äußerte die persönliche Bekanntschaft mit dem classischen Lande des Selfgovernment unzweifelhaft eine unschätzbare allgemeine Wirkung auf seine Denkweise. Bald nach seiner Rückkehr zum zweiten, im Juli 1788 zum ersten Kammerdirector bei der Kriegs- und Domänenkammer zu Cleve und Hamm ernannt, fand er Gelegenheit, sich in größerem Wirkungskreise als aufgeklärter Beamter zu bethätigen. Er stellte ein Muster auf wie Turgot[WS 1] als Intendant des Limousin. Zu seinen Ruhmesthaten gehörte die Schiffbarmachung der Ruhr, die Anlage von Kunststraßen ohne Frohndienste, die Beschränkung der Accise, die Freigebung von Verkehr und Gewerbebetrieb für das Land.

Die Rückschläge der französischen Revolution trafen ihn mitten in dieser segensreichen Thätigkeit. St. mußte die Umwälzung als feindliche Macht betrachten, schon insofern sie den Frieden Deutschlands bedrohte. Durch seinen Bruder erhielt er die Nachricht der Uebergabe von Mainz (1792). Mit ihm und dem Feldmarschall Grafen Wallmoden traf er Anordnungen, um das Vordringen der Franzosen einzudämmen, ermuthigte die Landgrafen von Hessen, schloß sich dem Hauptquartiere des Königs von Preußen an und war Zeuge der Wiedereinnahme von Frankfurt. Er hatte mit für die Verpflegung des preußischen Heeres zu sorgen, setzte dies Geschäft 1793 fort und gewann durch einen neuen Aufenthalt im Feldlager, namentlich als Zeuge der Belagerung und Zurückeroberung von Mainz, ein lebendiges Bild von den kriegerischen Angelegenheiten. Immerhin blieb seine gewohnte amtliche Wirksamkeit von den Ereignissen noch unberührt. Sie erweiterte sich noch durch seine Ernennung zum Präsidenten der Kriegs- und Domänenkammer von Hamm und Cleve im Jahre 1793. In eben diesem Jahre führte er die Gräfin Wilhelmine v. Wallmoden als Gattin heim, deren treffliche Eigenschaften er je mehr und mehr schätzen lernte. Sie gebar ihm drei Töchter, von denen eine jung starb. Das [616] Vordringen der Franzosen von den Niederlanden her nöthigte ihn 1794 Cleve, wo er seinen Hausstand aufgeschlagen hatte, zu verlassen. Er schickte seine Frau der größeren Sicherheit wegen nach Hannover zu ihren Verwandten und zog selbst nach Wesel. Wiederum damit beschäftigt, das Unheil der feindlichen Invasion möglichst zu mildern und für die preußischen Truppen unter Möllendorff’s Commando Vorräthe zu beschaffen, wurde er durch den Abschluß des Friedens von Basel ganz und gar den Arbeiten der inneren Verwaltung zurückgegeben. Als Oberpräsident sämmtlicher westfälischer Kammern mit dem Wohnsitz in Minden fand er Gelegenheit eine stärkere Probe seiner hohen Begabung für den inneren Staatsdienst abzulegen. Er belebte den Verkehr durch Erbauung der Heerstraße zwischen Bielefeld und Osnabrück, verbesserte die Schifffahrt auf der Weser, bestrebte sich, Leinwandfabrikation, Landwirthschaft und Holzcultur zu heben und betheiligte sich eifrig bei der Durchführung der großen Reform, welche darauf abzielte, die Dienste der Domänenbauern aufzuheben und sie zu freien Eigenthümern zu machen. Auch daß die militärischen Einrichtungen Preußens der Reformen bedürften, erkannte er klar. Er verurtheilte das Werbesystem und hielt es für ein unveräußerliches Recht des Staates, „von den Unterthanen die Vertheidigung seiner Integrität und Independenz zu fordern“. Nicht lange währte es, so erhob er sich zu der Forderung, daß keiner einen Bauernhof übernehme oder einen städtischen Betrieb ausüben solle, der nicht als Soldat gedient habe und daß die Dienstzeit auf etwa zehn Jahre beschränkt werde. Ein unermüdlicher Arbeiter, unnachsichtig gegen nachlässige oder treulose Untergebene, von schonungslosem Freimuth gegenüber höher Gestellten, erwarb er sich das vollste Vertrauen der Bevölkerung. In seiner Nähe suchte er mahnend auf den Prinzen Louis Ferdinand einzuwirken. Auf Reisen, so namentlich nach Hannover, trat er mit bedeutenden Zeitgenossen, wie Scharnhorst und Münster, in Beziehung. Jedem machte er den Eindruck eines genialen Feuergeistes. Der heilige Ernst, der ihn durchdrang, ließ auch seine Härten verzeihen. Ludwig v. Vincke, der trotz mancher Reibungen den Vorgesetzten nach seinem vollen Werthe erkannte, urtheilte über ihn: „Ein trefflicher Mann, vielleicht noch besser zum Minister als zum Präsidenten.“

Ehe sich diese Prophezeiung bewahrheitete, hatte St. als Organisator der säcularisirten Stifter Münster und Paderborn, die zu der Masse preußischer Entschädigungen für die am linken Rheinufer erlittenen Verluste gehörten, eine der schwierigsten Aufgaben zu lösen. Er traf Ende September 1802 in Münster ein, woselbst er in einem Flügel des bischöflichen Schlosses residirte. Einen anderen Flügel bezog in der Folge der Militärgouverneur General v. Blücher. Die beiden tapferen Männer wohnten unter einem Dache und verstanden sich sehr gut miteinander. Nächst Blücher war St. besonders der Domdechant v. Spiegel ein werthvoller Bundesgenosse für die Ueberleitung in die neuen Verhältnisse. Die Acten geben Zeugniß davon, mit wie viel Tact und Schonung diese geschah. Stein’s Vorschläge, die Behörden auf preußischen Fuß einzurichten mit Beibehaltung alter, tauglicher Beamten, auf den katholischen Priesterstand der neuen Landestheile Rücksicht zu nehmen, ohne der Staatsgewalt etwas zu vergeben, die Abneigung gegen den Militärdienst zu bekämpfen, die ehemaligen geistlichen Einkünfte zu gemeinnützigen, insbesondere zu Schulzwecken, zu verwenden, durch Ermäßigung der Accise den Handel zu entlasten u. a. m., beweisen, mit welchem Eifer und in welchem Geiste er sich seinen Obliegenheiten unterzog. – Inzwischen wurde er durch den Gang der allgemeinen Politik in mehr als einer Weise schmerzlich berührt.

Preußens Neutralität bot dem nördlichen Deutschland keine Schutzwehr gegen Frankreichs Eroberungen. Hannover ward von Mortier besetzt, und die [617] Truppenmacht, die sich auflösen mußte, statt den Feind abzuwehren, stand unter dem Commando Wallmoden’s, des Schwiegervaters Stein’s. Er sah den Untergang des Reiches klar vor Augen.

An seinen eigenen Gütern im Nassauischen, Frücht und Schweighausen, vergriff sich der Herzog von Nassau, indem er erklärte, für den Fall der Auflösung der Reichsritterschaft, die Landeshoheit auf sie ausdehnen zu wollen. St. vertheidigte sich und seine Genossen von der Reichsritterschaft in einem zornglühenden Briefe gegen den drohenden Gewaltact. Seine Ansicht über das, was er für die künftige Gestaltung Deutschlands wünschte, kam darin zum Ausdruck. Nassauische Annexionen sah er mit anderem Auge an als preußische. „Teutschland’s Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, schrieb er, wird durch die Consolidation der wenigen reichsritterschaftlichen Besitzungen mit denen sie umgebenden kleinen Territorien wenig gewinnen; sollen diese für die Nation so wohlthätige große Zwecke erreicht werden, so müssen diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchieen, von deren Existenz die Fortdauer des teutschen Namens abhängt, vereinigt werden, und die Vorsehung gebe, daß ich dies glückliche Ereigniß erlebe.“ – Das Jahr 1804, welchem dieser Brief angehört, brachte in Stein’s Wirksamkeit für den Staat eine große Veränderung hervor. Er wurde am 27. October 1804, als Nachfolger Struensee’s, zum Minister ernannt und mit der unmittelbaren Verwaltung des Accise-, Zoll-, Fabrik-, Manufactur- und Kommerzwesens betraut. Für die Verwaltung der Bank, Seehandlung und des Salzwesens war er in wichtigen Fragen an den Rath und an die Entscheidung des Grafen v. d. Schulenburg-Kehnert gebunden. Ungern verließ er einen Posten, der nach seinem Wunsche durch Vincke in einer seiner würdigen Weise neu besetzt wurde. Aber überzeugt davon, „daß deutsche Veredelung und Cultur fest und unzertrennlich an das Glück der preußischen Monarchie gekettet ist“, war er „zu jeder Aufopferung“ persönlicher Wünsche bereit. Von nun an stand er im Mittelpunkte des Staates.

Es war für ihn wie für Preußen von unschätzbarem Werthe, daß er seine staatsmännische Lehrzeit im Westen durchgemacht hatte. Hier waren wirthschaftliche und politische Zustände erhalten, die sich von denen des Ostens der Monarchie aufs vortheilhafteste unterschieden. Hier, wo die Industrie auch eifrig in den Dörfern getrieben wurde, ließ sich die scharfe Scheidung von Stadt und Land nicht durchführen. Wegräumung der Zollschranken und gleichartige Besteuerung waren natürliche Erfordernisse in den zerstreuten, gewerbthätigen Gebieten. Die Grundherrschaft hatte hier nicht eine so vorwiegende Bedeutung wie in den östlichen Provinzen. Es gab auf der rothen Erde Westfalens noch zahlreiche freie Bauern, und eine ständische Betheiligung der Bevölkerung am öffentlichen Leben setzte sich von Landtagen abwärts in die Tiefe, zu mannichfaltigen Ortsverbänden, fort. Die Bureaukratie war hier vielfach an die Mitwirkung von Männern ohne besoldetes Amt gebunden. In St. fanden derartige Einrichtungen ihren Vertheidiger. Er trat für die jährliche Berufung der cleve-märkischen Landtage ein, als die Gefahr ihrer Abschaffung drohte. Er erklärte, als die Ritterschaft des Münsterlandes Hoffnungen wegen Bildung einer neuen ständischen Verfassung äußerte: „Die Bildung zweckmäßig eingerichteter Stände halte ich für eine große Wohlthat für diese Provinzen. Sie erhalten eine wohlthätige auf Verfassung und gesetzliche Ordnung sich gründende Verbindung zwischen dem Unterthan und der Regierung. Sie belehren jenen über die Absicht der letztern, sie machen diese mit den Wünschen und Hoffnungen jener bekannt, sie verhindern die willkürlichen Abweichungen von Verfassung und gesetzlicher Ordnung. die sich die Landescollegien beim Drange der Geschäfte nicht selten zu Schulden kommen lassen, und sie sind [618] durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vaterland fest an das Interesse eines Landes gekettet, das den fremden öffentlichen Beamten gewöhnlich unbekannt, oft gleichgültig und bisweilen selbst verächtlich und verhaßt wird. Die Regenten haben von Ständen, die aus Eigenthümern bestehen, nichts zu fürchten, mehr von der Neuerungssucht jüngerer, der Lauigkeit und dem Miethlingsgeiste älterer öffentlicher Beamter und von der alle Sittlichkeit verschlingenden Weichlichkeit und dem Egoismus, der alle Stände ergreift.“ Er machte bereits bestimmte Vorschläge über die Bildung und die Competenz der Stände für die neuen Landestheile. Dabei war, soviel sich erkennen läßt, seine Voraussetzung, daß ihre Mitglieder aus Grundeigenthümern bestehen müßten. Er scheint in diesem Punkte damals noch überzeugter Physiokrat gewesen zu sein. Allerdings beschäftigte er sich auch eingehend mit Adam Smith, aber er gab sich ihm niemals ganz gefangen und arbeitete in späteren Jahren sogar an einer Widerlegung vieler seiner Sätze. Immer trat bei ihm die zusammenhängende Theorie hinter praktischem Wirken zurück, das sich auch Ausnahmen von der Regel gestattete. Dabei ging er nicht von der Freiheit des Individuums, sondern vom Interesse der Gesammtheit aus. Der Wunsch, die Angehörigen des Gemeinwesens in dessen persönlichen Dienst gestellt zu sehen, beherrschte ihn vor allen übrigen, und bei der Verbindung von Rechten und Pflichten wollte er der grundbesitzenden Classe einen Vorzug eingeräumt wissen.

Als Nachfolger Struensee’s hatte St. sich freilich zunächst auf seinen engeren Geschäftskreis zu beschränken. Auch hier bot sich seinem Reformeifer ein weites Feld. Die Erfahrungen, die er im Westen der Monarchie gesammelt hatte, begleiteten ihn, als er einen genaueren Einblick in die wirthschaftlichen Zustände des Ostens erhielt. Die lebendige Anschauung während einer großen Amtsreise im Sommer 1805 that wieder dabei das Beste. Er trat als Verfechter des Freihandels auf, setzte es durch, daß alle Binnen- und Provinzialzölle aufhören, die Accisetarife in Ost- und Westpreußen verbessert, die indirecten Steuern in Süd- und Neu-Ostpreußen vereinfacht werden sollten. Dazu kam eine Neueinrichtung der Salzadministration, die eine Ersparung der Hebungskosten herbeiführte, Minderung des Schreibwesens bei den Oberbehörden, Errichtung des statistischen Bureaus, Förderung der Industrie durch Einführung englischer Methoden. Als die Leitung der Bank und der Seehandlung von Schulenburg’s Händen in die seinigen überging, machte er sich an eine Umwandlung beider Anstalten, bei deren Verwaltung grobe Mißbräuche eingerissen waren, und berief Niebuhr von Kopenhagen an ihre Spitze. Indessen wurde eine gründliche Aenderung des Finanzwesens durch die dringenden Sorgen der allgemeinen Politik unmöglich gemacht. Der König entschloß sich beim Ausbruch des neuen Coalitionskrieges Anfangs September 1805 zu mobilisiren, eine Maßregel, die sich zunächst gegen den drohenden Einmarsch des russischen Heeres zu richten schien. Als aber Bernadotte das ansbachische Gebiet verletzt hatte, folgte die freiwillige Preisgebung der Neutralität im Osten, der Abschluß des Vertrages mit dem Zaren, der Preußen die Rolle bewaffneter Vermittlung überwies, die Absendung des Grafen Haugwitz mit dem Ultimatum in Napoleon’s Hauptquartier. Die Rüstung und die Aussicht auf den möglichen Eintritt in den Krieg machten es nothwendig, die Beschaffung von Geldmitteln ins Auge zu fassen. St. brachte u. a. Anleihen, Erhöhung und Ausgleichung der Steuern, Benutzung des Schatzes in Vorschlag, ging auch auf den Gedanken ein, Papiergeld auszugeben, das während des Krieges unrealisirbar, in Friedenszeiten aber realisirbar sein sollte. Die Unterzeichnung des Vertrages von Schönbrunn durch Haugwitz und seine bedingte Annahme durch den König machten es schon halb gewiß, daß Preußen sich nicht zum Kriege entschließen würde. Die Annahme des noch ungünstigeren [619] Vertrages von Paris vollendete seine Demüthigung. Der erzwungene Rücktritt Hardenberg’s, die Verwicklungen mit England und Schweden, die Stiftung des Rheinbundes, die Täuschungen durch Napoleon in Sachen des Besitzes Hannovers und der Gründung eines norddeutschen Bundes: das Alles belastete die Rechnung der preußischen Staatsleitung. Angesichts dieser Sachlage wurde St. dazu gedrängt, aus dem Rahmen des Fachministers heraus zu treten. Er durchschaute die Mängel des Ganzen und übte daran freimüthige Kritik.

