Aus der Russenzeit Ostpreußens
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Die Veröffentlichung erfolgte zum Besten der Kriegshilfe im Kirchspiele Drengfurt.
[-] Wer hätte hier in Ostpreußen nicht mit eigenen Augen jene Flüchtlingszüge gesehen, die vor dem Einbruch der Russen von der Grenze herkamen? Die Wagen mit Hausgerät beladen, oben thronend 20 Leute und mehr, alte Frauen, frierende Kinder, abgehärmte Mütter, oft selbst den Wagen lenkend, weil der Mann im Kriege, Kühe und Fohlen angebunden oder nebenher getrieben. Tagelang kamen diese Züge bei uns durch, 21 Wagen voll standen selbst auf unserm Hof fast drei Tage lang. Das Vieh oft zu Hunderten hielt sich auf unsern Wiesen auf. – Für diejenigen ohne Lebensmittel wurde in großen Töpfen gekocht, viele kochten sich ihre mitgebrachten Sachen bei uns auf dem Herd. In unserm Hause wohnten einige Försterfamilien aus der Rominterheide, alle Handwerkerstuben, Scheunendielen usw. waren dicht belegt. Jeder erzählte Schreckliches, was sie alles an der Grenze gehört von jenen plündernden, räubernden Banden, die sich russische Soldaten nannten. Viele Leute sagten, sie wären nie vor dem Feind geflohen, aber unser Militär hätte sie veranlaßt, ihre Besitzungen zu räumen, da das Gefecht dort stattfände (bei Darkehmen). Nachher blieben dieselben in russischen [4] Händen und sie konnten nicht zurück. Immer beunruhigendere Nachrichten brachten die vorüberziehenden Flüchtlinge, immer näher rückten die Russen und eine immer größere Unruhe erfaßte auch unsere Landbevölkerung. Ich hatte mir vorgenommen mit meinen vier Töchtern im Alter von 7–16 Jahren und mit meinem alten, bald 80-jährigen, halb gelähmten Schwiegervater und dessen Pflegerin hier in Jäglack zu bleiben. Die Töchter wollte ich eigentlich fortschicken, doch gingen nachher keine Züge, zweimal hatten sie schon gepackt, aber schließlich war es mir zu unsicher, sie tagelang so allein in der Welt herumirren zu lassen, man wußte ja nicht, wie die Züge nach Berlin weitergingen, wenn man sie wirklich einige Tagesreisen bis an die Hauptstrecke mit Fuhrwerk geschickt hätte. So waren sie sehr glücklich, als sie bei mir bleiben durften. Den Leuten hatte ich frei gestellt, ob sie fort wollten oder nicht, es zogen nur der Oberschweizer und der Gärtner mit ihren Familien fort. An einem Abend hatte ich vor jedes Haus einen Leiterwagen fahren lassen, daß wer wollte seine Sachen aufladen könnte; aber nachdem alle das Elend der Flüchtlinge gesehen, sagten sie: „Nein, wir bleiben.“ Die Flüchtlinge, die noch bei uns waren, zogen am Sonntag, den 23. August und am Montag, den 24. fort. Den Förstern gab ich noch Anzüge von meinem Mann, die sie auf mein [5] Bitten anziehen mußten, denn ich sagte mir, sollten sie den Russen als preußische Beamte in die Hände fallen, dann wäre es um sie geschehen. Am Sonntag vormittag, als ich sah, daß die Drengfurter fast alle hier durchkamen, holte ich mir von dort die alte Frau Pfarrer Simon, die am 19. Dezember 100 Jahre alt wird. Da es keine Bäcker und Fleischer dort mehr gab, die Läden fast alle geschlossen waren, wie sollte die alte Dame dort leben.
Die Chaussee war eine lange Kette von Flüchtlingen mit Vieh und Pferden. Als ich an diesen Wagen vorbeifahren mußte – es war kaum möglich gegen den Strom schwimmend durchzukommen –, da kamen mir unwillkürlich die Tränen in die Augen bei all dem Elend. Wie anders war ich sonst meistens am Sonntag vormittag um dieselbe Zeit den Weg gefahren, an der Seite meines Mannes durch fruchtbare Felder und in lachendem Sonnenschein in unser Gotteshaus. Wie ganz anders war mir nun zu Mut, wie schwer schien das Leben, wie schwer war es selbst, den wirtschaftlichen Betrieb unseres Gutes aufrecht zu erhalten. Mein Mann und der Oberinspektor waren gleich am 2. August früh um 6 Uhr fortgefahren, um sich zu stellen, ebenso Vorarbeiter, Schmied und noch viele andere Leute. Dazu die Flucht des Oberschweizers und Gärtners, das Vieh mußte gemolken werden, die Frauen seit Jahren nicht mehr daran gewöhnt, wollten nicht [6] recht heran. Die ganze Milch mußte im Hause verarbeitet werden, da die Meierei aus Mangel an Personal geschlossen war. - Aber was waren alle diese Kleinigkeiten im Verhältnis zu dem Herzweh, das man bei dem Gedanken an unsere geliebte Provinz empfand. Kein deutscher Soldat war seit Wochen zu sehen gewesen, wo war denn unsere Armee? Sie mußte hinter die Weichsel gegangen sein, denn sonst hätten wir doch nach Angerburg zu etwas davon sehen müssen, da war ja der Anfang der berühmten Seenkette und vorher hatte es geheißen, da käme keine Maus lebendig durch, so hätten sich unsere Truppen dort befestigt. Und nun marschierten die Russen schon auf Drengfurt zu, ohne daß man auch nur einen Kanonenschuß gehört hätte? Nur nach Lötzen zu hörte man die Kanonen donnern. - Zu Hause angekommen brachte ich erst die alte Frau Pfarrer unter. Ich hatte sie schon auf einem Wagen unterwegs getroffen; sie wollte mit anderen Bekannten fliehen, ohne Ziel nur nach Pommern zu, tage- und wochenlang eventuell unterwegs zubringen. Das war für die alte Dame doch fast unmöglich, wenn sie auch sonst fabelhaft rüstig ist; so war sie denn sehr glücklich bei dem Gedanken, bei uns bleiben zu können.
Wir packten unser Silber, die Töchter vergruben es auf den Knien liegend unter unserm Balkon, [7] pflasterten nachher die Stelle wieder wie vorher, gossen mit der Gießkanne noch die frischen Spuren fort und es war nichts zu merken. Ich hatte gerade etwa 1000 Mark fürs Rote Kreuz von unserm Frauenverein sammeln lassen, dies Geld mit einigen Sparkassenbüchern u. dgl. tat ich in ein dicht schließendes Einmacheglas. Mitten im Rasen wurde ein Viereck ausgehoben, ein Loch für das Glas gegraben (die Erde vorsichtig in einen Korb gefüllt), das Glas hineingesetzt, Erde und Rasen wieder darauf gelegt, und hätte ich mir nicht mit Schritten die Entfernung ganz genau abgezählt, ich hätte selbst die Stelle nicht wieder finden können. Sehr gut kamen uns beim Verbergen der Sachen auch unsere Keller zustatten. Kein Mensch weiß, aus welcher Zeit dieselben eigentlich stammen. Als das Gut im Jahre 1838 in die Familie kam, existierten nur die Keller ohne ein Gebäude darüber. Es gibt hier drei Abteilungen, ganz dunkel, die zwischen einem ganz tiefen Keller und dem Fußboden liegen. In die hinteren Räume ließ ich nun alles bringen, was ich gern erhalten wollte, alte Ahnenbilder, Körbe mit Leinenzeug und Kleidern, Pelzkisten, auch einen Vorrat an Lebensmitteln, die guten Kutschsielen, Wertpapiere, Drainagekarten u. dgl. mehr. Am Montag vormittag mußte ein alter Mann mir die Tür zu den beiden hinteren Räumen zumauern und in den vorderen [8] Raum fuhr ich vor das vermauerte Loch alles mit Torf voll. Nun waren wir für die Russen gewappnet, die Gewehre waren im Komposthausen vergraben. Ich sagte immer, ist die Arbeit umsonst, desto besser, dann graben wir mit Freuden alles wieder aus. Mittags sahen wir die ersten russischen Patrouillen vorbei sprengen. Am Dienstag den 25. vormittags kamen Leute aus dem Dorf und erzählten, eben wären zwei Österreicher zu Pferde im Dorf und wollten etwas zu essen haben. Mir kam die Sache wunderbar vor, wenn auch immer davon gefabelt wurde, Österreicher kämen uns zu Hilfe. Es dauert nicht lange, kommen zwei Reiter auf den Hof, ich gehe heraus, spreche sie an, merke aber gleich, daß es Russen sind, Infanteristen zu Pferde, die kein Wort deutsch konnten. Sie ritten gleich weiter; aber dicht am Garten auf der Chaussee[WS 1] fielen Schüsse und wie sich nachher herausstellte, wurden dort vier junge Leute erschossen. Es waren Flüchtlinge, die auf unserer Wiese schon seit mehreren Tagen Vieh und Pferde weideten. Die Kosaken hatten sie zuerst ans Pferd gebunden, trotz des Flehens und Weinens der Mutter des einen, hatten sie einige hundert Meter mitgeschleppt, und als sie nicht weiter konnten, sie auf unserm Kleefeld erschossen. Der eine lebte noch mehrere Stunden unter furchtbaren Qualen, bis ein anderer Kosak am Nachmittag ihm
