RE:Lykaon 3

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Sohn des Pelasgos, der älteste König von Arkadien mit 50 Söhnen
Band XIII,2 (1927) S. 22482252
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3) Der älteste König von Arkadien, ein Sohn des Pelasgos (Hesiod. frg. 44 Rzach3. Strab. V 221. Akusilaos frg. 12, FHG I 101); seine Mutter ist Meliboia (Apollod. III 96 W. Tzetz. Lyk. 481. Natal. Com. IX 9, angeblich nach Hekataios frg. 375, FHG I 21) oder die Nymphe Kyllene (Apollod. u. Tzetz. Schol. Eur. Or. 1646). Doch ist Kyllene nach Pherekyd. frg. 85, FHG I 92, bei Dion. Hal. I 11. 13 vielmehr die Gattin des L.; Dion. Hal. unterscheidet aber zwei Männer namens L., einen älteren, den Sohn des Aizeios und Vater einer Deianeira, und einen jüngeren, den Sohn dieser Deianeira und des Pelasgos.

L., der Sohn des Pelasgos, um den es sich hier handelt, hat ,von vielen Frauen 50 Söhne‘ (Apollod. III 96f., der jedoch selbst nur 49 aufzählt; vgl. auch Tzetz.: πεντηκοντόπαις); in der Nennung von etwa 10 stimmt Paus. VIII 3 mit Apollod. überein, nennt aber außerdem noch 16 Söhne; die von Paus. genannten sind fast sämtlich eponyme Städtegründer, von denen 8 auch Steph. Byz. anführt. Dion. Hal. I 11 erwähnt 22, nennt jedoch nur zwei mit Namen, die auch sonst genannt werden, dagegen Plut. quaest. Gr. 39 noch zwei sonst unbekannte. Im ganzen sind mit Namen mehr als 70 bekannt, welche die folgende Aufzählung mit den einzelnen Gewährsmännern vor Augen führt: Mekisteus, Hopleus, Horos, Polichos, Akontes, Euaimon, Ankyor, Archebates, Karteron, Aigaion, Eumon, Kanethos, Prothoos, Linos, Korethon, Physios, Phassos, Genetor, Bukolion, Sokles, Phineus, Eumetes, Harpaleus, Portheus, Platon, Kynaithos, Leon, Harpalykos, Titanas (Apollod.), Melaineus, Makareus, Pallas, Halipheros (Alipheros), Heraieus (Apollod. und Paus.), Mainalos, Lykios (Lykos), Orchomenos (Apollod. Paus. Tzetz.), Thesprotos, Kaukon, Phthios, Haimon, Teleboas, Mantineus, Kleitor, Stymphalos (Apollod. und Tzetz.), Nyktimos (Apollod. Paus. Tzetz. Schol. Eur. Or. 1646), Peuketios (Apollod. Dion. Hal. I 11. 13. Nikandr. bei Anton. Lib. 31. Serv. A. VIII 9), Makednos (Makedon) (Apollod. Steph. Byz. s. Ὠρωπός. Aelian. nat. anim. X 48), Helix (Apollod. Steph. Byz. s. Ἑλίκη. Eustath. Il. 292, 26), Orestheus, Phigalos, [2249] Daseatas, Akakos, Helisson, Thoknos, Hypsus, Tegeates, Kromos, Peraithos, Aseatas (Paus.), Oinotros (Paus. und Dion. Hal.), Trapezeus, Charisios, Trikolonos, Sumateus (Paus. und Steph. Byz. s. Τραπεζοῦς, Χαρίσιαί, Τρικόλωνοι, Σουματία), Parrhasios, Psophis (?) (Steph. Byz. s. Παρρασία, Ψωφίς), Hyperes (Steph. Byz. s. Ὑπερησία. Eustath. Il. 291, 38. 332, 14), Eleuther, Leb(e)ados (Plut.), Iapyx, Daunios (Nikandr.), Messapos (Serv.).