Seine erste schon dem Ende April 1806 angehörige That war die „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Cabinets und der Nothwendigkeit der Bildung einer Ministerial-Conferenz“. Mit der stärksten, im einzelnen vielfach übertriebenen Charakteristik der einflußreichen Vertrauensmänner des Königs (Beyme, Lombard, Haugwitz, Köckeritz) verband sich die Forderung einer völligen Umbildung der höchsten Verwaltung. Er verlangte Wegfall des Generaldirectoriums mit den Provinzialministern, Bildung eines einheitlichen, nach dem Realsystem geordneten Ministeriums, dessen Zusammenhang mit dem König nicht durch die Uebergriffe eines unverantwortlichen Cabinets zerrissen würde, Entlassung der Männer, die Preußen in den Abgrund stoßen würden, wenn sie auf ihren Posten blieben. Auf den Rath Schrötter’s nahm St. einzelne Milderungen und Aenderungen seiner Denkschrift vor. Sie gelangte jedoch vermuthlich weder in der einen noch in der anderen Form an den König, sondern wurde von der Königin, die sie durch die Gräfin Voß empfangen hatte, zurückbehalten. Eine andere Denkschrift, von Johannes v. Müller verfaßt, gleichfalls gegen die Cabinetsregierung gerichtet, vom Ende August kam vor die Augen des Königs. Unter denen, welche sie unterzeichnet hatten, befand sich neben mehreren Prinzen des königlichen Hauses, dem Prinzen von Oranien, den Generalen Rüchel und Phull auch St. Der König war über den ungewöhnlichen Schritt erzürnt und gab St. insbesondere seine Unzufriedenheit zu erkennen. Unmittelbar danach fielen die Würfel, wurden die düsteren Prophezeiungen zur Wahrheit. Der ausbrechende Krieg gegen Napoleon erwies Preußens Schwäche. Die Doppelschlacht von Jena und Auerstädt, die Capitulationen im offenen Felde, die Uebergabe der Festungen folgten sich Schlag auf Schlag. Das alte morsche Staatswesen brach zusammen. St. rettete rechtzeitig die Cassen von Berlin nach Stettin, dann nach Königsberg, verließ am 20. October, sehr stark an Podagra leidend, die Hauptstadt und widerrieth mit der Minderheit in der Conferenz zu Osterode am 20. und 21. November die Annahme des Waffenstillstandes und der schimpflichen von Napoleon vorgeschlagenen Bedingungen. Sein herzhafter Rath siegte. Dadurch entschied sich die Verbindung mit Rußland und der Fall von Haugwitz, der ihr widerstrebte. Der König wünschte, daß St. das erledigte Amt des Auswärtigen wenigstens interimistisch übernehmen möge. Aber St. lehnte es ab. Er wies auf seine Unkenntniß der diplomatischen Geschäfte hin, für deren Behandlung Hardenberg sich besser eigne. Zugleich aber drang er nochmals auf Umwandlung der obersten Behörden im Sinne seiner früheren Denkschrift. Es entspann sich nunmehr ein Kampf zwischen St. und dem König um das Fortleben der Cabinetsregierung. Der König wollte durch Einsetzung eines beschränkten Conseils nur ein halbes Zugeständniß machen, nachdem Lombard schon entfernt war, sich von Beyme als Cabinetsrath nicht trennen, ihm eine Stellung anweisen, welche die Selbstständigkeit der Minister geschädigt haben würde. So wenig wie St. war Hardenberg gewillt, sich darauf einzulassen. Statt seiner wurde am 19. December Zastrow interimistisch Minister des Auswärtigen, Rüchel erhielt das Ministerium des Krieges, St. das des Innern, mit dem das der Finanzen verbunden sein sollte. Diese drei sollten, unter Wahrung der Rechte Beyme’s, das gemeinsame Conseil bilden. St. dachte nicht an [620] Ausscheiden, lehnte aber, da die Umwandlung eine unvollständige geblieben war, die ihm zugedachte Stellung im Conseil durch ein Schreiben an Rüchel ab. Dies kam jedoch dem König nach Rüchel’s schonendem Berichte nicht zum Bewußtsein. St. seinerseits hielt fest daran, das Conseil nach seiner Weigerung nicht für constituirt anzusehen. Der Bruch erfolgte, als St. sich nochmals weigerte ein Gutachten über eine Angelegenheit abzugeben, das der König, zuletzt mit Berufung auf die neue Einrichtung des Conseil, durch Köckeritz ihm abverlangte. Nicht nur daß dieser Bote St. verhaßt war, er selbst durch Krankheit und Unwillen über den Lauf der Dinge gereizt: er weigerte sich, die übersandten Acten zu behalten, weil die fragliche Angelegenheit nicht zu seinem Geschäftskreise gehöre. Hierauf hatte auch die Geduld des Königs ein Ende. Er schrieb ihm am 3. Januar 1807 in den härtesten Ausdrücken, faßte zusammen, was er alles gegen ihn auf dem Herzen hatte und erklärte ihm am Schluß, der Staat könne sich keine große Rechnung auf seine ferneren Dienste machen, wenn er sein „respectwidriges und unanständiges Benehmen“ nicht ändere. St. war im Begriff, mit Zurücklassung der Seinigen, darunter eines am Nervenfieber todkranken Kindes, dem Hofe von Königsberg nach Memel zu folgen, als ihm dies Schreiben durch einen Feldjäger zugestellt wurde. Er erbat sofort seine Entlassung und erhielt sie.

Krankheit hielt ihn bis nach der Schlacht von Eylau in Königsberg zurück. Von da begab er sich mit seiner Familie nach Danzig, erreichte unter mancherlei Gefahren Berlin und gelangte Ende März nach Nassau. Während Hardenberg, als leitender Minister zurückgerufen, alle Kraft anspannte, um durch das preußisch-russische Bündniß die Befreiung Europas vom Alp der französischen Vorherrschaft anzubahnen, sann St. in der Stille auf Mittel, dem Staate Friedrich’s des Großen neues Leben einzuhauchen. Hier entwarf er zum ersten Male, im Juni 1807, ein umfassendes Programm „über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“. Wennschon die Frage der Neubildung der Centralbehörden viel ausführlicher behandelt wurde als die übrigen Gegenstände, so durchdrangen doch zwei Grundgedanken das Ganze. Es ist das Bestreben, der Verwaltung größere Kraft und Einheit verliehen, gleichzeitig aber der Wunsch, den freien Bürgern des Staates ohne Einschränkung auf einen Stand, aber unter Voraussetzung von Eigenthum (und zwar von „bedeutendem Eigenthum jeder Art“, also nicht allein von Grundeigenthum) Antheil an ihr gewährt zu sehen. Das eine war als Ergänzung des andern gedacht. Die „Bureaukratie“, der „Miethlingsgeist besoldeter Beamten“, das „Leben in Formen und Dienstmechanismus“ sollten ein Correctiv erhalten und ersetzt werden durch die Theilnahme „der Eigenthümer aller Classen“ an der Communal- und Provinzialverwaltung. „Meine Diensterfahrung, erklärte er hier u. a., ganz entsprechend früheren Aeußerungen, überzeugt mich innig und lebhaft von der Vortrefflichkeit zweckmäßig gebildeter Stände, und ich sehe sie als ein kräftiges Mittel an, die Regierung durch die Kenntnisse und das Ansehen aller gebildeten Classen zu verstärken, sie alle durch Ueberzeugung, Theilnahme und Mitwirkung bey den Nationalangelegenheiten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine freie Thätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben, sie vom müssigen sinnlichen Genuß oder von leeren Hirngespinnsten der Metaphysik, oder von Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke abzulenken und ein gut gebildetes Organ der öffentlichen Meynung zu erhalten, die man jetzt aus Aeußerungen einzelner Männer oder einzelner Gesellschaften vergeblich zu errathen bemüht ist … Die Regierung, weit entfernt Ursache zu haben über den Einfluß der Classe der Eigenthümer, aus einer ruhigen, sittlichen, verständigen Nation etwas befürchten zu müssen, vervielfältigt [621] die Quellen ihrer Erkenntniß von den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft, und gewinnt an Stärke in den Mitteln der Ausführung. Alle Kräfte der Nation werden in Anspruch genommen, und sinken die höheren Classen derselben durch Weichlichkeit und Gewinnsucht, so treten die folgenden mit verjüngter Kraft auf, erringen sich Einfluß, Ansehen und Vermögen, und erhalten das ehrwürdige Gebäude einer freyen, selbständigen unabhängigen Verfassung.“ Sollte die Selbstverwaltung in dem von ihm gewünschten Umfang in Preußen durchgeführt werden, so mußte eine Aenderung in den bäuerlichen Zuständen und in den städtischen Verhältnissen vorausgehen. Die alten gesellschaftlichen Schranken mußten fallen, die Wandlungen bis in die Tiefen des Volkslebens hinabdringen.

Der Abschluß des Tilsiter Friedens, zu dem sich Friedrich Wilhelm III. entschließen mußte, brachte es mit sich, daß St. selbst berufen wurde, die Ausführung seines Reformprogrammes in Angriff zu nehmen. In der grenzenlosen Noth erschien er nach Hardenberg’s unvermeidlicher Entlassung als einzig möglicher Retter. Sogar Napoleon wies den König auf ihn hin. Hardenberg schrieb ihm: „Sie sind der Einzige, auf den alle guten Vaterlandsfreunde ihre Hoffnung setzen.“ Die Prinzessin Louise von Radziwill beschwor ihn: „Versagen Sie sich unsern Bitten nicht.“ Von einem heftigen Fieberanfall gepackt entschloß sich St. doch sofort der Aufforderung des Königs, wieder in den Dienst des Staates zu treten, zu folgen und eilte, sobald seine Gesundheit es erlaubte, nach Memel, wo er am 30. September 1807 eintraf. Der König zeigte sich bereit, ihm die oberste Leitung aller Civilangelegenheiten zu übertragen und seine Pläne der Umbildung der Verwaltung gutzuheißen. Uebrigens fehlte es nicht an Reibungen, da der König sich noch immer nicht von Beyme trennen wollte. Eine Einigung erfolgte erst in der Weise, daß Beyme zum Chefpräsidenten des Kammergerichts ernannt wurde, vorläufig aber mit beschränkter Wirksamkeit in der Nähe des Königs blieb. Die frühere Art der Cabinetsregierung hörte auf, wennschon die gänzliche Auflösung des Cabinets erst im Juni 1808 mit Beyme’s Abreise erfolgte. Bis zur Herstellung der neuen Behördenorganisation erhielt St. eine Art dictatorischer Gewalt. Das preußische Provinzialministerium (Schrötter), das einstweilige Justizministerium, die für das Innere und die Finanzen eingesetzte Immediatcommission, die Friedensvollziehungs-Commission in Berlin waren ihm untergeordnet und er hatte ihre Berichte dem König vorzutragen. Er hatte in den Conferenzen des Ministeriums des Auswärtigen Vorsitz und Stimme. Er leitete die Verwaltung der Generalcassen, der Staatsbuchhalterei, Bank und Seehandlung. Er nahm an den Berathungen der Militär-Reorganisationscommission Theil. Er war berechtigt, von sämmtlichen Behörden Auskunft zu fordern. Mit so großen Machtvollkommenheiten ausgerüstet, vom König mehr gefürchtet als geliebt, durch ausgezeichnete Mitarbeiter unterstützt, entfaltete er eine unvergleichlich fruchtbare Wirksamkeit beim Neubau Preußens. Sie erscheint um so glänzender, wenn man bedenkt, daß sie wenig länger als ein Jahr währte, und daß finanzielle Bedrängnisse des Staates und auswärtige Angelegenheiten ihn zugleich fortdauernd in Anspruch nahmen. Allerdings war der Grad seiner persönlichen Thätigkeit beim Zustandekommen der einzelnen Reformgesetze ein sehr verschiedener. „Er faßte, wie Vincke sich ausdrückt, die Sachen großartig auf, nahm von dem Detail wenig Notiz und übersah die Schwierigkeiten, welche dieses mit sich brachte, selbst wenn sie unüberwindlich gewesen wären.“ In manchem, was sein Name deckte, machten sich mehr die politischen und volkswirthschaftlichen Ideen anderer (so namentlich Schön’s) geltend als seine eigenen. Aber dank seiner Charakterstärke, seiner fortreißenden Energie und durchdringenden Einsicht wurde er der Vorkämpfer, um den sich Alle zusammenschlossen, die nur von gründlichen Reformen das Heil erwarteten. [622] Ohne seine „eiserne Festigkeit“ wäre, wie Boyen in seinen Erinnerungen urtheilt, vielleicht ihre Sanctionirung durch den König nicht erreicht worden. Daher bildet jene ganze Gesetzgebung seines kurzen höchsten Ministeriums seinen schönsten Ruhmestitel.