[9] den Gnadenschuß gab. Am Nachmittag plötzlich ist der ganze Hof voll Kosaken, 1—2 Schwadronen sitzen ab. Was wird nun? Das Herz stand im ersten Moment fast still vor Schreck. Von den Leuten und älteren Männern niemand zu sehen; die waren auch nachher immer wie fortgeblasen, wenn Russen erschienen. Ich gehe also aus den Hof und frage, ob ein Offizier dabei. Da erschienen denn zwei Kosakenoffiziere, d. h. ein Hauptmann, Offiziere scheinen die Russen die Leutnants zu nennen. Nach dem Hauptmann kommt bei ihnen gleich der Oberst, wie ich später erfuhr. Ich frage, was er wünscht, er verlangt Hafer für die Pferde, für sich gekochte Eier, und macht die Bewegung des Händewaschens. Dann erzählte er mir, es kommen noch acht Offiziere und ich fragte, ob ich auf dem Balkon Kaffee für sie decken lassen kann. Das nimmt er an, ich lasse ihn auf ein Fremdenzimmer führen, die ich alle für unsere Truppen so schön besorgt hatte, die aber, ach leider, so lange nicht kamen! Jeden Nebenraum untersuchte er, ob nicht Preußen darin säßen. Als alles in Ordnung befunden, schickte er einen Boten und es erschienen die anderen Herren von einem General und Divisionskommandant abwärts. Alle säuberten sich oben und kamen dann auf den Balkon, um Kaffee zu trinken. Unsere Männer und jungen Leute, etwa 13 an der Zahl, hatten sich hinten [10] im Park in dichtem Gesträuch unter Hopfen versteckt. Ich sah, während ich immer die Kaffeetassen füllen mußte, wie die Infanteristen zu Dutzenden zum Teil mit Spürhunden jeden Winkel durchsuchten; in den Scheunen stoßen sie in jedes Fach mit ihren Lanzen, ob sich niemand unter Stroh oder Heu versteckt hat. Innerlich zitterte ich für unsere jungen Männer, denn nach der Erfahrung vom Vormittag wußte man ja, was ihnen bevorstand. Nachher erzählten dieselben, fünf Schritt von ihnen entfernt versuchte ein Infanterist über den Gemüsegartenzaun zu klettern, die Äpfel hatten seine Aufmerksamkeit erweckt und er ging herum, um von einer anderen Seite einzudringen. Nach einer Stunde etwa brachen die Offiziere auf. Der General und einige andere sprachen recht gut deutsch, sie sagten mehrfach: „Serr gut, daß Sie sind hier geblieben, wir sonst nicht die Soldaten können abhalten vom Plündern.“ Wir waren das erste bewohnte Gut, das sie angetroffen. Beim Fortgehen sagte der General, es würden noch etwa an dem Tage 8000 Russen durchkommen. Ich bat ihn dann, ob er uns nicht einen Schutz angedeihen lassen könnte, und er versprach mir, einige Posten ins Dorf zu stellen, was er auch wirklich tat. Am Hofeingang standen unten drei Posten und zu Anfang und Ende des Dorfes je einer. Vorher waren die 300—400 Kosaken mit Butterbrot und Milch [11] bewirtet worden, die Kühe wurden an dem Tage für sie allein gemolken; als sie in die Küche kamen und energisch „Wuttki“ verlangten, kam ein Offizier vom Balkon und trieb sie mit der Klopfpeitsche heraus. Die Kosaken haben eine Knute unten mit Bleieinlage, die ist für die Menschen; dann haben sie Lederriemen dreiteilig am kurzen Stiel für die Pferde. Am Sattel haben sie meistens noch einen längeren Riemen zum Anschnallen der Armen, die sie mit sich fortschleppen. Bewaffnet waren die Russen sehr gut, die langen aufgepflanzten, zum Teil wie eine Säge ausgezackten Bajonette, die gräßlich breiten krummen Säbel der Kosaken, die langen oben wie drei Blätter geschliffenen Lanzen, dazu die gräßlich aussehenden Kerls selbst, man konnte wirklich von ihnen träumen. Dem General reichte ich die Hand und bedankte mich, daß er uns vor seinen Soldaten schützen wollte, aber selbst das kostete mich eine große Überwindung. Einige fragten, ob ich denn nicht Angst hätte, ich sagte, die Russen führen doch nicht gegen Frauen, Greise und Kinder Krieg, sondern gegen Soldaten, und da brauchte ich doch keine Angst haben. Sehr genau erkundigten sich alle nach meinem Mann, ich sagte er wäre Hauptmann und stände im Felde gegen Frankreich; er war ja auch hier im Osten, aber ich dachte, es wäre klüger zu sagen, er kämpfe gegen die Franzosen. Die andern Offiziere erzählten mir, der [12] General wäre ein sehr hoher Herr, er wäre „Imperator von Byzanz“, was das eigentlich bedeuten sollte, ist mir noch nicht klar. – Um ½ 5 fing etwa der Vorbeizug der Truppen an, anscheinend kamen sie von Nordenburg und zogen nach Barten. Wir konnten am Fenster sitzend alles genau beobachten. Es kam mir vor, als wenn es nicht 8000, sondern wenigstens 20 000 sein müßten. Bis ½ 10 Uhr zogen die Massen vorbei. Als es anfing dämmerig zu werden, bemerkten wir wie zehn Reiter immer gegen eine stets verschlossene Gartenpforte sprengen. Richtig, sie kracht und die Reiter ritten um das Haus herum, ich gehe ihnen entgegen, die Kinder stellen sich auf den Balkon und beobachten mit zitternden Herzen folgende Szene: Ein junger, frecher Kosakenoffizier, der schon vorher die Leute gefragt hatte, ob hier ein Offizier wohnte, die Leute hatten schauernd so getan, als wenn sie nicht verständen, kommt bis auf zwei Schritt an mich heran und sagt, sie wollen sich das Haus besehen. Ich sagte, am Nachmittag wäre sein General mit acht Offizieren auch hier gewesen, hätte sich oben die Hände gewaschen und Kaffee auf dem Balkon getrunken, wenn die Herren das auch wollten, hätte ich nichts dagegen, aber geplündert würde nicht, hätte der General gesagt. Dann fragte er, wer hier wohnt, ich sagte: „Siegfried, ich bin die gnädige Frau“. Er sagte höhnisch lachend: „Das [13] Haus wollen wir aber doch besehen“. Zwei banden ihre Pferde an einen Lindenbaum und dieser Kosakenoffizier zieht seinen langen, krummen Säbel heraus, fuchtelt in der Luft mir vor der Nase damit herum und sagt: „Haben Sie gar keine Angst, haben Sie gar keine Angst?“ Ich bleibe ruhig stehen und sage: „Warum sollte ich Angst haben, Sie sind anständige Russen, ich bin eine anständige Frau, ich habe keine Angst, Sie werden mir nichts tun.“ Ein etwas älterer Offizier, der etwas später nachgekommen war, sagte darauf: „Guten Abend, gnädige Frau“, macht auf der Hinterhand kehrt und reitet davon und die andern mußten mit einem recht langen Gesicht mit. Diesmal waren wir von der Plünderung verschont worden, aber was würde die Zukunft alles noch bringen?! Mit Schaudern sahen wir all die Kanonen und Soldaten vorbei ziehen mit dem Gedanken, das geht nun alles gegen unsere Lieben, gegen unsere Soldaten und unser Vaterland! Das Herz wurde so schwer und traurig, dachte man daran, was das für Blut kosten würde, diese Massen wieder heraus zu treiben. Und bange fragte man sich: Wird es überhaupt gelingen? Auch Gefangene führten die Russen mit von unsern 128 ern. Dieselben waren im Walde umzingelt worden, hatten mehrere Tage auf Bäumen sich versteckt gehalten, mußten aber schließlich doch aus Ermattung herunterkommen und sich ergeben. Der [14] eine Gefreite steckte noch einer Frau im Dorf einen Brief an seine Angehörigen zu und sagte, sie möchte hinzufügen, daß er nun gefangen sei. Sie gab mir den Brief, ich schickte ihn meinem Schwager, der Amtsvorsteher ist, denn Post gab es nicht, man war ja ohne jegliche Verbindung mit der Außenwelt. Mein Schwager, der eine Viertelstunde von uns entfernt wohnt, durfte sich wochenlang nicht herwagen. Sein Gut, das früher Vorwerk gewesen war, stand nicht auf den russischen Generalstabskarten und erst acht Tage später fanden die ersten Russen dorthin, einen Offizier haben sie dort überhaupt nicht gesehen. Voll Stolz zeigte mir ein russischer Oberst seine Karte: „Alles in Deutschland gemacht", sagte er, „nur mit russischen Namen.