Das öffentliche Leben (1914)

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Autor: Theobald Ziegler
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Titel: Das öffentliche Leben
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zwölftes Buch, S. 3–43
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1653]
Das öffentliche Leben
Von Prof. Dr. Theobald Ziegler, Frankfurt a. M.


Hegel sagt in der „Rechtsphilosophie“ von 1821: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee: an der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein der einzelnen seine vermittelte Existenz“, und an anderer Stelle: „Der Staat, als Geist eines Volkes, ist zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz der Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen.“ Dieser Gedanke mag uns für das Kapitel vom öffentlichen Leben im deutschen Staate der Gegenwart das Leitwort geben. Ein solches brauchen wir, wenn wir uns auf dieses weite und uferlose Meer mit seinen Imponderabilien und den in nebelhafter Ferne verschwimmenden und verschwindenden Unfaßbarkeiten hinauswagen wollen. Denn was heißt öffentliches Leben? und was gehört dazu?

Im griechischen Stadtstaat von kleinstem Umfang war, wenigstens bis tief in das fünfte vorchristliche Jahrhundert herein, der „Nomos“ alles – staatliches Gesetz und Volksgeist, Sitte des Volkes und Sitte der einzelnen, menschliche Satzung und göttlicher Wille, Naturrecht und positives Recht, etwas bewußt Gültiges und etwas unbewußt Tragendes und Führendes, er war weltlich und religiös zugleich, eine große Einheit und als solche eine große Macht, und wie der Staat im ganzen so auch jeder einzelne von ihm erfüllt und gehalten, durch ihn und an ihn gebunden und in ihm als einem von allen selbstgewollten völlig frei; weil das ganze Volksleben unter diesem Nomos stand, in ihm verlief und nach ihm sich abspielte, war das Leben des einzelnen und alles Leben im Volk öffentliches Leben.

Keine Einheit der Sitten mehr.

Eine solche undifferenzierte Einheit des Volkslebens haben wir längst nicht mehr, wenn wir sie je gehabt haben. Nicht nur hat jeder einzelne vieles als ein Eigenes und Besonderes sich vorbehalten, das nicht zum öffentlichen Leben zu rechnen ist, vielmehr ihm als einzelnem oder auch ihm in seinen Beziehungen zu anderen einzelnen privatim angehört: sondern, was für uns die Sache noch weit schwieriger macht, auch einen allgemein anerkannten Nomos, wie ihn die Griechen hatten, gibt es bei uns nicht; staatliches Gesetz und Sitte sind auseinandergetreten und zweierlei geworden, und die „Sitte“ – wo sollten wir sie suchen? wo können wir sie finden? Die Einheit der Sitten im engeren Sinn, in die das griechische Volkstum so sicher eingebettet und in der es so fest verankert und verwurzelt war, ist uns verloren gegangen. Wir haben wohl noch Sitten, aber [1654] keine Sitte mehr, wie wir eine von heute zu morgen wechselnde Mode, aber keine stabile und dauernde Tracht mehr haben. Scheinbar ist das ein großer Verlust, daß uns dieser tragende Hintergrund und dieser feste Halt, den Volk und Staat an der Sitte haben, abhanden gekommen ist, und ist doch in Wahrheit ein Fortschritt, wie alles Differenzieren ein Fortschreiten und ein Verfeinern ist. Aus dem mütterlichen Schoß des Nomos, wie einst aus dem der Kirche und der Religion, haben sich bei uns die einzelnen Lebensgebiete vom Ganzen abgelöst, und gehen nun, sich gegeneinander immer bestimmter abgrenzend, mehr oder weniger selbständig ihren eigenen Weg und führen ihr eigenes Sonderleben. Man nehme die Kunst eines Pheidias und halte sie zusammen mit unserer heutigen Kunst und ihren Vertretern, und man sieht, wie diese so gar nicht mehr zum öffentlichen Leben zu gehören scheint und wie sie darum auch alle Einheitlichkeit verloren hat, in den Wirbel der Meinungs- und Geschmacksverschiedenheiten hineingerissen ist und ihre Vertreter aus lauter Suchenden bestehen; und wie vielleicht gerade deswegen die Künstler unserer Art am meisten entsprechen, die am energischsten suchen und die Unruhe des Suchens am lebhaftesten in ihren Werken zum Ausdruck bringen. Es hängt das schon äußerlich zusammen mit dem ganzen modernen Leben, das unter dem Zeichen des Verkehrs stehend das Volk nicht mehr in der alten Weise seßhaft werden, in seiner Heimat nicht zur Ruhe kommen läßt: vom Land strömt es herein in die Großstädte, die zu Riesenstädten anschwellen, und in ihnen tritt dann an die Stelle einer festen und einheitlichen Sitte die Großstadtluft mit ihrem Schwanken und Wanken, mit ihrem gegenseitigen Fremdsein und Fremdtun und ihrem kaum den Tag überdauernden Interesse für Modeberühmtheiten und dem Flackerfeuer einer rasch vorbeihuschenden Modebegeisterung. Auf dem Land und in den kleinen Städten ist es anders; aber wenn da noch eine Sitte existiert, so ist sie doch gerade hier deswegen nicht der Ausdruck des öffentlichen Lebens, weil ein solches in ihnen überhaupt wenig kräftig entwickelt und von den engsten Privatinteressen überwuchert und erstickt ist. In unserem großen Staat und Reich ist das Stilleben der Kleinstadt, selbst wenn es von einer einheitlichen Sitte getragen wird, kein öffentliches Leben.

Die Sitte unfaßbar.

Aber noch aus einem anderen Grunde ist eine Darstellung der Sitte schwer möglich. Auch da, wo sie existiert und gerade da, ist sie ein Fluidum, das uns umgibt wie die Luft unsern Körper, von dem wir aber ebensowenig Bewußtsein haben, wie von dieser. Gewiß gibt es auch unter uns noch Sitten, durch die wir vom Morgen bis zum Abend in unserer Wohnung und Kleidung, in unserer Arbeits- und ganzen Lebensweise gehalten werden und die uns eine Menge Arbeit und eigenen Nachdenkens über das, was zu tun ist, abnehmen und ersparen. Allein nur, wo wir fremder Sitte gegenübergestellt werden, werden wir uns dieser eigenen einheimischen Landessitte gelegentlich einmal bewußt; im großen ganzen bemerken wir sie nicht, gerade in diesem Nichtmerken besteht ja mit ihr Wert: wir tun, weil und was wir nicht anders können, weil und was uns zur zweiten Natur geworden ist; die Gewohnheit und Gewöhnung daran hat das Bewußtsein erst abgestumpft, dann ganz weggenommen. Daher sind diese Sitten mehr nur privater Natur; [1655] aber auch, wo sie der Ausdruck des öffentlichen Lebens sind, kommen sie uns zu wenig zum Bewußtsein, als daß wir dieses an ihnen ablesen und messen könnten. Und so fehlt uns zur Bestimmung und Beschreibung des öffentlichen Lebens im deutschen Staat gerade die Hauptsache, der Nomos als Gesamthintergrund und -untergrund und die Möglichkeit ihn zu fassen und in Worte zu kleiden. Deshalb sind wir auf bloße Symptome, auf Merkzeichen und Ausdrucksformen angewiesen; es fragt sich nur, wo wir sie zu suchen haben und ob wir sie finden.

Der Partikularismus keine Macht mehr.

Vielleicht führt uns aber gerade das, was uns fehlt, hinüber zu dem, was wir suchen. Unsere Sitte ist auch deshalb keine einheitliche, well unser Volk ein vielfach zerspaltenes und geteiltes, von allerlei Gegensätzen durchzogenes ist. Die Teilung des deutschen Volkes in verschiedene Stämme, der Trennungsstrich der Mainlinie zwischen Nord und Süd hat einst als staatlicher Partikularismus die Politik und das ganze öffentliche Leben unheilvoll genug beeinflußt. Allein heute ist das ein in der Hauptsache überwundener Standpunkt: der Partikularismus ist keine Macht mehr unter uns, höchstens an den Rändern des Reichs ist er noch stärker ausgeprägt und hat hier einen „nationalistischen“ und eben deshalb einen bösartigen Nebengeschmack. Da und dort zittern noch alte Reminiszenzen pietätvoll nach oder werden alte Scheltworte gebraucht; aber es ist eine das öffentliche Leben kaum mehr beeinflussende Sentimentalität, und der Zorn, der sich so lautscheltend äußert, klingt mehr witzblattartig als ernsthaft. Uns als Deutsche und als Schwaben oder als Bayern zugleich zu fühlen, das haben wir in den 42 Jahren, seit das Reich steht, gelernt; und das große Problem, wie sich speziell der Führerstaat Preußen zu Deutschland verhalte, beschäftigt mehr den feinsinnigen und in die Tiefe bohrenden Historiker, als den praktischen Politiker. Auf der anderen Seite wissen wir alle, wie der Partikularismus, der für unsere politische Entwicklung ein Problem und eine Klippe gewesen ist, kulturell unser deutsches Leben bereichert hat und täglich noch reicher macht. Berlin ist nicht wie Paris die geistige Hauptstadt des Deutschen Reichs, die die andern verschlingt; und diese Mehrheit von kulturellen Mittelpunkten in den deutschen Großstädten und Residenzen verhindert Eintönigkeit und geistiges Uniformtragen und erhält den Wetteifer der verschiedenen Stämme und Staaten in erfreulicher gegenseitiger Spannung.

Die religiösen Gegensätze.

Größer und gefährlicher als die staatlichen sind heute die religiösen Gegensätze. Im protestantischen Teil unseres Volkes war Jahrhundertelang die Lutherbibel der gemeinsame Kodex einer für alle, Gebildete und Ungebildete, gleich gültigen Lebensanschauung, unsere Sittlichkeit ruhte auf dieser gemeinsamen religiösen Grundlage, auf der inhaltlich ja ebenso auch der katholische Teil stand. Und das machte sich dann im öffentlichen Leben als Verständigungsmittel hin und her geltend. Nun ist unser Volk gewiß auch heute noch religiöser, als es dem oberflächlichen Blick oft scheinen möchte. Allein die Einheit und Einheitlichkeit im Religiösen ist doch weg, wir sind zerrissener als [1656] vor hundert Jahren, wo uns die Aufklärung duldsam gemacht und ihre dogmatische Indifferenz uns einander näher gebracht hatte. Heute sind wir nicht nur konfessionell weiter auseinander als damals, auch innerhalb der Konfessionen sind, namentlich auf protestantischer Seite – doch nicht auf ihr allein – die Gegensätze schroffer und bewegen sich auch hier von einer äußersten Rechten durch alle möglichen Parteien und Parteischattierungen hindurch bis hinüber zu einer nicht minder extremen Linken. Und auch unsere sittlichen Anschauungen gehen vielfach weit genug auseinander. Diese religiöse Zerklüftung beklagt man meist, als wäre sie nur ein Unglück, und ein Unglück ist sie gewiß auch; aber übersehen darf man doch nicht, in welchem Maße sie, ähnlich wie der Partikularismus, die Geister wach gehalten und im nie ruhenden Kampf geschärft hat. Auf deutschem Boden gibt es deswegen auch für die Kirchen und für die religiösen Menschen kein Erstarren und Verkalken, der Gegensatz hält uns alle in Atem und lebendig.

Suchen nach einheitlicher Weltanschauung.

Und auch hier ist die Folge, daß wir mehr Suchende sind als solche, die ein Fertiges an Welt- und Lebensanschauung schon gefunden hätten und haben. So fehlt unserer Sitte freilich der sichere religiöse Hintergrund, den sie bei den Griechen hatte – man denke an das Agonale, an die Olympischen Spiele und ähnliche im Namen der Götter bestehenden und durch sie geweihten Einrichtungen und vergleiche sie mit unseren Wettrennen und unserem ganzen nur utilitaristisch zu begründenden Sporttreiben. Aber wenn mich nicht alles täuscht, so ist bei uns wenigstens das Sehnen nach einer einheitlichen Weltanschauung allgemein, und das gibt unserer Zeit wiederum den zwar unruhigen, aber doch gemeinsamen und einheitlichen Grundzug, wie er neben Religion und Weltanschauung auch in unserer Poesie und Literatur zutage tritt. So kann man auch da paradox sagen, in unserem Kampfe und in unserer Zerrissenheit selbst liege das Gemeinsame und uns alle Einigende, in dem scheinbaren Mangel die Kraft unseres modernen Lebens, die Lebenskraft der Ruhe- und Rastlosigkeit, des ewigen Unbefriedigtseins und des Vorwärts- und Aufwärtsdrängens, das unserem deutschen Volk heute so entschieden das Aussehen einer nicht stagnierenden und auf alten Lorbeeren ausruhenden, sondern einer im Fortschreiten begriffenen, voranstrebenden und vorankommenden Nation gibt. Das ist die Signatur Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II.

Demokratisierung des ganzen Lebens.

Neben dieser Eigenschaft des Suchens, die unserem ganzen öffentlichen Leben von der Politik mit ihrem expansiven Imperialismus und dem Wirtschaftsleben mit seinem immer neue Absatzgebiete suchenden Welt- und Wettbewerb, bis zu der nach einem neuen Stil und nach Stil überhaupt Ausschau haltenden Kunst oder dem um eine Zukunftsreligion sich mühenden Monistenbund und internationalen Religionskongreß ihren Stempel aufdrückt, fällt uns eine andere Seite als unserem ganzen Leben gemeinsam in die Augen, die demokratische. Wenn Ihering recht hatte mit dem paradoxen Wort, daß die Mode die Hetzjagd der Standeseitelkeit sei, so zeigt sich in ihr am äußerlichsten, aber auch am sichtbarsten der stetige Kampf des demokratischen mit dem aristokratischen [1657] Element und der stetige Sieg des ersteren über das zweite. So wie sich die oberen Zehntausend heute kleiden, kleiden sich morgen, um es ihnen gleichzutun, die Millionen aller anderen. Aber weil die Mode der oberen Zehntausend diesem demokratischen Zug nicht folgen, diesem Kleidernivellement sich nicht fügen will, so ist schon übermorgen die Mode von heute außer Mode, die Mode der Oberen schon wieder eine andere, und darum die Hetzjagd, der ewige Wechsel und vor allem auch das wunderliche Umschlagen von einem Extrem zum andern, von Michelangelo zum Barock, vom Barock zum Rokoko, vom Rokoko zum Empire, vom Empire zum Biedermeierstil, von der glockenförmigen Krinoline zu dem kläglich und häßlich den Schritt verschränkenden Humpelrock.

Und nun gleich zum anderen ernsthafteren Ende, zum allgemeinen und gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht! Es ist durch und durch demokratisch, denn es macht die Stimme des ärmsten Arbeiters und des hinterwäldlichsten Bauern gleichwertig mit der des ersten Ministers oder des weltberühmten Erfinders oder des gefeiertsten Künstlers; Bildung und Unbildung, Besitz und Besitzlosigkeit, Dummheit und Verstand – an der Wahlurne macht das keinen Unterschied, hier werden die Stimmen gezählt und nicht gewogen. So wirkt es zunächst nur erschrecklich nivellierend und uniformierend und kommt dadurch, in eigenartiger Wechselbeziehung, auf dasselbe hinaus, wie der scheinbar gar nicht demokratische Militarismus. Und doch – die Begriffe „Volksheer“ und „allgemeine Wehrpflicht“ zeigen es schon an – wirkt auch er wie das allgemeine gleiche Wahlrecht nach derselben Richtung hin – uniformierend und demokratisierend, weil vor der Uniform und in der Uniform alle gleich sind und diese alle zu Kameraden macht. Wir sind alle Wähler und sind alle Soldaten: nur daß bei den letzteren allerdings der Einjährig-Freiwillige sich den Vorzug von Bildung und Besitz doch nicht ganz nehmen läßt, weshalb die radikale Demokratie diese Einrichtung völlig beseitigen und eine gemäßigtere Richtung derselben sie gerade umgekehrt erweitern und auf tiefere Schichten ausdehnen, also demokratischer machen möchte.

Volksführer.

In der Parallele zwischen Demokratie und Militarismus liegt aber auch eine Forderung und Mahnung an die erstere. Wie das Heer nichts ist ohne Offiziere, so braucht auch die Demokratie ein aristokratisches Element, sie braucht „Demagogen“, d. h. Volksführer. Die größte Zeit der athenischen Demokratie war doch die, wo Perikles der unbestrittene Führer seines Volkes war, oder in Rom die Zeit Cäsars, der seinen großen Namen zur allgemeinen Bezeichnung für den Herrscher eines großen Volkes und Staates gemacht und dieser Art von Führung seines Geistes Stempel für Jahrtausende aufgedrückt hat. Nach Führern suchen daher auch wir auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und sehnen uns nach solchen. Es ist bezeichnend, daß in keiner Partei die politischen Führer so persönlich genommen und so fast gar byzantinisch verehrt werden, wie in der demokratischen – sowohl der sozialdemokratischen wie der bürgerlichdemokratischen, und daß jedes Rühren und Tasten an ihrer geheiligten Person dem Außenstehenden so übel genommen, jeder Tadel eines solchen vergötterten „Demagogen“ geradezu für „unverzeihlich“ erklärt wird. Darin steckt zugleich der unverwüstlich monarchische Zug unseres deutschen Volkes, die Männertreue der Gefolgschaft, die schon Tacitus aufgefallen [1658] ist, steckt aber auch die leise Erkenntnis, daß es mit der schrankenlosen Demokratie doch nicht geht, sondern daß sie ergänzt werden muß durch differenzierte Persönlichkeiten, durch Männer, die um Haupteslänge über die anderen hervorragen, durch Individuen, die anders und mehr sind als die Masse und die Menge der Vielen und Vielzuvielen. Von dem frenetischen Beifall, der heute die Dirigenten der Konzerte umbraust, bis zu dem Jubel, der sich beim Anblick des greisen Grafen Zeppelin erhebt, oder bis zu der Trauer, mit der die Millionen sozialdemokratischer Arbeiter den Tod Bebels begleitet haben, überall zeigt sich dieser Zug, dieses Verlangen und Sehnen nach Führern und nach Führung, der man sich unterwerfen will, weil es mit der Herrschaft der Masse und des Demos allein nicht getan ist und auf keinem Gebiete dadurch Großes geschaffen und erreicht werden kann. Ohne ein Organisieren und Sichorganisierenlassen, ohne ein Ordnen und sich Unterordnen, ohne ein Autoritatives und Führendes geht es auch in der Demokratie nicht, nicht im Staat und nicht in der Fabrik, nicht in der Kunst und nicht im wirtschaftlichen Leben, vor allem wenn dieses zur Weltwirtschaft sich ausweiten soll.