Die erste bedeutende Maßregel, die es verewigt, ist das Edict „den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums, sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“ vom 9. October 1807. Die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, die auf den meisten Domänen schon durchgeführt war, wurde damit auch den Privatbauern zu Theil, und die Freiheit des Güterverkehres wie die freie Wahl des Gewerbes ohne Rücksicht auf den angeborenen Stand zugelassen. Zusammengenommen war dies ein gewaltiges Stück jener „Revolution im guten Sinne“, die Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift als Ziel hinstellte. Allerdings hatten der Minister Schrötter mit seinem Bruder, dem Kanzler, die Immediatcommission, und in ihr vor Allen Schön, bereite vor der Ankunft Stein’s diese große gesetzgeberische That vorbereitet. Das Verdienst Stein’s, der mit dem Grundgedanken des Edictes längst vertraut war, bestand darin, an der schon beabsichtigten Ausdehnung desselben auf die ganze Monarchie festzuhalten und hinsichtlich der Frage der freien Verfügung über das Bauernland fortdauernder Staatsaufsicht das Wort zu reden. Dieser Gedanke sollte in Verordnungen zum Ausdruck kommen, von denen die für die Provinz Preußen erlassene vorbildlich wurde. Sie entsprach jedoch weniger Stein’s als Schön’s agrarpolitischen Ansichten. – An das Edict vom 9. October schloß sich ergänzend an die Verordnung vom 28. October 1807, welche die Erbunterthänigkeit auf den Domänen, wo sie noch bestand, aufhob. Am 27. Juli 1808 wurde die Verleihung des Eigenthums an alle Immediat-Einsassen der Domänen von Ostpreußen, Litthauen und Westpreußen geregelt, was nach Stein’s Rechnung dem Wohlstande von 47 000 Familien zu Gute kam. Er hatte die Absicht, auf die agrarische Reform eine ländliche Communalordnung folgen zu lassen, mit der patrimoniale Gerichts- und Polizeigewalt zu Fall gekommen wären. Eine Kreis- und Polizeiordnung des platten Landes sollte sich anschließen. Aber man gelangte nicht über einen lückenhaften Entwurf hinaus, der sich zudem nur auf die Provinz Preußen bezog.

Hingegen wurde mit der Städteordnung vom 19. Nov. 1808 ein Werk geschaffen, das wesentlich in Stein’s Sinne gedacht, lebenskräftig fortdauerte. Seine persönliche Thätigkeit beim Zustandekommen dieses epochemachenden Gesetzes war freilich nach dem Urtheil des kundigsten Forschers „verhältnißmäßig gering“. Auch wichen seine Ansichten in den verschiedenen Aeußerungen über diesen Gegenstand, die sich erhalten haben, hie und da von einander ab und fanden nur theilweise Aufnahme in das Gesetz. Das Hauptverdienst seiner Ausarbeitung, wie fast aller Organisationsgesetze des Stein’schen Ministeriums, fällt dem ostpreußischen Provinzialdepartement zu. Neben Schrötter gebührt namentlich Wilckens, einem seiner besten Gehilfen, ein Platz in der Vorgeschichte der Städteordnung. Doch hat man zwei Aufsätze des Geheimen Kriegsrathes und Polizei-Directors Frey für noch wichtiger anzusehen, insofern sie bereits die Grundlagen der Städteordnung enthielten. Eben diese Aufsätze waren aber auf Stein’s Aufforderung abgefaßt. In ihnen fanden sich Gedanken, die bereits seine Nassauer Denkschrift vom Juni 1807 enthalten hatte: Einschränkung der staatlichen Bevormundung, Theilnahme der mit Häusern und Eigenthum angesessenen Bürgerschaft an der Verwaltung durch gewählte Repräsentanten. Auf die Einzelheiten der Städteordnung kann hier nicht eingegangen werden. Aber soviel ist als ein unvergänglicher Ruhm des Stein’schen Ministeriums hervorzuheben: indem sie den Unterschied von Immediatstädten und Mediatstädten [623] beseitigte, die Eintheilung der Bürgerschaft nach Zünften und Classen aufhob, ein einheitliches Bürgerrecht schuf, in Magistrat und Stadtverordneten Organe der städtischen Selbstregierung bildete und diesen einen weitgezogenen Spielraum gewährte, nährte sie in unvergleichlicher Weise den Gemeingeist und beförderte aufs mächtigste die politische Erziehung. St. hat im Laufe der Zeit manche Mängel der Städteordnung erkannt und frühere Ansichten aufgegeben, die sich auf diesen Gegenstand bezogen. Aber den „wohlthätigen Einfluß“ des Gesetzes durfte er viele Jahre nach seinem Erlasse rühmen, wobei er über seinen eigenen Antheil an der geistigen Urheberschaft ganz hinwegging.

Ein weiteres Mittel die Selbstthätigkeit der Nation zu wecken war in der Anbahnung der Gewerbefreiheit zu finden. Indessen blieb St. dabei stehen, nur den Zunftzwang der Bäcker, Fleischer und Verkäufer der nothwendigsten Lebensmittel in den Städten der Provinzen Ost-, Westpreußen und Litthauen zu brechen. Es wäre irrig, ihn mit sich selbst in Widerspruch setzen zu wollen, weil die Regierungsinstruction vom 26. December 1808 allgemein „möglichster Gewerbefreiheit“ das Wort redet, denn dies Actenstück hat seiner Beurtheilung nicht vorgelegen. Mit der späteren, ausgedehnten Gewerbefreiheit hat er sich niemals befreundet. Die Zünfte wollte er in verbesserter Gestalt erhalten wissen. Er unternahm in der Folge (1821) ihre Vertheidigung gegenüber seinem moderner denkenden Freunde Kunth, nicht als „technologischer Anstalten“, sondern der Meinung, daß „das Bürgerthum besser aus ihnen entblühen werde“, „die durch gemeinschaftliches Interesse, Lebensweise, Erziehung, Meisterehre und Jugendzucht gebunden sind, als aus den topographischen Stadtvierteln, wo Nachbar mit Nachbar, selbst Hausbewohner mit Hausbewohner in keiner Verbindung steht und vielmehr durch den allgemeinen Egoismus auseinander gehalten wird“. Auf einem anderen Felde der Reformgesetzgebung, bei der Umbildung der Central- und Provinzialbehörden, brachte St. selbst durch entschiedenes persönliches Eingreifen seine Erfahrungen zur Geltung. Nach seinen Angaben arbeitete Altenstein den Organisationsplan vom 23. November 1807 aus. Die Hauptgesichtspunkte, die den Minister leiteten, waren seinen Worten nach: „die möglichste Einheit und Kraft in der obersten Leitung der ganzen Staatsverwaltung zu vereinigen“, „eine zweckmäßige Vertheilung der Geschäfte zu bewirken“, bei solchen, die „ganz vorzügliche wissenschaftliche oder technische Kenntnisse erfordern, die Beschränkung auf bloß eigentliche Geschäftsmänner“ aufzugeben, endlich „die Nachtheile zu vermeiden, welche entstehen, wenn die Administration lediglich in die Hände besoldeter Diener kommt und die Nation von aller Theilnahme ausgeschlossen wird“. Indessen mußte man sich zunächst mit interimistischen Maßnahmen begnügen. Erst am 28. October 1808 konnte St. den Plan vorlegen, der als Verordnung vom 24. November 1808 von Friedrich Wilhelm genehmigt, aber freilich niemals publicirt wurde. Hier fand sich die Einrichtung eines Staatsrathes, der unter Vorsitz des Königs oder eines von ihm ernannten Stellvertreters „die oberste Leitung sämmtlicher Regierungsgeschäfte besorgt“, die Theilung des ihm angehörigen Ministeriums in fünf Gruppen lediglich nach sachlichen Gesichtspunkten, die Abgrenzung der Geschäftskreise bis in die letzten Verzweigungen, die Zufügung technischer und wissenschaftlicher Deputationen zu einzelnen Behörden: alles durchsichtig und folgerecht, aus tiefer Kenntniß des Lebens geschöpft, den längst erhobenen Forderungen Stein’s entsprechend. Nach seinem Sturze erfolgte allerdings eine bedeutende Abschwächung seiner Reform. Aber die Wiederkehr des alten Zustandes blieb gänzlich ausgeschlossen. – Ueber die Provinzialbehörden enthielt die Verordnung vom 24. November 1808 nichts. Wie St. sich diese organisirt dachte: Kriegs- und Domänenkammern unter dem neuen Namen der Regierungen mit erleichtertem Geschäftsgange, Einführung von [624] Oberpräsidenten an der Spitze der Provinzen, als Commissarien der Centralstellen, als controllirende und als consultative Behörden, ergibt sich am besten aus Altenstein’s Entwurf vom 23. November 1807. Ebenda ist die Stein’sche Lieblingsidee der Zuziehung ständischer Repräsentanten zu den Geschäften der Regierungen entwickelt, die er auch gegen sehr gewichtige Einwürfe Schrötter’s aufrecht erhielt. Allein so wenig der Staatsrath, wie St. ihn sich gedacht hatte, jemals ins Leben trat, so unvollkommen und vorübergehend blieb die von ihm gewollte Theilnahme von „Repräsentanten der neu zu bildenden Stände“ an den Geschäften der Regierungen. Nur in Ostpreußen wurde ein Versuch damit gemacht, der jedoch nicht zur Nachahmung reizte.

Endlich ward jene Neubildung der Stände selbst St. nicht mehr möglich. Er würde durch sie sein Werk gekrönt haben. Denn seine feste Absicht war nicht nur Provinzialstände einzuführen aus Eigenthümern aller Classen zusammengesetzt mit weitgehender Competenz, sondern auch Reichsstände „in verfassungsmäßig gebildeten Versammlungen“, wozu, wie er versichert, „der König damals schon geneigt war“. Mehrere Pläne dafür wurden ausgearbeitet und St. eingereicht, von denen derjenige Vincke’s (auch auf Provinzialstände bezüglich) vollständig, derjenige Rhediger’s, in zwei Fassungen, bruchstückweise bekannt geworden ist. Aus Stein’s Bemerkungen über diesen Gegenstand kann man Schlüsse auf seine eigenen damaligen Ansichten ziehen. Er will eine „Theilnahme der Nation an der allgemeinen Gesetzgebung und Verwaltung“ zunächst durch Ausübung des Rechtes der Begutachtung und des Vorschlags neuer Gesetze, ein „Oberhaus“, aus dem „reichen Adel“ gebildet, die „Stellvertreter der Nation“, durch „freie Wahlen der Eigenthümer“ aus der Mitte der verschiedenen Berufsgenossenschaften erkoren, Berechtigung der Regierung durch Ernennung die Zahl der Wähler des Oberhauses zu vermehren und den Reichstag jeder Zeit aufzulösen, dem aber die Pflicht entsprach, ihn nach Ausschreiben von Neuwahlen innerhalb sechs Monaten wieder zusammen zu berufen, Veröffentlichung der Discussionen des Reichstages. Wesentlich für ihn war, wie er gelegentlich am Rande eines Gutachtens von Klewiz über die Umänderung der Verwaltung bemerkte, daß die Repräsentation „kräftig, vielseitig, schwer zu influenciren“ sei. Ob die Reichsstände aus oder von den Provinzialständen gewählt werden sollen, sagt er nicht. Später hat er sich ebenso entschieden dagegen geäußert wie gegen die Einschränkung auf „das Rathgeben“. Alles in allem genommen wird man ihn mit Ranke als den „intellectuellen Urheber des Repräsentativsystems in Preußen“ bezeichnen dürfen.

Wennschon die Hauptthätigkeit Stein’s hinsichtlich des Innern den socialen und politischen Reformen zugewandt blieb, war seine Kraft doch auch für das Vorschreiten der militärischen Reformen unschätzbar. Zwischen ihm und Scharnhorst herrschte das schönste Einverständniß. Auch mit Gneisenau fühlte er sich durch Gemeinsamkeit des Strebens innig verbunden. Er, der schon vor Jahren über das Werbesystem den Stab gebrochen und den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht verfochten hatte, war der beste Bundesgenosse Scharnhorst’s und seiner Freunde in jener Reorganisations-Commission, in welcher ihm Sitz und Stimme eingeräumt war. Er erzwang die Ersetzung Lottum’s, des Gegners der Reform, als vortragenden Generaladjutanten durch Scharnhorst. Er sprach dafür, beim Jugendunterricht auf Leibes- und Waffenübung Rücksicht zu nehmen. Er unterstützte die Vorschläge einer Besserung der Militärverwaltung. An allen Erfolgen, die Scharnhorst mit seinen Waffengefährten damals erstritt, gebührt auch ihm sein Antheil.