“ Er fragte, ob wir dieselben Karten hätten und ich muß sagen, sie sahen genau so aus wie unsere Generalstabskarten. Jeden Tag mußte Brot gebacken werden, denn Hunderte kamen täglich nach Brot und Milch. Zum Glück hatte ich zwei Faß Butter im Eiskeller, da ich vorher dachte, ich würde große Einquartierungen von unsern Soldaten bekommen. Der Müller wagte sich nicht mehr auf die Mühle, denn die Russen meinten, wir gäben den Deutschen Zeichen mit den Windmühlenflügeln (so soll es an der Grenze ein Müller mit den Russen gemacht haben und hat daher unsern ganzen Anmarsch verraten). Mein Schwager ließ [15] nun schroten für uns und das ganze Dorf, ein alter Mann mit einem alten Schimmel brachte uns das Mehl zum groben Brot und Gerstenschrot für die Schweine. Was sonst aus uns geworden wäre, weiß ich nicht. Sowie ich Getreide oder Schrot auf den Speicher bringen ließ, stahlen es die Russen fort, diese paar Zentner konnten immer im Hause verwahrt werden, und Brotmehl für das ganze Dorf wurde auch hier verteilt. An einem Tage wurde aber auch selbst dieser alte Mann nicht durchgelassen, trotzdem er schon immer Schleichwege fuhr. Es zogen tagelang Truppen durch, viele kamen heran und bekamen Butter, Brot und Milch. Man hatte das Gefühl, daß wir die Russen sehr unterschätzt hatten, sie waren meistens gut und praktisch gekleidet und sehr gut bewaffnet. Offiziere sagten, die schlimme Sorte käme erst, für sie sollten wir uns auch Essen parat halten, wir vermuteten Don-Kosaken, entsetzlich aussehende Menschen mit gelben knochigen Gesichtern, Schlitzaugen und langen schwarzen Haaren. Der Gedanke ließ uns an dem Tag kaum aufatmen, wir erwarteten jeden Moment die sengende und räubernde Bande. Im Nachbarstädtchen Barten sahen wir es am Abend mehrfach aufflammen, auch sonst war jeden Abend der Himmel rot von vielen Feuern, wir zählten einmal von unserm Turm 14 Feuer. Jeden Abend dachte man: Morgen kommst du gewiß heran! Aber [16] Gott hat unser Heim sichtlich beschützt und nie werden wir aufhören, ihm dafür von Herzen zu danken. Die leeren Nachbargüter wurden zuerst von Flüchtlingen ausgeplündert und nun von den Russen, was sie nicht mitnehmen konnten, wurde unbrauchbar gemacht, seidene Blusen in Honigkübel gesteckt; Heringe, Gurken und Eingemachtes zusammen in den Keller geschüttet, die Möbel zerschlagen u. dgl. mehr. Auch auf unserm Vorwerk hatte die Bande so gehaust, daß die Leute zur Nacht alle hierher flüchteten. Nur der alte Schäfer mit seiner Frau blieb dort, er sagte aber auch in den nächsten Tagen mehrfach, nun könnte er es auch bald nicht mehr ertragen. Der Hof dort liegt jede Nacht voll russischer Truppen; die Scheunen werden nie zugeschlossen, denn sonst zerschlagen sie die Türen, sie holen sich doch heraus, was sie wollen. Sie futtern Garbenhafer und Klee in Unmassen, schlachteten sich dort 24 Schafe und die vier alten Zuchtböcke, Köpfe, Fell und Eingeweide ließen sie vor dem Stall liegen. Des Nachts mußte ich oft ans Fenster eilen, um zu sehen, ob es nicht auf dem Vorwerk brannte. Während der ganzen Russenzeit habe ich mich keine Nacht entkleidet, höchstens einmal die Schuhe ausgezogen. Die Töchter schliefen alle bei mir im Zimmer, mein Schwiegervater mit Pflegerin, die alte Frau Pfarrer und die beiden Stubenmädchen schliefen
[17] in angrenzenden Zimmern. Der Tag fing meistens schon um vier Uhr an, man hatte keine Ruhe im Bett. Abends wurden die Laden zugemacht und alle Lichtritzen zugestopft, damit durch den Schein der Lampe die Russen nicht angelockt wurden. – Im Dorf hat ein Offizier erzählt, die Russen würden unsere Soldaten jetzt alle in die See treiben, in drei Wochen würde ihnen ganz Deutschland gehören. Die Gemeinen haben fast alle ein kleines Bild vom Zaren in ihrer Mütze, das zeigten sie mehrfach und sagten „das wäre nun unser Kaiser“. Acht Tage waren wir nun schon ganz ohne Zeitungen und auch mein armer Mann war ohne jede Nachricht von uns, wußte nicht einmal, ob wir daheimgeblieben waren oder nicht. Ich wußte, wie er und alle andern Angehörigen sich um uns sorgen würden und doch war es unmöglich, ein Lebenszeichen ihnen zukommen zu lassen. An manchen Tagen hörten wir Kanonendonner, so schien an einem Tag eine Schlacht zwischen Wehlau und Gerdauen zu sein; abends erzählten Russen, sie hätten eine große Schlacht gewonnen. Wir mußten es glauben, hatten wir doch die vielen Soldaten hinziehen sehen mit den schrecklich vielen Mordwaffen, alle dazu bestimmt, unsere armen Soldaten zu vernichten. Sollten die Russen zurückgeschlagen werden, so erzählten sie selbst, würden sie keinen Stein auf dem andern lassen; wir hofften, sie würden [18] dann einen andern Weg nehmen und nicht alle gerade wieder an unserer Gartenpforte vorbeiziehen. –
Auf dem Wege nach Barten sollen verschiedene erschossene Zivilisten drei Tage lang gelegen haben, auch einige Frauenleichen sollen dazwischen gewesen sein. Mir war es sehr recht, daß unser junger zweiter Inspektor am Sonntag, den 23. August nach Elbing fuhr, um sich dort zu melden, so hoffte man, daß er doch in Sicherheit wäre, wenn man ja auch nicht wußte, ob er nicht inzwischen von Russen abgefangen sei. Viehtransporte von Besitzern aus dem Dorf waren von Russen erwischt, der Treiber wurde mißhandelt, mit Füßen in einen Graben gestoßen und kam er am nächsten Tage eine Meile zum größten Teil auf allen Vieren angekrochen, da er kaum vorwärts konnte. Die beiden jungen Treiber, darunter ein Gärtnerbursche von hier, hatten sich im Walde versteckt gehalten und flüchteten nach Tagen auf ein in der Nähe gelegenes Gut und stellten sich erst nach der Russenzeit wieder ein. – Unser Speicher war ganz geleert, er wurde gar nicht mehr zugeschlossen, damit sich jeder Russe gleich selbst davon überzeugen konnte. Die Futterkästen der Pferde waren alle erbrochen, Pferde mit Sättel wurden gestohlen, alte kranke Pferde in den Stall zurückgestellt (letzteres geschah allerdings sehr selten). Alles wurde mit einer Frechheit und Selbstverständlichkeit gemacht, ob ich dabei stand [19] oder nicht, ich wurde wie Luft behandelt. Was dazu gehört, solch einer Bande machtlos gegenüber zustehen, ohne sich wehren zu können, das Gefühl muß man wochenlang täglich durchgemacht haben, um es begreifen zu können. O, wie beneidete ich die Männer, die dort draußen fürs Vaterland kämpfen durften, wie leicht dachte ich es mir, sich dort durch Tapferkeit auszuzeichnen. War nicht die Erstürmung einer Festung fortgerissen von der Macht eines Augenblicks ein Nichts im Verhältnis dieses täglichen dem Feinde Gegenübertreten, nicht wissend, wird er dich oder einen der Deinen jetzt über den Haufen schießen? Für das eigene Leben zitterte man nicht, aber wieviele Jünglinge und Männer und andere Angestellte hatte ich, für die ich jeden Augenblick in Sorge war! Den Leuten wurden die Schränke durchwühlt, den Männern die Uhren aus den Taschen fortgenommen. Das Ganze ist kein Krieg, sondern ein Stehlen, Morden und Brennen, wie soll sich unsere arme Provinz nur je von diesem Schlag wieder erholen? Und doch mußte man sich sagen, es muß wohl sein, um unser Vaterland zu retten. Wir dienen eben dem Ganzen, wenn wir uns opfern und nur so ist ein endgültiger Sieg möglich. Aber für diejenigen, die es trifft, ist es bitter, sehr bitter und das Herz krampft sich zusammen über all dem Weh, das der Krieg unserm geliebten Ostpreußen gebracht.