Monarchie und Bureaukratie.

Deshalb ist für uns Deutsche die Monarchie die selbstverständliche, die Republik eine utopische Staatsform. Trotz der drei im Bundesrat vertretenen Republiken Hamburg, Bremen und Lübeck, die mehr nur große, sich selbstverwaltende Städte sind, ist uns eine „Republik“ Elsaß-Lothringen einfach undenkbar, und wir sind daher leicht ungerecht gegen die auch hierin, wie in so vielem anderen mehr französisch als deutsch denkenden Politiker des Reichslandes. Vielleicht hängt mit diesem monarchischen Zug auch das zusammen, daß Deutschland ein so prononcierter Beamtenstaat ist. Dazu hat zuerst Friedrich Wilhelm I. den preußischen Staat gemacht, und alle Einrichtungen, namentlich auch das ganze Bildungswesen Preußens sind daraufhin eingestellt und zugeschnitten. Der Name Bureaukratie zeigt uns inmitten aller Demokratie um uns her den führenden und verwaltenden Geheimen Rat; und daß diese Geheimräte im ganzen ihre Sache gut machen, darauf und auf dem Bewußtsein davon beruht nicht zum wenigsten das starke Gefüge unseres deutschen Staates und die Gesundheit unseres öffentlichen Lebens. Darin liegt aber zugleich auch die große Verantwortung des Beamten, der nicht nur von obenher gut verwalten, sondern auch in den Verwalteten und Regierten das Vertrauen auf den Staat und die Liebe zum Staat wecken und wahren soll und darum mit dem nötigen Verantwortungsgefühl erfüllt sein muß. Jede unmotivierte Unfreundlichkeit und jede Ungerechtigkeit eines Beamten ist eine Schädigung des Staatsgedankens und Staatsbewußtseins in den Bürgern, kühlt die Wärme ihrer staatlichen Gefühle ab und verwandelt sie in schweren Fällen in Abneigung, Feindschaft und Haß. Das Wort „Bureaukrat“ und „Bureaukratie“ ist heute fast gar zum Schimpfwort geworden als Bezeichnung für eine gewisse „Uninteressiertheit“ und Unpersönlichkeit in der Behandlung der öffentlichen Geschäfte, für eine zeittötende, bequeme „Umständlichkeit“ in ihrer Erledigung und für das Wichtignehmen von und das Wichtigtun mit Kleinigkeiten. Aber vor allem steckt darin doch der Vorwurf, daß unsere Bureaukraten [1659] vergessen, daß nach dem Wort des großen Königs jeder Führer und Regierer immer nur der erste Diener seines Volkes und Staates sei. Daß sie Diener ihrer Völker sind, das vergißt heute kaum mehr einer von unseren Fürsten; daß sie Diener des Publikums sind, vergessen manche Beamte nur zu leicht.

Wenn wir nun an das Beamtenheer denken, das in Deutschland in die Millionen geht und nur immer mehr wächst, so könnte man fast gar geneigt sein, in erster Linie in ihnen das öffentliche Leben verkörpert zu sehen. Und ein gut Teil davon ist es wirklich. Daher kommt so viel an auf die Intaktheit dieser Träger des öffentlichen Dienstes von oben nach unten und von unten nach oben; sie ist sozusagen Barometer und Wertmesser für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gewisser elementarer Rechtlichkeits- und Rechtschaffenheitsbegriffe, auf denen – ich kann es nur noch einmal wiederholen – die Gesundheit unseres öffentlichen Lebens und seiner „Sitten“ beruht. Und das beste Zeichen, wie es damit bei uns steht, ist doch wohl das große Aufsehen, das etwa vorkommende Ausnahmefälle erregen, und der Sturm der Entrüstung, der bei ihrem Bekanntwerden uns alle erfüllt. Wir sind stolz auf diese heute selbstverständliche, aber in Wahrheit mühsam erworbene und in langer harter Arbeit großgezogene Intaktheit des deutschen Beamtentums, darum reagieren wir gegen jede Verletzung und gegen jeden Mißbrauch ganz besonders empfindlich und empört.

Volksvertreter.

Unserer im allgemeinen und gleichen Stimmrecht zum Ausdruck kommenden und durch dasselbe so demokratisch gewordenen Anschauung entspricht es aber doch mehr, als die Träger des öffentlichen Lebens nicht in erster Linie die Beamten, sondern vor allem die vom Volk gewählten Vertreter anzusehen, in jeder Gemeinde die Gemeinde- oder Stadträte und Stadtverordneten, in jedem deutschen Einzelstaat die Landtagsabgeordneten, ganz besonders aber für das ganze Reich den deutschen Reichstag. So haben wir ein reich entwickeltes und mannigfach abgestuftes parlamentarisches Leben, und in gewissen Zeiten des Jahres klappern in allen Hauptstädten die Parlamentsmühlen bald laut, bald leise, bald harmonisch, bald in starken Dissonanzen in die deutschen Lande hinein. Dabei gelten die nach dem Prinzip des allgemeinen Stimmrechts gewählten Volksvertreter in erster Linie als Ausdruck des öffentlichen Lebens; in Wahrheit aber sind es die ersten Kammern mit ihren gesetzlich festgelegten Korporationsvertretern oder ihren vom Landesherrn (in Elsaß-Lothringen vom Kaiser) ernannten Mitgliedern genau ebenso: nicht auf ihre Herkunft, sondern auf ihre Qualität und ihre Lebendigkeit und Lebensäußerungen kommt es an.

Öffentliche Meinung.

Aber Ausdruck der öffentlichen Meinung sind allerdings jene mehr als diese; und diese öffentliche Meinung steht freilich in einem besonders engen Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben, wenn es auch nicht so ist, daß dieses in ihr allein und ganz in ihr sich ausspricht. In der öffentlichen Meinung ist, wie Hegel sagt, „alles Falsche und Wahre; sie enthält die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und [1660] das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt in Form des gesunden Menschenverstandes als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage, sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit; aber freilich auch die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung“. In dieser öffentlichen Meinung brodelt und quirlt alles durcheinander, was im Volke gefühlt, gedacht, gewollt wird, als ein Durcheinander, das nur in seltenen Momenten von selbst zur Klarheit und zur Einmütigkeit kommt. In seltenen Momenten, vielleicht am meisten in Zeiten der Not, in Kriegszeiten vor allem. Wir dürfen ja nur zurücksehen auf die Tage von 1813 oder auf die uns noch näher liegenden Jahre 1870 und 1871, wie da aller Herzen zusammenschlugen und aller Wille auf ein großes Ziel sich streckte und straffte, aller Gedanken dem einen Vaterland galten; verschwunden war der kleine Egoismus der einzelnen, die Selbstsucht der Familien und Stände, der feindselig trennende Partikularismus der deutschen Stämme: wir waren nie besser, nie größer und einiger als in jener weltgeschichtlichen Stunde unseres Volkes. Darin zeigt sich zugleich das Erhebende und Reinigende des Kriegs, der wirklich alles zum Ungemeinen erhebt. Oder wie war’s beim Untergang des ersten Zeppelinluftschiffes bei Echterdingen, den wir als ein uns alle gleichmäßig treffendes nationales Unglück empfanden und den gutzumachen darum auch alle in Opfermut und Einmütigkeit gewetteifert haben? Aber das sind Ausnahmezeiten und Ausnahmeereignisse. Für gewöhnlich weiß die öffentliche Meinung selbst nicht, was sie meint und will und vor allem nicht, was sie meinen und wollen soll. Daher muß es ihr gesagt werden. Und das geschieht – wieder ausnahmsweise – durch die großen Männer der Weltgeschichte. „Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit. Er tut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht sie; aber“, fügt Hegel weise und tapfer hinzu, „wer die öffentliche Meinung, wie er sie hier und da hört, nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen.“ In gewöhnlichen Zeiten aber, wo es der öffentlichen Meinung an Klarheit und Einmütigkeit fehlt und der große Mann nicht da ist, der ihr zum Bewußtsein bringt, was sie will und wollen soll, ist das Parlament ihr Sprachrohr, und ihr normales Organ.

Ein Demokratisches ist nun freilich eine Vertreterversammlung, auch wenn sie durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht zusammenkommt, so eigentlich nicht, sondern ein ganz Aristokratisches: die Auslese der Besten soll jedes Parlament sein. Und was im Parlament zur Aussprache kommt, ist vielfach nicht das uns Einigende, sondern gerade umgekehrt das, was uns trennt. Nie tritt dieses deutlicher ins Bewußtsein als bei den Wahlkämpfen zu Reichstag, Landtag, Gemeinderat, nirgends wird es lauter zu Gehör gebracht als in Wahlversammlungen und in den auf Grund dieser Wahlkämpfe zustande gekommenen Vertretungskörpern, in denen diese Kämpfe fortgesetzt werden. Unser Volk soll „politisiert“ werden! Das ist eine Forderung, ein Wunsch, der neuerdings oft und laut genug ausgesprochen wird; und gewiß ist es ein Ziel, dem wir zustreben müssen; denn es ist nichts anderes als die Erziehung des Volkes zu staatsbürgerlicher Gesinnung, die Bildung für die Staatsinteressen überhaupt. Sieht man aber genauer zu, so heißt [1661] es im Munde der Fordernden etwas ganz anderes, heißt: unser Volk soll sich Mann für Mann in Parteien organisieren und gliedern lassen. Das kommt nirgends deutlicher zutage als in dem Verlangen nach Proportionalwahlen, namentlich in der Form der proportionalen Listenwahl, wo die Stimme des einzelnen wertlos oder geradezu ungültig wird, wenn sie nicht in einer anerkannten Parteiliste auf- und untergeht: ich darf nicht wählen, wen ich will, sondern ich muß wählen, wen die Partei oder ein Bruchteil der Partei, eine Delegiertenversammlung oder ein Parteiausschuß mir vorschreibt.

Das Parlament nur selten Ausdruck der öffentlichen Meinung.

Aber so oder so, jedenfalls ist das Parlament nur selten der Ausdruck einer einheitlichen öffentlichen Meinung, für gewöhnlich vielmehr der Kampfplatz, der sich streitenden politischen Parteien und Parteimeinungen. Das ist, wenn die Einheitlichkeit fehlt, freilich notwendig; denn keine Partei ist das Ganze und hat allein recht und vollkommen recht, sondern jede ist einseitig und hat auch unrecht. Darum müssen die Parteien oder ihre Stimmführer in Gründen und Gegengründen zusammen das Allseitige und das Ganze zur Aussprache bringen und in der Debatte herausarbeiten, müssen sich gegenseitig ergänzen und korrigieren und schließlich in Kompromißbeschlüssen die mittlere Linie suchen, damit nicht die Extreme siegen und das Vaterland in Stücke geht. Oder vielmehr − nicht um ein Siegen oder Unterliegen sollte es sich bei diesen parlamentarischen Redeschlachten handeln, sondern um das Herausstellen aller Seiten einer Aufgabe oder eines Problems unseres öffentlichen Lebens und um ein gegenseitiges Überzeugen. So nur wird das streitende Parlament zum Ausdruck der Allseitigkeit und des Ganzen. Das Verschwinden einer Partei im Parlament, während sie noch Anhänger hat im Volk, ist daher stets ein Unglück, und von diesem Gesichtspunkt aus sogar das Proportionalsystem zu ertragen. Dabei verhält sich das Einheitliche und das Ganze zum Zerklüfteten und Zerklüftenden wie Ebbe und Flut: es gibt Zeiten, in denen dieses überwiegt und jenes zurücktritt und umgekehrt. Je näher wir einer großen Zeit stehen, je deutlicher uns die Gefahren zum Bewußtsein kommen, die uns von außen her drohen, desto mehr pflegt das Parlament diese seine Aufgabe zu erfassen, Träger eines einheitlichen und eines allgemeinen Willens über die Einzelinteressen hinweg und dadurch Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein. Deswegen war der Reichstag nie größer und leistungsfähiger als in den siebziger Jahren, und war sein Verhalten bei der Annahme der großen Heeresvorlage von 1913 so erfreulich würdig und erhebend.

Der Reichstag.

So pulsiert das öffentliche Leben wirklich im Reichstag als dem Organ der öffentlichen Meinung von den politischen Dingen und der verschiedenen Parteirichtungen im deutschen Volk. Aber vielleicht fehlt es ihm heute allzusehr an überragenden Führern, und vielleicht fällt eben darum der Akzent doch zu sehr auf das parteipolitisch Trennende. Und auf der andern Seite erfährt der Außenstehende zu wenig von der tüchtigen und soliden Arbeit, die in den Kommissionen geleistet wird, in denen offenbar mehr und mehr das Wertvollste seiner Leistung besteht. Hegel sagt, die Öffentlichkeit [1662] dieser Versammlungen sei „ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel und das Volk lerne daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen; erst hier entwickeln sich Tugenden, Talente, Geschicklichkeiten, die zu Mustern zu dienen haben.“ Dieser Wert geht verloren, wenn die Hauptsache sich hinter den Kulissen, in verschlossenen Kommissionsberatungen abspielt. Und damit hängt wohl auch der Modus unserer Reichstagsverhandlungen zusammen, daß die paar Stimmführer stundenlange Reden halten, durch die sie nicht ihre Hörer überzeugen wollen oder überzeugen zu können glauben. An die Stelle der Debatte, des διαλέγεσθαι ist das Zum-Fenster-Hinausreden getreten. So hat die Stimme des einzelnen kein Gewicht, es kommt nicht an auf das, was er sagt, und daß er etwas sagt, höchstens noch darauf, daß er bei der Abstimmung zur Stelle ist; auch im Reichstag ist alles Partei; und auch die Partei berät und beschließt hinter geschlossenen Türen; wenn öffentlich geredet wird, ist alles schon fertig, und ob einer mit Menschen- oder mit Engelzungen redete, auf die Beschlüsse hat das keinen Einfluß mehr, die Abstimmung ist für den einzelnen Abgeordneten in allen wichtigen Fragen parteimäßig festgelegt und obligatorisch; daher wollen so viele selbständige Menschen nicht in den Reichstag und kommen die selbständigen Parteilosen dort nicht zur Geltung. So sind die Parteien die eigentlichen Träger des öffentlichen Lebens, nicht die einzelnen, oder sie nur soweit, als ihr Einfluß in der Partei und auf die Partei reicht. Darin liegt so etwas wie ein Widerspruch. Das Parlament ist der Idee nach die Elite der Nation, eine aristokratische Auslese hervorragender einzelner, die – das liegt schon im Worte „Parlament“ – reden und raten sollen; in Wirklichkeit tauchen aber diese einzelnen alsbald wieder gut demokratisch unter und gehen auf in der Fraktion, sie reden nicht, um zu raten, sondern nur um zu reden, und deswegen reden die meisten überhaupt nicht, sondern stimmen nur ab, sie sind nicht etwas als einzelne, sondern etwas nur als Mitglieder ihrer Partei und als eine Stimme mehr.

Die Presse. Ihre Aufgaben.

Ähnlich und doch anders steht es um die Presse, in der das öffentliche Leben noch allseitiger und lauter zur Aussprache kommt als in den Reichs- und in den verschiedenen Landtagsverhandlungen, so daß sie heute bei dem geradezu fabelhaften Aufschwung des Zeitungswesens in Deutschland recht eigentlich das Spiegelbild und das Sammelbecken ist für alles, was zum öffentlichen Leben gehört und in ihm, ponderabel oder imponderabel, mitschwingt und pulsiert. Die Zeitung ist freilich ein Gemisch von Öffentlichem und Privatem und steht ebenso im Dienste des einen wie des andern. Der Anzeigeteil, auf dem das Zeitungsgeschäft vor allem beruht und aus dem die Zeitung den Hauptteil ihrer Einkünfte bezieht und ihre Herstellungskosten zu zwei Dritteln und mehr deckt, regelt als größte Arbeitsnachweisstelle zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern Nachfrage und Angebot. Man darf ja nur zusehen, wie beim Erscheinen der neuesten Nummer eines großen Annoncenblattes die Stellensuchenden bienenschwarmartig sich um die Ausgabestelle drängen, um als erste die Nummer zu erhaschen und dadurch auch als erste Bewerber zur Stelle sein zu können. Auch die Reklame hat neben dem Plakatwesen, das unsere Städtebilder so abscheulich verunstaltet und gegen seine marktschreierische [1663] Aufdringlichkeit auch schon im Interesse der Ethik und der Ästhetik die Öffentlichkeit in die Schranken ruft, in der Zeitung ihren Hauptsitz. Und auch hier stecken in dem Monopolisieren und Ausschließen, im offenen oder versteckten Gelegenheitgeben und Gelegenheitsuchen zu allerlei Unsittlichem mancherlei Schäden und Gefahren, die die Öffentlichkeit angehen. Doch wird hier das Schlimmste immer schon durch das Interesse des Blattes selbst und durch die Kontrolle der Konkurrenten verhütet, und dadurch das Verantwortlichkeitsgefühl der Leiter des Annoncenteils wach gehalten.