Indessen wurde das Werk der Wiedergeburt von Staat und Heer immer durch schwere Sorgen unterbrochen. Außerordentliche Maßregeln, wie die Verordnung, [625] derzufolge die Tresorscheine nach festzustellendem Curse als Zahlungsmittel anerkannt werden sollten, und die Bewilligung eines Indultes für Grundbesitzer, konnten nicht ohne Widerspruch durchgeführt werden. Aeußerste Sparsamkeit von Hofhalt und Verwaltung, Einführung einer Einkommensteuer in einigen Provinzen, Unterhandlungen wegen Aufnahme eines holländischen Anlehens, Eintreibung einer russischen Schuld, Pläne einer Veräußerung von Domänen: mit alledem war nicht geholfen, so lange die französischen Truppen noch das Land aussogen und man mit Daru, Napoleon’s Generalintendanten, nicht im Reinen war. Die Verhandlungen mit diesem, durch Sack in Berlin geführt, verwickelten sich aber immer mehr. Eine Sendung des Prinzen Wilhelm nach Paris, der den Abschluß einer Defensiv- und Offensivallianz anbieten sollte, drohte ergebnißlos zu bleiben. Nur vorübergehend hatte St. gehofft, Napoleon’s Eigenliebe kitzeln und ihn dadurch milder stimmen zu können. Der Prinz sollte ihm erklären, man wolle bei der Neuordnung der preußischen Verwaltung Frankreichs Beispiel nachahmen und ihn oder die Kaiserin bitten, im preußischen Königshause Pathenstelle zu vertreten, ein Rath, den Friedrich Wilhelm übrigens verwarf. Als von solchen Listen nichts mehr zu hoffen war und man erfuhr, daß Napoleon sogar auf Schlesien speculire, wofür er dem Zaren die Donaufürstenthümer überlassen wollte, reiste St. selbst Ende Februar 1808 nach Berlin, wo er rascher als zu hoffen gewesen, mit Daru einig wurde. Ein Vertragsentwurf (vom 9. März 1808) entsprach fast in allen Punkten früheren Vorschlägen, die St. selbst gebilligt hatte. Preußens Kriegsschuld wurde auf 101 Million Frcs. festgesetzt, die durch baares Geld, Wechsel und Pfandbriefe getilgt werden sollten. Bis zur Einlösung der Pfandbriefe sollten die Oderfestungen in französischen Händen bleiben, die übrigen Truppen aber dreißig Tage nach der Ratification abrücken. Der unerwartete Erfolg war ohne Zweifel nicht sowohl dem Eingreifen Stein’s als den Weisungen, die Daru von Paris empfangen hatte, zu danken, und für diese wäre die Erklärung in Napoleon’s Verhältniß zum Zaren zu suchen. Indessen, so lange Napoleon den Vertrag nicht bestätigt hatte, durfte man nicht beruhigt sein. Zunächst strengte St. sich an alle Hindernisse der Verständigung aus dem Wege zu räumen. Wie die ostpreußischen Stände, so wurden die ritterschaftlichen Creditverbände der übrigen Provinzen bei der Hypothecirung der Domänen zur Mitverpflichtung bewogen. Die Entfernung Sack’s, der mit Daru einen heftigen Conflict gehabt hatte, wurde zugegeben, die Bildung einiger Lager für die französischen Truppen in der Mark auf Kosten der Einwohner durchgeführt. St. hatte hiebei eine Nachgiebigkeit gegen die herrischen Eroberer geübt, die seinem dringenden Wunsche entsprach, das Vertragswerk um keinen Preis scheitern zu lassen. In dieser Stimmung war er auch noch, als er Ende Mai 1808 nach Königsberg zurückkehrte.

Aber die Erhebung der Spanier und die Rüstungen Oesterreichs weckten in ihm, wie in seinen Freunden, die Hoffnung auf baldigen Beginn des Befreiungskampfes, der Preußen, Deutschland, Europa vom Drucke der Herrschaft Napoleon’s erlösen sollte. Zum Scheine wollte er die Nachgiebigkeit gegen Frankreich fortgesetzt, in Wahrheit aber ein Kriegsbündniß mit Oesterreich und England geschlossen und den Aufstand des Volkes in Norddeutschland vorbereitet wissen. „Die Allianz, heißt es in einer Denkschrift Stein’s vom 11. Aug. 1808 (dieses Datum findet sich im Concept von Stein’s Hand, Stein’sches Archiv, Nassau), muß nur zum Deckmantel dienen der Anstalten, die man treffen wird, um sich loszureißen.“ Er drang mit Scharnhorst und Gneisenau verbündet, in den König, diese Politik anzunehmen, beschwor ihn „alle gemeinen erbärmlichen Egoisten“ zu entfernen, warnte vor jedem Schwanken. Der König [626] ließ sich nicht fortreißen, mißtraute Oesterreich, wollte nichts ohne Rußland unternehmen. Doch verlor er die Möglichkeit eines Bruches mit Frankreich nicht aus dem Auge. St. arbeitete planmäßig darauf hin. Als von französischer Seite der Wunsch des Eintritts Preußens in den Rheinbund angedeutet wurde, ließ er die Idee fallen, die Allianz als Deckmantel der Anstalten zum Befreiungskriege benutzen zu wollen, setzte diese aber mit Eifer fort. Er stand mit Patrioten der Hauptstadt, aus deren Zahl Schleiermacher nach Königsberg kam, und anderen, die an Volkserhebung dachten, in Verkehr. Er hat vielleicht daran gedacht, sich auch des Tugendbundes zu bedienen, den er im übrigen als „unpraktisch“ sehr gering schätzte und dessen Auflösung er sogar wenig später beantragte.

Mitten in diese fieberhafte Thätigkeit fiel die Entdeckung eines Briefes (vom 15. August 1808), den er sehr unvorsichtiger Weise unchiffrirt an den Fürsten Wittgenstein geschrieben hatte, durch die Franzosen. Es war darin von dem bevorstehenden österreichisch-französischen Kriege, von der zunehmenden Erbitterung in Deutschland, von Plänen sie zu nähren, von Verbindungen in Hessen und Westfalen die Rede. Dem Ueberbringer, einem Assessor Koppe, hatte St. die größte Vorsicht eingeschärft. Indessen behauptete Koppe später, er habe geglaubt, daß es sich nur um ein Creditiv handle (Koppe an Stein 2. Jan. 1811, Arch. Nassau). Wie dem auch sei: das französische Militärgouvernement in Berlin war im voraus dank der Betriebsamkeit zweier Spione in Königsberg (Vigneron und Jiesche) von Koppe’s Abreise benachrichtigt. Er wurde angehalten, seiner Papiere beraubt und gefangen gesetzt. Napoleon, dem der aufgefangene Brief übersandt ward, sah darin den Beweis der kriegerischen Absichten Preußen’s und erzwang vom Prinzen Wilhelm die Unterschrift des harten Vertrages vom 8. Sept. In Königsberg erfuhr man dies am 21. Sept., einen Tag, nachdem der Zar, auf dem Wege zum Erfurter Congreß, die Stadt verlassen hatte. Gleichzeitig aber erhielt man den Moniteur vom 8. Sept., in welchem Stein’s Brief, als „ein Denkmal der Ursachen des Gedeihens und des Sturzes der Reiche“, abgedruckt war. St. erbat sofort seine Entlassung. Der König lehnte sie jedoch ab, um sich erst nach der Rückkehr des Zaren darüber schlüssig zu machen. St. blieb also noch auf seinem Posten. Sein Rath ging dahin, den Vertrag vom 8. Sept. in dieser Form nicht zu ratificiren, sondern zunächst durch Verwendung des Zaren, in keinem Falle aber, wie dem König nahegelegt war, durch Angebot von Landabtretungen, eine Milderung zu erstreben. Der König war anfangs ganz damit einverstanden, vollzog dann aber doch, auf Grund von Berichten des Prinzen Wilhelm, die Ratification. Sie sollte selbst dann gültig sein, wenn der nach Erfurt entsandte Minister Goltz kein Zugeständniß erreichen würde. Wenn St., der erst nach ein paar Tagen von dieser Aenderung erfuhr, keinen Einspruch dagegen erhob, so geschah es nur mit dem Hintergedanken, dadurch die Vorbereitung zur Erhebung zu maskiren. Denn der Gedanke an diese verließ ihn nicht. In seinem Auftrag unterhielt sein Gesinnungsgenosse Graf Götzen, Commandant der oberschlesischen Festungen, durch den Major Lucey Verbindungen mit der österreichischen Kriegspartei. St. stellte ihm eine Summe zur Verfügung, um Waffenankäufe zu machen, rieth, die Bauern durch die Gutsherrn anzustacheln, den Schützengilden in den Städten größere Ausdehnung zu geben, unter den Truppen und Soldaten auf alle Weise den Geist des Widerstandes zu erhalten. Gleichzeitig ließ er durch Süvern eine Ansprache an die protestantische und katholische Geistlichkeit, eine Proclamation an die Bewohner Preußens über die eingeführten und geplanten Reformen, einen „Aufruf an die Deutschen“ für den Fall des Krieges (mit dem Datum „am 3. October“, Arch. Nassau) ausarbeiten, konnte aber den König nicht zur [627] Gutheißung bewegen. Ebenso mißfällig war diesem der Gedanke, durch Berufung eines Landtags von Volksvertretern der ganzen Monarchie die Frage der Annahme oder Ablehnung der französischen Forderungen, und damit die Frage des Friedens oder des Krieges entscheiden zu lassen. Boyen hatte am 28. Sept. dies Verlangen an ihn gestellt. Scharnhorst, Gneisenau, Nicolovius, Süvern, Schön, Grolmann, Röckner wiederholten es am 14. Oct. 1808 in einer an St. gerichteten Adresse.

Allein schon wurde dessen Stellung unhaltbar. Napoleon hatte bereits in den Vertrag vom 8. Sept. einen geheimen Artikel aufnehmen lassen, der den König verpflichten sollte, alle Unterthanen der im Tilsiter Frieden abgetretenen Provinzen zu verabschieden. Er glaubte dadurch St. zu treffen, den er für einen Westfalen hielt. In Erfurt machte er im Gespräch mit Goltz einen „furchtbaren Ausfall“ gegen St. und frug, wie es komme, daß er unbestraft bleibe. Ergänzende Aeußerungen Champagny’s und Goltz’ Bericht schienen noch hoffen zu lassen, Napoleon werde sich zufrieden geben, wenn St. nur vor der Welt vom Schauplatze verschwinde, aber geheimen Einfluß behalte. Der Zar, der auf dem Rückweg vom Erfurter Congreß (20.–24. Oct.) in Königsberg verweilte, versicherte sogar, Napoleon verlange nur Entfernung Stein’s von der Leitung des Aeußeren. Anderer Ansicht war Hardenberg, mit dem das Königspaar am 10. und 11. Novbr. eine kurze Zusammenkunft hatte. Er erklärte die Entlassung Stein’s, wenn man Napoleon nicht reizen wolle, für unbedingt nothwendig. Dieselbe Meinung vertrat Stägemann, der Goltz’ Reisebegleiter gewesen war, und noch viel entschiedener dieser selbst bei seiner Rückkehr nach Königsberg. Er behauptete von Davoust und anderen einflußreichen französischen Persönlichkeiten in Berlin erfahren zu haben, die Räumung des Landes werde, dem inzwischen abgeschlossenen Erfurter Vertrage zum Trotz, nicht erfolgen, wenn St. bis Ende November nicht ausscheide. Währenddessen war aber auch die dem großen Reformminister feindliche Partei in Preußen überaus geschäftig seinen Sturz herbeizuführen. Zahlreiche Verfechter des Alten, Anhänger feudaler Vorrechte und polizeilicher Bevormundung haßten ihn als einen „Revolutionär“. Im Frühling 1808 während seiner Entfernung von Königsberg waren alle Hebel in Bewegung gesetzt worden ihn zu Falle zu bringen. Im Juli hatte Zastrow versucht ihn zu verdrängen. Diese Intriguen hatten sich fortgesetzt und nach dem Bekanntwerden des verhängnißvollen aufgefangenen Schreibens neue Nahrung erhalten. Von Berlin aus suchte namentlich der ehemalige Minister von Voß, ein Haupt der märkischen Junker, St. beim König anzuschwärzen, indem er seinen Namen mit einer angeblich „revolutionären Gesellschaft“ in Verbindung brachte. Auf seiner Seite stand Fürst Hatzfeld, und Goltz secundirte ihm. Der Kampf der Parteien verpflanzte sich nach Königsberg und an den Hof. Je dringender Gesinnungsgenossen Stein’s in Adressen, Ansprachen, Gedichten seine Beibehaltung forderten, desto geschäftiger waren seine Feinde solche Aeußerungen als Mittel unerlaubter Demagogie zu kennzeichnen. In diesem Sinne arbeitete u. a. Nagler als Bundesgenosse seines verstimmten Schwagers Altenstein. Er hatte großen Einfluß bei der Königin, deren Wunsch, einer Einladung des Zaren zu folgen, St. eben damals widersprach. Lägen uns die Aufzeichnungen der ihm höchst unsympathischen Oberhofmeisterin Frau v. Voß nicht in sehr verstümmeltem Zustande vor, so würden wir über die „Hofkabale“ wohl noch besser unterrichtet sein.

Indessen entscheidend war und blieb, daß das Verhältniß zu Frankreich Stein’s Erhaltung im Dienste unmöglich machte. Nur eine Wendung zur kriegerischen Erhebung im Bunde mit Oesterreich und die Entfesselung der Volkskraft für den Befreiungskampf hätten daran etwas ändern können. Der König aber [628] konnte sich um so weniger dazu entschließen, als ein rasches Losschlagen Oesterreichs nicht zu erwarten und Rußlands Festhalten an der Allianz mit Frankreich gewiß war. Am 6. Nov. hatte er nochmals jener, in etwas veränderten, Proclamation an die Bewohner Preußens seine Unterschrift versagt, worauf St. sein Entlassungsgesuch wiederholte. Bis zum 24. Nov. zögerte sich die Entlassung noch hin, eine Zeit, die St., wenn auch mit halbem Erfolg, benutzte, auf die Bildung des neuen Ministeriums einzuwirken und die Verwaltungsorganisation abzuschließen. Das Ereigniß, nach den ehrenden Abschiedsworten des Königs „zur Nothwendigkeit geworden“, weckte Trauer in weiten Kreisen. Alle Reformfreunde hatten das Gefühl, daß mit St. ihr Halt verloren gehe. Unmittelbar vor seiner Abreise am 5. Dec. unterzeichnete er ein von Schön am 24. Nov. aufgesetztes Rundschreiben an die Mitglieder des künftigen Staatsrathes, das nächst einem Blick auf die schon eingeführten Verbesserungen ein Programm der noch beabsichtigten enthielt. Dies Actenstück, das später unter dem Namen „Stein’s politisches Testament“ berühmt geworden ist, enthielt im einzelnen radicalere Sätze als die von St. vorgeschlagene Proclamation an die Einwohner Preußens. Es ist daher sehr glaublich, daß er nur zögernd seine Unterschrift gab. Allein indem er es that, adoptirte er die von Schön ausgesprochenen Ideen.