[20] Wir rechneten nun damit, daß Ostpreußen und Westpreußen bis zur Weichsel frei gegeben wären. Wie sehnte man sich nach Nachricht von unseren Truppen, wie oft dachte ich, wenn doch nur ein Flieger einmal einen Zettel herunterwerfen möchte, der uns sagte, wie es in der Welt aussähe; man verzehrte sich fast in Sehnsucht danach. - Unsere 20 Polen mußten wir alle an die Grenze schicken mit unserm Wagen und unsern Pferden, das Fuhrwerk durften sie dort für sich verkaufen, hatte der General gnädigst erlaubt; als ich alte Pferde anspannen lassen wollte, wurden die Polen frech und sagten, sie würden das dem General melden. Vorher wurden die Polen ausgefragt, ob sie hier gut behandelt wären und ob sie gutes Essen bekommen hätten, anscheinend stellten sie uns ein recht gutes Zeugnis aus.
An einem Abend biwakierten zwei Schwadronen Kosaken 1 ½ km von hier entfernt, das kam uns zuerst beunruhigend vor und wir schliefen fast gar nicht vor Angst, aber wir sollten es noch ganz anders kennen lernen. Es wurden uns 25 Kühe und 4 Stärken von der Weide gestohlen. Radler kamen, jagten etwa ein Viertel der Herde fort, vereinigten die Tiere mit tausenden, die schon am Wege standen, und trieben das Vieh dann weiter. An unserm Teich wurde das Vieh getränkt, auf unsern Wiesen und Rübenfeldern gesättigt; alte [21] Männer und zwölfjährige Jungens und Mädchen mußtzten das Vieh treiben und das Gepäck der Soldaten tragen, letztere gingen mit aufgepflanztem Bajonett nebenher. Diesen Anblick haben wir oft gehabt und auch von uns versuchten sie zwei Männer mitzunehmen, dieselben waren aber lahm und alt und konnten nicht so schnell mit, deshalb ließen sie dieselben frei. -
Am 29. August ratterte es von ½5 Uhr früh auf der Chaussee, Kanonen und Munitionswagen zu Hunderten; bis Friedland zu soll alles so voll Russen sein. Am Tage vorher wurde tüchtig geschossen, am 29. nur wenig. Auch wurde ein Flieger beschossen von auf der Chaussee ziehenden Russen. - Schreckliche Tage kamen, immer Russen und wieder Russen, drei Tage hielt eine Munitionskolonne mit 500 Pferden und den dazu gehörenden Wagen am Dorf, vier Offiziere, darunter ein Hauptmann, kamen zum Frühstück, baten um Tee, Eier, Butterbrot; besonders erfreut waren sie über Zigaretten, die sie schon lange entbehrt hatten. Zum Dank ließen sie zwei Pferde von ihren Leuten stehlen und versorgten die 500 Pferde für mehrere Tage mit Heu und Klee. Ich bat den Hauptmann, seinen Leuten zu sagen, sie sollten nicht alles fortnehmen; da sagte er nur, es wäre Krieg und der General hätte gesagt, sie sollten alles kaufen ohne Geld. Der dritte Tag ihres Hierseins war ein [22] Regentag, da erscheinen zwei Offiziere (darunter der Hauptmann) und etwa 50 Mann auf dem Hof, heizen die Lokomobile an und fangen an unsern Hafer auszudreschen. Sie meinten, Hafer wäre keiner vorhanden auf dem Speicher (die früheren Truppen hatten denselben schon gestohlen), sie brauchten welchen und müßten nun selbst dreschen. Ich wollte wenigstens unsern Maschinisten geben, „das wäre nicht nötig“, sagten sie, „ein Monteur, aus Wilna stammend, der in Heiligenbeil in der Ostdeutschen Maschinenfabrik ausgebildet wäre (der Direktor davon ist mein Bruder), wäre da und verstände mit der Maschine umzugehen“. Bis abends um sechs hätten sie die Absicht zu dreschen. Ich rechnete nun schon, wieviel hundert Zentner sie bis dahin dreschen könnten und ergab mich in mein Schicksal. Endlich bekamen sie die Maschine in Gang, droschen etwa eine Stunde und da war plötzlich der Hof leer. Sie hatten Befehl bekommen gleich abzurücken. Der Hauptmann, von den Kindern Schabberhannes getauft, sie hatten für jeden bald einen passenden Namen herausgefunden, erzählte mir die unglaublichsten Sachen. Amerika und Italien hätten uns nun auch den Krieg erklärt, Italien hätte schon Triest besetzt. Die Russen selbst wollten in zwei Tagen in Königsberg und in fünf Tagen in Berlin einrücken; Deutschland würde dann aufgeteilt, Königsberg wäre den Polen als Hauptstadt [23] versprochen. Solch einen Unsinn mußte man nun mit anhören und wußte nicht, wieviel davon Wahrheit und wieviel erlogen. Der ganze Krieg wäre überhaupt nur Spielerei, ja Mukden, das wäre eine Schlacht gewesen, die hätte acht Tage gedauert und es wären auf jeder Seite 100 000 Tote gewesen; er wäre auch dabei gewesen. Es hätte immer geheißen, die Deutschen wären so stark, feige wären sie, liefen immer davon u. dgl. mehr. Ich dachte, „na warte nur, du wirst sie schon anders kennen lernen“. - An dem Tage kam noch ein ganzes Armeekorps, vier Divisionen, hier durch, alle Wege waren schwarz von Soldaten; sie erzählten, hier oben wäre zu viel Militär, sie zögen nun alle nach Warschau; es hatte den Anschein, als ob die Leute das alles selbst glaubten und von der Niederlage der Russen bei Tannenberg keine Ahnung hatten. Wir erfuhren auch erst am 8. September davon.
Am 31. August haben 4000 Mann um und auf dem Hof im Biwak gelegen, im Hause hatten wir acht Offiziere. Zuerst hieß es, es kämen zwei Generäle, darunter der kommandierende General und mehrere andere Offiziere. Die acht Offiziere, die wir schließlich hatten, waren aber schon mehr Räuberbanden. Zuerst aßen sie mit uns Abendbrot, zwei Ärzte konnten recht gut deutsch sprechen, einer hatte ein Jahr in Berlin in der Charité gearbeitet, [24] die andern machten zum Teil einen recht wenig netten Eindruck. Einen Kosakenhauptmann bat ich ins Dorf zu gehen, da seine Leute dort entsetzlich hausen sollten, weinend kamen Frauen zu mir geflüchtet und baten um Schutz. Er ging nicht, schien selbst Angst zu haben. Da gingen die beiden Ärzte und schafften Ordnung. Aber einen einzelnen Mann verprügelte er mit der Knute nachher ganz fürchterlich im Hausflur. Nach dem Abendbrot spielten zwei Offiziere recht gut Klavier, sie meinten Musik wirke veredelnd nach all dem Kriegslärm und wäre den verrohten Gemütern dienlich. - Zwei Schwadronen Kosaken lagerten mit noch recht viel Infanteristen aus dem Hof, in jedem Winkel im Dorf und Park waren große Lager aufgeschlagen, was würde die Nacht bringen? Die Offiziere sagten, ich könnte ganz ruhig schlafen, es wären allein drei Offizierpatrouillen im Dorf und es würde nichts passieren. Sie bestellten sich ihren Kaffee um 8 Uhr früh. Als das Mädchen um ½6 Uhr morgens zum Reinmachen ins Zimmer kommt, sieht sie zwei Gestalten mit der Taschenlampe an meinem Schreibtisch knien (die Laden waren noch zu), ein Berg herausgewühlter Papiere[WS 2] liegt auf dem Fußboden, sie springen auf und laufen davon, hatten noch die silberne Uhr mit Kette meiner Tochter mitgenommen, sowie alle Zigarren und Zigaretten mit Metallkasten, von denen ich
[25] ihnen am Abend vorher angeboten, ebenso fehlte nach ihrem Fortgang noch ein weißer Handspiegel aus dem einen Fremdenzimmer. Oben waren Schränke, Nähtisch und eine Truhe der Töchter erbrochen. - So sah es im Hause aus, aber nun erst draußen aus dem Hof; 14 Pferde hatten sie in der Nacht gestohlen, alle Sielen, Trensen und Sättel; Schweine geschlachtet, ebenso 24 Schafe und mehrere Kühe. Enten und Gänse hatten sie auf dem Teich mit dem Kahn zusammen getrieben und dann abgeschossen, den Hühnern hauten sie mit dem Säbel die Köpfe ab, immer reihenweise, wie sie auf den Stangen saßen. So hatten sie im ganzen Dorf gehaust, den armen Leuten oft ihr einziges Schwein geschlachtet und sonst hatten die Horden den Leuten auch viel gestohlen. Gemüse- und Obstgarten waren beinahe leer, alle Zäune zerbrochen, das Drahtgeflecht zerschnitten. Klee und Heu wurde für all die vielen Pferde, es müssen über tausend gewesen sein, wieder „ohne Geld“ gekauft. Einen Wagen nach dem andern spannten sie von uns an und fuhren damit vom Hof; als etwa der vierte an die Reihe kam, wurde mir die Sache doch zu toll, ich stürze nach oben, klopfe bei dem Arzt an und sage, er möchte schnell herunterkommen, die Soldaten auf dem Hof nehmen uns alle Wagen, bespannen dieselben mit unsern Pferden und fahren davon. In wenigen Minuten war er [26] dann einen andern Weg nehmen und nicht alle gerade wieder an unserer Gartenpforte vorbeiziehen. –