Das zweite, was die Zeitung durch ihre Mitteilungen reguliert, sind die Weltmarkts- und Weltverkehrsverhältnisse; und hier steht sie bereits im Dienst des öffentlichen Lebens, das an der Preisbildung der Waren, am Stand der Papiere, am Kredit der Staaten und der großen industriellen Unternehmungen und Banken aufs intensivste mit interessiert ist. Seitdem Deutschland ein großer Industriestaat und auf dem Weltmarkt der große Konkurrent für die anderen Staaten geworden ist, ist der Handelsteil einer Zeitung für den, der ihn zu lesen versteht, nicht bloß für sein eigenes Geschäft, sondern für unsere ganze Machtstellung in der Welt vom größten Interesse: neben Fürsten und Diplomaten haben heute auch Großindustrielle und Banken in Rüstungsfragen ein gewichtiges Wort mitzusprechen und über Krieg oder Frieden mit zu entscheiden.

Endlich die dritte Aufgabe – die Zeitung als Übermittlerin von Neuigkeiten aller Art und, damit zusammenhängend, als Leiterin der öffentlichen Meinung durch Festsetzung des Urteils über das Geschehene und das Geschehende und künftig zu Tuende. Gerade diese Seite, aus der das Zeitungswesen überhaupt erst herausgewachsen ist und seinen Namen bekommen hat, hat in den letzten Jahrzehnten die gewaltigste Ausdehnung erfahren durch die Forderung und die Befriedigung der Forderung größtmöglicher Schnelligkeit bei Übermittlung der Nachrichten mit Hilfe von Telegraph und Telephon und durch das Netz von Korrespondenten, das große Zeitungen über die ganze Welt hin ausgebreitet haben; bei wichtigen Vorkommnissen, bei Kriegen oder Unglücksfällen, bei Festen und Kongressen müssen besondere Berichterstatter zur Stelle sein und – für die Beteiligten selbst erwünscht oder unerwünscht – ihrer Zeitung prompteste Nachrichten zukommen lassen. Diese staunenswerte Schnelligkeit und Allseitigkeit des Nachrichtendienstes und die damit parallel gehende Ungeduld des auf Nachrichten wartenden Publikums ist es vor allem, was unser Leben gegenwärtig so hastig, so unruhig, so nervös macht; und doch, wer von uns wollte und könnte das heute noch entbehren?

Für diese aus der ganzen Welt zusammenströmenden Nachrichten bildet nun die Redaktion jeder großen Zeitung sozusagen die Sammelstelle, die die Nachrichten auszulesen, zu sichten, auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, also an ihnen Kritik zu üben hat. Dabei ist die erste Frage: was ist wichtig? und wir staunen doch oft, welche Lappalien für wichtig genug befunden werden, um sie über die ganze Welt hin mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens zu verbreiten. Dieses Interesse für alles Mögliche, neben Wichtigem auch für ganz Unwichtiges, wird durch die Zeitung aber nicht bloß befriedigt, sondern vielfach erst geweckt. Ein Zunehmen der Neugier, die den Geist nicht sammelt, sondern zerstreut und verflacht, ein Verlangen nach Sensationellem, das gelegentlich auch noch [1664] durch Bilder in unserer kinematographentollen Zeit gesteigert wird, macht sich deutlich spürbar und fordert und findet immer mehr Nahrung und Stoff. Und auch dadurch kann hier geschadet werden, daß das berichtete Sensationelle zur Nachahmung reizt und suggestiv wirkt, geradezu geistige Epidemien hervorruft: man denke an die zu gewissen Zeiten sich häufenden Schülerselbstmorde oder an die gewöhnlich rasch aufeinanderfolgenden gleichen oder ähnlichen Verbrechen besonderer Art. Auf der andern Seite ist das alles aber auch im öffentlichen Interesse notwendig und nützlich zur Unterstützung von Polizei und Gericht bei der Entdeckung von Verbrechen und der Fahndung auf Verbrecher oder beim Aufsuchen von Verlorenem und von Verlorenen, und notwendig auch zur Weckung eines „vielseitigen Interesses“, das nach Herbart Grundlage und Zielpunkt aller Bildung ist.

Endlich die Hauptsache – die politischen Nachrichten. Was wären, um damit zu beginnen, die öffentlichen Verhandlungen des Reichstags, ja jedes größeren Stadtparlaments ohne die Presse? Das gesprochene Wort verhallt im engen Raum eines noch so großen Saales, ein paar Leute hören den Redner oder hören ihn auch nicht, fassen manches von dem, was er sagt, falsch auf und vergessen das Meiste und das Beste, es ist gleich darauf, als wäre es nie gewesen. Erst die Presse gibt dem gesprochenen Wort Dauer, den weiten Hörerkreis und die nötige Resonanz und macht die paar, die in der Elite der Erwählten selbst wieder als Sprecher eine Elite bilden, nun erst zu Führern des Volkes. Man sehe nur zu, wie bei einem Streik der Journalisten sich die Reichstagsredner verloren vorkommen und die politisch interessierten Menschen alle darben. Und auch abgesehen von solchem gelegentlichen, absichtlichen oder unabsichtlichen Versagen ist die Kunst des Totschweigens in der Presse kaum weniger ausgebildet als die des Mitteilens, und sie ist für den Totgeschwiegenen meist die schlimmste Art des Boykotts; denn wenn der Betroffene dagegen protestiert, so hat er neben dem Schaden für den Spott nicht zu sorgen. So zeigt die Presse hier schon ihre Macht: ohne sie ist der einzelne für das öffentliche Leben so gut wie nicht vorhanden, ein Mann der Öffentlichkeit wird man heute nur durch sie.

Aber nicht nur referieren will die Presse über das, was im Parlament oder in Volksversammlungen gesagt wird und was Politisches in der Welt, im Inland oder Ausland vorgeht, sie urteilt auch darüber, lobt, tadelt, empfiehlt, bekämpft, spottet und klagt. Teilweise liegt, wie eben angedeutet, ein Urteil schon in der Auswahl dessen, was sie mitteilt. Denn wie jede Geschichtschreibung dadurch subjektiv ist, daß sie nicht alles berichtet und berichten kann, was geschehen ist, sondern nur das, was der Historiker für wichtig und wesentlich hält, und wie sie dadurch aristokratisch ist, daß sie nur das Bedeutende und Große auf ihren Blättern verzeichnet und das ewig Gestrige als Spreu durch ihr großes Sieb durchfallen läßt und ausscheidet, so und noch viel mehr ist auch die Presse subjektiv und – wenigstens der Idee nach – aristokratisch. Und zwar scheidet sie aus und urteilt sie von einem bestimmten politischen Standpunkt aus, der meist ein mehr oder weniger ausgesprochener Parteistandpunkt ist. Darum ist das Urteil, das die Presse abgibt, wie die Auswahl, die sie trifft, nichts Allgemeingültiges, sondern ein Parteipolitisches. Diese Einseitigkeit wird einigermaßen dadurch korrigiert, daß jede Partei und vielfach sogar [1665] jede Nuance und Richtung innerhalb einer Partei ihr besonderes Organ hat, und so alle Parteien und Richtungen zu Wort kommen, und daß deshalb das, was die Zeitungen der einen Richtung verschweigen oder übergehen, von den andern mitgeteilt und geflissentlich zugunsten der eigenen und zu ungunsten der fremden Partei hervorgehoben wird. Wer daher täglich mehrere Zeitungen von verschiedenen Parteirichtungen liest, der erst bekommt ein Bild des Ganzen; und wer sie mit politischem Verständnis liest, wird dann in den Urteilen der einzelnen Parteiblätter leicht erkennen, wieviel davon allgemeingültig, wieviel und was dagegen mit der Parteibrille gesehen und durch das Parteisieb festgehalten oder ausgeschieden worden ist. Aber freilich, wie viele lesen viele, lesen mehr als eine, ihre eine Zeitung und lesen Zeitungen verschiedener Richtungen? Und wie viele vermögen zwischen den Zeilen das Wahre und das Richtige herauszulesen? an der Kritik der Zeitungen ihrerseits Kritik zu üben? Daher der große, der fast allmächtige Einfluß, den die Zeitung auf die Urteilsbildung der meisten Menschen ausübt. Viele übernehmen ihr politisches Urteil und ihre politischen Anschauungen einfach fertig von der von ihnen gehaltenen und regelmäßig gelesenen Zeitung; und auch wer sich dagegen sträubt, steht doch mehr oder weniger unter ihrem Einfluß. Verstärkt wird dieser noch durch die in Deutschland übliche Anonymität gerade auch der politischen Artikel und Leitartikel: die Kölnische Zeitung sagt es, das ist für die Mehrzahl ihrer Leser fast so maßgebend, wie für die Pythagoreer das αὐτὸς ἔϕα ihres Meisters; wenn es ihnen als das Elaborat eines Herrn Müller oder Schulze entgegenträte, würden sie sich weniger davon beeinflussen lassen und sich nicht so ohne weiteres der Autorität des gedruckten Werkes unterordnen: die Kölnische oder die Frankfurter Zeitung ist eine Macht, Herr Klein oder Herr Frank wäre keine. Das ist die suggestive Wirkung der Presse, der sich keiner von uns entziehen kann. Auch wenn wir uns kritisch verhalten wollen und meinen, kritisch zu sein, so entdecken wir nach einiger Zeit, vielleicht zu unserem Schrecken, wie energisch sich die Assoziationen zwischen den Ereignissen und dem Zeitungsurteil bei uns festgesetzt haben und wie stark das letztere auf uns abgefärbt hat; wir wissen nicht mehr, daß die Urteile, die wir fällen, nicht die unsrigen, sondern Urteile unserer Zeitung sind.

Verantwortlichkeit der Presse.

Daher ist auch die Verantwortung und Verantwortlichkeit der Presse eine außerordentlich große. In der äußeren Politik macht sie weit mehr Krieg oder Frieden als die offizielle Diplomatie, indem sie die Volksleidenschaft entfesselt oder beschwichtigt, den Samen der Zwietracht zwischen den Völkern sät oder eine friedliche Stimmung verbreitet; in ihr schwingen ja vor allem jene Imponderabilien mit, auf die im Verhältnis der Völker zueinander soviel ankommt. Deshalb ist es für die leitenden Kreise wichtig, nicht bloß aufmerksam zu hören auf das, was die Presse sagt, sondern auf diesem Instrument auch ihrerseits spielen zu können, um dadurch auf Inland und Ausland einzuwirken, für eine kräftige Aktion nach außen die nötige Resonanz und das Verständnis im eigenen Volk zu schaffen oder durch kalte Wasserstrahlen den Nachbarvölkern rechtzeitig den Ernst der Situation zu Gemüt zu führen. Der große Staatsmann muß heute auch ein großer [1666] Journalist sein, wie Bismarck ein solcher gewesen ist, oder große Journalisten an der Hand haben. Und dafür genügt nicht etwa nur ein offizielles Organ, in dem die Regierung selbst in jedem Augenblick zu Wort kommen und dem Volk ihre Anschauungen und Absichten „offiziell“ zur Kenntnis bringen kann, sondern sie wird auch andere Blätter zu beeinflussen und für ihre Ansicht zu gewinnen, diese in ihnen „offiziös“ zu Gehör zu bringen suchen; denn wer liest die offiziellen Blätter? und wer bringt gerade ihnen volles Vertrauen entgegen? Alles das gilt natürlich auch von der inneren Politik. Die aufreizende Sprache, die tendenziöse Darstellung der Presse macht einen an sich vielleicht unerheblichen Vorfall erst gefährlich und wirft den Funken ins Pulverfaß oder rückt ihn, der anfangs bedenklich aussah, ins rechte Licht und läßt ihn das Volk verstehen oder macht ihn harmloser als er ist und nimmt ihm Giftzahn und Stachel; sie bereitet die Reformen vor, indem sie ihre Notwendigkeit begründet und die einzuschlagenden Wege diskutiert und kritisch auf den gangbarsten hinweist; sie führt sie beim Volk ein, macht sie populär, macht das Volk den neuen Ideen zugänglich und geneigt oder warnt vor Utopien und Schaumschlägerei, vor Überschätzung und Täuschung. So ist die Presse wirklich eine Großmacht, wie Napoleon den Rheinischen Merkur von Görres genannt hat, und die Leiter großer Blätter haben etwas von kommandierenden Generalen an der Spitze eines großen Stabs von Mitarbeitern; die Journalisten sind in unserer demokratisch gewordenen Zeit nicht bloß einflußreich, sie sind geradezu Machthaber.

Niveau des Journalistenstandes.

Daher kommt soviel darauf an, wie hoch oder wie nieder in einem Volk das Niveau des Journalistenstandes ist. Daß in ihm sich auch minderwertige Gesellen finden, Schiffbrüchige, die hier ein letztes Unterkommen finden, Menschen von zweifelhafter Moral und zweifelhafter Bildung, ist nicht zu bestreiten. Aber es setzt sich – und nicht zum wenigsten auch in den Kreisen und Standesvertretungen der Journalisten selbst – doch immer mehr die Erkenntnis durch, daß entsprechend ihrer großen Verantwortung und ihrer großen Macht die Vertreter dieses Berufes, an großen Zeitungen wenigstens, sorgfältig ausgewählte, hervorragend kenntnisreiche und gebildete, ihrer Verantwortung voll bewußte Männer sein müssen. Eine besondere Journalistenfachschule, eine eigens auf sie zugeschnittene akademische Laufbahn wird von den Journalisten selbst abgelehnt und – ganz abgesehen von dem übeln Verlauf eines solchen Versuches in Heidelberg – mit Recht abgelehnt: gerade auf der Mischung der verschiedensten akademischen und nichtakademischen Berufe und Bildungswege beruht die Fülle des Wissens, die für den Journalisten- und Mitarbeiterstab einer großen Zeitung absolut notwendig ist; und das Technische lernt sich ohnedies besser in der Praxis als in einem akademischen Seminar, das dann mindestens auch eine Übungszeitung zur Hand haben müßte.

Witzblätter.

Mit einem Wort sei hier noch besonders der Witzblätter gedacht, die durch die dem Witz innewohnende Schlagkraft und durch die sich damit verbindende Anschaulichkeit der Karikatur besonders drastisch und deswegen besonders stark zu wirken pflegen. Man denkt dabei gewöhnlich, aber nicht ganz mit [1667] Recht, nur an die Kritik, die sie oft mit ätzender Schärfe und in verletzender Form an Menschen, Zuständen und Maßregeln üben und an die Opposition, die darin steckt, und hält sie darum für besonders gefährlich. Daß der von ihrer Lauge oder ihrer Narrenpritsche Getroffene mitlacht, das kann man höchstens von einem Sokrates erwarten, der sich in den Wolken des Aristophanes über seine eigene Karikatur belustigt freut. Und bei den anderen, den Nichtgetroffenen ist es vielfach nur boshafte Schadenfreude über die Hiebe, die hier ausgeteilt werden. Es kann aber auch noch etwas anderes und soll etwas Besseres sein auch hier: – die befreiende Wirkung, die vom Komischen, Witzigen, Grotesken, Karikierten ausgeht. Ein Hochstehender, ein großer Mann drückt und droht zu erdrücken: das macht ihm nicht lauter Freunde, sondern zieht ihm auch vielfach Abneigung zu und Neid und Haß. Da tut es gut, ihn auch einmal im Spiegel des Witzes anders, unter sich zu sehen und über ihn lachen zu dürfen. Lachen macht frei, und so werden wir durch den Witz befreit von dem Gefühl des Drückenden und Erdrückenden, der eigenen Kleinheit und Inferiorität, weil wir uns einen Augenblick über den Großen stellen und ihn auslachen dürfen. Oder ein Regierungserlaß ärgert und verstimmt uns: nun wird er in einem Witzblatt verhöhnt, von seiner schwachen, vielleicht törichten Seite gezeigt, und so merken wir, daß man sich auch in lustiger Weise mit ihm abfinden kann, daß wir uns nicht zu ärgern brauchen, weil wir uns über seine komische Seite freuen können. Das ist die Katharsis als Wirkung der Witzblätter, die uns von Furcht und Mitleid, vom Gefühl der Demütigung und von aller sonstigen Verstimmung reinigt und freimacht. Wer dagegen unmittelbar, nachdem er ein Witzblatt gelesen hat, über die Menschen und Dinge, die darin verhöhnt und verspottet werden, weiter schimpft, an dem ist Hopfen und Malz des Witzes verloren, der ist ein humorloser Geselle.

Freiheit der Presse.