St. kam am 12. Dec. nach Berlin, das soeben von den letzten französischen Truppen verlassen worden war. Hier vereinigte er sich nach langer Trennung wieder mit seiner Frau und seinen Töchtern. Seine Absicht war mit seiner Familie in Breslau den Gang der Ereignisse abzuwarten. Aber ein Aechtungsdecret Napoleon’s zwang ihn aus Preußen zu flüchten. Napoleon hatte seiner, wie schon ein Bulletin vom 13. Nov. 1808 bewies, auch in Spanien nicht vergessen. Die Entlassung des Ministers genügte ihm nicht mehr. Er hatte St. in Verdacht noch mit England in Verbindung zu stehen. Demnächst waren den französischen Behörden zwei Briefe des Fürsten Wittgenstein, wie dieser voraussehen konnte, in die Hand gefallen, in denen er, damals selbst wegen eines thörichten Verdachtes von den Franzosen behelligt, sich über die Fortsetzung einer chiffrirten Correspondenz Stein’s beklagte. („Er hätte sie nur unchiffrirt vorlegen können.“ Randnote Stein’s zu Wittgenstein’s Entschuldigungsbrief vom 20. März 1809, Arch. Nassau.) Endlich beabsichtigte Napoleon vielleicht auf die preußische Regierung einen schreckenden Eindruck zu machen. Genug: am 16. Dec. 1808 ließ er von Madrid an Champagny einen Armeebefehl übersenden, in dem „le nommé Stein“, weil er Unruhen in Deutschland erregen wolle, zum Feinde Frankreichs und des Rheinbundes erklärt wurde. Seine Güter sollten mit Beschlag belegt, er selbst, wo die bewaffnete Macht seiner habhaft werden könne, ergriffen werden. Das Decret war zur Mittheilung an alle rheinbündischen Regierungen bestimmt. Außerdem sollte die Auslieferung Stein’s, als eines Verräthers, von Preußen gefordert werden. Napoleon wollte sogar zu verstehen geben lassen, daß Stein’s Leben verwirkt sei, wenn man seiner habhaft werde, was Champagny jedoch unterdrückte. Auch Graf St. Marsan, der schon im Begriff war sich als diplomatischer Vertreter Napoleon’s nach Berlin zu begeben, wurde von dem Armeebefehl in Kenntniß gesetzt und angewiesen, seinen Posten nicht anzutreten, wenn St. noch auf preußischem Boden weile. Insgeheim ließ er aber St. durch den holländischen Gesandten v. Goldberg warnen. Mit Hilfe seiner Freunde Sack und Kunth traf St. Anstalten einen Theil seines Vermögens zu retten und verließ in der Nacht vom 5. auf den 6. Jan. 1809 Berlin. Am 9. fand er beim Grafen Reden in Buchwald ein Obdach. Am 12. überschritt er, in Gesellschaft eines anderen Vertrauten, des Grafen Geßler, die österreichische Grenze.

Das Aechtungsdecret, an vielen Stellen, wo die französische Militärmacht [629] gebot, auch in deutscher Uebersetzung öffentlich angeschlagen, machte Stein’s Namen damals erst allgemein bekannt. „Napoleon, schrieb ihm Gneisenau, hätte für Ihre erweiterte Celebrität nichts Zweckmäßigeres thun können. Sie gehörten ehedem nur unserem Staate an; nun der ganzen civilisirten Welt.“ St. hatte in Oesterreich theilnehmende Freunde wie seinen Schwager Wallmoden, die Minister Stadion und O’Donnell, einen Göttinger Studiengenossen. An diese beiden wandte er sich mit der Bitte um Gewährung eines Asyles. Er wäre gern in Prag geblieben, wo er am 16. Jan. 1809 angekommen war. Stadion empfahl aber, ihm Brünn als Aufenthaltsort anzuweisen, da in Prag zu viele „gegen Frankreich prononcirte Personen“ wohnhaft seien. Zugleich nahm er ihn gegen einen Bericht des Polizeiministers in Schutz, der St. nach Mittheilungen „affiliirter Litteraten in Berlin“ als einen „mit Maurergeist begabten,“ neuerungssüchtigen Geheimbündler denuncirt hatte. St. nahm also Ende Januar in Brünn seinen Wohnsitz, wohin seine Familie ihm im März folgte. Eine Verwendung seiner Kräfte für den österreichischen Staat, wie sie Gentz bei seinem Zusammentreffen mit St. in Prag für möglich gehalten hatte, fand nicht statt. Er blieb ein geduldeter Flüchtling, selbst von materiellen Sorgen nicht frei, da seine Güter gemäß dem Aechtungsdecret mit Beschlag belegt waren. Eine lebhafte Correspondenz mit den Gesinnungsgenossen in Preußen unterrichtete ihn über die dortigen Zustände. Der Umgang mit ausgezeichneten Männern in seiner Nähe, wie den Grafen von Berchtold, Salm-Reifferscheid, C. André, und eigene Beobachtung machten ihn mit den Verhältnissen Oesterreichs vertraut. Der Ausbruch des Krieges von 1809 belebte vorübergehend seine Hoffnungen, aber nach der Schlacht von Wagram erschien um seiner Sicherheit willen die Uebersiedelung nach Troppau nothwendig. Hier flammte sein leidenschaftlicher Eifer für den allgemeinen Befreiungskampf hoch auf. Entwürfe für die Erhebung Norddeutschlands und die Mitwirkung eines englischen Landungsheeres und Correspondenzen darüber mit Stadion, Gentz, dem Prinzen v. Oranien drängten sich. In solchen Bestrebungen fand er sich auch mit dem nach Troppau verschlagenen Pozzo di Borgo[WS 2] zusammen. Der Abschluß des Friedens, den Oesterreich mit großen Opfern erkaufte, machte aber alle derartigen Pläne zu nichte. St. zog, da Metternich, Stadion’s Nachfolger, gleichfalls Bedenken hatte, ihm Prag als Wohnort zu gestatten, am 11. Nov. entsagungsvoll wieder nach Brünn zurück.

Hier verfloß ihm der Winter unter staatswissenschaftlichen und historischen Studien, Abfassung einer ausgezeichneten Denkschrift über die Mängel des österreichischen Unterrichtswesens, Beschäftigung mit der Erziehung seiner Töchter. Sein Glaube an die Gebrechlichkeit der napoleonischen Herrschaft blieb trotz der neuesten peinlichen Wendung unerschüttert. „Es ist unmöglich, schrieb er der Prinzessin Louise, daß sich ein System halten kann, wie das, worüber wir seufzen. welches das Glück Aller dem Willen eines Einzigen zum Opfer fordert; es muß durch einen Anstoß von außen oder durch seine innere Fäulniß fallen.“ Nachdem er endlich die Erlaubniß zur Uebersiedelung nach Prag erhalten hatte, schlug er am 9. Juni 1810 dort seinen Wohnsitz auf. An diesem Sammelpunkte so mancher Gleichgesinnten, wo sich ein Kreis hochgebildeter und bedeutender Menschen (die Grafen Sternberg, Fr. Stadion, Fürst Reuß u. a.) vorfand, fühlte St. sich wohler als in der kleinen mährischen Provinzstadt. Auch besserte sich seine materielle Lage, da der König von Preußen ihm ein jährliches Ruhegehalt von 5000 Thalern zusicherte. Sein Umgang und sein Briefwechsel wurden aber sorgsam von der österreichischen Polizei überwacht, ohne Zweifel theils um möglichen Beschwerden Frankreichs zuvorzukommen, demnächst, weil Metternich, ganz anders wie sein Vorgänger, in St. einen „der [630] vorzüglichsten Chefs“ des Tugendbundes erblickte und diesem eine „excentrisch revolutionäre Tendenz“ schuld gab. Diese doppelt irrige Meinung hat er sich auch nie rauben lassen, und mancher Handlanger der Reaction in Preußen hat sie getheilt oder zu theilen vorgegeben.

Von Prag aus erhielt St. alsbald Gelegenheit auch über die preußischen Dinge mitzureden. Das schwache Ministerium Dohna-Altenstein hatte Hardenberg Platz machen müssen. Diesem kam viel darauf an, die Zustimmung Stein’s zu seinen Finanzplänen zu gewinnen, die vielfach, wie bei Schön und Niebuhr, auf Widerstand stießen. Er ließ sie St. durch Kunth mittheilen, hatte selbst am 14. Sept. (dies Datum nach Acten im Arch. Nassau) in Hermsdorf, unweit der böhmischen Grenze, eine geheime Zusammenkunft mit ihm, und St. billigte, trotz einzelner Einwendungen, Hardenberg’s Entwürfe. Auch noch später trat er auf seine Seite und pflog im Sommer 1811 mit ihm einen freundschaftlichen Briefwechsel. Allein die Agrargesetze Hardenbergs wurden von ihm aufs schärfste getadelt. Der bureaukratische Grundzug von Hardenberg’s Verwaltung war ihm verhaßt, und je weniger er sein lockeres Privatleben achten konnte, desto entschiedener verurtheilte er in der Folge die Wirksamkeit des Staatskanzlers. Auch jene Finanzpläne Hardenberg’s von 1810 nannte er nachmals, in Widerspruch mit sich selbst, „sehr luftig“. Während der Bruch zwischen Napoleon und dem Zaren sich vorbereitete, verbrachte St. eine Zeit äußerster Spannung. Ueber die Schwankungen der preußischen Politik war er durch briefliche Mittheilungen und mündliche Auskunft, wie des Grafen Arnim von Boitzenburg, in Kenntniß gesetzt. Er kam, solange sich auf ein Zusammengehen Preußens mit Rußland hoffen ließ, auf seine Vorschläge der Entfesselung des Volkskrieges in Norddeutschland und der Verbindung mit England zurück. Er stellte die Energie des Wohlfahrtsausschusses als Muster auf und ging soweit, eine Nachahmung der Assignaten zu empfehlen. Er nahm, als die Bündnißverträge Preußens und Oesterreichs mit Frankreich geschlossen waren, an den kühnen Plänen des nach Prag gelangten feurigen Justus Gruner den thätigsten Antheil.

Inzwischen wurde er selbst dem von ihm bitter beklagten „Müssiggang“ entrissen und wieder auf die große Bühne des öffentlichen Wirkens zurückgeführt. Sein Plan war, wie er Münster wissen ließ, sich unter dem Schutze der englischen Gesandtschaft ins russische Hauptquartier zu begeben. Aber ehe eine Antwort von London einlief, erhielt er eine Einladung des Zaren. Der Zar hatte ihm schon im J. 1807 eine Stellung in seinem Dienste angeboten. Nunmehr, da der Krieg mit Napoleon gewiß war und es sich um Rettung vor der völligen „Knechtung Europa’s“ handelte, wollte er „die Energie seines Charakters und seine ausnehmenden Talente“ nicht entbehren. St. zögerte nicht der Aufforderung zu entsprechen und erreichte am 12. Juni, leidend nach anstrengender Reise, Wilna. Er lehnte, um seine Freiheit zu wahren, die Annahme einer festen Anstellung ab, berieth aber den Zaren vornehmlich in allen Deutschland betreffenden Angelegenheiten und bot ihm einen unschätzbaten sittlichen Halt. Er folgte ihm in das Lager von Drissa, hierauf nach Moskau und endlich nach Petersburg. Ein von ihm entworfener „Aufruf an die Deutschen“ wurde durch den russischen Oberfeldherrn verbreitet, ein „deutsches Comité“, dessen Seele er war, eingesetzt, eine russisch-deutsche Legion gebildet, der ausgetretene preußische Officiere (wie Stülpnagel, die Grafen Dohna, Clausewitz) das Gepräge gaben. Infolge der unerwarteten Verhaftung Gruner’s riß mancher nach Deutschland und Oesterreich hingesponnene Faden ab. Dafür aber erhielt St. in dem von ihm berufenen E. M. Arndt einen werthvollen litterarischen Mitarbeiter. Auch Boyen trat, als er in Petersburg erschien, mit ihm in nahe Verbindung. Mit [631] der ebendaselbst auftretenden Frau v. Staël fand St. sich im Haß gegen Napoleon’s Zwingherrschaft zusammen. Als nach dem Brande Moskau’s in der Umgebung des Zaren Muthlosigkeit einzureißen drohte, bestärkte er ihn im Entschlusse um jeden Preis auszuhalten. Als der Rückzug der Franzosen und die Auflösung der großen Armee gewiß war, drang er darauf den Krieg nach Deutschland zu tragen und „die Freiheit Europa’s auf weisen und dauerhaften Grundlagen herzustellen“. Er war auch hier eine große moralische Macht, und dies nicht zum wenigsten dadurch, daß er „Männerstolz vor Königsthronen“ bewährte. Unvergeßlich bleibt die Strafrede, die er der Kaiserin-Mutter hielt, als diese bei Tafel gesagt hatte: „Fürwahr, wenn von dem französischen Heere ein Mann über den Rhein ins Vaterland zurückkommt, werde ich mich schämen eine Deutsche zu sein.“ St. wechselte die Farbe und brach dann sich erhebend in die Worte aus: „Ew. Majestät haben sehr Unrecht dies zu sagen, und zwar vor den Russen zu sagen, welche den Deutschen so viel verdanken. Sie sollten nicht sagen: Sie werden sich der Deutschen schämen, sondern sollten Ihre Vettern nennen, die deutschen Fürsten. Ich habe in den Jahren 1792, 93 u. s. w. am Rhein gelebt; das brave deutsche Volk hatte nicht schuld; hätte man ihm vertraut, hätte man es zu brauchen verstanden, nie wäre ein Franzose über die Elbe, geschweige die Weichsel und den Dniepr gekommen.“

Der Zar ging ganz auf Stein’s Gedanken ein. Schon sah dieser die „schönsten Hoffnungen für die Zukunft eröffnet“. Er trieb Münster, durch englische Mittel ein deutsches Heer bilden und die Verbindung zwischen Rußland und Oesterreich bewirken zu lassen. Er bestrebte sich, die Kräfte von Tirol, wie 1809, für den Befreiungskampf nutzbar zu machen. Er setzte das militärisch-politische Programm auf, das der russische Höchstcommandirende beim Einrücken in Deutschland befolgen sollte. Er entwarf ein glühendes Schreiben, um Friedrich Wilhelm III. zu ermahnen, „seiner Pflicht gemäß Partei zu ergreifen“. Die That York’s kam seinem Sinnen und Trachten zu Hülfe. Wenige Tage nachher am 5. Jan. 1813 verließ er mit Arndt Petersburg, traf nach winterlicher Fahrt, bei der ihm die kriegerischen Greuel vor Augen traten, im kaiserlichen Hauptquartier ein und erhielt hier am 18. Jan. eine auf Ost- und Westpreußen berechnete, sehr ausgedehnte Vollmacht des Zaren, die seinen Wünschen entsprach. Er sollte demnach die Kriegs- und Geldmittel zur Unterstützung der Unternehmungen gegen die französischen Heere in Thätigkeit setzen, Landwehr und Landsturm nach den Entwürfen von 1808 bewaffnen, Ordnung und Schnelligkeit der Lieferungen für die russischen Truppen überwachen, Beamte, die er für unfähig und böswillig halten werde, entfernen, Verdächtige in Haft nehmen dürfen. Sobald ein endliches Abkommen zwischen dem Zaren und dem König von Preußen getroffen wäre, sollte seine Mission erlöschen und die Verwaltung der Provinz an den König zurückgegeben werden. Da die Allianz zwischen Rußland und Preußen sich schon vorbereitete, so wurde der außerordentlichen Vollmacht, mit der St. ausgerüstet war, viel an Schärfe genommen. Indessen war sie, in Verbindung mit sonstigen Vorgängen, geeignet, loyale und mißtrauische Gemüther zu beunruhigen, wenn St. sie in vollem Umfange geltend machte. Für ihn selbst andererseits kam alles darauf an durch rasches Handeln die Volkskraft aufzubieten und den König fortzureißen. Je leidenschaftlicher er diesen Zielen zustrebte, desto weniger ließen sich Reibungen vermeiden.