Auf dem Wege nach Barten sollen verschiedene erschossene Zivilisten drei Tage lang gelegen haben, auch einige Frauenleichen sollen dazwischen gewesen sein. Mir war es sehr recht, daß unser junger zweiter Inspektor am Sonntag, den 23. August nach Elbing fuhr, um sich dort zu melden, so hoffte man, daß er doch in Sicherheit wäre, wenn man ja auch nicht wußte, ob er nicht inzwischen von Russen abgefangen sei. Viehtransporte von Besitzern aus dem Dorf waren von Russen erwischt, der Treiber wurde mißhandelt, mit Füßen in einen Graben gestoßen und kam er am nächsten Tage eine Meile zum größten Teil auf allen Vieren angekrochen, da er kaum vorwärts konnte. Die beiden jungen Treiber, darunter ein Gärtnerbursche von hier, hatten sich im Walde versteckt gehalten und flüchteten nach Tagen auf ein in der Nähe gelegenes Gut und stellten sich erst nach der Russenzeit wieder ein. – Unser Speicher war ganz geleert, er wurde gar nicht mehr zugeschlossen, damit sich jeder Russe gleich selbst davon überzeugen konnte. Die Futterkästen der Pferde waren alle erbrochen, Pferde mit Sättel wurden gestohlen, alte kranke Pferde in den Stall zurückgestellt (letzteres geschah allerdings sehr selten). Alles wurde mit einer Frechheit und Selbstverständlichkeit gemacht, ob ich dabei stand [27] gelegen, auf seinen Säbel zu kleben und damit am Kaffeetisch zu erscheinen. –
Der nette Arzt erbot sich, mit mir zu einem General zu fahren, der etwa 2 km entfernt logierte, um mir von ihm einen Zettel auszubitten, der uns schützen würde. Wir fuhren denn auch mit zwei halbblinden, ganz verkrummten alten Pferden, die anderen waren alle gestohlen (28 Stück), mit zusammengeflickten Sielen und einem alten Mann als Kutscher; die anderen Leute hatten Angst und wollten mich nicht kutschieren. Vorher hatte ich den andern Arzt gebeten, doch auf meine Töchter aufzupassen und sie zu behüten. Er nahm sein Amt sehr ernst, erlaubte nicht einmal, daß eine der Töchter in die Küche ginge, um Sahne zu holen, „ich Sie immer alle sehen muß, sonst nicht weiß, was Kosak mit Fräulein macht, Sie alle immer bleiben in diese beide Stuben“ sagte er., Draußen sagte er nachher zu den Leuten: „Wilhelm Idiot, Wilhelm Krieg gemacht, Wilhelm und alle Hohenzollern Kopf ab, Deutschland Republik, dann Frieden.“ Auf der Fahrt zum General erzählte mir der andere Doktor, unser Kaiser hätte nach der Mobilmachung Liebknecht gleich erschießen lassen. Ich sagte, so etwas wäre bei uns nach den Gesetzen nicht möglich. Auf alle meine Einwendungen sagte er dann immer nur, ich wäre falsch unterrichtet und wüßte es nicht. Die tollsten Räubergeschichten [28] über die deutschen Barbaren werden in Rußland von der Presse in glaubwürdigster Weise verbreitet, es ist unfaßbar, wie eine ganze Nation so etwas für wahr halten kann. Unsern Verwundeten schneiden wir selbst die Kehle durch, damit wir sie nicht zu pflegen brauchen, den verwundeten Russen werden die Augen ausgestochen und sie werden langsam zu Tode gequält u. dgl. mehr. Bei dem General angelangt, leider nicht mein alter Beschützer, stellte derselbe mir aber trotzdem einen Zettel aus, den er mir in Deutsch übersetzte und der etwa so lautete: Bei Frau Rittergutsbesitzer S. in Jäglack darf im Hause keine Unruhe und keine Unordnung gemacht werden. Da sein Adjutant mit dem Stempel fort war, er war auch im Begriff aufzubrechen, auf dem Hof standen Hunderte von Kosaken schon auf ihren Pferden aufgesessen, konnte er den Zettel nicht unterstempeln. Der ganze Weg hin und zurück war ein Durchwinden durch dichte Infanteriemassen. Unsere Kosaken auf dem Hof und sonst die ganze Einquartierung war im Aufbruch begriffen, als wir heimkehrten. In dem Moment kam ein deutscher Flieger über unser Haus und es begann ein unglaubliches Geschieße. Mein Schwager erzählte später, sie hätten es für Maschinengewehrfeuer gehalten. Wir beobachteten Kosaken, die anstatt nach dem Flieger zu schießen, sich lieber die Tauben von [29] dem Dach herunterholten. Auch sagte mir ein Offizier, sie träfen mit Infanterie nie Flugzeuge. Diese großen Truppenmassen rückten ab nach Nordenburg zu, es erschienen nur noch Patrouillen, die Milch und Brot forderten. Auf der Chaussee flutete es noch lange hin und her und abends hieß es, an unserer Mühle wären russische Kanonen aufgefahren mit dem Rohr hierher gerichtet, die Mühle liegt auf der anderen Seite der Chaussee. Es kamen auch noch einige Offiziere auf den Hof, die fragte ich, ob hier eine Schlacht stattfinden würde, die meinten, höchstwahrscheinlich, dieselbe würde aber wohl nur 3 - 4 Stunden dauern. Wollten sie so schnell unsere Truppen besiegen oder selbst ausrücken? Abends um 9 Uhr kam ein Mann in Zivilkleidern mit einem unserer Leute zu mir. Dieser Zivilist war ein Landwehrkürassier aus der Bartensteiner Gegend, war mit einem Flüchtlingswagen an dem Tage mitgekommen. Bei Bartenstein war er von den Russen umzingelt worden, konnte sich nur schwimmend durch die Alle retten lag drei Tage in einem Buschwerk verborgen, kroch nachts auf ein Gehöft und bat sich Zivilkleider aus und suchte nun deutsche Truppen, um sich ihnen wieder anschließen zu können. Dieser Kürassier sagte nun, sowie das Schießen begänne, müßten wir unbedingt das Haus verlassen. Die Russen würden sich bei einem Angriff hier verbergen und [30] sich aus den Fenstern verteidigen. Müßten sie ganz räumen, würden sie uns alle vorher im Keller vor Wut tot machen. Wir sollten früh um 5 Uhr anspannen lassen und in den Skandlacker Wald fahren. Gott sei Dank kam es noch nicht dazu. Später am Abend erzählten Frauen, die ganze Chaussee wäre schwarz von Kanonen und Fahrzeugen, Kavallerie und Infanterie, alles zog nach Drengfurt zu. Wenn die Kanonen von der Mühle doch nur auch mit ziehen möchten, das war unsere Hoffnung, die sich nachher auch erfüllte. Am nächsten Tage kamen wieder mehrere Patrouillen und abends um 9 Uhr etwa ritten die letzten Russen durchs Dorf, sie waren noch in Hörweite, da kamen plötzlich Ulanen angesprengt und sagten „Guten Abend“ und fragten, ob hier Russen gewesen usw. Sie möchten sich nur ganz leise verhalten, sagten die Frauen, die Russen wären vor zwei Minuten noch da gewesen. Sie jubelten innerlich vor Freude und konnten vor Aufregung über diese ersten deutschen Laute kaum berichten. Kosaken plünderten am nächsten Tag im Dorf, nahmen den Leuten Uhren fort, durchsuchten die Wohnungen und hausten wie Räuberbanden, ein Mann mußte sich schon hin knien, den sie erschießen wollten; da kam gerade ein Offizier vorbei und sagte, sie sollten ihn laufen lassen, es wäre doch ein alter Krüppel. Einen andern alten Mann hatten sie einmal schon ans [31] Pferd gebunden, ihn aber, als er nicht mit konnte, wieder losgelassen, auch unserm Kämmerer hatten sie einmal schon einen Riemen um den Arm geschnallt zum Mitnehmen, das wurde mir gemeldet und ich stürze mit meinem Zettel vom General hin, doch hatten die Tränen der Frau auch schon genügt, um ihn zu befreien. Zwei Millionen Russen wären nun schon in Ostpreußen, erzählten uns die Russen, 12 Millionen Soldaten hatten sie im ganzen. Wie sollten unsere Truppen nun diese Massen bewältigen, und uns von ihnen befreien? Jeder Tag schien schier endlos zu dauern. Unsere Truppen mußten doch in der Nähe sein, wo kamen sonst die Ulanen her? Tagelang hörte und sah man nichts weiter von ihnen! Auf dem Fürstenauer Berge hinter Drengfurt hatten die Russen ihre Kanonen eingegraben, um unsern armen Truppen, die hier die Chaussee wohl entlang kommen würden, ordentlich entgegen zu pfeffern; so daß wir hier denn auch wohl die nähere Bekanntschaft der Granaten machen würden. Ich hatte schon Stühle für die alte Frau Pfarrer und meinen Schwiegervater in den Keller bringen lassen, ebenso einige Lebensmittel, Spirituskocher, warme Mäntel und Decken u. dgl.; Rodehacken, im Fall der Turm eingeschossen würde und den Kellerausgang beschütten sollte. Um durchs Fenster heraus zu können, eine Leiter, und eine Feile, die Traljen durchzusägen.