Töchter des L. werden nur zwei genannt: Dia, die von Apollon Mutter des Dryops wird (Schol. Apoll. Rhod. I 1218. Tzetz. Lyk. 480. Etym. Magn. s. Δρύοψ), und Helike oder Kallisto, die nach ihrer Verführung durch Zeus, dem sie einen Sohn namens Arkas gebiert, ebenso wie dieser unter die Sterne versetzt wird (Hesiod. frg. 181 Rzach3. Eumelos frg. 14 Kinkel. Kallimach. frg. 385 Schn. Hyg. fab. 177; astr. II 1. Serv. Georg. I 246, vgl. 138). Während die Söhne nur selten die patronymische Bezeichnung Λυκαονίδαι erhalten (Theokr. I 126. Steph. Byz. s. Ζέλεια wird Kallisto bald Lycaonis (Ovid. fast. II 173), bald Lycaonia (Catull. LXVI 66) genannt. Das Bärengestirn, in das Kallisto verwandelt wird, heißt arctos Lycaonia (Kallimach. hymn. I 41. Ovid. fast. III 793), sie und ihr verstirnter Sohn Arkas astra Lycaonia (Claudian. consul. Manl. Theod. 299), die nördliche Himmelsgegend axis Lycaonia (Ovid. trist. III 2, 2); endlich wird der Enkel Arkas, der in das Sternbild Arktophylax oder Bootes verwandelt worden ist, einmal L. genannt (fast. VI 235), wo deutlicher Lycaonides wäre; s. Peter z. d. St. im Anhang. Vgl. auch Franz De Callistus fabula, Leipz. Stud. XII 1890, 233f.

Um L. gruppiert sich eine vielfach abgewandelte arkadische Sage. Ihre ältere Überlieferung vertritt Paus. VIII 2f. Darnach ist L. ein tüchtiger Herrscher, der Vernünftigeres leistet als sein Vater Pelasgos. Er gründet Lykosura auf dem Berge Lykaion, angeblich die älteste Stadt der griechischen Welt (VIII 38, 1), errichtet dort einen Kult für Zeus, der darnach Zeus Lykaios heißt, und stiftet die Λύκαια, einen angesehenen ἀγών (Paus. VIII 2, 1. Schol. Eur. Or. 1646. Aristid. or. LV 3 mit Schol.). Ferner erhält Hermes von ihm einen Tempel auf dem Kyllenegebirge (Hyg. fab. 225); überhaupt gilt L. für einen frommen und gerechten König, der die Menschen von ihrer Gottlosigkeit zu bekehren sucht (Nicol. Damasc. frg. 43, FHG III 378). Seine Söhne erscheinen bei Paus. VIII 3 als verdiente Kolonisatoren und Städtegründer; Nyktimos, hier der älteste von ihnen (πρεσβύτατος, s. u.), übernimmt nach des Vaters Tode in Arkadien die Herrschaft. Freilich versündigt sich schon nach dieser ältesten Form der Sage L. dadurch, daß er auf dem Altar des Lykaiischen Zeus ein Kind opfert; er büßt diese Tat alsbald, indem er in einen Wolf verwandelt wird (VIII 2, 3f.). Erst in einer späteren Darstellung ist L. mit seinem Geschlecht von Frevelmut behaftet, wovon nur wenige Söhne eine Ausnahme machen. Zeus, der viel unter Menschen verkehrt, will die Gottlosigkeit dieses Hauses prüfen und besucht es in Gestalt eines einfachen Mannes. L. und die Seinen nehmen ihn scheinbar gastlich auf, [2250] bewirten ihn aber mit dem Fleisch eines geschlachteten einheimischen Knaben, das sie auf Anstiften des ältesten Sohnes Mainalos den Eingeweiden der Opfertiere beimischen; doch Zeus wirft voll Abscheu den Tisch (τράπεζα) um, wonach der Schauplatz der Tat Τραπεζοῦς genannt wird; den L. und seine Söhne erschlägt er mit dem Blitz, mit Ausnahme des jüngsten, Nyktimos (χωρὶς τοῦ νεωτάτου