Am 20. Jan. Nachts in Gumbinnen angelangt, hatte er eine Besprechung mit Schön, die zu beiderseitiger Befriedigung endigte. Auch kam der Landhofmeister Auerswald am 23. seiner Aufforderung nach, einen Generallandtag auszuschreiben, die er gleich nach seiner Ankunft in Königsberg an ihn gerichtet hatte. Als St. jedoch am 24. befahl, daß die Dienstverbindung mit Berlin [632] aufhören solle, änderte Auerswald das Ausschreiben ab, sodaß nur eine formlose Versammlung von Deputirten stattfinden sollte, um über Stein’s Eröffnungen zu berathen. St., obwohl erbittert auf Auerswald, ließ sich auch dies genügen, hob die Continentalsperre auf, erreichte, daß die Verpflegung russischer und französischer Kranker in verschiedenen Hospitälern der Provinz von Rußland übernommen würde. Aber sein Verlangen der Einführung des russischen Papiergeldes stieß auf starken Widerstand. Sein gebieterisches, grobes Auftreten wurde selbst einem Manne wie York fühlbar. Ein neuer Conflict entstand, als der erkrankte Auerswald sich für unfähig erklärte den Vorsitz der Versammlung der Deputirten zu übernehmen, St. zuerst an Schön, und als dieser ablehnte, an York eigenmächtig die Forderung richtete, seine Stelle einzunehmen. Es kam zu heftigen Scenen, bis St. nachgab. Der von Auerswald ernannte Vertreter eröffnete die Sitzungen auf Grund des von St. geäußerten Verlangens, York erschien in der Versammlung, die Volksbewaffnung wurde beschlossen und St. reiste, weiterem Eingreifen entsagend, am 7. Februar ins russische Hauptquartier zurück. Das große Werk, zu dem er den Anstoß gegeben hatte, war gesichert.

Aber noch war die Allianz zwischen Preußen und Rußland nicht geschlossen, wennschon die Abreise des Königs nach Breslau ihn aus der französischen Umgarnung befreit hatte. Um allen Zögerungen ein Ende zu machen, bat St. am 10. Febr. den Zaren, ihn zum König zu senden. Wieder ging kostbare Zeit durch die Verhandlungen Knesebeck’s in Kalisch verloren. Endlich entschloß sich der Zar, St. mit Anstett[WS 3] als seine Bevollmächtigten nach Breslau ziehen zu lassen. Am 25. Februar trafen sie hier ein. Wenn die Stelle eines Briefes des Königs an den Zaren wörtlich zu nehmen wäre, so hätte St. ihn nicht gleich gesehen. Aber nach Boyen’s Bericht wäre er, obwohl durch heftige Gichtschmerzen gepeinigt, sofort beim König vorgefahren, wo er auch Hardenberg gesprochen hätte.[1] In den nächsten Tagen kam ein gefährliches Nervenfieber bei ihm[2] zum Ausbruch. Er hatte mit Mühe in einem elenden Dachstübchen des Gasthauses „zum Scepter“, das der Lützower Freischaar zum Werbeplatz eingeräumt war, eine Unterkunft gefunden. Seine alten Freunde, die in Breslau zusammengeströmt waren, suchten ihn schwerbesorgt auf, der König bezeigte durch nichts seine Theilnahme, der französische Gesandte ließ seine Wohnung überwachen. Auf die Nachricht seiner Erkrankung eilte seine Frau mit den Töchtern herbei. Sie fand ihn schon auf dem Wege der Besserung. Da inzwischen der Bündnißvertrag abgeschlossen war und die Ankunft des Zaren bevorstand, begannen die Leute des Hofes ihm einige Aufmerksamkeit zu schenken. Diese steigerte sich, als der Zar den noch ans Zimmer Gefesselten aufsuchte. Indessen stellte sich weder zum König, noch zu Hardenberg, der in St. einen Nebenbuhler fürchten mochte, ein nahes Verhältniß her.

Nachdem der Bruch Preußens mit Frankreich erfolgt war, wurde am 19. März eine russisch-preußische Convention über die Verwaltung der durch den Krieg zu befreienden Länder unterzeichnet. Sie war wesentlich das Werk Stein’s. Danach sollten Fürsten und Völker durch einen Aufruf beider Mächte zur Mitwirkung für die Befreiung Deutschlands eingeladen, jeder Fürst, der in bestimmter Frist dieser Aufforderung nicht entsprechen würde, mit dem Verluste seiner Staaten bedroht, ein Centralverwaltungsrath mit unbeschränkten Vollmachten für die besetzten Länder errichtet werden. Von Kalisch aus, wohin St., noch angegriffen, sich begab, erging der Aufruf. In Dresden, wo er den 9. April anlangte, trat unter seiner Leitung der Centralverwaltungsrath ins Leben. Die neue Behörde suchte denn auch die Bewaffnung von Norddeutschland möglichst zu fördern. Aber die Mißstimmung Englands, Oesterreichs, Schwedens, das Widerstreben um ihre Souveränität besorgter kleiner Fürsten, [633] die feindliche Haltung sächsischer Beamten lähmten ihre Thätigkeit. St. selbst, spottweise „Kaiser von Deutschland“ genannt, hatte einen schweren Stand und wurde außerdem durch die welfischen Ansprüche und den schleppenden Gang der Verhandlungen über den Abschluß eines Bündnisses mit England verbittert. Als nach der Schlacht von Bautzen der Rückzug gegen Schlesien erfolgte, traf er Ende Mai wieder in Prag bei seiner Familie ein. Es läßt sich annehmen, daß er hier den todwunden Scharnhorst noch gesprochen hat. Nach kurzem Verweilen verließ er am 4. Juni mit Ompteda die böhmische Hauptstadt, um dem Hauptquartier zuzueilen. Die Nachricht vom Abschlusse des Waffenstillstandes, die er in Glatz erhielt, erfüllte ihn mit Bestürzung. Aber in Reichenbach angelangt, zweifelte er nicht mehr an dem bevorstehenden Eintritt Oesterreichs in die Allianz.

Indem dieser gewiß wurde, war die weltgeschichtliche Rolle, die St. gespielt hatte, zu Ende. Metternich, in allem sein Widerpart, begann die Früchte zuwartender Politik zu ernten, und in der Umgebung Alexander’s arbeitete Nesselrode[WS 4] dem Einfluß Stein’s entgegen. Das Vorgefühl starker Enttäuschungen mochte ihm das Wort erpressen, daß „Menschenekel“ täglich bei ihm zunehme. Wenn seine reizbare Natur mit einer anderen, wie der Niebuhr’s, zusammenstieß, war es nicht zu verwundern, daß ein Riß alter Freundschaft entstand, der erst nach Jahren heilte, als St. in Rom von Niebuhr, dem preußischen Gesandten bei der Curie, gastfrei aufgenommen wurde. – Beim Wiederausbruch der Krieges athmete er auf. Er verließ Reichenbach, erfuhr in Prag, dann in Teplitz die Kunde von den glänzenden Siegen des August und September und trat Wilhelm v. Humboldt bei der Bearbeitung des Planes einer neuen Einrichtung der Centralverwaltung näher. Der Baiern sehr günstige Vertrag von Ried, über den er seinen Unwillen äußerte, war allerdings für die Verwirklichung seiner Ideen von übelster Vorbedeutung. Indessen drängte die Freude über den Ausgang der Völkerschlacht von Leipzig bald danach jeden anderen Gedanken in den Hintergrund. Auf dem Marktplatz der eroberten Stadt soll St. mit Gneisenau am 20. October zusammengetroffen sein und beide sollen sich das Wort darauf gegeben haben, daß dieser Krieg nur mit Napoleon’s Sturz enden dürfe.

Das Nächste, was St. beschäftigte, war die neue Wirksamkeit des ihm untergeordneten Centralverwaltungsrathes in Gemäßheit einer Convention vom 21. October. Er richtete sofort das Generalgouvernement Sachsen ein, widmete dem Hospitalwesen seine Fürsorge, war auf die Verpflegung und Verstärkung der Truppen bedacht. Mitte November beim großen Hauptquartier in Frankfurt angelangt bildete er die Generalgouvernements Frankfurt und Berg. Er nahm energischen Antheil an den Commissionen, die Beitreibung von Geldern, Naturalien, Streitkräften der Rheinbundstaaten und Anordnung eines Vertheidigungssystemes von Deutschland durchzuführen hatten. Deutsche Fürsten mußten bei ihm „antichambriren“, und es wird behauptet, daß er sie bei Audienzen dann und wann mit reichsfreiherrlichem Stolze behandelt habe. Gewiß ist, daß, als seinen Worten nach „die Sündfluth von Prinzen und Souveränen sich zu verlaufen begann“, er der Meinung war, sie seien „viel besser behandelt worden als sie verdienten“. Die Widerwärtigkeiten, denen die Centralverwaltung auch jetzt bei dem Geschäfte der Volksbewaffnung, der Anlage von Lazaretten, der Truppenverpflegung begegnete, konnten sein Urtheil nicht mildern. Inzwischen kam seine Anwesenheit in Frankfurt dem Drängen der Kriegspartei zu statten, die nach bedenklichen Schwankungen den Sieg davon trug. Die Fortsetzung des Kampfes wurde beschlossen. St. folgte am 18. Dec. dem Zaren über Heidelberg und Karlsruhe nach Freiburg, weilte vom 9.–13. Jan. 1814 in Basel, wo er zu bedeutenden Schweizern (Pictet de Rochemont[WS 5], [634] Reinhard, Reding, Mülinen u. a.) in Beziehung trat und begleitete das große Hauptquartier auf seinen wechselnden Stationen in Frankreich. Sein Wirkungskreis erweiterte sich mit jedem Tage, da nun auch in den der französischen Fremdherrschaft entrissenen Gebieten des linken Rheinufers, in Belgien und den eroberten französischen Departements Generalgouvernements zu bilden waren. Zugleich war er bestrebt dem Einfluß Metternich’s im Rathe der Mächte entgegenzuarbeiten und einer kräftigen Kriegführung beim Zaren das Wort zu reden. Die Auflösung des Congresses von Chatillon und der Vormarsch auf Paris krönten seine Wünsche. Triumphirend schrieb er, als Napoleon’s Sturz gewiß war, seiner Frau: „der Mensch ist zu Boden“ und am 9. April in Paris angelangt, fühlte er sich erst im Stande, „den ganzen Umfang seines jetzigen Glücks, die Größe seines vorigen Leidens zu würdigen“.

Die Wiederherstellung der Bourbonen entsprach ganz seinem Verlangen. Aber er mißbilligte die Großmuth, die der Zar den Besiegten erzeigte und bemühte sich vergeblich, schon in Paris ein bindendes Abkommen über die deutschen Gebietsveränderungen, insbesondere über den Neubau Preußens, durchzusetzen. Nach der Unterzeichnung des Friedens war sein Amt in Frankreich beendigt. Er sagte dem Zaren zu auf dem bevorstehenden Congreß in Wien zu erscheinen, behielt aber bis dahin Zeit, sein Gut in Nassau wieder zu besichtigen, wohin im August auch seine Familie zurückkehrte, in Frankfurt mancherlei Geschäfte abzuwickeln, hier, am Sitze der verkleinerten Centralverwaltung, ihren Abschluß vorzubereiten, und sich durch den Gebrauch des Emser Bades zu stärken. Im Juli, als er den Zaren in Bruchsal am badischen Hofe wiedersah, erhielt er nochmals die Aufforderung in Wien beim Congreß sich einzufinden. Von Mitte Sept. 1814 bis zum 28. Mai 1815 verweilte er daselbst unter der glänzenden Gesellschaft von Fürsten und Staatsmännern, zur Theilnahme an den rauschenden Festen ebenso wenig aufgelegt wie zu höfisch-sanftem Leisetreten, in einer Stellung, die ihn auf die Dauer sehr wenig befriedigte. Er, der Deutsche, war Rathgeber des russischen Monarchen, ohne ein Amt zu bekleiden. Er hatte das Vertrauen des Zaren mit Kapodistria, Rasumowski, Czartoriski, Nesselrode u. a. zu theilen, von denen mancher schlecht mit ihm übereinstimmte. Die Vertreter Preußens, Hardenberg und Humboldt, fühlten sich zwar immer auf seinen Rath angewiesen, aber zu dem ersten bildeten sich nicht vertraute Beziehungen und dem König war er entfremdet. „Aus dem Halbverhältniß, in dem ich stand – erzählt er selbst in seinen Aufzeichnungen – konnte nur Lebensüberdruß entstehen; ich hatte Influenz ohne durchgreifende Leitung, und Influenz auf höchst unvollkommene Menschen, die als Werkzeuge zur Erreichung großer Zwecke gebraucht werden sollten.“ Dennoch war seine Thätigkeit eine äußerst vielseitige und eingreifende. Die Summe seiner Entwürfe, Gutachten, Denkschriften aus dieser Epoche seines Lebens ist sehr bedeutend. Er nahm Theil an den Sitzungen der Ministerialcommission für die Ordnung der schweizer Angelegenheiten. Er betrieb die Pläne süddeutscher Verfassungen, durch die der „Sultanismus“ der ehemaligen rheinbündischen Regierungen gezügelt werden sollte. Er bearbeitete die Frage der Erbfolge in Baden u. a. m.