[32] Am 3. September sahen wir den ersten deutschen Soldaten, einen 5. Kürassier, mit Freudentränen wurde er begrüßt. Er hielt auf seinem Fuchs unterm Fenster und erzählte, eine deutsche Division läge hinter Barten. Vier Kürassiere kamen als Patrouille. Einer ritt nach Wolfshagen weiter, dem wurde das Pferd unterm Leib fortgeschossen, 50 Schuß ihm noch nachgeschickt; mit dem Helm in der Hand kam er die 2 km hergelaufen, holte sich ein Pferd und Sattel von uns und jagte davon nach Barten zu. - Die andern drei Kürassiere erfuhren, daß sich auf dem Boden in unserm Kutscherhaus drei russische Infanteristen eben versteckt hatten. Sie beschossen nun das Haus, die Kugeln gingen durch Wände, Schränke und Kleider, schließlich guckte ein Kürassier durch die Haustür und sah einen toten Russen im Flur liegen mit dreimal gespaltenem Schädel. Darauf verzogen sie sich, sagten, sie könnten sich nicht länger hier aufhalten. Es wäre anzunehmen, daß die beiden andern Russen nun Verstärkungen holen und nachts das ganze Dorf anstecken und abmorden würden. Wir sollten im Chausseegraben entlang nach Barten zu fliehen. Fast alle Leute zogen mit einem Bündel auf dem Rücken los, der Lehrer und Gastwirt und viele andere. Tagelang vorher schliefen schon etwa 100–150 Personen hier im Hause, in der Gesindestube waren allein etwa 30–40 Kinder. Zu Hause [33] waren die Leute ausgeplündert und hatten nichts zu essen und außerdem fühlten sie sich hier sicherer. In großen Töpfen wurde Essen gekocht, alle hinteren Räume waren dicht besetzt und auch in unserm Saal hatte ich drei Familien einquartiert. - Kaum waren die Flüchtlinge aus dem Dorf heraus, wurden sie von Marienthal her tüchtig beschossen. Sie kehrten um und gingen durch den Park und kamen unbeschossen durch. Ich dachte natürlich nicht an Fliehen mit meinen beiden Alterchen; aber es war doch eine furchtbare Nacht voller Angst und Sorge und auch meine lieben Mädels, die sonst so tapfer sich gehalten, fingen an ängstlich zu werden. Aber auch diese Nacht ging vorüber und wir lebten am Morgen alle noch! -
Am nächsten Morgen wagte sich eine Frau ins Kutscherhaus. Richtig, da lag der Russe, wo waren die beiden andern? Saßen sie noch auf dem Boden? Man wartete noch eine Stunde, es kam niemand. Dann ging die Frau auf den Boden, fand dort die Gewehre und Uniformen der zwei, die hatten sich vom Kutscher, der eingezogen, Zivilsachen angezogen und waren desertiert. Nun sollte der Russe begraben werden, ehe die Kosaken ihn fänden. Mehrfach waren Patrouillen schon am Morgen an dem Haus vorbei geritten und ich zitterte davor, sie würden den Toten da finden. Kein Mann war aufzutreiben, der das tun wollte; ich sagte, ich wollte mich bei ihnen hinstellen; nein, es war [34] nicht möglich, jemand dazu heranzubekommen, sie hatten Angst, Kosaken würden sie überraschen. Schließlich sagte ich zu meinen Töchtern, sie sollten mit kommen, wir nahmen Spaten und wollten uns gerade an die schaurige Arbeit machen, da sagten mir zwei Männer, sie hätten den Russen eben im Kartoffelgarten flach eingegraben. -
Mein Kämmerer, nervös gemacht durch die ganze schwere Zeit, erklärte, das Leben hielte er nicht aus, er ginge fort und wenn er sich das Leben nehmen sollte; ich hatte ihm vorher gesagt, er solle dafür sorgen, daß der Russe beerdigt würde; die Leute wollten nicht gehorchen und es war für ihn ja auch sehr schwer. Meine Vorstellungen halfen nichts; ich sagte ihm: der Leute wegen wäre ich geblieben, mir wäre es auch bequemer, nach Hamburg zur Großmutter mit den Kindern zu reisen, aber das Pflichtgefühl gegen die Leute hätte mich hier gehalten. Er wäre nun noch meine letzte Stütze usw. Es half nichts, er zog los, aber gegen Abend war er schon wieder da. -
Fünf große Feuer waren am Himmel wieder zu sehen, wir vermuteten Birkenfeld auch darunter und hatten leider recht, wie wir später hörten. - Mehreren Trupps Kosaken trat ich mit meinem Zettel vom General entgegen, das Schlimme ist nur, daß die Gemeinen meistens nicht lesen können. Sie haben auch wieder allen Männern im Kuhstall die Taschen durchgesucht. In den Westentaschen [35] suchen sie Preußen und in den Zigarrenkisten Maschinengewehre! Kosaken drangen in die Küche, forderten Weißbrot, etwas das wir seit Wochen nicht gesehen, selbst die alte Frau Pfarrer und mein Schwiegervater mußten immer das ganz grobe Schrotbrot essen. - Überall wimmelte es wieder von Russen, in Wolfshagen liegen zwei Divisionen, wo sind wieder alle Deutschen? Immer wieder frägt man sich: wird es hier zur Schlacht kommen? Es kann kaum anders sein.
Am 4. September waren wieder viele Russen hier, immer wieder andere Trupps, Kosaken und Infanteristen immer abwechselnd. Hätten wir nicht den Zettel vom General, erklärten heute 12 Infanteristen, wären wir längst ausgeplündert. Im Dorf haust die Bande toll, nimmt den Leuten noch das Letzte, zerschlägt die Sachen, zerschlitzt die Wäsche und haust schlimmer wie Vandalen. In Barten soll es auch toll aussehen, einige Gebäude sind abgebrannt und die anderen zum Teil ausgeplündert und demoliert. Ein Flieger flog wieder über uns nach Wolfshagen zu, er wurde von Russen, die im Park lagerten, tüchtig beschossen. Nachts ist immer der halbe Himmel rot, es müssen große Brände sein, die so leuchten. Ob uns auch der Zettel des Generals vor diesem Schrecklichen bewahrt?