N., s. o.), der des Vaters Nachfolger im Königtum wird. Die bald darauf eintretende Deukalionische Flut ist die Strafe für den Frevel der Lykaoniden (Apollod. III 98f. Tzetz. Lyk. 481). Eine andere Sagenform zeigt den Zeus gleichfalls als Gast des L. Über das ehrfürchtige Volk, das des Gottes Nähe ahnt und zu ihm betet, lacht jener höhnisch und glaubt nicht an dessen Gegenwart, plant sogar einen Mordanschlag auf den Schlafenden und bewirtet später den Fremdling mit dem Fleisch eines getöteten molossischen Knaben. Da setzt Zeus das Haus mit einem Blitzstrahl in Flammen und verwandelt den L. in einen Wolf (Ovid. met. I 216f.). Denselben Ausgang hat die Erzählung bei Hyg. fab. 176, wenn auch der anfängliche Verlauf ein andrer ist. L., dem ja in fab. 225 eine Tempelgründung nachgerühmt wird (s. o.), erscheint hier frei von Blutschuld, die vielmehr den Söhnen zur Last fällt. Zeus mißbraucht ruchlos das ihm gewährte Gastrecht, durch Verführung der Tochter Kallisto; sie wird von ihm Mutter des Arkas, des Eponymen von Arkadien. Um den Fremden auf seine Herkunft zu prüfen, setzen die Söhne ihm Menschenfleisch vor. Auch hier wirft Zeus den Tisch um, tötet die Söhne mit dem Blitz und verwandelt den L. in einen Wolf. Nach Hyg. astr. II 4 freilich schlachtet jener sogar den eigenen Enkel Arkas zur grausigen Mahlzeit für den Schänder seiner Tochter, der jedoch vermöge seines Scharfblicks der Gefahr, seinen natürlichen Sohn zu verspeisen, entgeht, sich mit dem Blitz grausam rächt und den L. in einen Wolf verwandelt; Vgl. auch Ps.-Eratosth. Katast. 8, wonach alle zu Wölfen werden. Noch gesteigert ist das Schreckliche dieser Szenen in späterer Sagenbildung: hier schlachtet L. den eigenen Sohn Nyktimos (Schol. und Tzetz. Lyk. 481. Nonn. XVIII 20f. Clem. Alex. Protr. II 36 p. 31 P. Arnob. IV 24). Tzetz. a. a. O., der mehrere Varianten anführt, findet die letztere so anstößig, daß er sie unter Hinweis auf Apollod. III 98 als leere Possen (οὖτὸς λῆρος) verwirft. Aber sogar für die Hinmordung des Arkas durch den Großvater L. weiß und findet die Sage wieder einen Ausweg. Da Arkas als nachmaliger König und Stammvater der Arkader gleichsam unentbehrlich ist, setzt Zeus oder ein Aitoler die bereits zerschnittenen Glieder wieder zusammen; später wird er sogar, ebenso wie seine Matter Kallisto, an den Sternhimmel erhoben (Ps.-Eratosth. Katast. 8. Hyg. astr. II 2. Ovid. fast. II 188f. VI 235). Manche Züge wiederholen sich demnach: die Abschlachtung eines menschlichen Wesens (Paus. VIII 2, 1. Apollod. III 98. Nicol. Damasc. frg. 43. Ps.-Eratosth. Katast. 8. Tzetz. Lyk. 481. Hyg. fab. 176; astr. II 4. Ovid. met. I 165. 226f.; Ibis 429f. Stat. Theb. IX 128), das Umwerfen des Tisches (Apollod. Ps.-Eratosth. Tzetz. Hyg.), der [2251] Blitzschlag (Apollod. Nicol. Damasc. Ps.-Eratosth. Tzetz. Hyg. Ovid.), die Verschonung der am Frevel nicht beteiligten Söhne (Apollod. III 99. Plut. quaest. Gr. 39), die Verwandlung des L. oder der Seinen in Wölfe (Paus. Ps.-Eratosth. Tzetz. Hyg. Ovid.), die Verstirnung (Ps.-Eratosth. Hyg. Ovid.).