Aufs angelegentlichste beschäftigte ihn die polnisch-sächsische Sache, die den ganzen Congreß scheitern zu lassen drohte. Sein Name stand unter jenem preußisch-russischen Protokoll vom 28. Sept. 1814, dem zufolge die Verwaltung Sachsens vorläufig an Preußen übergehen sollte und welches hoffen ließ, daß ganz Sachsen, wennschon unter dem Namen eines Königreiches, der preußischen Monarchie angeschlossen werden würde. Es mußte ihn mit Bitterkeit erfüllen, daß Preußen in der Folge gezwungen wurde, einen Theil Sachsens wieder fahren zu lassen. Ebenso fühlte er sich schwer getroffen, als die polnischen [635] Ansprüche des Zaren in ihrem vollen Umfang sich enthüllten. Es kam darüber zu ziemlich gereizten mündlichen Verhandlungen zwischen ihm und Alexander. Auch die Idee einer polnischen Verfassung fand nicht seine Billigung, weil, wie er dem Zaren einwarf, in Polen ein dritter Stand fehle. Das Abschwenken Friedrich Wilhelm’s III. auf die russische Seite erregte seinen lebhaften Unwillen. Während der folgenden Verwicklung, die durch Talleyrand’s verhetzende Thätigkeit gesteigert wurde, war die Erhaltung des Friedens seine Hauptsorge. Wurde diese auch gehoben, so konnte er sich doch nicht enthalten in einem Briefe an seine Frau von „den Leiden“ zu sprechen, die der „Gang der Dinge“ ihm verursache.

Ein vorzüglicher Grund dieser Mißstimmung lag in dem Verlaufe der deutschen Verfassungsfrage, die mehr als irgend etwas sonst während des Congresses ihm zu schaffen machte. Will man Stein’s Ansichten über den Neubau einer Verfassung Gesammtdeutschlands im Zusammenhange betrachten, so muß man auf jenen flammenden Protest des Jahres 1804 gegen die Uebergriffe des Hauses Nassau zurückgehen. Damals hatte er die Hoffnung ausgesprochen, es noch zu erleben, daß die „kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchieen (Preußen und Oesterreich), von deren Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt, vereinigt werden“. Dieser Gedanke beherrschte ihn auch, als er, in kühnem Vertrauen auf die bevorstehende Vernichtung des napoleonischen Reiches, am 18. Septbr. 1812 für den Zaren eine Denkschrift entwarf, die Deutschlands Zukunft behandelte. Die „Vereinigung Deutschlands zu einer Monarchie“, wie sie vom zehnten bis dreizehnten Jahrhundert bestanden habe, so wünschenswerth sie ihn dünkte, hielt er nach der geschichtlichen Entwicklung für „unmöglich“. Nur eine Theilung zwischen Oesterreich und Preußen nach der Mainlinie oder bündnißmäßiger Anschluß einiger geschonter Staaten an die beiden großen Theile schien ihm fähig zu sein die Mängel der alten Reichsverfassung aufzuheben. Die zweite Alternative war, wie sich aus zahlreichen anderweitigen Aeußerungen ergibt, damals die ernstlich gemeinte. Er wollte eine Anzahl von Dynastieen geopfert, die erhaltenen als „Vasallen der umschließenden Reiche“ der Möglichkeit des „kindischen Puissanzirens“, wie er sich 1811 gegenüber Münster ausgedrückt hatte, beraubt wissen. Daneben aber hatte doch noch immer der Wunsch nach Aufrichtung der Kaiserwürde, die er sich als erblich im Hause Habsburg dachte, in dem Herzen des reichsritterlichen Abkömmlings Wurzeln gehabt. Dies war in einer Ende August 1813 in Prag abgefaßten Denkschrift zu Tage getreten, die er dem Zaren in verkürzter Form zustellte. Hier fanden sich zugleich Vorschläge der Erneuerung des Reichstages sowie der Abgrenzung der Competenz von Reichsgewalt und Landeshoheit. Auch wurde das Dasein von Landständen in den einzelnen Territorien mit „Concurrenz bei der Provinzialgesetzgebung und bei der Abgabenbewilligung“ vorausgesetzt. Preußen aber, das durch Einverleibung mehrerer norddeutscher Staaten verstärkt werden sollte, war ebensowenig als Glied des Reiches gedacht wie Oesterreich mit dem „Besitzstande von 1805“, sondern es war nur ein „Bund von Teutschland, Oesterreich und Preußen“ angenommen, der „die Ruhe und Integrität der teutschen Völkerschaften zu gründen und dauerhaft zu erhalten“ stark genug wäre.

Die Ereignisse gingen rasch über diesen unklaren Plan, Kaiserthum und Dualismus zu verbinden, hinweg. Die Kaiseridee wurde von den österreichischen Machthabern verworfen, die Verträge mit den rheinbündischen Fürsten und die Restaurationen in Norddeutschland sicherten die Souveränität von Mittel- und Kleinstaaten. In Langres und Chaumont setzten die Mächte demnächst fest, daß Deutschland aus einem Bunde unabhängiger Fürsten bestehen solle. Wol [636] oder übel ergriff auch St. diesen Gedanken, nicht ohne starke Einwirkung einer im Dec. 1813 ihm mitgetheilten Denkschrift Humboldt’s. Während dieser sich aber für eine gemeinschaftliche Oberleitung des Bundes durch Oesterreich und Preußen erklärt hatte, schlug er selbst im März 1814 ein Directorium vor, das aus Oesterreich, Preußen, Baiern, Hannover bestehen sollte, mit ausgedehnter Competenz. Sie schloß diplomatischen Verkehr mit dem Auslande, Entscheidung über Krieg und Frieden, militärische Oberleitung in sich ein. Neben dem Directorium dachte er sich eine einheitliche Bundesversammlung aus Abgeordneten der Fürsten, der Hansestädte, der Landstände, mit dem Rechte der Gesetzgebung und Steuerbewilligung für Bundeszwecke, sowie der Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Bundesstaaten, Fürsten und Unterthanen. Der Bund sollte ein Zollgebiet bilden, und, abgesehen von Steuern, eigene Einnahmen aus den Rhein- und Grenzzöllen beziehen. Wiederholt wurde die Wirksamkeit von Landständen, mit Inbegriff der mediatisirten Fürsten, Grafen, Reichsritter, vorausgesetzt und eine Anzahl individueller Rechte aufgeführt. – Mit anderen Materialien wurden auch diese Vorschläge Stein’s von Hardenberg für einen Verfassungsentwurf benutzt, den er ihm im Juli 1814 in Frankfurt vorlegte. In einer Begutachtung dieses Entwurfes wich aber St. wieder von seinem letzten Standpunkt zurück. So befürwortete er die Präsidialleitung Oesterreichs. Vor allem kam er nochmals auf die Idee zurück, wenn nicht alle, so doch zahlreiche deutsche Provinzen Preußens und Oesterreichs vom Bunde auszuschließen, um diese beiden Staaten „in ihren inneren Einrichtungen ungestört“ zu lassen. Insbesondere fürchtete er von dem Beitritt aller deutschen Provinzen Oesterreichs, man werde „die Verfassung für das übrige Deutschland so lose bilden müssen, daß sie gegen den Sultanismus nur wenig Schutz gewährt“. Der Bund sollte „nur die Länder zwischen dem Inn, der Elbe, der preußischen Grenze, der Eider, den Grenzen des Auslandes in sich begreifen“, von Preußen und Oesterreich aber garantirt und mit ihnen durch eine unauflösliche Allianz verknüpft werden. Hardenberg ging darauf ein. Als aber Stein’s Vertrauensmann, der Graf von Solms-Laubach, den Entwurf nach Wien an Humboldt überbrachte, wurde in Conferenzen, die dieser mit den Vertretern Hannovers veranstaltete, die Idee der Ausschließung Preußens und Oesterreichs jenseits der Elbe und des Inn verworfen.

Soweit waren die Dinge gediehen, als der Congreß eröffnet wurde. Hin- und herschwankend zwischen sehr verschiedenen widerspruchsvollen Plänen hatte St. doch als Ziel immer im Auge, „daß Deutschland groß und stark werde, um seine Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Nationalität wiederzuerlangen und zu behaupten“. Wenn es auf praktische Vorschläge zur Erreichung dieses Zieles ankam, nichts weniger als ein Unitarier, geschweige denn ein Vorkämpfer des Gedankens der Hegemonie Preußens, hatte er schon im December 1812 an Münster geschrieben: „mein Glaubensbekenntniß ist Einheit; ist sie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang.“ Auf seine Anregung beschlossen die Vertreter der vier verbündeten Mächte, die deutschen Angelegenheiten von den europäischen zu trennen. Jene sollten den Berathungen eines Ausschusses der fünf größeren deutschen Staaten (Oesterreich, Preußen, Hannover, Baiern, Württemberg) überlassen werden. Schon der Zutritt der beiden Glieder des ehemaligen Rheinbundes mußte St. widerwärtig sein. Als sie sodann den von den drei anderen vereinbarten Bundesentwurf bekämpften, rief er den Zaren zur Einmischung auf, suchte durch den „Rheinischen Merkur“ auf die öffentliche Meinung zu wirken und reizte die Kleinstaaten gegen die Mittelstaaten. Dadurch wurde aber eine Bewegung entfesselt, die weit über seine Absichten hinausging. Die Idee der Herstellung des Kaiserthums, als einer erblichen Würde des [637] österreichischen Herrscherhauses, durchkreuzte die Idee eines dem nationalen Bedürfen möglichst angepaßten Bundes. Eine Zeit lang hielt St. an dieser noch fest, wobei er zugleich die Interessen der Mediatisirten und Reichsritter wahrzunehmen und die Volksrechte zu erweitern suchte. Als aber während der polnisch-sächsischen Krisis ein Stillstand des deutschen Ausschusses eintrat und Oesterreich einem Verfassungsplan für Deutschland ohne Preußen Anhänger werben wollte, gewann seine frühere Neigung für habsburgisches Kaiserthum wieder Kraft. Dies war um so mehr geeignet Verwirrung zu stiften, als im Febr. 1815 die endgiltige Berathung einer Bundesverfassung, unter Theilnahme aller deutschen Fürsten und Freistädte, in Fluß zu kommen schien. Sei es, nur weil er Oesterreich nicht anders an Deutschland zu fesseln für möglich hielt, sei es, daß auch eine starke romantische Strömung der öffentlichen Meinung ihn mitriß: eben damals agitirte er eifrig, zu großem Mißvergnügen der preußischen Bevollmächtigten, für Herstellung der erblichen, mit reichen Befugnissen ausgestatteten Kaiserwürde zu Gunsten Oesterreichs. Seine Bemühungen, durch den Zaren auf Widerstrebende einen Druck auszuüben gingen wieder mit Einwirkungen auf die Presse Hand in Hand. Aber er sah seinen Plan scheitern. Nach der Unterbrechung der Congreßarbeiten, die Napoleon’s Rückkehr von Elba verursacht hatte, schloß das deutsche Verfassungswerk mit der Annahme jener Bundesacte, von der, Stein’s bitterem Urtheile nach, „sich nur ein sehr schwacher Einfluß auf das öffentliche Glück Deutschlands erwarten ließ“.

Schon vorher am 28. Mai hatte St. Wien verlassen. Der Sommer verging ihm, indem er in Nassau und Ems seiner Gesundheit lebte. Ein kurzer Ausflug nach Heidelberg führte ihn wieder in die Nähe des Zaren, einen anderen unternahm er mit Goethe nach Köln, wo Arndt die beiden „größten Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts“ im Dome neben einander wandeln sah. Als Paris zum zweitenmale von den Verbündeten eingenommen und die Friedensverhandlung im Gange war, eilte er, von Hardenberg zu Hülfe gerufen, dorthin. Aber so freundlich ihn der Zar auch aufnahm: eine Unterstützung der deutschen Forderungen bei der Feststellung der Grenze gewährte er nicht. Stein’s Anwesenheit in der französischen Hauptstadt vom 14. August bis 10. Septbr. verfehlte ihren Zweck. Indem sich mit seiner Heimkehr sein Verhältniß zum Zaren löste, schied er aus dem öffentlichen Leben. Die Präsidentenstelle beim Bundestag, die Metternich, und die preußische Gesandtenstelle ebendaselbst, die Hardenberg ihm anbot, lehnte er ab. Im preußischen Staatsrath, der 1817, freilich nicht als die von ihm geplante Institution, berufen wurde, ward ihm kein Sitz eingeräumt. Auch auf der nassauischen Herrenbank blieb sein Platz leer. Er hatte zwar am Inhalt des nassauischen Verfassungspatentes von 1814 bedeutenden Antheil. Aber entrüstet über das Regierungssystem des Ministers Marschall, weigerte er sich dem Herzog ohne Vorbehalt den Treueid zu leisten, der bei der Berufung der Stände allen ihren Mitgliedern abgefordert wurde. So trat er denn, seinen eigenen Worten nach, in den neuen Abschnitt des Lebens „mit der Lösung zweier Aufgaben, der der Geschäftslosigkeit und der des Alters“. Die ihm gegönnte Muße füllte er zunächst durch sorgliche Verwaltung seiner Besitzungen aus. Die entfernte Herrschaft Birnbaum an der Warthe, die er 1802 erworben hatte, wurde gegen die Domäne Cappenberg umgetauscht, wodurch St. wieder mit dem geliebten Westfalen in Verbindung gesetzt wurde. In Nassau ward ein Thurm errichtet, dem Andenken der Befreiungskriege gewidmet und mit einem Theile der erlesenen Bibliothek ausgestattet. Ueberall sah der erfahrene Gutsherr nach dem rechten, ein Wohlthäter der Armen, ein Freund der Bauern. Seine Gastfreiheit blieb sich gleich, auch nachdem ihm 1819 die Gattin durch den Tod geraubt wurde und die Töchter sich vermählten, Henriette 1825 [638] mit dem Grafen v. Giech, Therese 1827 mit dem Grafen Kielmansegge. Obwohl er 1817 auf dem rechten Auge erblindet war, setzte er sein Lieblingsstudium, das der Geschichte, unermüdlich fort. Die Erkenntniß der Mangelhaftigkeit der Quellensammlungen deutscher Geschichte leitete ihn zu dem Gedanken, eine kritische Sammlung deutscher Geschichtsquellen zu veranstalten, womit er zugleich einen hohen vaterländischen Zweck zu erreichen hoffte. So entstand, dank seiner Anregung, die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. Er scheute weder Mühe noch Kosten das Unternehmen zu fördern und hatte die Genugthuung die Erfolge von Pertz und das Erscheinen der ersten Bände der Monumenta Germaniae historica zu erleben.