Um aber der Ausdruck der öffentlichen Meinung sein und auf das öffentliche Leben wirken zu können, muß die Presse frei sein. Es ist für das deutsche Volk als Volk der Denker und der Dichter überaus bezeichnend, daß unter den freiheitlichen Forderungen des Jahres 1848 die der Preßfreiheit immer obenan zu stehen pflegte. Nur als freie kann die Presse wirken. Daher muß sie ihre Meinung offen heraus sagen und ihre Kritik unbehindert üben dürfen; sonst hat sie ebensowenig Wert wie ein Professor, der auf dem Katheder seine Lehre nicht frei vortragen, der nicht profiteri darf, wovon er innerlich überzeugt ist. Nur wenn wir wissen, daß die Blätter frei reden dürfen, können wir Vertrauen haben zu dem, was sie sagen, und ihnen Glauben schenken für das, was sie berichten. So ist die Preßfreiheit mit Recht gefordert und erfreulicherweise erkämpft worden, die Zensur ist abgeschafft, die nicht bloß das Hochkommen der Presse verhindert, sondern auch dadurch korrumpierend gewirkt hat, daß durch sie und als Waffe gegen sie jener gefährliche Stil des Anspielens, des Augenzwinkerns und des Halbsagens aufgekommen war, ein giftiger Stil, der den Charakter verdarb und die Sitten des Volkes übel beeinflußte; heute ist das nicht mehr notwendig; darum ist, wer so schreibt, entweder ein Feigling oder ein aus böser Lust mit vergifteten Waffen Kämpfender: Hic niger est, hunc tu, Romane, caveto!

[1668] Daß der Presse nach wie vor gewisse Schranken gezogen sind, einerseits der einzelne nicht von ihr verleumdet und beleidigt und andererseits das Volk im ganzen oder einzelne Klassen desselben nicht zu Gewalttätigkeit irgendwelcher Art aufgehetzt werden darf, versteht sich von selbst. Auch Bestimmungen gegen den Verrat wichtiger, namentlich militärischer Landesgeheimnisse dürfen nicht fehlen. Nur soll das alles nicht zu kautschukartig und dehnbar sein und so die Presse nicht unter dem Druck und der Angst vor dem Damoklesschwert stehen müssen, das jeden Augenblick auf sie niedersausen kann. Aber eben aus der weitgehenden Freiheit, die ihr gewährt worden ist und ihren gewaltigen Aufschwung erst möglich gemacht und herbeigeführt hat, sind ihr auch neue und besonders große und schwere Pflichten erwachsen; denn je größer die Freiheit, desto leichter, aber auch desto gefährlicher der Mißbrauch und das Auswachsen der Freiheit zur Schrankenlosigkeit und zur Zuchtlosigkeit. Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst, sagt Uhland mit Recht.

Noch auf eine Gefahr ganz anderer Art sei hier hingewiesen, die auch öffentliches Interesse hat – auf die Verderbnis unserer Sprache und unseres Stils durch das Zeitungsdeutsch. Daß ein guter Journalist einen guten, ein großer Feuilletonist sogar einen glänzenden Stil schreiben soll und daß viele unserer Journalisten darin ganz Vortreffliches leisten, wissen wir alle. Aber auf der anderen Seite macht die Notwendigkeit, rasch zu produzieren und zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, in Stimmung oder Nichtstimmung zu schreiben, um die Spalten des Blattes täglich auf die Stunde zu füllen und dem Publikum das gestern und heute Geschehene wie frische Semmeln zum Frühstück auf den Tisch zu legen, den Stil vielfach doch recht hastig und schluderig. Billig Denkende werden dem Journalisten daraus keinen ernstlichen Vorwurf machen. Allein die üble Wirkung ist da; und wenn das Gerichtsdeutsch und das Kaufmannsdeutsch und das schwerfällige Gelehrtendeutsch vielleicht nach einer andern Richtung hin, aber immer doch mit dem Zeitungsdeutsch zusammen am deutschen Stil und an deutscher Sprachkunst sich versündigen, so werden wir uns nicht wundern können, wenn gelegentlich über den Verderb von Stil und Sprache durch die Zeitung geklagt wird, sondern eher darüber, daß die bösen Beispiele die guten Sitten nicht noch weit mehr verderben.

Unsere ganze Literatur.

Neben der Tagespresse, von der hier die Rede war, stehen natürlich zu gleichen Rechten auch Wochenschrift und Zeitschrift, Flugblatt und Flugschrift, und steht in gewissem Sinn unsere ganze Literatur, soweit sie keine ausgesprochen fachliche ist. Zur Zeit Schillers gab es noch keine Presse, jedenfalls keine politische und keine freie, und gab es noch keine Rednerbühne in Volksversammlung oder Parlament, auf der der Politiker und Patriot seine Gedanken aussprechen und mit lauter Stimme in die Welt hineinrufen konnte. Da hat Schiller in Deutschland als erster – etwa den einzigen Lessing ausgenommen – die Schaubühne zum Tribunal und Organ der öffentlichen Meinung gemacht und in den Dienst des öffentlichen Lebens gestellt. Wie politische Anklageschriften und demosthenische Reden hören sich die Räuber oder Kabale und Liebe und Don Carlos an; nicht vagen Tyrannenhaß oder unklare kosmopolitische Ideale hat [1669] er von der Schaubühne als von seiner Rednerbühne herab gepredigt, sondern seine auf Tatsachen beruhenden Anklagen, seine das Volk zum Höchsten emporreißenden Forderungen hat er von ihr aus mit dem ganzen Pathos und dem ganzen Feuerstrom seiner Beredsamkeit unter die Besucher seiner Stücke geworfen. Und wieder – nur weit schwächer und mit hohlerer Rhetorik, aber doch nicht ohne große Wirkung als Vorbereitung auf die Revolution von 1848, hat das junge Deutschland das Theater tendenziös genommen; und noch einmal haben dann in den achtziger und neunziger Jahren unsere naturalistischen Dramatiker die neuen sozialen und sozialistischen Gedanken auf der Bühne vor den aufhorchenden Zuschauern aussprechen lassen und sie so populär gemacht. Durch die ganz unsoziale Verteuerung unserer Theater ist diese ihre große Mission heute fast gar unterbunden: häufiger Besuch ist nur noch für die oberen Zehntausend möglich, für die Massen aber ist an seine Stelle der Kino getreten mit seinen einstweilen noch tendenzlosen, aber um so geschmackloseren und sensationelleren Vorführungen und seinem skrupellosen Spekulieren auf die schlechtesten Instinkte des Volks. So ist das Theater heute viel einflußloser als vor 120 und vor 60 und noch vor 25 Jahren; und das Schlagwort l’art pour l’art ist nur ein schlechtes Mäntelchen, das man dieser Bedeutungslosigkeit als entschuldigende Hülle umgehängt hat; als ob von schwächlichen Ästheten für schwächliche Ästheten große und starke Kunst gemacht werden und große und starke Wirkungen ausgehen könnten. Auch das kläglich mißlungene Festspiel in Breslau hat gezeigt, wie fern und wie verständnislos unsere Theaterdichter von heute dem Volksempfinden gegenüberstehen und wie die Bedeutung ihrer Stücke für das öffentliche Leben nur noch die negative der Ablehnung und des Protestes gegen die Ablehnung ist, und wie auch das wieder in den Dienst der Parteien herabgezerrt und zu Parteizwecken mißbraucht wird.

Der Roman.

So ist es nicht das Drama und die Bühne, ist auch nicht, wie in den Befreiungskriegen oder in den dreißiger und vierziger Jahren, unsere vielfach nur in inhaltsleerem Wortgeklingel schwelgende Lyrik, sondern der Roman, der heute am ehesten noch Wirkung auf weite Kreise und Schichten ausübt und so zu einem Organ des öffentlichen Lebens wird und werden kann. Patriotische und kriegerische, pazifistische und feminine, soziale und individualistische, freiheitliche und konservative, kirchlich konfessionelle und freigeistige Gedanken und Ideen werden im Roman bald in ausgesprochener Tendenz, bald mehr unbewußt und unwillkürlich niedergelegt, und mancher hat sich hier seine Ideale und seine politischen oder religiösen oder philosophischen Anschauungen geholt. „Ich lese keinen Roman!“ heißt daher vielfach nichts anderes als: ich verzichte darauf, ein wichtiges Stück dessen, was unter uns lebt und wirkt, kennen zu lernen und davon Notiz zu nehmen, oder gar: ich interessiere mich für alle diese Fragen überhaupt nicht. Gerade das, was wir zu Anfang vergeblich gesucht haben, „die Sitte“ unseres Volkes, tritt in diesen Produkten der schönen Literatur, nicht immer vollständig und von ihrer besten Seite, aber gerade in ihrer Unabsichtlichkeit am unverfälschtesten und treuesten zutage. Die geistigen und sozialen Strömungen unseres deutschen Lebens spiegeln sich am Ende doch hier alle wider, und die Kunst besteht nur darin, sie aus ihrer dichterischen Einkleidung nicht nur, sondern auch aus [1670] dem Stimmengewirr der vielen, die hier zu Worte kommen, herauszulösen und herauszuhören.

Vereinsleben.

Konkreter und tatsächlicher, praktischer und robuster als in seiner Literatur, aber nicht weniger bunt und mannigfaltig pulsiert das Leben unseres Volkes in seinen Vereinen. Einem oder mehreren unter den tausend und abertausend Vereinen, oft sogar mehreren, als uns lieb ist, gehört jeder von uns an. Manche von ihnen sind ja nun rein privater Natur und scheinbar ohne alle Bedeutung für das öffentliche Leben, ein Kegelklub z. B. und überhaupt die meisten der bloß der geselligen Unterhaltung und dem Vergnügen dienenden Vereine; und doch können auch sie als Ausdruck des öffentlichen Lebens angesehen werden, sofern und soweit sich ein Stück der Volkssitte in ihnen abspiegelt, z. B. im Kegelklub die Art, wie sich der Philister und Spießbürger abends mit seinesgleichen zu vergnügen pflegt; und wenn die ganze Geselligkeit eines Volkes oder doch weiter Kreise desselben allzu spießbürgerlich und philisterhaft wird, so wird die Masse solcher Kegelklubs und die Wichtigkeit, die sie sich und ihren Vereinigungen zu Verbänden, zu Bannerweihen und Wettkegeln beilegen, sogar ein betrübendes Zeichen des Niedergangs und des Schwindens allgemeiner höherer Interessen, Ausdruck einer allzu großen Selbstgenügsamkeit und einer bedenklichen nationalen Verengung und geistigen Verödung werden können. Gerade weil wir heute, hinausgerissen in das Weltgetriebe und in den flutenden Strom des Wettbewerbs der Völker um die Güter dieser Erde, von dieser philisterhaften Genügsamkeit und Enge im ganzen erfreulich weit entfernt sind, wähle ich dieses Beispiel, das vielleicht auf unserer Großväter Zeit mehr zutraf, aber für uns und unsere Art doch noch nicht ganz aufgehört hat, bezeichnend zu sein.

Wohl aber läßt sich ein anderes sagen. Der Deutsche ist von Haus aus stark individualistisch. Dem scheint diese Neigung, sich in Vereinen zusammenzutun, zu widersprechen, da in ihnen mehr der Herdentiertrieb als diese individualistische Neigung zur Verwirklichung kommt. Allein der Individualismus schließt den Hang und die Vorliebe für freie gesellige Vereinigung nicht aus. Schleiermacher, der Verfasser der ganz individualistischen Monologen, ist schon zur Zeit, da er sie schrieb, der große Virtuose der Geselligkeit gewesen und hat es nicht für einen Widerspruch gehalten, in ihnen das hohe Lied auf die schöne Gemeinschaft der Freundesliebe anzustimmen; und später vollends, in der Ethik, bildet ihm die freie Geselligkeit den Schlußstein seiner Lehre vom höchsten Gut. Gerade in der Vereinsbildung und ihrer nur allzu üppig ins Kraut schießenden Buntheit und Mannigfaltigkeit zeigt sich vielmehr das Individualistische der Wahlverwandtschaft und der Freiheit beim Eingehen solcher Verbindungen und beim Anschluß an bestehende Gemeinschaften nach eigener Willkühr und Wahl. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, der Staat, der mich und mein Leben von Geburt an umschließt und bis zum Grabe nicht losläßt, auch die Kirche, der ich als unmündiges Kind von meinen Eltern einverleibt wurde, wie sie ihr ohne Freiheit und Wahl von ihren ersten Lebenstagen an angehört haben, das sind mehr oder weniger naturhafte Gebilde menschlichen Zusammenschlusses, denen gegenüber ich nicht [1671] frei bin oder von denen ich mich nur gewaltsam und unter Schmerzen loslösen kann. Sohn und Enkel, Gemeindeglied und Staatsbürger, Katholik oder Protestant, das bin ich ohne, zuweilen selbst gegen meinen Willen. Dagegen ob ich einem Verein beitreten oder nicht beitreten, einen Verein gründen oder nicht gründen will, das steht bei mir, der Zwang dazu ist höchstens einmal ein moralischer und nur in ganz engen Verhältnissen meiner Wahl und meiner Freiheit überhaupt entzogen. Dem Kegelklub „Alle neune“ nicht beizutreten oder wieder aus ihm auszutreten, ist Sache meines Beliebens, und es gehört selbst im kleinsten und engsten Landstädtchen nicht eben viel Mut dazu. So zeigt sich der Individualismus nicht im Gegensatz zu, sondern gerade recht in und auf dem Gebiet des freien Vereinslebens, und wenn dieses bei uns besonders vielgestaltig entwickelt ist, so widerspricht das nicht, sondern entspricht durchaus dem deutschen Individualismus und dem germanischen Freiheitswillen.

Politische Parteibildung.

Springen wir aber von dem indifferenten Kegelklub hinüber zur politischen Vereins- und Parteibildung, so tritt hier die Beziehung zum öffentlichen Leben und ihre Bedeutung dafür ganz anders deutlich in die Erscheinung. Die Stimmen, die bei den Reichstagswahlen für die einzelnen Parteien abgegeben werden, sind freilich nicht ohne weiteres Stimmen der betreffenden Parteiangehörigen, der ausdrücklich bei ihnen eingeschriebenen Mitglieder. Bei der Sozialdemokratie redet man besonders gern von „Mitläufern“; aber jede Partei hat ihre Mitläufer, es gibt Tausende und Abertausende, die keiner politischen Partei angehören und die dann wieder in solche zerfallen, die trotzdem regelmäßig mit derselben Partei stimmen und in andere, die nicht einmal das tun, sondern heute sozialdemokratisch und morgen liberal, heute konservativ und morgen fürs Zentrum wählen. Von diesen stehen einzelne sozusagen über den Parteien, sie sind über alle Parteieinseitigkeit und -enge hinausgewachsen und wollen sich deshalb keiner Partei anschließen, sondern wählen jedesmal, wenn sie zu wählen haben, das kleinere Übel, wie man zu sagen pflegt, oder noch lieber: die bedeutendste und charaktervollste Persönlichkeit, auch wenn deren politische Anschauungen nicht durchaus im Einklang sind mit den ihrigen. Andere aber – und das wird die Mehrzahl dieser Mitläufer sein – haben nicht so viel politisches Interesse, vielleicht auch nicht so viel politisches Verständnis, um sich dauernd am politischen Leben zu beteiligen: sie besuchen in Wahlzeiten die eine oder andere Versammlung, hören mehrere oder vielleicht auch nur den ihnen zum voraus schon genehmsten Kandidaten und geben ihm ihre Stimme, damit ist für fünf Jahre ihr politisches Interesse erschöpft und befriedigt. Endlich aber – und das sind die Schlimmsten – sind manche aus irgendwelchen Rücksichten und Geschäftsinteressen zu feige, um sich einer Partei offen anzuschließen, obwohl sie ihr innerlich angehören, oder sind heute gerade verärgert und verstimmt und schlagen sich daher für dieses Mal zur radikalsten Opposition; sie verlassen sich auf das geheime Abstimmen, wobei man wählen kann und darf, wie man es aus irgendwelchen Gründen offen nicht wagen würde und nicht verantworten möchte. Ist an diesen Feiglingen oder Temperamentspolitikern keiner Partei allzuviel gelegen, sollte es wenigstens nicht sein, und muß die Partei darauf verzichten, [1672] jene erste Klasse der über sie Hinausgewachsenen für sich zu gewinnen, weil das an ihrer Überlegenheit und ihrem Persönlichkeitswillen doch scheitern würde, so muß sie sich um so mehr Mühe geben, das Gros der Gleichgültigen in der Mitte für sich zu gewinnen und bleibend um ihre Fahne zu sammeln. Darin besteht die agitatorische Aufgabe der politischen Parteien und das versteht man unter der schon einmal genannten „Politisierung“ des Volkes, die also zunächst nichts anderes ist als der Ausdruck für den Expansionstrieb der einzelnen Parteien und für den Wunsch und Versuch derselben, ihre Stammrollen möglichst zu vermehren. Daß in dieser Parteiarbeit auch ein gut Teil staatsbürgerlicher Erziehung steckt, dürfen wir freilich nicht vergessen: das ist der Gewinn, den die Öffentlichkeit vom Parteileben hat.