Um 11 Uhr vormittags erschienen dieselben 12 Infanteristen total betrunken. Sie behaupteten, [36] es wäre aus dem Hause auf Russen geschossen worden und sie müßten das Haus nach Waffen durchsuchen. Unsere jungen Leute erklärten sie für verkleidete Soldaten, schleppten sie mit heraus und wollten sie abführen. Ich erklärte, ich würde dann mitgehen bis zum nächsten Offizier, den einen Knecht faßte ich unter, dichtete ihm an, er wäre brustkrank u. dgl. mehr, aber trotzdem war das Bajonett mehrfach auf ihn gerichtet. Als ich darauf bestand, zu einem Offizier geführt zu werden, ließen sie schließlich von den jungen Leuten ab und kamen wieder ins Haus. Jede Schublade vom Keller bis zum Boden kippten sie in die Stube, meines Mannes Schreibtisch, den Amtsschrank, viele mit Sachen gefüllte Kisten, die hier aufbewahrt werden von anderen Verwandten, alles lag zu schrecklichen Haufen geballt im ganzen Hause umher. Ich hatte erklärt, ich hätte keine Waffen, nun fanden sie im Amtsschrank drei alte Revolver, die mein Mann vor Jahren bei einer Unterschweizerprügelei konfisziert hatte, von deren Vorhandensein ich keine Ahnung mehr hatte. Mit vorgehaltenem Bajonett verlangten sie nun Patronen dazu, ich versuchte ihnen klar zu machen, wie die Sache zusammenhing, sie wollten nicht begreifen und untersuchten nun jede Ritze im Hause nach Patronen. Inzwischen trank ein Gefreiter zwei Wassergläser Kognak, die er aus dem Büffet entnahm, unten [37] wurde erst fingerbreit Streuzucker ins Glas geschüttet; dann leckte er den Streulöffel aus und bot meiner kleinen siebenjährigen Tochter nachher noch einen Löffel voll an. Zwei andere rissen den Zigarrenschrank von der Wand, als zwei Bajonette denselben nicht öffnen konnten, wurde die Türfüllung mit dem Gewehrkolben eingeschlagen. Silberne Löffel wanderten in die Stiefelschäfte, silberne Weinpfropfen in die Feldflaschen u. dgl. mehr. Selbst unserer alten Frau Pfarrer durchwühlten sie jedes Schächtelchen mit ihren Andenken. - Und wie manches hat man gewiß in einem hundertjährigen Leben gesammelt! Zwei Treppen hoch fanden sie im Schrank unseres Kadetten einige Teschingpatronen, die sollten nun durchaus in die Revolver passen und wiederum machten sie eine Szene. Machtlos dieser betrunkenen Bande gegenüber zu stehen, war fürchterlich, man kann sich von den Gefühlen in solcher Zeit keinen Begriff machen. Wie ich für den einen meinen Schreibtisch aufschließen mußte, bückte er sich mit dem umgehängten Gewehr und haut mir dabei mit dem Bajonett gehörig an den Kopf, er murmelte etwas wie eine Entschuldigung und strich mir über den Kopf. Einem anderen sollte ich erklären, was der Brutofen bedeute, alles was sie nicht kannten, hielten sie für Funkenspruchapparate oder Ähnliches. Über den Brutofen konnten wir uns nicht [38] einigen, da wurde der Sicherheit wegen der Wärmemesser kaput gemacht, die elektrischen Klingeln mußten von der Wand gerissen werden, wir könnten damit den Deutschen Zeichen geben! Ein Soldat stellt sich vor einen Ofen, ladet schnell noch sein Gewehr, hält dasselbe im Anschlag, reißt die Ofenröhrentür auf und - es saß kein Preuße darin!
Auf dem Hof erscheinen Reiter, ich stürze hinaus, rufe nach einem Offizier und da erscheint ein sehr sympatisch aussehender junger Mann, der fertig Deutsch spricht. Ich flehe ihn an, uns doch von dieser plündernden Bande zu befreien, er eilt ins Haus, kehrt die Infanteristen alle heraus, hält ihnen eine längere Strafpredigt, trotzdem die ihm voller Wut die Revolver vorzeigen. Er gehörte zu den Leibdragonern aus Suwalki, war der erste wirklich fein gebildete Russe, den wir angetroffen. Er selbst hatte ähnliche Zeiten bei der Revolution durchgemacht, sein Schloß in Estland, das er nicht verlassen wollte, wurde ihm über den Kopf angesteckt und beim Verlassen desselben wurde er gefangen genommen. Er sagte, er müsse einen etwa 100 km weiten Ritt machen, bis in den Rücken des Feindes, ob er überhaupt wiederkäme, wüßte er nicht, aber dann würde er versuchen, mir eine unterstempelte Bescheinigung vom General zu beschaffen, denn es könnte noch wochenlang so weiter gehen und ich könnte täglich wieder dasselbe [39] erleben. Er hoffte sogar, mir einen Posten vor die Tür beschaffen zu können; er aß mit uns Mittag und seine Leute, etwa 20 Mann, bekamen Butterbrot und Milch, dann ritten sie fort nach Barten zu. Einige Stunden hatten wir Zeit, den schrecklichen Wust von Sachen aufzuräumen. Da kommen vier Kerls angeritten, darunter zwei Kosaken, uns schon bekannte Gesichter. Ich ging ihnen mit meinem Zettel entgegen, da sagt der eine Kosak ganz frech, „was ich immer mit meinem General protze, er wäre selbst Admiral“ und klopft sich auf seine breiten roten Streifen. Der eine reitet den schönen Kürassiersattel von dem gefallenen Pferd des 5. Kürassiers, den er uns voll Stolz zeigte. Sie steigen alle ab, schieben uns beiseite (ich hatte meistens ein polnisch sprechendes Mädchen bei mir) und gehen mit der größten Frechheit überall herum, verlangen Uhren und Goldsachen, fassen meinem alten Schwiegervater vorn an das Jackett, um die Uhr fortzunehmen, da sagt die Schwester: „Ban (soviel wie Herr) taub“. Da ließen sie von ihm ab. Inzwischen gaben die Töchter ihre noch vorhandenen Uhren der alten Frau Pfarrer, die sie in ihren Strumpf verschwinden ließ, natürlich im Nebenzimmer. Ich hatte noch eine Uhr mit unechter Kette, die wenige Tage vorher einem verdächtigen Unterschweizer abgenommen war, im Schreibtisch liegen, die die [40] Infanteristen am Morgen nicht gefunden hatten, die gab ich und der Kosak ließ dieselbe befriedigt in seine Tasche gleiten, aus der noch mehrere Ketten halb heraus hingen. Zwei Treppen hoch fanden sie wieder zwei von unsern Knechten, doch waren die so klug, sich in einem Zimmer an den Tisch zu setzen und so zu tun, als ob sie da logierten. Sie wurden heruntergeschleppt, einem langen Verhör unterzogen, Bajonett mehrfach auf die Brust gesetzt und schließlich wieder laufen gelassen. Im Dorf hausten die Banden entsetzlich, vergewaltigten Frauen und Mädchen, prügelten die Eltern mit Säbeln zum Hause heraus, schleiften die Mädchen an den Haaren herbei u. dgl. mehr.
Abends betete unsere Kleine zum Schluß ihres Gebetes: „Lieber Gott, laß unsern Vatel gesund wiederkommen und laß den Herrn nicht tot werden“, sie meinte damit unsern Erretter von den Plünderern. Wenn er auch Russe wäre, meinte sie, so wäre er doch gut gegen uns gewesen und da dürfte sie doch für ihn beten. Am Sonntag den 6. September las ich im Saal eine Andacht von Schotte mit den Leuten zusammen. Vorher sangen wir „Ein' feste Burg ist unser Gott“, dann las ich die Kriegsandacht, die gerade für unsere Lage geschrieben schien und den Leuten sehr zu Herzen ging. Die Predigt von unserm Superintendenten, die mir vor der Russenzeit zugeschickt war
[41] und die er nach der Mobilmachung gehalten, hatte ich am Sonntag vorher mit dem Hauspersonal gelesen. Diesmal hatte ich fast das ganze Dorf um mich versammelt, einige Jungen mußten Posten stehen, um zu sehen, ob Russen kämen. Nach Gebet und Vaterunser sangen wir noch ein Lied, mehrere Tage später noch bedankten sich manche Leute für die schöne Andacht.
Mittags kam unser Retter vom Tage vorher, fragte wie es uns ergangen wäre, war entsetzt, daß wir am Nachmittag nochmals von Kosaken ausgeplündert worden waren und schrieb nun gleich selbst noch einen Zettel mit deutlicher großer Schrift, den Zettel des Generals bekräftigend. Er gab mir seine Visitenkarte mit seiner Adresse und bat, ich möchte ihm später einmal schreiben, wie es uns weiter ergangen wäre; er hieß Baron v. Budberg. Eigentlich wollte er sich bei uns zur Nacht einquartieren, doch sagte er mir am Montag, er hätte seine Pferde absatteln müssen, dieselben hätten drei Tage und Nächte mit fast 200 Pfund Gepäck zugebracht (so schwer ist das Gepäck der russischen Kavallerie) und hier hätte er es nicht wagen können. Also mußten unsere Deutschen wohl immer näher rücken, welch herrlicher Gedanke!
Am Montag früh erschienen wieder vier von den Plünderern vom Sonnabend, verlangten Wuttki oder Kognak, beides hatten wir nicht mehr (Mamsell [42] hatte am Sonnabend während der Durchsuchung den letzten Schnaps schnell in eine mit Schleudermilch gefüllte Milchkanne gegossen). Ich zeigte ihnen meinen neuen Zettel vorn Baron Budberg und sagte, er wolle am Vormittag wiederkommen; da verzogen sie sich, nachdem sie vorher noch darauf bestanden, eine Flasche zu öffnen, worin Sauerampfer eingemacht war. Sie bespritzten sich von oben bis unten damit, was eine Lachsalve bei den andern hervorrief.