Nach Hesiod und den Logographen Akusilaos und Hekataios (s. o.) hat den Mythos, soweit ersichtlich, zuerst wieder Xenokles behandelt in einer Tragödie L., dem zweiten Stück einer Tetralogie, mit der er i. J. 415 eine solche des Euripides, der die Troades angehörten, aus dem Felde schlug (Aelian. var. hist. II 8, FTG p. 770); weniger sicher bezeugt ist ein L. des Tragikers Astydamas d. Ä. (IG II nr. 973, FTG 777). Ob die späteren Dichter und Mythographen jenen Dramatikern manches verdanken, steht dahin. – Bildliche Darstellungen scheint es nicht mehr zu geben. – Hauptkennzeichen des Mythos von L. sind also das Menschenopfer und die Verwandlung des mit Blutschuld behafteten Täters in einen Wolf. Darin ist die Erzählung von dem Arkader Damarchos (Paus. VI 8, 2f., vgl. Myth. Lex. I 2472) nahe verwandt. Weil ein Mensch sich roh, blutdürstig, tierisch zeigt, stellt ihn die erregte Phantasie, sei es des Volks oder des Dichters, als das reißende Tier dar, mit dem sie ihn anfangs höchstens verglichen hat. Das Tierepos macht es in Scherz und Ernst nicht anders: menschliche Schwächen und Vorzüge treten dort noch deutlicher an Tiergestalten hervor, die jene Eigenschaften eindrucksvoll veranschaulichen. Geistvolle Deutungen hat der Mythos von L. hervorgerufen; s. H. D. Müller Mythol. d. gr. Stämme II 105. Ed. Meyer Forsch. z. alt. Gesch. I 56f. Sam. Wide Lakon. Kulte 12f. Immerwahr Kulte u. Myth. Arkad. I 1f. Weizsäcker Myth. Lex. II 2171f. Aber es ist nicht richtig, solche rein natürliche, im Wesen der Urzeit begründete Erscheinungen, wie L.s Roheit, allegorisch zu erklären, den Sageninhalt religiös statt rein märchenhaft aufzufassen und sogar die zoologischen Bezeichnungen und Attribute, die mit Zeus und besonders reichlich mit Apollon verbunden sind (Myth. Lex. I 443), aus volksetymologischem Mißverständnis herzuleiten. Das Wort λύκος, das in dem Namen L. enthalten ist, bedeutet Wolf; daran ist nichts zu ändern; das Tier selbst paßt als gefährlicher und gefürchteter Räuber ganz in eine Sage, die ihren Schauplatz in den Wäldern und Viehtriften Arkadiens hat. Wie L. eine sprachliche Weiterbildung von λύκος ist, so entnimmt der grausame arkadische König seinen Charakter gleichsam dem Wolf. Dagegen der Versuch, jenen zu einem vorgriechischen Gott zu machen, greift in die Luft. Götter sind es vielmehr, die von den Bewohnern Griechenlands um Schutz vor dem Wolf angerufen werden; deshalb haben Zeus und Apollon den Beinamen Λυκαῖος: Apollon heißt außerdem Λύκιος oder Λυκοκτόνος, weil er den Wolf von der Herde verscheucht oder tötet (Soph. El. 6. Paus. II 9, 7. Serv. Aen. IV 377; vgl. Preller-Robert Gr. Myth. I4 127. 253). Erschwert wird das Verständnis der ganzen Wortgruppe durch die gleichlautende Wurzel λυκ-, welche Licht bedeutet und, wie es scheint, mit λύκος Wolf nichts zu [2252] tun hat; vgl. Curtius Etymol.5 160f. Unleugbar hat auch sie dem Lichtgott Apollon Beinamen geliefert; bei dem Berg Lykaion, auf dem Zeus verehrt wird, schwankt die Erklärung zwischen Lichtberg und Wolfsberg (Preller-Robert). Es ist dieses Ortes nicht, die beiden Wortfamilien, die sich vielfach gekreuzt haben mögen, auseinanderzuhalten (Myth. Lex. I 423). Jedoch überdies noch einen dritten ähnlich klingenden Stamm anzusetzen, der durch Volksetymologie mit jenen beiden vermengt worden sein soll, ist bedenklich und entbehrt der überzeugenden Begründung. Vermutungen wie die, L. sei ein pelasgisches Wort und identisch oder doch verwandt mit dem etruskischen lucumo, L. selbst ein vorgriechischer Gott oder Götterkönig, den dann der griechische Zeus verdrängt, zum Menschen degradiert und schließlich wegen blutiger Vergehen in ein reißendes Tier verwandelt habe (Myth. Lex. II 2171f.), müssen auf sich beruhen.