Jener Stamm ist es nun, der als geschlossene Partei zwischen den beiden Extremen in der Mitte steht und sozusagen die Cadres bildet für die Wahlkämpfe und Wahlschlachten. Und er gliedert sich dann in den einzelnen Städten und Bezirken in politische Parteivereine, die in ruhigen Zeiten meist ein stilles und mehr oder weniger tatenloses Leben führen, in erregten Zeiten aber, vor allem in den Wochen und Tagen vor den Wahlen das öffentliche Leben in sich konzentrieren und die deutsche Welt mit Waffenlärm und Kriegsgeschrei erfüllen. Daß dabei die Zahl der politischen Parteien bei uns in Deutschland eine so große ist, hängt aber doch wieder mit jenem germanischen Individualismus zusammen, auf dem kulturell unsere Stärke, politisch so lange Zeit unsere Schwäche beruht hat. Die Parteizersplitterung ist kein Glück, weder für die Parteien selbst, die dadurch nie stark genug sind, um für sich allein ihren Willen durchzusetzen, noch für die Regierungen, die im Reichstag und in den Einzellandtagen vielfach auf Zufallsmehrheiten angewiesen sind. Wie in den Stichwahlen, so sind auch in den Parlamenten Koalitionen und Kompromisse nötig, an denen ihrer Unnatürlichkeit wegen häufig niemand eine Freude hat. Und doch liegt darin auch wieder etwas Gutes: ein eigentliches Parteiregiment und eine Parteiregierung ist dadurch unmöglich, und für den Staatsmann muß es, wie eine besondere Kunst, so eine ästhetische Freude sein, immer neu kombinieren und stets eine mittlere Linie suchen und finden zu müssen.

Vier Hauptparteien.

Immerhin zeigt sich, wenn ich recht sehe, ein Zug zur Vereinfachung und zur Beseitigung der allzu kleinen Parteien und Parteisplitterchen auch bei uns. Vier Hauptparteien werden für absehbare Zeit immer bleiben: neben den Konservativen und den Liberalen, sozusagen den beiden legitimen und normalen Parteien des politischen Lebens überhaupt, das Zentrum, das als politische Partei die Interessen und Forderungen der deutschen Katholiken vertritt und so in eigenartiger Verschlingung kirchlich und politisch zugleich ist, und die Sozialdemokratie, die Vertreterin des vierten Standes, die ähnlich wie das Zentrum, ein doppeltes Ziel verfolgt, das politische der schrankenlosen Demokratisierung von Volk und Staat, den sie sich nur als Republik denken kann, und auf wirtschaftlichem Gebiet als Standes- und Klassenpartei die Besserung der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebung, eine Arbeiterpartei also, die freilich nicht alle Handarbeiter und nicht bloß Handarbeiter umfaßt. Daß Liberale und [1673] Konservative je wieder in zwei Parteien zerfallen, ist am Ende noch gerechtfertigt durch die Weite des Begriffs liberal und konservativ, die eine Scheidung dort in Nationalliberale und fortschrittliche Volkspartei, hier in Deutschkonservative und Freikonservative natürlich erscheinen läßt. Dagegen macht es beim Zentrum der autoritative Sinn des Katholiken, bei der Sozialdemokratie die Kampfstellung begreiflich, daß dort der Gegensatz eines demokratischen und eines aristokratischen Flügels und der Unterschied der freieren Kölner und der strengeren Berliner Richtung, hier der Gegensatz der Radikalen und der Revisionisten zu einer Spaltung bis jetzt noch nicht geführt hat. Weitere politische Parteibildungen dagegen sind, von zu engen und einseitigen Gesichtspunkten aus, weder berechtigt noch fruchtbar und wünschenswert.

Das Zentrum zeigt durch sein Bestehen, daß neben politischen auch religiöse Differenzen und Richtungsunterschiede unser öffentliches Leben beeinflussen und bestimmen. Daß auch der Katholizismus Gegensätze in sich birgt, habe ich eben angedeutet; sie treten aber außer in der Zeitungsfehde zwischen den Kölnern und den Berlinern mehr nur am Schicksal einzelner in die Erscheinung; nach außen hin steht er auf seinen Katholikentagen immer wieder als eine geschlossene und in seiner Geschlossenheit imposante Macht vor uns, und ebenso hat er im Zentrum seine politische Seite und seinen Machtwillen durchaus einheitlich verkörpert. Auf katholischer Seite ist die Religion am wenigsten Privatsache, hier ist die Kirche eine Macht und die Macht. Anders im Protestantismus. Zwar hat der Unterschied von Reformierten und Lutheranern aufgehört, eine Rolle zu spielen, die Union hat sich überall tatsächlich und fast überall auch rechtlich durchgesetzt. Aber über den Begriff der Kirche und ihr Verhalten zum Staat und über das Dogma und seine Geltung und Bindung für die Geistlichen vor allem sind hier die Anschauungen weit auseinandergegangen, und wenn deswegen von einer kirchlichen Rechten und Linken und von einer oder gar von zwei Mittelparteien gesprochen wird, so sieht man, wie man lediglich die politischen Parteibezeichnungen auf das kirchlich-religiöse Leben übertragen hat. Die Erklärung des sozialdemokratischen Programms, daß Religion Privatsache sei, wird von den Tatsachen einfach ad absurdum geführt; und auch die Trennung von Kirche und Staat würde bei uns in Deutschland gar nichts an der Tatsache ändern, daß das Religiöse und Kirchliche nicht bloß den Privatmenschen angeht, sondern unser ganzes öffentliches Leben aufs tiefste bewegt und beeinflußt. Es liegt hier ein Mißverständnis, die Vermischung zweier Begriffsbestimmungen des Religiösen vor. Religiosität als Frömmigkeit ist natürlich ganz nur Sache des einzelnen, und deshalb ist oder sollte doch wenigstens seine bürgerliche Stellung völlig unabhängig sein von seiner Religion und Konfession und von seiner persönlichen Stellung zur Kirche, ob er ihr angehören will oder nicht, sich kirchlich betätigen will oder nicht. Dagegen ist die Religion als geschichtliche und geschichtlich organisierte und sich fortpflanzende Einrichtung eine soziale und gesellschaftliche Macht, wie es sich in der Kirchenbildung, dieser größten und umfassendsten Vereinsbildung der Menschheitsgeschichte, zeigt, sofern sie sogar die Schranken des Staates, der Nation, der Rasse überspringt und bei allen großen Religionen den Trieb zu einer gewissen Universalität und Weltherrschaft betätigt. So haben wir auch hier wieder eine Synthese von Individualismus und Sozialismus. Die Religion ist etwas Privates, die Kirche etwas Soziales [1674] und Öffentliches. Deshalb ist die Trennung von Kirche und Staat der Idee nach wohl möglich und vielfach in der Geschichte schon dagewesen: die Schwierigkeiten, die in dem Ineinandergreifen der beiden Mächte liegen und beide bedrängen, würden aber bei uns durch sie schwerlich behoben oder es würden an die Stelle der vorhandenen nur andere neue Probleme treten, die kaum weniger leicht zu lösen wären; ich nenne nur das eine, die Frage: Landeskirchentum oder Einzelgemeinden.

Neben diesen beiden ist dann das Soziale ein drittes Prinzip, das sich in der Sozialdemokratie mit dem politischen, bei den Christlichsozialen und in vielen Vereinen zur Lösung sozialer und charitativer Aufgaben mit dem religiösen verbindet, aber in den Gewerkschaften, den Angestelltenorganisationen und den Arbeitgeber- und Unternehmerverbänden, in interkonfessionellen Armenvereinen, Jünglings- und Jungfrauenvereinen natürlich auch unvermischt und selbständig auftritt. Dazu kommen die Standesvereinigungen, die die Vertretung einzelner Berufsstände nach außen, die Wahrung und Förderung ihrer Interessen und ihre Hebung nach innen auf ihre Fahnen schreiben und z. B. im Bund der Landwirte oder im Deutschen Lehrerverein große und machtvolle Organisationen geschaffen haben.

Turner-, Sänger- und Schützenvereine.

Bis 1848 waren die deutschen Turner- und Sänger- und Schützenvereine – man möchte fast sagen: die populärsten Träger des deutschen Einheitsgedankens, und ihre großen Feste, das Frankfurter Schützenfest von 1862, das Leipziger Turnfest von 1863, hielten ihn unter den Volksgenossen vor allem lebendig. Hier fanden sich deutsche Landsleute aus Nord und Süd, aus Ost und West zusammen, lernten sich kennen und trotz der Verschiedenheit der Dialekte über die engen Landesgrenzen hinweg verstehen. Das ist ja heute nicht mehr in dem Maße notwendig wie damals, die deutschen Stämme sind flüssiger geworden, die Leichtigkeit des Verkehrs und des Reisens führt jährlich ganze Scharen vom Norden in die Alpen oder vom Süden an das Meer; die Offiziere, die Zollbeamten, die Reichstagsabgeordneten – sie alle kommen, wohin sie versetzt werden oder wohin sie eine Agitationsreise führt, als Deutsche zu Deutschen; und verwundert sehen wir auf, wenn uns ein Berliner in alter vormärzlicher Manier mit der Frage angeht: „Sie sind gewiß Süddeutscher: man hört es Ihnen an der Sprache an!“ als ob dieser Unterschied heute noch etwas zu bedeuten hätte und dieser Umstand noch der Erwähnung wert wäre. Immerhin läßt das Turnfest in Leipzig im erinnerungsreichen Jahre 1913 die patriotischen Herzen auch jetzt noch höher schlagen und gibt Gelegenheit zur Aussprache und zur Bekräftigung dieser Gefühle; und ebenso dient der Wettstreit deutscher Gesangvereine vor dem Kaiser nicht nur der Pflege und Hebung des Volksgesangs, sondern es sind zugleich auch Verbrüderungsfeste, die dem nationalen Empfinden zugute kommen. Umgekehrt könnte man sagen, das Vereinsleben pflege auch wieder das partikularistische Stammesgefühl, wenn man sieht, wie in jeder großen Stadt, in der Deutsche aus allen Ecken und Enden des großen deutschen Vaterlands zusammenfließen, sich Bayern und Schwaben, Thüringer und Mecklenburger, Rheinländer und Sachsen je als solche in landsmannschaftlichen Vereinen und Klubs zusammentun und unter den [1675] Stammesgenossen das Zusammengehörigkeitsgefühl aufrecht zu halten suchen. Doch ist das ganz unpolitische und harmlose Stilleben, das sie zu führen pflegen, auch wieder ein Zeichen davon, daß der Partikularismus im Deutschen Reich aufgehört hat, eine Macht zu sein und Einfluß auszuüben. Gerade sie haben keine öffentliche Bedeutung mehr, sondern sind zu betrachten wie die Vereine ehemaliger Schul- und Klassengenossen aus Schulpforta oder Schöntal: sie pflegen Heimats- und Jugenderinnerungen, vergnügen sich in ihrer heimatlichen Weise und freuen sich am Hören ihres heimischen Dialekts, das ist alles.

Krieger-, Wehr- und Flottenvereine.

Ganz anders modern und viel bedeutungsvoller sind im Zeitalter eines die Geister in allen großen Völkern und Staaten erfüllenden „Imperialismus“ die Krieger- und Wehr- und Flottenvereine. Namentlich der Deutsche Flottenverein hat Großes geleistet: neben der energischen Initiative unseres Kaisers ist er es gewesen, der die Volksstimmung in seinem Sinn bearbeitet und seinen Flottenplänen zugänglich gemacht und dem Volk das Verständnis für ihre Notwendigkeit erschlossen, unsere Reichstagsabgeordneten für die Bewilligung der nötigen Mittel gewonnen und die Minister durch den Rückhalt an der auf diese Weise entfachten Begeisterung weiter Kreise ermutigt hat, mit den großen Forderungen für die Flotte vor den Reichstag zu treten. So kann er stolz auf seine Erfolge von der heute erreichten respektabeln Größe und Stärke derselben sagen: quorum pars magna fui! Hand in Hand damit gehen die Bestrebungen des Kolonialvereins, aufklärend auf die Massen zu wirken, ihnen die Augen zu öffnen für den Wert von Kolonien überhaupt und unserer deutschen Kolonien insbesondere und Stimmung zu machen für den Erwerb und die Entwicklung derselben und für die Opfer, die zunächst einmal dafür zu bringen sind, wie der Kaufmann Geld in sein Geschäft stecken muß, um es prosperieren zu machen und Gewinn daraus zu ziehen. Und ähnlich wirkt der Wehrverein, dem wir es doch mit zu verdanken haben, daß durch die letzte große Wehrvorlage lange Hinausgeschobenes nun auf einmal hereingeholt, die allgemeine Wehrpflicht endlich zur Wahrheit gemacht und den drohenden Machtverschiebungen und Verwicklungen gegenüber die Schlagfertigkeit des deutschen Heeres aufs vollkommenste hergestellt wurde, und daß diese Vorlage so fraglos vom Volke hin- und unter dem Druck dieser Volksstimmung mit so großer Mehrheit vom Reichstag angenommen worden ist. So notwendig wie die Arbeit des Flottenvereins ist freilich die des Wehrvereins nicht. Die Flotte kennen aus eigener Anschauung nur wenige und kennt man nur an der Waterkant: das Landheer kennen wir alle. Der Dienstzeit verdankt man das weitverbreitete Interesse an unserem Heer, das so breitbeinig und kraftvoll in unserem öffentlichen Leben obenan steht; und die unpolitischen Kriegervereine sorgen dafür, daß der kriegerische Geist, dem die Friedensvereine hoffentlich noch recht lange vergeblich entgegenwirken, in unserem Volk nicht ausstirbt und die Freude daran und der Stolz darauf nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Erinnerung an die verlebte Dienstzeit oder an mitgemachte Kriege und miterfochtenen Siege unter uns lebendig bleibt. Daß dabei gelegentlich viel Hurra geschrien wird, gehört nun einmal zum Wesen solcher Massenansammlungen überhaupt [1676] und der alten Soldaten insbesondere, denen vom Exerzierplatz her das Lautsein zur Gewohnheit geworden ist. Daß sie aber auch eine Macht sind und werden können, hat das Vorgehen der schlesischen Kriegervereine gegen das verfehlte Festspiel von Gerhart Hauptmann gezeigt, das dann freilich durch das ästhetische Verdikt aller derer, die nicht politisch oder ästhetisch befangen waren, seine nachträgliche Bestätigung erhalten hat: nicht die Freiheit der Kunst, sondern lediglich die Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit eines armseligen Puppenspiels zur Feier einer so großen und heiligen Sache, wie es die Erinnerung an 1813 ist, stand dabei in Frage.

Jungdeutschlandbund.

Für die Wehrhaftigkeit und körperliche Ertüchtigung der Jugend sorgen dann weiter eine ganze Reihe von Vereinen und Verbänden, die neuerdings ihre große Zusammenfassung in dem Jungdeutschlandbund gefunden haben und in dem Namen „Jugendpflege“ ihren Zweck und ihre Rechtfertigung suchen und finden. Unsere deutsche Bildung war lange Zeit einseitig, ausschließlich oder doch vorwiegend intellektualistisch orientiert; man schien vergessen zu haben, daß nur ein gesunder und kräftiger Körper auf die Dauer geistige Arbeit zu leisten vermöge. Da waren Ergänzungen nötig: auf geistigem Gebiete die Ergänzung der intellektuellen Bildung durch erzieherische Einwirkung auf Gefühl und Willen, wofür die Kunsterziehungstage und der Gedanke der Arbeitsschule das öffentliche Interesse zu wecken suchten. Die ganze Schulreformbewegung, die die Geister zeitweise so lebhaft beschäftigt und so stark in Atem gehalten hat, war letzten Endes gegen diese intellektualistische Einseitigkeit gerichtet und suchte gegen sie Schutz- und Hilfsmittel der verschiedensten Art. Das zweite aber war die Erweiterung des spärlichen Schulturnens durch die Einführung von allerlei Spiel und Sport, zu dem man die Jugend bald von seiten der Schule anzuleiten und zu ermuntern suchte oder das die Jugend selbst und freiwillig in eigenen Vereinen wie Wandervögeln oder Pfadfindern in die Hand nahm und pflegte. Diese Bestrebungen zur körperlichen Ertüchtigung unserer Jugend zu organisieren und zusammenzufassen ist die Aufgabe des Jungdeutschlandbundes, in dem nicht bloß die Schule und die Jugend, sondern auch freiwillige Helfer aller Art, namentlich auch Offiziere sich zur Jugendpflege zusammenfinden, Knaben und Jünglinge in die Natur hinausführen, sie tüchtig spielen und körperlich sich üben und betätigen lassen und ihnen dabei auch Freude an der Natur und vaterländisches Hochgefühl in die Brust pflanzen.

In fröhlichem Gewimmel sieht man allsonntäglich die Jugend hinausziehen aus den Städten aufs Land, in Gottes freie und schöne Natur und sich lustig und kräftig darin tummeln, ihre Glieder brauchen und ihre Sinne üben, patriotische Lieder singen und für Männer wie den Grafen Zeppelin sich enthusiastisch begeistern. Ein erfreulicher Eifer dafür ist überall wach geworden und verheißt uns das Heranwachsen eines gesunden und starken, eines freudigen, willenskräftigen und patriotischen Geschlechts.

Aber vor allerlei Gefahren, die zum Teil bereits sichtbar sind, wird sich diese Bewegung doch zu hüten haben. Man denkt dabei auch sozial an eine wohltätige Mischung der verschiedenen Klassen und Stände. Allein die sozialdemokratische Jugendpflege [1677] ist noch früher auf dem Platz gewesen, sie hat ihre Jugend besonders organisiert und hält sie von der anderen geflissentlich zurück, um sie in parteipolitischem Sinn beeinflussen zu können. Dadurch wird nicht nur der Zweck der sozialen Mischung und Ausgleichung vereitelt, sondern durch den Gegensatz ist die Jungdeutschlandorganisation ganz von selbst zu einer Abwehrbewegung geworden, und ihr Patriotismus hat eine polemische Spitze bekommen. So treten parteipolitische Gesichtspunkte zu einer Zeit an die jungen Menschen heran, wo man sie ihnen vielmehr noch durchaus fernhalten müßte. Man wird daher alles daransetzen müssen, die patriotische Seite recht unbefangen und tendenzfrei zu gestalten.