Am Montag vormittag erschien plötzlich ein Infanteriehauptmann mit acht Mann und fragte, wer von den Leuten hier geplündert hätte. Baron Budberg hätte das dem General gemeldet und ich solle nun einen Posten von drei Mann bekommen. Von den acht Mann erkannte ich drei heraus, in ihren Feldflaschen steckten auch noch meine silbernen Propfen; ich bat ihn nun, nicht gerade diese drei mir hier zu lassen, denn ich hatte Angst, sie würden aus Wut den ganzen Hof anstecken. Nachdem er drei große Plakate für jede Haustür geschrieben, wonach jeder kriegsgerichtlich bestraft werden würde, der hier unbefugt eindränge, ging er auf unsern recht hohen Turm, um Umschau zu halten. Er sagte mir, wir sollten nur alle gleich nach Süddeutschland reisen, hier würde eine große Schlacht werden, die Deutschen kämen mit vier Armeekorps angerückt und wir könnten nicht hier bleiben. [43] Ich sagte ihm, ich wollte dann mit allen Leuten in den Keller flüchten; schließlich meinte er, da die Russen hier keine schwere Artillerie hätten, würde das auch wohl genügen.
Diese Unterhaltungen muß man sich nicht alle so einfach denken, die meisten konnten nur sehr gebrochen Deutsch und auch weder Französisch noch Englisch, aber schließlich verstanden wir uns doch ganz gut.
Wir behielten schließlich alle acht Mann zur Bewachung hier, zwei wurden mit Ferngläsern auf den Turm postiert, die andern kullerten sich vor der Tür auf dem Rasen. Ausgerechnet an diesem Tag wollte mein Mann von Sensburg mit dem Auto kommend uns besuchen, über drei Wochen hatte er keine Nachricht von uns, er dachte, die Russen wären längst fort. In Barten, 6 km von hier, halten die Leute ihn an und sagen, er möchte um Gotteswillen nicht weiter fahren, bei uns wäre noch alles voller Russen und da sah er auch schon hinten russische Reiter ankommen, er konnte nur schnell kehrt machen und davonfahren. So hätte es leicht kommen können, daß er von seinem eigenen Hause aus abgeschossen worden wäre. Um 6 Uhr zogen die Infanteristen ab, mir war ganz wohl, wie sie erst fort waren. Am nächsten Morgen früh kämen sie wieder, sagten sie; - aber sie kamen nicht! Man merkte am nächsten Tag eine große Unruhe unter den Soldaten, Kosaken sprengten hin [44] und her. Ein Offizier sagte, wenn geschossen würde so sollten wir uns nicht am Fenster sehen lassen, sonst würden wir gleich beschossen, auch müßten wir alle Fenster geschlossen halten; wahrscheinlich befürchteten sie, wir würden den Deutschen Winke geben. Um 10 Uhr fing ein tolles Infanteriegewehrfeuer an. Auf unserm Vorwerk lagen zwei Schwadronen Kosaken und etwas Infanterie, die gerade in ihrem Suppentopf einige Hammel von uns hatten. Von Lenzkeim her kamen 20 Dragoner (11.) und fingen an zu schießen, da ließen die Russen alles im Stich, jagten querfeldein hinter unserm Teich vorbei, Infanteristen warfen Mäntel und Tornister fort und alles raste in wildester Hast nach Wolfshagen zu. Von unsern Fenstern aus konnten wir sie laufen sehen und als die ersten Deutschen hinterher kamen, da wurden sie mit lautem Hurrah begrüßt. Als Erster erschien ein Generalstäbler und Freiherr v. V., der gleichzeitig Flügeladjutant bei einem Herzog ist. Die Leute meinten entsetzt, es wäre doch ein Kosak, er hätte sich nur einen Helm aufgesetzt, er hätte ja breite rote Streifen an den Hosen. - Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen; konnte es wahr sein, wir sollten nun erlöst sein von der schrecklichen Russenzeit?
In unserm Torfbruch hielten sich Russen noch einige Tage versteckt und auch der Wolfshagener Wald wimmelte noch. Unsere Artillerie fuhr an [45] zwei verschiedenen Stellen auf, von Marienwalde wurden die Fürstenauer Berge beschossen und die ersten russischen Granaten schlugen noch auf unserm Boden ein und wir hörten manches Geschoß durch die Luft an uns vorbei pfeifen; die andere Artillerie fuhr bei Friedenau auf und schoß nach Skandlack und Wolfshagen. Wir lagen genau dazwischen und blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Von unserm Turm aus konnte man das Krepieren jeden Geschosses von Freund und Feind beobachten. Wir konnten sehen, wie die Russen mit ihren Kanonen die Fürstenauer Berge schon am ersten Nachmittag räumten, wie unsere Artillerie dann dort auffuhr und von da nach Birkenfeld und Sechserben herüberschoß. Am Abend zählten wir 22 Feuerscheine. Viele hatten die Russen mit ihren berüchtigten Brandbomben entzündet, viel war durch unsere Granaten in Brand geschossen. Meinem Schwager in Birkenfeld und Sechserben brannten in den Tagen 47 Gebäude ab. - Zur Nacht hatten wir schon deutsche Offiziere und viele Soldaten bei uns im Quartier. Gern hätte man ihnen das Beste vorgesetzt nach all den Tagen der Entbehrungen bei Tannenberg, aber es fehlte auch hier schon an manchem.
Fünf schwerverwundete Kavalleristen wurden uns im Laufe des Tages gebracht, wir pflegten sie so gut wir konnten, unsere Schwester nahm sich ihrer mit großem Eifer an und pflegte sie sehr getreulich. -
[46] Am 9. September um 3½ Uhr früh fuhr ein „Zeppelin“ über unser Haus, bald darauf hörten wir drei heftige Kanonenschläge und waren der Meinung, die Russen hätten unser stolzes Luftschiff beschossen. Offiziere erzählten später, es wären Bomben auf die russischen Stellungen geworfen worden. - Am Vormittag erschien in unserm Dorf ein junger, forscher Reiteroffizier, er ließ sein Pferd tränken und unterhielt sich mit den Dorfbewohnern. Eine Sattlersfrau brachte noch einige Zigarren für die Soldaten heraus, die sie während der Russenzeit mit großem Geschick versteckt gehalten. Der junge Offizier bat sich auch eine aus, steckte sie an und sagte schmunzelnd: „Das ist ja ganz etwas Besonderes." Unser alter 80jähriger Müller klopfte ihm auf die Schulter, erzählte ihm, er wäre 70 auch mit gewesen, nun wären seine Söhne mit, alle beim 1. Garde-Regiment zu Fuß. Da sagte er, bei dem Regiment hätte er auch gestanden. Auf einem Nachbargut von unserm Onkel kam derselbe junge Offizier in die Küche, hakte sich von der Wand einen Blechbecher und trank drei Becher voll Kaffee aus. Die Mamsell wollte noch eine Tasse holen, aber er meinte, das wäre nicht nötig, im Kriege ginge es auch so, und er ließ sich ein Stück Geburtstagskuchen des Inspektors dazu gutschmecken und sagte, Kuchen hätte er lange nicht gegessen. Wie sich später herausstellte, war dies [47] der jüngste Sohn unseres Kaisers, unser Prinz Joachim. Gegen Abend wurde er dann, einige Kilometer von uns entfernt, von einer russischen Granate getroffen und verwundet. Erfreut soll er da gesagt haben: „Nun bin ich endlich einmal der erste von den Brüdern.“ Stolz war er, daß er nun auch als Soldat fürs Vaterland bluten durfte; - in seiner Gesinnung auch er ein echter Hohenzoller!
2½ Tage dauerte der Kanonendonner. Die großen Einquartierungen nahmen wir mit Freuden auf, waren es doch unsere Truppen! Nachts um 12½ Uhr kamen die letzten und morgens früh um 3½ Uhr rückten die ersten schon wieder ab. Jedes Zimmer im Hause war zwei- und dreifach besetzt, auf dem Hof lagen viele Hunderte. Von hier zogen am Morgen eben aus dem Kadettenkorps gekommene Leutnants aus, voll Jugendkraft und begeistert für Kaiser und Vaterland. - Sie kamen nicht wieder. Viele Opfer forderten die nächsten Tage; das Herz krampfte sich zusammen, hörte man von den Verlusten, sah man die Verwundeten. Aber dennoch wie stolz waren wir auf unsere glorreiche Armee, wie dankten wir unsern Braven die Befreiung von der Russenherrschaft.
Hindenburg und seiner Armee Dank, Dank und abermals Dank!