Die politischen Angelegenheiten verfolgte er mit regstem Interesse, nicht ohne in Briefen seiner Meinung oft kräftigen Ausdruck zu leihen. Einem Manne seines Schlages, der den Liberalen zu aristokratisch und den Legitimisten zu volksthümlich war, kannte es unter den Gegensätzen der Zeit nicht wohl werden. Er fühlte sich von den „sanscülottischen Schriftstellern“ ebenso abgestoßen, wie von den „organisirenden Buralisten“. So entschieden er die ständischen Bestrebungen adeliger Freunde am Rhein und in Westfalen billigte, so ernstlich warnte er vor „Wiederbelebung von Privilegien“ und „Ausschließung derjenigen, so keinen Stammbaum vorzuweisen haben“. Er hatte bittere Worte für „das fratzenhafte Treiben mehrerer Halb-Gelehrten und verführter Jünglinge“. Aber die zunehmende Reaction und die Abhängigkeit Preußens von Oesterreich schmerzten ihn tief. Mitunter war er in einer Stimmung, die ihn klagen ließ: „Das Resultat meiner Lebenserfahrung ist die Nichtigkeit des menschlichen Wissens und Treibens, besonders des politischen.“ Ein anderes Mal brach der frohe Glaube, nicht umsonst gewirkt, zumal in Preußen fruchtbare Saat ausgestreut zu haben, bei ihm durch.

Sein Hauptaugenmerk blieb der Entwicklung der preußischen Verfassungsfrage zugewandt. Er war allerdings für die Bildung von Provinzialständen mit zeitgemäßen Veränderungen eingenommen. Diese Provinzialstände sollten hinsichtlich der Provinzial-Abgaben und -Gesetze Beschlußrecht haben. Wenn er in ihnen „die Ritterschaft“ nur aus Mitgliedern des allen erreichbaren grundbesitzenden Adels zusammengesetzt sehen wollte, verlangte er doch für die gesammte Vertretung des Bürgerstandes nicht das unbedingte Erforderniß von Grundeigenthum. Aber daran hielt er fest, daß „die Einheit und Kraft der Monarchie zerrüttet würde“, wenn Provinzialstände in Fragen allgemeiner Gesetzgebung und Besteuerung an die Stelle von Reichsständen treten wollten. Man irrt in der Annahme, daß er an dem Edicte vom 22. Mai 1815 Antheil gehabt habe. Er hatte für seine Fassung scharfen Tadel. Aber es war nun einmal die gesetzliche Grundlage. „Auch den Dümmsten im Volke, schrieb er an Eichhorn, wird man nicht glauben machen, daß es von dem Willen des Fürsten abhänge, ob, wann und wie er eine übernommene Verbindlichkeit erfülle.“ Als im Spätsommer 1817 die Bereisung der Provinzen erfolgte, um schätzbare Materialien für das Studium der Verfassungsfrage zu sammeln, wird er Altenstein, der ihn sprach, seine Meinung nicht vorenthalten haben. Seine Bemerkungen zu Humboldt’s classischer Denkschrift über Verfassung von 1819 beweisen, wie tief er nunmehr von der Nothwendigkeit beschließender Reichsstände überzeugt war. Nachdem die letzte Verfassungscommission unter dem Vorsitze des Kronprinzen 1822 das entscheidende Wort gesprochen, das Wann und Wie der Berufung von Reichsständen der landesväterlichen Fürsorge vorbehalten hatte, erklärte er dem Kronprinzen auf Befragen, die Provinzialstände seien „eine Vorübung zu dem schwierigen Beruf der allgemeinen Stände“. Sein Gutachten über die Einrichtung der Provinzialstände, das ihm zugleich aus Höflichkeit in [639] letzter Stunde abverlangt worden war, fand keine Beachtung. Dennoch zog er sich nicht schmollend zurück, sondern nahm 1826 die ihm zugedachte Stelle eines Marschalles des westfälischen Landtags an. Dreimal hat er seine Verhandlungen geleitet und ihm durch sein Erscheinen Glanz verliehen. Aber so würdevoll er als Präsident sein konnte, so verletzend wurde hie und da seine Schroffheit und Heftigkeit für einzelne Mitglieder. Auch mit dem alten Genossen, dem Landtagscommissar Vincke, gerieth er in Zwist über die Angelegenheit der Katastrirung. In der Versammlung selbst stieß seine eigene Ansicht, wie in dem Streite über die Ablösungsordnung, mitunter an beide Extreme.

Abgesehen von diesem Wiederauftreten im öffentlichen Leben, war auch durch Reisen dafür gesorgt, daß der alternde St. sich nicht weltflüchtig einspann. Er hatte 1817 mit dem König von Württemberg und Wangenheim in Stuttgart die württembergische Verfassungsangelegenheit zu besprechen gehabt, 1818 auf dem Congreß von Aachen den Zaren begrüßt, vom Sommer 1820 an ein Jahr lang mit den Töchtern die Schweiz und Italien durchstreift, 1822 in Thüringen und Schlesien alte Freunde wiedergesehen. Einigemale vertauschte er im Winter den Wohnsitz auf seinen Gütern mit anregendem Aufenthalt in Frankfurt. Im Frühling 1827 betrat er nach achtzehnjähriger Abwesenheit aufs neue Berlin, wurde endlich auch in den Staatsrath aufgenommen, wohnte aber nur einer Sitzung desselben bei.

Seine letzte Lebenszeit wurde noch durch den Ausbruch der Juli-Revolution und ihre nächsten Folgen erregt. Er betrachtete das Ereigniß vornehmlich unter dem Gesichtswinkel einer gefährlichen Erschütterung der Ruhe Europa’s, wurde aber von der verzweifelten Stimmung Niebuhr’s nicht angesteckt. Noch einmal ließ er sich auf dem westfälischen Landtag über die große Zukunftsfrage Preußens hören, als hier am 20. Dec. 1830 unter Einwirkung des neuen politischen Anstoßes der Antrag gestellt wurde, den König um Berufung von Reichsständen zu bitten. Er hielt ihn in dieser Form angesichts der kriegerischen Gefahren und der Aufregung der Gemüther nicht für zeitgemäß, übernahm es jedoch, den Prinzen Wilhelm, Generalgouverneur der Rheinlande und Westfalens, um seine Vermittlung anzugehen. Er entledigte sich seines Auftrages, war aber unzufrieden mit der Verbreitung der betreffenden Landtagsverhandlung durch den Druck. Dies bot auch in Berlin den Vorwand, dem Prinzen zu verbieten, die gewünschte Vermittlung zu übernehmen. Ein solcher Verlauf der Sache mußte St. schmerzlich berühren. „Es rückt ein neues Geschlecht heran, schrieb er vorahnend an Gneisenau, … rathsam ist es die Flamme zu leiten, ehe sie zerstörend wirkt“. So blieb er bis an die Schwelle des Todes seinem Wesen treu: rechtzeitiger Einführung von Reformen zugeneigt, um Revolutionen zu vermeiden.

Je mehr seinen körperlichen Kräften durch Krankheiten zugesetzt wurde, desto häufiger wandten sich seine Gedanken dem Lebensende zu. „Von hier erwarte ich nichts mehr, hatte er schon vor Jahren eine autobiographische Skizze geschlossen, als fortschreitende Uebung in Resignation, in Demuth, in Hoffnung und Glauben.“ Tief durchdrungen von religiöser Gesinnung kam er wiederholt darauf zurück, daß ihn sein Ende „zu einer edleren Bestimmung als der irdischen“ führen werde. Schwindel- und Ohnmachtsanfälle kündigten es an. Am 17. Juni 1831 erschien er zum letzten Male auf dem Kreistage in Hamm. Eine starke Erkältung warf ihn gleich darnach zu Cappenberg nieder. Am 29. Juni erlag er einem Lungenschlag. Er wurde neben den Eltern und der Gattin in der Familiengruft zu Frücht unweit Ems bestattet.

St. war von mittlerer Größe, stämmig und breitschulterig. Er hatte eine gewölbte Stirn und feurige Augen. Um seine schmalen Lippen spielte wechselnd [640] der Ausdruck von Ernst und Spott. Seine Rede floß festgeschlossen und rasch einher. Wer ihm nahte, empfing den Eindruck eines Mannes, „der schwer werde dienen können und also herrschen und immer in erster Stelle stehen müssen.“ –

Biographisches Hauptwerk: Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein. 6 Bde. 1850–55 (mit Vorsicht zu benutzen, da häufig nicht zu erkennen ist, wo man Stein’s oder Pertz’ Worte vor sich hat). Ergänzung: Pertz, Denkschriften Stein’s über deutsche Verfassungen, 1848. – Seeley, Life and times of Stein. 3 Bde. Cambridge 1878. Deutsche Uebersetzung von E. Lehmann. – Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn v. Stein, 1858. – Roscher, Die National-Oekonomie des Ministers v. Stein (Cotta’sche Vierteljahrsschrift 1866). – R. Wilmans, Der Freiherr v. Stein und die Organisation der Erbfürstenthümer Münster und Paderborn in den Jahren 1802 bis 1804, nach amtlichen Denkschriften desselben (Zeitschr. f. Preuß. Gesch. X). – Le Coq, Einige kritische Bemerkungen zu Pertz: Das Leben Stein’s (Zeitschr. f. Preuß. Gesch. XI). – Alfred Stern, Der Sturz des Freiherrn vom Stein im J. 1808 und der Tugendbund (Abhandlungen und Actenstücke zur Geschichte d. preuß. Reformzeit. Leipzig 1885; daselbst: Geschichte d. preuß. Verfassungsfrage 1807–15 und Mittheilungen aus dem Archive des Auswärtigen in Paris). – F. Lentner, Karl Fr. v. Stein in Oesterreich. Wien 1873. – G. Trautenberger, K. Fr. v. Stein in Brünn (Publication Deutscher Club in Brünn Nr. 1). – A. Fournier, Stein und Gruner in Oesterreich (Deutsche Rundschau 1888); Derselbe, Zur Geschichte des Tugendbundes (Histor. Studien und Skizzen, Prag 1885). – Paul Goldschmidt, Zwei Briefe Hardenberg’s an Stein nebst dessen Antworten (Histor. Zeitschr. XLVI. Vgl. P. und F. Goldschmidt, Das Leben des Staatsrath Kunth, 2. Ausg. 1888). – Max Lehmann, Aus der Vorgeschichte des Krieges von 1813 (Histor. Zeitschr. LXIII). – Bailleu, Ein Schreiben des Freiherrn v. Stein zur deutschen Frage 1813 (Histor. Zeitschr. XLVI). – Der Ursprung des deutschen Verwaltungsrathes v. 1813 (Histor. Zeitschr. LIX). – (Eichhorn:) Die Central-Verwaltung der Verbündeten unter dem Freiherrn vom Stein. Deutschland 1814. – Max Lehmann, Tagebuch des Freiherrn vom Stein während des Wiener Congresses (Histor. Zeitschr. LX). – A. Duncker, Der Freiherr vom Stein und die deutsche Frage auf dem Wiener Congresse, Hanau 1873. – W. A. Schmidt, Geschichte der deutschen Verfassungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Congresses 1812–15. Stuttgart 1890. [Daselbst S. 159, Z. 17 ist „aus England“ zu streichen, S. 279, Z. 3 Baiern statt Baden, S. 457, Nr. 8 Kurhessen statt Kursachsen zu setzen.] – W. Sauer, Nassau unter dem Ministerium von Marschall I: K. F. v. Stein und die Entstehung der Nassauischen Verfassung. Die erste Ständeversammlung 1818 (Annalen des Vereins f. Nassauische Alterthumskunde u. Gesch. XXII, 1890; erweitert in: Das Herzogthum Nassau 1813–1820. Wiesbaden 1893). – Die Briefe des Freiherrn vom Stein an den Freiherrn v. Gagern 1813–31. Stuttgart 1833. – Pertz, Stein und die Monumenta Germaniae. Akademische Rede, Berlin 1843. – Alfred Stern, Briefe des Fr. v. Stein an N. F. v. Mülinen (N. Archiv f. ältere deutsche Geschichtskunde IX). – Janssen, J. F. Böhmer’s Leben u. s. w. 1868. – Außerdem kommen neben den allgemeinen Werken über die Geschichte des Zeitalters der Revolution, Napoleon’s und der Reaction von Quellen und Darstellungen besonders in Betracht: Pertz-Delbrück, Gneisenau; Lehmann, Scharnhorst; Aus den Papieren Schön’s nebst der dazu gehörigen Litteratur (Lehmann, Knesebeck und Schön. Stein, Scharnhorst und Schön. Zu Schutz und Trutz am Gabe Schön’s, von einem Ostpreußen u. s. w. [641] vgl. die Angaben am Schlusse des Art. Schön (A. D. B. XXXII, 791, 792). – Ranke, Hardenberg. – Bodelschwingh, Vincke. – Ompteda, Politischer Nachlaß. – Hormayr, Lebensbilder a. d. Befreiungskriege. – Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. – Boyen, Erinnerungen. – Die Cabinetsregierung in Preußen u. s. w., 1891. – Hassel, Geschichte der preußischen Politik, Thl. 1, 1881. – Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. 2 Bde. 1887. – Ernst Meier, Die Reform der Verwaltungs-Organisation unter Stein und Hardenberg, 1881. –
Ich verdanke der Frau Gräfin Kielmannsegge, Stein’s Enkelin, die Erlaubniß in das Stein’sche Archiv in Nassau haben Einsicht nehmen zu dürfen.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 632. Z. 23–27 v. o.: „Wenn“ bis „hätte“ sind zu streichen. [Bd. 45, S. 673]
  2. S. 632. Z. 28 v. o. l.: Stein statt ihm. [Bd. 45, S. 673]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Anne Robert Jacques Turgot, baron de l’Aulne (1727-1781), französischer Staatsmann und Ökonom der Aufklärung.
  2. Carlo Andrea Graf Pozzo di Borgo (1764-1842), korsischer Politiker und russischer Diplomat.
  3. Johann Protasius von Anstett (1766-1835), russischer Diplomat elsässischer Abstammung.
  4. Karl Robert Graf von Nesselrode (1780-1862), russischer Diplomat, Außenminister und Kanzler.
  5. Charles Pictet de Rochemont (1755-1824), Schweizer Diplomat, Politiker und Offizier.