Weiter, daß der Sport auch Auswüchse zeitigen kann, das weiß das Volk des Sports, wissen die Engländer selber am besten. Bei uns war eine Zeitlang die Hauptgefahr das Dominieren des Alkohols, der die Weihe nicht aufkommen ließ, die über die Spiele der Griechen ausgebreitet war. Um so mehr freuen wir uns des spartanischen Geistes der Mäßigkeit und der Enthaltsamkeit, der heute bei den Wanderungen und Spielen unserer Jugend, um jener Gefahr zu begegnen, entschieden gepflegt wird. Dagegen ist der Rekordtaumel, der von den Alten zu den Jungen und von den Jungen zu den Alten geht und aus dem Spielen ein ehrgeiziges Hasten und ein schädliches Sichüberbieten und -überanstrengen macht, eine vielfach recht leidige Begleiterscheinung unseres neudeutschen Sporttreibens.

Eine andere Einseitigkeit, die der Bewegung anhaftet, ist, daß man von militärischen wie von antimilitärischen Anschauungen und Tendenzen aus diese jugendlichen Übungen und Spiele allzusehr schon als Vorschule des Militärdienstes ansieht: hier will man sie zur Verkürzung der Dienstzeit benützen, dort durch sie die Dienstjahre unvermerkt verlängern und ihnen gewissermaßen vorne ein Stück ansetzen. Dadurch kommt die Bewegung unter den einseitigen Einfluß militärischer Gesichtspunkte und nimmt militärische Formen an, die für die Jugend nicht ohne weiteres passen und ihr etwas von der Bewegungsfreiheit wegnehmen, die man an der Schularbeit mit Recht vermißt und deswegen der Schule durch allerlei künstliche Mittel zuzuführen sucht. Der Unterschied von Spiel als einem Freien und Arbeit als einem zu Erzwingenden wird verwischt, und die Kosten davon hat die Freiheit zu tragen, den Gewinn hat der Zwang, den Schaden die Jugend.

Endlich droht noch in anderer Beziehung Einseitigkeit und Übermaß. Der Intellektualismus, der Geist hat uns Deutsche hochgebracht; daher wollen und dürfen wir ihn nicht verächtlich beiseite werfen, als ob er seine Schuldigkeit getan hätte und nun gehen könnte: das wäre eine üble Einbuße am Wertvollsten. Gewiß war eine Ergänzung nach der Seite der körperlichen Ertüchtigung hin notwendig, der intellektuellen Überfütterung und Überbürdung der Jugend mußte ein Ende gemacht und ein Gegengewicht geboten werden. Daher ist der neue Eifer löblich und nützlich. Aber nun sieht es auf einmal so aus, als ob namentlich bei den Nachschulpflichtigen das Körperliche alles und das Intellektuelle gar nichts mehr wäre. „Allzuviel Sport frißt Gehirn“, und doch ist Gehirn feiner und wertvoller als Muskeln und Knochen und bringt weiter als diese. Darum ist geistige Nahrung nach wie vor nötig. Wann soll aber der junge Handarbeiter oder der [1678] junge Kaufmann, wenn ihn am Werktag die Arbeit und am Sonntag der Sport oder die Marschübung und das Manöverieren im Gelände vollauf in Anspruch nehmen und müde machen, noch Zeit und Kraft finden, um ein gutes Buch zu lesen oder – was doch auch Menschenrecht und Bildungspflicht ist – in der Stille zu sich selber zu kommen? Und auch das Familienleben protestiert gegen das Übermaß jugendlicher Vereinsbildung. Ob es wertvoller ist, Weihnachten im Elternhaus oder zum Skilaufen auf dem Feldberg zu verbringen, wird man doch fragen dürfen. Wir wollen jedenfalls den Ruhm, das Volk der Denker und der Dichter zu sein, nicht um ein Linsengericht preis- und darangeben an das neumodische Streben und an den leidenschaftlichen Ehrgeiz, im Sport und im Kriegsspiel die ersten zu werden und den englischen Rekord zu brechen. Das eine tun und das andere nicht lassen, ist hier, so trivial es klingt, doch der Weisheit letzter Schluß.

Studentische Korporationen.

In diesem Zusammenhang ist auch noch an ein anderes jugendliches Vereinswesen zu erinnern, an die studentischen Korporationen, die freilich zunächst als reine Privatsache angesehen werden könnten und höchstens durch die Teilnahme der Bevölkerung in kleinen Universitätsstädten an der Romantik dieser bunten Mützen und Bänder oder durch die mehr oder weniger humorvolle Beachtung, die die Polizei ihrem lustigen Treiben zu schenken pflegt, mit der Öffentlichkeit sich berühren. Aber wenn wir an die Entstehung der deutschen Burschenschaft denken und an den Einfluß, den ihr Fest auf der Wartburg im Jahre 1817 und der Kampf der Regierungen gegen ihren Patriotismus auf unsere innerdeutsche Politik ausgeübt hat und der in den Karlsbader Beschlüssen am deutlichsten und für das geistige und politische Leben unseres Volkes so verhängnisvoll in die Erscheinung getreten ist, oder an das Großziehen antisemitischer Tendenzen im Verein deutscher Studenten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, so werden wir in ihnen doch auch ein Stück des öffentlichen Lebens verkörpert finden. Bismarck hat einmal das Fraktionswesen unserer Parlamente nicht bloß mit diesen studentischen Verbindungen und mit ihrem Korporationsegoismus und Korporationspartikularismus verglichen, sondern es direkt aus der Gewöhnung daran im akademischen Leben abgeleitet. Bei dem Übergewicht, das die Akademiker bald als der vornehmste bald als der wirklich führende Stand in unserem deutschen Beamtenstaat lange Zeit wenigstens gehabt und schwerlich schon ganz verloren haben, ist das ja nur natürlich. Umgekehrt hat noch neuerdings ein Führer der Demokratie das studentische Verbindungsleben als eine treffliche Vorschule für die Tätigkeit in den öffentlichen Körperschaften bis zum Reichstag hinauf und ganz direkt als gute Vorbereitung für das öffentliche Leben gerühmt und auch den Geist ehrlicher Toleranz gegen Andersmeinende von seiner Studentenzeit hergeleitet. Und wenn dieses studentische Korporationswesen heute nicht mehr bloß der Träger der alten romantischen Burschenherrlichkeit ist, sondern in ihm auch ganz moderne sittlich-soziale Aufgaben und das Bemühen um den Erwerb allgemeiner Bildung energisch in die Hand genommen werden, so muß der Öffentlichkeit an ihm und an der ganzen akademischen Lebensfreiheit und ihrer Erhaltung ebenso gelegen sein, wie sie in der wissenschaftlichen Lehrfreiheit der Professoren und in der Lernfreiheit der [1679] Studenten ein für unser Volk im ganzen höchst wertvolles Recht, geradezu die conditio sine qua non für den Geist der Wahrhaftigkeit und seine Verbreitung unter uns zu sehen hat. Im Innern sind die Universitäten immer noch so etwas wie das Gewissen des Volkes, und nach außen hängt das wissenschaftliche Ansehen Deutschlands mehr als in andern Ländern vom Stand seiner Universitäten ab: auf diesem Ansehen ruht unsere geistige Machtstellung in allererster Linie mit. Die Blüte unserer Hochschulen aber ist bedingt und allein sichergestellt durch die absolute Freiheit der Forschung, die nicht etwa bloß im Interesse der Professoren und ihrer Arbeit, sondern im Interesse von Volk und Reich im ganzen aufrecht erhalten werden muß gegen jede Anfechtung und um jeden Preis. Die Aufregung wegen des päpstlichen Motu proprio vom 1. September 1910 über den Eid wider den Modernismus und die daran sich anschließenden Verhandlungen in Parlament, Presse und öffentlichen Versammlungen über das Schicksal der katholisch-theologischen Fakultäten haben gezeigt, wie eng diese kirchliche Frage mit dem Verhältnis der Universitäten zum Staat und noch allgemeiner mit dem von Kirche und Staat überhaupt zusammenhängt.

Konfessionelle Vereinsbildung.

Und auch bei den Studenten sehen wir Universität und Konfession miteinander sich verbinden und verschlingen. In einem konfessionell so stark gemischten Land und Volk wie dem deutschen ist für den notwendigen Modus vivendi das Prinzip der Simultaneität das einzig richtige: das gilt für Gewerkschaften und Schulen und gilt in allererster Linie auch für die universitas magistrorum et scholarium. Von diesem Gedanken aus ist das Aufkommen zahlreicher konfessioneller Studentenkorporationen wenig erfreulich, entspricht aber dem allgemeinen Zug einer streng durchgeführten konfessionellen Scheidung auf allen Gebieten und bildet nur ein Glied mehr in der großen, unser öffentliches Leben so stark beeinflussenden konfessionellen Vereinsbildung überhaupt. Als das umfassendste Gebilde ist hier der seit 1890 bestehende Volksverein für das katholische Deutschland zu nennen, der heute 776 000 Mitglieder zählt und alljährlich auf den Katholikentagen Parade abhält über seine Getreuen und die Losung ausgibt für die Arbeit und die in Angriff zu nehmenden Aufgaben des kommenden Jahres. Er ist nicht politisch und wirkt doch durch die taktisch geschickte Inszenierung und die Wucht seiner Masse wie eine große politische Macht und Machtentfaltung. Mehr der Abwehr dient der Evangelische Bund, der aber bei weitem nicht dieselbe Verbreitung in der Laienwelt hat, auch nicht so geschlossen und von allen Richtungen des Protestantismus anerkannt ist, wie auf katholischer Seite der Volksverein. Selbstverständlich tragen zwei so gerüstet und kampfbereit einander gegenüberstehende Verbände von verschiedener Konfession weniger zu Ausgleich und Beilegung, als zur Vermehrung des konfessionellen Haders bei, und dazu nimmt auch noch die Polemik in der spezifisch konfessionellen Presse vielfach recht unschöne Formen an. Daß auch die Missionsvereine konfessionell geschieden sind, versteht sich dagegen von selbst; und gerade sie haben neben der kirchlichen auch eine große nationale Bedeutung dadurch, daß und soweit sie ihre Hauptarbeitsgebiete in unsere deutschen Kolonien verlegen und da zum Auf- und Ausbau derselben und zur Kultivierung ihrer [1680] Bewohner nicht bloß durch Kirchenbauten und Bekehrungen, sondern auch durch Gründung von Schulen und Anlegung von ärztlichen Stationen und durch Erziehung der Eingeborenen zur Arbeit mächtig beitragen; in der kaiserlosen und kolonienlosen Zeit Deutschlands sind sie die einzigen Träger des kolonialen Gedankens im deutschen Volk gewesen und haben den Samen zu dem ausgestreut, was in dieser Beziehung heute bei uns geschieht und lebendig ist.

Daß sich die religiöse Vereinsbildung mit der sozialen verbindet, zeigt vor allem der oben genannte Volksverein für das katholische Deutschland und zeigen die zahlreichen katholischen und evangelischen Jünglings-, Jungfrauen- und Gesellenvereine; und daß den sozialdemokratischen Gewerkschaften und den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen eine christliche Gewerkschaftsbewegung zur Seite geht, ist schon erwähnt worden; ebenso, daß in ihr konfessionelle und innerkonfessionelle Gegensätze eine Rolle spielen und Kämpfe hervorrufen, die innerhalb des Zentrums auch politische Bedeutung haben und denen durch den „Frieden von Metz“ schwerlich ein Ende gesetzt ist.

So kann man das Vereinsleben gar nicht hoch genug einschätzen in seiner Wirkung auf unser ganzes Volkstum und in seiner Verschlingung mit dessen tiefsten und im innerlichsten Lebensinteressen, wenn man auch seine Auswüchse und Gefahren, seine komischen und seine philisterhaften Seiten darüber nicht übersehen mag. Auch in ihren Kämpfen und Gegensätzen zeigt sich in erster Linie Kraft und Leben nach dem Heraklitischen Wort vom Streit als dem Vater aller Dinge. Daß selbst der gefährlichste, der konfessionelle Gegensatz für unser Volk auch sein Gutes gehabt und uns vor Stagnation und geistiger Uniformierung, vor religiöser Gedankenlosigkeit oder vor irreligiöser Frivolität glücklich bewahrt hat, darauf habe ich oben schon hingewiesen.

Frauenbewegung.

Dem allgemeinen Zug zur Vereinsbildung haben sich auch die Frauen angeschlossen, nicht bloß in der alten Weise zu charitativer Betätigung, sondern auf dem ganz modernen Boden der Emanzipationsbewegung der Frau. Was hat die Frau mit dem öffentlichen Leben zu schaffen? konnte man Jahrhundertelang fragen. Das Wort, daß die die beste sei, von der man am wenigsten rede, war allgemein als Wahrheit anerkannt. Die Frau gehörte wirklich nur ins Haus; und wenn eine Königin Elisabeth oder eine Kaiserin Maria Theresia auf dem Thron „ihren Mann stellte“, so waren das eben Ausnahmen, die auf der Höhe der Menschheit allein möglich waren. Nur in der Renaissance, namentlich der italienischen, beteiligte sich die Frau eine Zeitlang an der neuen Bildung und an den Bildungsbestrebungen der Männer. Im übrigen war sie Haustochter, Hausfrau und Mutter; bloß charitativ hatte sie sich, als dazu besonders geeignet, in Krankenhäusern oder in Armenvereinen zur Arbeit auch außerhalb der häuslichen Sphäre bereit finden lassen. Das gilt heute nicht mehr. Mann und Frau sind physiologisch und psychologisch verschieden, sogar total, in allen ihren Lebensäußerungen verschieden. Aber wie groß diese Verschiedenheit ist und wieweit ihr Rechnung getragen wird, das ist Sache der historischen Entwicklung, dabei spielen wirtschaftliche Verhältnisse, spielt aber auch menschliche Willkür eine Rolle. Und nun war es dahin gekommen, daß in den [1681] oberen Ständen, wo die Frau vom öffentlichen Leben und von der Männer Beruf und Bildung ausgeschlossen war, die Kluft zwischen Mann und Frau sich unnatürlich und ungesund erweitert hatte. Umgekehrt war in den Kreisen der landwirtschaftlichen und der Industriearbeiter der Unterschied zu klein geworden, hier arbeitet die Frau auf denselben Gebieten und dasselbe wie der Mann, und dabei ist sie ihren spezifisch weiblichen Aufgaben im Haus und in der Familie entzogen und entfremdet worden. So hat die moderne Frauenbewegung wie alles Neuzeitliche zwei sich scheinbar entgegenstehende Ursprungsquellen und Richtungen – eine individualistische und eine soziale. Dort handelt es sich darum, den Unterschied, der zu groß geworden ist, zu verkleinern, hier ihn wieder mehr zu akzentuieren und die spezifische Eigenart der Frau wieder mehr zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das erstere liegt vor allem im Interesse der Frau als einer Persönlichkeit und soll ein Gewinn sein für sie als Kameradin ihres Mannes und als Erzieherin ihrer Kinder. Bei der arbeitenden Frau liegt es mindestens ebensosehr wie in ihrem eigenen, auch im Interesse von Gesellschaft und Staat, daß sie der Familie zurückgegeben wird und als Mutter und Hausfrau ihre Pflichten wieder besser erfüllen kann.

Hier ist daher die Frauenfrage wesentlich eines der vielen Teilprobleme der großen sozialen Frage im ganzen. Indem im Industriestaat die Frau immer mehr zur Arbeiterin wird und außer dem Haus Arbeit suchen muß und findet, treten für sie dieselben sozialen Nöte, Bedürfnisse, Forderungen und Schutzmittel auf wie für den arbeitenden Mann; und da sie daneben doch immer auch Hausfrau und Mutter bleibt und bleiben soll, so kompliziert sich hier die soziale Frage noch einmal in besonders schwieriger Fassung und Form: es ist das Problem des Schutzes der Lohnarbeiterin gegen übermäßige und sozialschädliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und speziell die Mutterschutzfrage, mit der sich die sozialpolitische Debatte und die staatliche Gesetzgebung wie in allen Ländern so auch bei uns theoretisch und praktisch vielfach beschäftigt.

Aber wie in Deutschland unter den freiheitlichen Forderungen des Volkes die Preßfreiheit historisch vorantrat, so in der Frauenbewegung die Forderung einer sei es nun mit den Männern gleichen oder überhaupt nur einer höheren Bildung der Frau. Sie hatte um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert Schleiermacher als Romantiker in seinem „Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ diesen als zehntes Gebot mit auf den Weg gegeben: „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Wissenschaft und Ehre“. Schon damals war es eine individualistische Welle, wie ja die Romantik überhaupt individualistisch war; und diese wuchs nun im Zeitalter Nietzsches zum Strom heran, der gefestigte Dämme zerriß und alte Tafeln zerbrach: die Frauen wollten sich geistig emanzipieren, sich frei und unabhängig machen, wollten mit einem Wort Persönlichkeiten werden. Das ist ein durchaus berechtigtes Streben, es fragt sich nur, wie ihm Genüge getan werden kann und was aus so gebildeten Frauen werden soll; denn angesichts der Überzahl der Frauen spielen Erwerbs- und Berufssorgen doch auch hier eine Rolle.

Zunächst kam der Sturm auf die Universitäten, die Forderung, der Frau das Studium auf diesen höchsten Bildungsanstalten zugänglich zu machen. Damit hatte man [1682] die Sache freilich am verkehrten oberen Ende angefangen und darüber versäumt, erst einmal zu dieser höheren Bildung den Grund zu legen und den Mädchen die nötige Vorbildung zu schaffen. Aber taktisch war es vielleicht doch richtig: wenn das Höchste erreicht war, mußte das Niedere nachkommen; und wirklich schritt man, nachdem man eine Zeitlang die Frauen sich privatim auf das Universitätsstudium hatte vorbereiten lassen, bald genug zur Gründung von Mädchengymnasien oder erlaubte ihnen den Besuch der höheren Knabenschulen (Koedukation). 1900 hat Baden Frauen mit Abiturientenzeugnis zur vollen Immatrikulation zugelassen, anderswo wurden sie wenigstens als Hörerinnen geduldet; aber schon 1908 war es erreicht, daß auf allen deutschen Universitäten Frauen mit dem Zeugnis der Reife das volle akademische Bürgerrecht gewährt wurde; und die Mädchenschulreform in Preußen vom Jahre 1908 rief dann für Mädchen, die studieren wollten, die Studienanstalten ins Leben, die sie darauf vorzubereiten haben, während die kleineren Staaten daneben an der Koedukation festhalten, so daß nun überall für die nötige Vorbildung gesorgt ist. Ob dabei der weiblichen Eigenart immer auch genügend Rechnung getragen oder diese Vorbildung nicht der der männlichen Jugend allzu gleichartig, nicht bloß gleichwertig gestaltet ist und was die studierenden Frauen wissenschaftlich leisten, das muß sich erst noch herausstellen. Großer Fleiß, großer Ehrgeiz und mehr Rezeptivität als selbständiges Denken treten uns einstweilen unverkennbar bei Gymnasiastinnen und Studentinnen entgegen.

Das Problem ist aber heute viel mehr schon einen Schritt weiter, es ist das, was aus diesen studierenden Frauen werden soll? Verständnisvolle Genossinnen und gleichstrebende Mitarbeiterinnen ihrer Männer und hochstehende Erzieherinnen ihrer Kinder, habe ich schon gesagt, und das wird immer noch die beste Lösung sein und wird der Ehe eine solidere Grundlage geben als das bloße Kennenlernen im Tanzsaal oder auf den Lawntennisplätzen. Allein abgesehen von der Überzahl der Frauen und der egoistischen Scheu vieler junger Männer, einen Hausstand zu gründen – die notwendige Konsequenz des Frauenstudiums und die ausdrückliche Absicht derer, die dafür gekämpft haben, ist es jedenfalls, daß die, die die gleichen Studien wie die Männer gemacht und die gleichen Prüfungen abgelegt haben, ihre Kenntnisse auch beruflich verwerten wollen. In zwei Fakultäten ist ihnen das bereits gelungen: die Frau kann Ärztin und sie kann Oberlehrerin werden. Das erstere ist für Frauen- und Kinderkrankheiten ein Gewinn, das andere einfach die Fortsetzung dessen, was lange schon da war: Volksschullehrerin, Lehrerin an höheren Töchterschulen – da ist die Oberlehrerin an der Studienanstalt oder an den Lyzeen nur die oberste Sprosse der Leiter, die bisher noch gefehlt hat. Auch das Amt des Geistlichen wird ihr – wenigstens in den protestantischen Kirchen – auf die Dauer kaum verschlossen bleiben können, da ja gerade die Pflege des Religiösen den Frauen besonders am Herzen und obliegt. Daß die Frau auch als Advokat ihren Mann stellen kann, wissen wir schon von Shakespeares Porzia her; bei den Jugendgerichten jedenfalls können Juristinnen gute Dienste tun. Doch wird gerade hier die Angst vor der Konkurrenz Schwierigkeiten und Hemmungen schaffen; denkt man doch selbst bei den Männern an einen numerus clausus für die Advokatur. Dagegen glaube ich nicht, daß es der Natur der Frau und noch weniger, daß es der germanischen Auffassung entspricht, die sie ja trotz ihrer [1683] Eignung zum Herrschen von der Thronfolge ausschließt, und daß es ihr deshalb – außer etwa bei der Aburteilung Jugendlicher – sobald schon gelingen wird, als Richterin zu funktionieren. Daß sich auch die männlichen Oberlehrer sträuben, an staatlichen oder städtischen Mädchenanstalten sich einem weiblichen Direktor unterstellen zu lassen, ist freilich wenig konsequent, nachdem sie das an Privattöchterschulen doch längst schon freiwillig und ohne Arg getan haben. Immerhin zeigt es, wieviele Vorurteile, Widerstände und berechtigte oder unberechtigte Imponderabilien hier noch zu überwinden sind, bis Sitte und Gesetz zusammen die Sache definitiv geregelt haben. Unbestritten dagegen bleibt die Mitarbeit der Frau nach wie vor auf sozialem Gebiet; namentlich unsere großen Kommunen scheuen sich nicht, sie ehrenamtlich und als Berufsarbeiterin und Beamtin dafür heranzuziehen; besonders bei der Jugendfürsorge ist diese Mitarbeit in tausend und abertausend Formen erwünscht.

Frauenstimmrecht. Die Frau in politischen Versammlungen.

Noch tiefer in das öffentliche Leben greift der Kampf um das Frauenstimmrecht ein. Wie ernst es den – oder sagen wir vorläufig richtiger: einzelnen – Frauen mit dieser Forderung ist, lehren die wilden und bösartigen Kämpfe der Suffragetten in England, deren Ausschreitungen freilich sofort auch das prinzipielle Bedenken wachrufen, ob die Frau staatsbürgerlich genug – sollen wir sagen: genaturt oder geschult? – wäre, um dieses höchste Bürgerrecht ausüben zu können, das doch auch die Pflicht, beim Überstimmtwerden den Boden des Gesetzes nicht zu verlassen, in sich schließt. Jedenfalls ist es damit genau, wie mit den Kämpfen um das Frauenstudium: man fängt mit dem Letzten und Höchsten an und fragt nicht, ob auch die nötige Vorbereitung und Vorbildung dazu da ist. Und hier scheint mir dies besonders unklug und ungerecht. Gewiß ist nicht jeder einzelne Mann politisch interessierter oder politisch reifer und für das Stimmrecht geschulter als jede einzelne Frau und ist überhaupt nicht jeder dafür vorbereitet und politisch reif. Deshalb fordern wir ja heute gerade auch in Knabenschulen die staatsbürgerliche Erziehung, damit diese Mängel ergänzt und diese Lücken ausgefüllt werden. Aber daß Männer die Träger der politischen Geschichte sind, soweit unsere Menschheitserinnerung zurückreicht, die Kämpfe um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit ausgefochten und dabei gelernt, Kenntnisse, Rutine und vor allem Interesse für das Politische gewonnen haben, das läßt sich doch nicht bestreiten; und diese von ihnen geleistete Arbeit gibt ihnen gerade hier einen entschiedenen Vorsprung und ein entscheidendes Vorrecht. Jedes Gemeinderats- und Dorfschulzenamt ist ein Stück politischer und parlamentarischer Schulung zu allen Zeiten und in allen Ländern gewesen. Auf der Universität hat das Verbindungsleben den Gemeinsinn geweckt und Disziplin gelehrt, und in unseren Schulen sind selbst zu einer Zeit, wo von besonderem staatsbürgerlichen Unterricht noch längst keine Rede war, die Knaben im Geschichtsunterricht, auf unseren Gymnasien vor allem durch die Bekanntschaft mit den politischen Einrichtungen und Kämpfen der Griechen und Römer doch ganz anders für das öffentliche Leben vorbereitet worden als die Mädchen in den höheren Töchterschulen. Das alles läßt sich nicht von heute zu morgen nachholen: [1684] dazu braucht es Generationen. Auch mit der Zulassung der Frauen zu politischen Versammlungen und Vereinen durch das Reichsgesetz vom 15. Mai 1908 ist eben nur eine Ausbildungsmöglichkeit eröffnet, nicht sofort auch etwas Neues wirklich schon da. Daß in den Reden und Schriften der Frauenrechtlerinnen immer nur von der Forderung und dem Recht darauf, so selten von der Übernahme von Pflichten und vor allem von der Pflicht die Rede ist, erst einmal zu lernen und sich langsam und gründlich auf die Ausübung dieses Rechtes vorzubereiten, zeigt, wie wenig selbst die Führerinnen sich der Schwierigkeiten und der Verantwortung bewußt sind. Und ein Staatsmann hätte sich jedenfalls auch zu überlegen, nicht bloß was eine abstrakte Gleichheitstheorie und ein weder rechts noch links schauendes Pochen auf Menschheitsrechte verlangt, sondern welche Wirkungen zum Wohl oder Wehe des Staates die plötzliche Verleihung des Stimmrechts an Millionen politisch ungeschulter und uninteressierter Frauen haben müßte; ich glaube nicht, daß sich dann einer leichten Herzens zu diesem Sprung ins Dunkle entschließen möchte. Dagegen wird man zunächst einmal daran denken können, den Frauen in kirchlich-religiösen Dingen das Stimmrecht zu geben, wie das in dem Entwurf zu einer neuen Kirchenverfassung für Elsaß-Lothringen vorgesehen und gefordert ist. Und ihre Verwendung in gewissen öffentlichen Berufen der Armen- und Waisenpflege, der Jugendfürsorge und der Jugendgerichte oder auch staatlich als Telephonistin oder Postbeamtin, oder in der Schule als Lehrerin und Schulkommissionsmitglied, wird ebenfalls dazu beitragen, sie an das öffentliche Leben heranzubringen und sie ganz anders als bisher für dessen Aufgaben zu interessieren und an dessen Formen äußerlich und innerlich zu gewöhnen. So sehen wir eine Fülle von Entwicklungsmöglichkeiten, die zum Teil schon zu Wirklichkeiten geworden sind und weiteres in greifbare Nähe rücken; aber wie überall, so heißt es auch hier und soll heißen: sich von unten heraufdienen! Nur das verspricht dauernde Erfolge und gefahrfreie Fortschritte.

Daß die Frauen von dem ihnen seit 1908 zugesprochenen Recht, an politischen Versammlungen und Vereinen teilzunehmen, vielfach Gebrauch machen, gehört auch insofern zu diesen Entwicklungsmöglichkeiten, als sie dadurch Einfluß gewinnen auf die Programme, Forderungen und Anträge der politischen Parteien und damit auch auf die Gesetzgebung: man denke z. B. an den Einfluß der Rosa Luxemburg in der sozialdemokratischen Partei oder an die Verhandlungen auf der Mannheimer Tagung der Fortschrittlichen Volkspartei, bei der sich freilich auch die Widerstände selbst in den Reihen dieser Fortgeschrittenen gegen die weitgehenden Forderungen der Frauen deutlich gezeigt haben.

Umgekehrt wird man nicht bestreiten können, daß die Gesetzgebung auch ohne die direkte Mitwirkung der Frauen bisher schon an sie gedacht und für sie gesorgt hat. Selbst in dem von ihnen vielangefochtenen Bürgerlichen Gesetzbuch hat die Rechtsstellung der Frau eine wesentliche Verbesserung erfahren; und die Schutzgesetzgebung für weibliche Arbeiter ist – teilweise gegen und über die Wünsche der Gleichheitsfanatikerinnen hinaus, die die Frauen in jeder Beziehung den Männern gleich behandelt wissen wollen, während doch die Natur selbst durch die Mutterschaft, die sie ihnen zugewiesen hat, eine ungleiche Behandlung notwendig macht – gerade in Deutschland besonders sorglich ausgestaltet. Was einzelne einsichtige und wackere Arbeitgeber aus eigener Initiative [1685] getan, und was Gemeinden und die Privatwohltätigkeit im Bund mit ihnen namentlich in der Wohnungsfürsorge und in Einrichtungen für körperliche Pflege der Wöchnerinnen und für Bewahrung und Erziehung der Kinder geleistet hatten, reichte bei weiten nicht aus, und so ist der staatssozialistische Gedanke immer mehr durchgedrungen, daß im Interesse der Moral, der gefährdeten Nachkommenschaft und der zu besorgenden Hauswirtschaft besondere Schutzvorschriften von seiten des Staates erlassen werden müssen. Daß es dabei an weiblichem Drängen und weiblichem Beirat nicht gefehlt hat, hebt die Tatsache nicht auf, daß es schließlich doch die Männer gewesen sind, die so für die Frauen gesorgt haben. Auf der andern Seite wollen wir freilich nicht verkennen, daß manche Männerbrutalität in unserer Gesetzgebung steckt und durch die Frauen, die darunter leiden, rascher und gründlicher beseitigt werden könnte, wenn sie direkten Einfluß auf dieselbe hätten, als dies von einer einseitigen Männergesetzgebung zu erwarten ist. Dagegen beweist die Berufung auf Einrichtungen und Errungenschaften in Norwegen oder Finnland, in nordamerikanischen Staaten oder australischen Kolonien bei der großen Verschiedenheit der Verhältnisse für uns natürlich gar nichts. Wir Deutsche haben diese Fragen und Probleme lediglich nach unseren Bedürfnissen und Anschauungen aus uns selbst heraus und für unser Leben zu lösen und zu regeln.

„Neue Ethik“.

Aus dem Gesagten erhellt, wie energisch und wie tief die Frauenfrage und die Frauenbewegung in das ganze öffentliche Leben eingreift. Dagegen müssen wir gerade an dem Punkt, von dem wir zuallererst ausgegangen sind, dieser Bewegung mit ganz besonderer Vorsicht gegenübertreten und sie mit ganz besonders feinen Fingern anfassen: ich meine den Begriff des Nomos im Sinn der Sitte. Es ist in der Bewegung vielfach auch von einer „neuen Ethik“ die Rede, und manche Frauenrechtlerinnen, vor allem die Führerinnen der Mutterschutzbewegung, verkündigen mit lautester Stimme, daß eine solche durch die Mitwirkung der Frau kommen müsse und kommen werde. Wenn dabei an eine radikale und plötzliche Veränderung und Revolutionierung unserer ethischen, auf den Nomos im ganzen Umfang seiner Bedeutung sich beziehenden Anschauungen gedacht wird, so ist das schon deswegen abzulehnen, weil wir in diesen tiefen und unser ganzes Volksleben tragenden und bestimmenden Fragen und Problemen einen radikalen Bruch mit dem Geltenden und Bestehenden überhaupt weder wünschen noch herbeiführen dürfen und sollen, erfreulicherweise auch nicht können. Gerade in der Dauerbarkeit und Haltbarkeit des Nomos besteht ja sein größter Wert; auf ihr beruht die Stetigkeit unseres Lebens und die Gesundheit und das Gesundheitsgefühl unseres Volkes. Aber Dauerbarkeit und Haltbarkeit ist nicht Verknöcherung und Verkalkung und soll es nicht sein. Davon war ja schon wiederholt die Rede. Die Sitte ist in steter Wandlung begriffen, und trotz des in ihr steckenden allgemeingültigen und ewigen Kernes ebenso auch die Sittlichkeit, soweit sie mit ihr zusammenhängt. Ein beständiges Differenzieren und Umbilden, Verfeinern und Raffinieren findet hier statt, neue Aufgaben treten an uns heran und zwingen vor der Lösung zu tieferem Besinnen und zur Kritik am Geltenden; die Ethik als Wissenschaft ist eine kritische Wissenschaft. Und das führt denn auch den einzelnen, [1686] der auf diese Weise weiter und tiefer sieht, zum Ankämpfen gegen Unvernunft und Mißbrauch, zum sich Emanzipieren von Veraltetem und zum sich Hinwegsetzen über Schlechtes. Daß unsere Studenten in der ihnen gewährten Lebensfreiheit und in ihrem Losgelöstsein vom Elternhaus und von der Heimat, wo man sie kennt, in der fremden Stadt, wo man sie nicht kennt, sich nicht an die Philistersitte kehren und mit Spott und Ulk oder mit Trotz und Kühnheit die durch sie gezogenen Schranken rücksichtslos überspringen, das kommt nicht bloß ihnen selbst für ihre ganze weitere Lebensführung zugut, sondern ist so etwas wie ein Jungbrunnen für Sitte und Moral unseres Volkes im ganzen, indem es allen die endlichen und unvernünftigen Seiten des Nomos zum Bewußtsein bringt und gerade den führenden und leitenden Kreisen immer aufs neue solche zuführt, die einmal wenigstens in ihrem Leben sich auch der Sitte gegenüber frei gefühlt und aufgehört haben, ihre Knechte zu sein. Das ist das Interesse, das die Öffentlichkeit und das ganze Volk an der Erhaltung der studentischen Lebensfreiheit hat.

Ehe und Geschlechtsverkehr.

Daß nun auch unsere Anschauungen über das Verhältnis von Mann und Frau, über Ehe und Geschlechtsverkehr in diesen Fluß des Nomos hineingezogen werden und in beständiger Umwandlung begriffen sind, und daß auch dabei vieles nicht so ist, wie es sein sollte, darüber ist kein Zweifel. Prostitution, Ehebruch und das Leichtnehmen mit der Ehescheidung bilden dunkle Kapitel unserer Kultur; und daß die doppelte Moral, trotz ihrer in der Mutterschaft, also natürlich begründeten Unterlage die Frauen aufs äußerste empört, ist ihr gutes Recht. Aber daß es besser würde durch Lockerung der Monogamie und Anerkennung des Rechts auf freie Liebe und durch ein besonderes Hegen und Pflegen und Schützen der unehelichen Mütter und Kinder, die es heute schon vielfach besser haben als die kindergebärenden Arbeiterfrauen und deren eheliche Kinder, das vermag ich nicht zu glauben. Deshalb lehne ich diese Art von „neuer Ethik“ und den sie propagierenden Teil der Mutterschutzbewegung ab und meine nach wie vor, daß in dem Festhalten an der Heiligkeit der Ehe als monogamischer für das sittliche Leben nicht nur, sondern auch für die Volksgesundheit und Volksvermehrung, für den Schutz von Müttern und Kindern am besten gesorgt sei und mit ihr allein das Heil der Nation bestehen könne. Dieses Festhalten ist keine Heuchelei und kein Vergessen des Tatsächlichen mit seinen vielen übeln Ausnahmen und schwarzen Schatten, sondern eine sittliche Forderung, die allen Menschlichkeiten und Häßlichkeiten zum Trotz immer wieder erhoben werden muß, ein Ideal nicht als ein weltfremdes und verlogenes Schönfärben, sondern als eine unendliche Aufgabe, der wir uns freilich immer nur annähern können, der wir aber auch stetig näher kommen müssen.

Viel mehr Heuchelei scheint mir in der Behandlung der Prostitution und in anderer Weise in der des Zweikampfes zu liegen. Indem dort die Polizei mit der einen Hand reglementiert, was durch das Strafgesetz mit der anderen verboten wird, oder hier mit der einen Hand erzwungen wird, was doch gesetzlich bestraft werden muß, verwirren sich die Rechtsbegriffe und leidet das Rechtsbewußtsein des Volkes Not. In beiden Fällen schiene mir ein klares Entweder-oder so oder so für unser öffentliches Leben ersprießlicher als das einfachem Sinn unverständlich bleibende Sowohl-als-auch.

[1687]

Stand der Volksbildung.

Das öffentliche Leben hat seinen Ausdruck und sein Organ in der Sitte. Diese hängt ab von und hängt zusammen mit der Höhe der Kultur und dem Stande der Volksbildung überhaupt. Die Grundlage aller Bildung legt – neben dem Elternhaus natürlich – die Volksschule; daher scheint es gerade auch im Interesse der Einheit und Einheitlichkeit unseres Volkes zu sein, daß wenigstens die Grundlage eine einheitliche für alle sei und die Differenzierung nicht schon vom ersten Schuljahr an eintrete. Darauf beruht der Vorzug der öffentlichen Erziehung vor der privaten und darauf der nationale Wert der allgemeinen Volksschule gegenüber den sogenannten Vorschulen, über die gegenwärtig so viel gestritten wird. Die Güte unserer Bildungsanstalten bedingt nicht allein, aber doch bis zu einem gewissen, ziemlich weitgehenden Grad, und je höher hinauf, desto mehr, die Höhe der Kultur und unsere geistige Machtstellung in der Welt. Den Ausländern sind wir nicht nur das Volk des größten Landheeres und einer achtunggebietenden Flotte, sondern auch das Volk der Schulen und der Universitäten. Deswegen kann die Ausländerfrage auf unseren Hochschulen nicht von den deutschen Studenten und nach ihren Bedürfnissen allein geregelt werden; es muß immer auch an den Wert gedacht werden, den der Besuch unserer Universitäten durch Ausländer für unser Ansehen und für unsere Schätzung im Kreise der Völker draußen hat: nicht bloß daß sie deutsche Wissenschaft sich aneignen, sondern daß sie deutsches Volk und Leben, deutsche Art und Sitte kennen und von ihrer besten Seite kennen lernen, ist der Gewinn für uns; und daher haben die deutschen Studenten nicht das Recht, bloß an sich und ihre Bedürfnisse zu denken, sie haben auch die Pflicht, den Fremden diese beste Seite des Deutschtums ihrerseits zu zeigen.

Pflege staatsbürgerlicher Gesinnung.

Noch ein anderes, worauf wir oben schon hingewiesen haben, wird von der Schule erwartet: die Weckung und Pflege staatsbürgerlicher Gesinnung. Für diese hat freilich – man vergißt das oft – in erster Linie der Staat selbst zu sorgen, indem er sich seinen Bürgern lieb und wert macht. Davon war ja schon die Rede. Allein damit ist nicht alles getan. Sie müssen ihn noch vorher kennen lernen, und es muß ihnen zum Bewußtsein gebracht werden, was alles sie ihm verdanken. Daher scheint mir nicht die Belehrung über die staatlichen Einrichtungen an sich – was für eine staatsrechtliche Stellung der Kaiser, der Bundesrat, der Reichskanzler, der Reichstag habe usf. –, auch nicht eine solche über die Rechte des Bürgers im Staat das Erste und Wichtigste zu sein, sondern das Aufzeigen dessen, was der Staat dem modernen Menschen überhaupt und der deutsche Staat speziell uns Deutschen bedeutet und leistet. Das muß man schon der Jugend klar machen. Ob das am besten in besonderen staatsbürgerlichen oder richtiger: staatskundlichen Unterrichtsstunden oder nebenbei, etwa im Geschichtsunterricht geschieht, das soll uns hier nicht kümmern; und ebensowenig, daß es am richtigsten doch wohl erst in den obersten Klassen der höheren Lehranstalten und in den Fortbildungsschulen seine Stelle findet, – in diesen letzteren im Zusammenhang mit der Berufsbildung und mit Beziehung auf das, was dieser oder jener Beruf vom Staat zu erwarten und zu gewinnen und was er ihm Besonderes zu leisten hat. Aber daß die [1688] Schule für die jungen Menschen selbst so etwas wie ein Staat im kleinen ist und durch das Einleben des Schülers in seine Schule allerlei Tugenden und Anschauungen großgezogen werden, die sich später unmittelbar auf den Staat übertragen lassen, das sei als die Hauptsache hier wenigstens mit einem Wort erwähnt.

Freiwillige Jugendpflege.

Allein die Schule reicht nicht aus, sie kann nicht alles tun und machen. Daher ist eben jene freiwillige Jugendpflege als Ergänzung notwendig, die früher vielfach einseitig konfessionell gewesen ist und heute in das politische Fahrwasser zu geraten droht, statt daß man die Jugend einfach und ohne alle gegensätzlichen Nebenabsichten ihr Vaterland und ihre Heimat kennen lehrt und sie ihr lieb macht. Zu dieser Heimatkunde gehört freilich nicht bloß das Kennenlernen von Gegend und Stadt, von Land und Leuten, sondern auch das geistige Leben unseres Volks in seiner Geschichte und Literatur, in Kunst und kulturellen Leistungen überhaupt; auch deswegen muß der körperlichen Ertüchtigung der deutschen Jugend die geistige Weiterbildung als gleichberechtigt und gleich notwendig zur Seite treten und für sie Zeit und Kraft gelassen werden.

In diesem Sinn wird die Jugendpflege durch die Volksbildungsarbeit einfach fortgesetzt. Daß in dieser Arbeit viel öffentliches Leben steckt und dieses auf sie angewiesen ist und allen Wert auf sie legen muß, ist klar; auch die Arbeit der Presse gehört noch einmal hierher. Volksbildung will vor allem aufklären; und wenn man das achtzehnte Jahrhundert geradezu darnach benannt und als Aufklärungszeitalter bezeichnet hat, so sieht man schon daraus, wie wichtig für das ganze Leben und die ganze Beurteilung einer Nation diese Arbeit und der Stand der Volksbildung ist. Wir waren dabei freilich, wie schon gesagt, lange Zeit geneigt, zu intellektualistisch zu denken. Nach der Zahl der Analphabeten pflegt man das Bildungs- und Kulturniveau eines Volkes zu werten, und gewiß ist es für die wirtschaftliche und die politische Selbständigkeit eines Volkes wertvoll, daß alle lesen und schreiben können. Aber dabei dürfen wir den Schatz der Bildungstradition, wie ihn z. B. das an Analphabeten reiche Italien vor uns voraus hat, und mehr noch den überragenden Wert großer Einzelner nicht übersehen: was ein Mann kann wert sein, haben wir in der Geschichte unseres Volkes oft genug erfahren. Allein auf der andern Seite neigen wir heute schon wieder dem anderen Extrem zu, einer Unterschätzung des Intellektualismus, und wollen den sittlichen Wert, der in so einfachem Tun, wie dem Lesen eines guten Buches und in der Willensanspannung der Aufmerksamkeit auf seinen Inhalt steckt, und die geistbildende Kraft des Zwischen-den-Zeilen-lesens (intellectus von inter-legere) nicht sehen.

Kunst und Volk.

Doch sucht sich die Volksbildungsarbeit von solchen Einseitigkeiten freizumachen, sie beschränkt sich nicht mehr auf den Kopf allein, wenn der Weg über ihn gleich immer der nächste und ihr am meisten zugängliche bleiben wird. Sehen wir ab vom Religiösen mit seinem gefühlsmäßigen Ausgangspunkt, das wir den Kirchen zuweisen und ihnen mehr oder weniger vertrauensvoll überlassen können, so ist es auch die Kunst, für die wir das Volk gewinnen und zu deren [1689] Verständnis wir es erziehen wollen. Wenn über Fragen der Kunst öffentliche Streitigkeiten ausbrechen – über die Aufstellung eines Brunnens mit nackten Figuren oder über die sogenannte lex Heinze im deutschen Reichstag –, so zeigt sich, wie hoch hinauf die künstlerische Unbildung und die ästhetische Hilflosigkeit reicht und wie kleinlich und ängstlich die Menschen der Kunst gegenüber sind – gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus Mangel an künstlerischem Sinn und an Erziehung zur reinen und freien Auffassung von Kunstwerken. Deshalb fordert man „Volkskunst“ und fordert in Schriften und auf Kunsterziehungstagen die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend; und Männer wie Lichtwark in Hamburg machen es uns vor, wie wir es dabei anzufangen haben. Die Aufgabe ist klar: das Volk so zu erziehen, daß es das Schöne als Schönes sieht und nicht überall nur Sinnenkitzel sucht und findet, es zu reinerem und feinerem Genießen emporzubilden und auf diese Weise allerlei böse Geister, vor allem den des Alkohols in unserem Volksleben bannen zu helfen. Hier kann man im richtigen Sinn sexuelle Aufklärung und sexuellen Anschauungsunterricht treiben, indem man die Kinder, noch ehe der Geschlechtstrieb erwacht, in Galerien oder sonst auf Bildern unbefangen nackte schöne Menschenkörper sehen läßt und sie so zum unsinnlichen Betrachten derselben und zu unstofflichem und interesselosem Wohlgefallen daran erzieht. Es ist das wirklich eine Schicksals- und Zukunftsfrage für unser von den Grazien nicht allzu reich mit Schönheitssinn ausgestattetes deutsches Volk und seine kulturelle Entwicklung. Auch unserem Kunstgewerbe werden diese Kunsterziehungsbestrebungen zugut kommen und uns damit für den Wettbewerb mit anderen Nationen, wie er auf Weltausstellungen in die Erscheinung tritt, besser ausrüsten.

Allein die Frage ist auf der andern Seite doch nicht abzuweisen, ob wir mit dem Strom von intellektueller Aufklärung und von künstlerischer Erziehung, den wir in der Volksbildungsarbeit immer reicher und voller sich über unser Volk in Stadt und Land ausgießen, nicht ein anderes Übel, das der Halbbildung fördern und hervorrufen. Ich würde diesen Einwand für erheblicher halten, wenn ich nicht die Gegenfrage parat hätte: wer ist denn überhaupt ganz gebildet? und wenn ich in der Bildung etwas Fertiges und Abgegrenztes und nicht vielmehr vor allem die völlige Aufgeschlossenheit des Sinnes für alle neuen Eindrücke, die Aufnahmefähigkeit für alles Wahre und Schöne und Große und die absolute Duldsamkeit auch für andere abweichende Anschauungen und Bildungswege sähe. Es gibt keine abgeschlossene Bildung und keinen alleinseligmachenden Bildungsweg. Deswegen mußte der eine Zeitlang auch die Öffentlichkeit beschäftigende Streit zwischen „Humanisten“ und „Realisten“ mit der Anerkennung der Gleichwertigkeit beider Richtungen endigen, die in der Gleichstellung der Gymnasien und der Oberrealschulen ihren Ausdruck gefunden hat. Daß darum doch für gewisse Berufe und Studien der eine Weg vor dem andern den Vorzug verdient, bleibt davon unberührt und darf in der Praxis nicht vergessen werden; wenn nur nicht Gründe einer falschen Vornehmheit die Wahl des Weges bestimmen, kann man das Finden des Richtigen getrost der Sitte und dem gesunden Menschenverstand überlassen.

Individualismus und Sozialismus.

Ein anderer Einwurf gegen die Volksbildungsarbeit dringt tiefer. Wonach haben [1690] wir das Bildungsniveau eines Volkes zu werten, haben wir gefragt; nach dem Stand der allgemeinen Volksbildung, die immer auf Durchschnitt und Mittelmaß, um nicht zu sagen: Mittelmäßigkeit berechnet ist und darum keine allzu hohe sein kann und sein darf, oder nach der Bildungshöhe der gebildetsten, der intellektuell und moralisch, ästhetisch und religiös höchststehenden einzelnen? Es ist das alte Problem, das uns immer wieder entgegentritt: Einzelne und Individuen oder Massen und Volk im ganzen? Individualismus oder Sozialismus? das ist die Frage auch hier. Aber gerade hier zeigt sich uns auch die einzig mögliche Lösung. Beides, ist natürlich die Antwort. Nämlich so, daß die höchstgebildeten Individuen zunächst einmal an sich selber denken und für sich selber sorgen. Daß der Künstler, der Forscher immer ein Einsamer und ein auf der Menschheit Höhen wandelnder Vornehmer ist, das ist die aristokratische Einrichtung aller Kultur. Aber wenn sich der einzelne so emporgebildet hat zur Höhe, dann tritt nun auch die Pflicht an ihn heran, an andere, an das Volk und an sein Volk zu denken. Genie ist schenkende Tugend, sagt Nietzsche; dieses Wort drückt aus, was wir meinen. Jeder, der sich bildet, bildet sich nicht nur für sich, sondern auch für andere. Der Schriftsteller, der Künstler, der Dichter, der Gelehrte, der Erfinder – sie alle denken und haben zu denken an die Sache, in deren Dienst sie stehen und die immer eine überindividuelle ist. Diese Sache aber, heiße sie nun Wissenschaft oder Kunst oder wie sonst immer – ist nicht um ihrer selbst willen in der Welt: l’art pour l’art ist ein ganz törichtes Wort. Wie der Sabbat um des Menschen, nicht der Mensch um des Sabbats willen da ist, so sind auch alle diese überindividuellen Kulturgüter um des Menschen, in erster Linie um eines bestimmten Volkes, im weiteren um der ganzen Menschheit willen und für dieses Volk und für die Menschheit da. Der große Erfinder weiß das und gibt es zu. Der Künstler wird es zunächst nicht anerkennen wollen: er schafft, wie sein Daimonion ihn treibt, und denkt dabei um so weniger an das Volk, je genialer und origineller sein Werk zu werden verspricht; er fühlt sich als Einsamer, sein Leid und Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall selbst macht seinem Herzen bang; gerade das Tiefste und Eigenartigste daran kann sie ja doch nicht verstehen. Und trotzdem steht auch bei dem Einsamsten und Stolzesten im Hintergrund die Hoffnung, daß er durch sein Werk die anderen zum Verstehen und zum Mitgehen erziehen und in seine Bahnen zwingen werde.

Er will und soll aber auch ausdrücklich im Sinn des Schillerschen Wortes auf das Volk wirken:

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben: bewahret sie!
Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.

So ist er ein Diener des öffentlichen Lebens oder, wenn er lieber will, ein Priester und Hohepriester desselben. Dazu ist er aber auch um deswillen verpflichtet, weil er auch seinerseits von diesem öffentlichen Leben beeinflußt ist als ein Sohn seines Volkes und seiner Zeit. Daß in der Ära Bismarck die Kunst realistisch wurde und unter Kaiser Wilhelm II. eine Neuromantik aufkam, und daß unsere Baukunst in einer mehr wissenschaftlich als künstlerisch hoch entwickelten, mehr suchenden als besitzsicheren Periode eklektisch nach einem Stil sucht, das sind alles Beweise für die tausend und abertausend unterirdischen Zusammenhänge zwischen Kunst und öffentlichem Leben. Und will man [1691] dafür ein äußeres Zeichen, so denke man an den Versuch, im Interesse des Parsifal, also um eines einzelnen Künstlers und eines einzelnen Kunstwerks willen, die Klinke der Gesetzgebung in Bewegung zu setzen.

So versöhnen sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens und versöhnen sich auch in dem Begriff der Volksbildung Individualismus und Sozialismus immer wieder miteinander. Das Volk wird in seinem Denken, Fühlen und Wollen immer abhängig sein und den Bildungsstoff stets aus zweiter Hand sich geben lassen müssen; daher braucht es Vorbilder und Führer, Lehrer und Leiter auch hier. Die Volksbildung ist, wie schon ihr Name sagt, demokratisch, da sie auch den Genialsten und Höchstgebildeten in den Dienst des Volkes stellt; sie ist aber nicht weniger auch aristokratisch oder gar monarchisch, da erst die Führer aus dem Haufen und der Masse ein Volk schaffen und es sich geistig Untertan machen und in ihre Gefolgschaft zwingen. Und doch ist letzten Endes auch das wieder demokratisch: es ist auch für das Volk der Weg zur Höhe, wo die Freiheit wohnt, ist Hilfe zur Selbsthilfe, ein Bilden zum Selbständigwerden und Sichselberbilden. Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen – das ist das Ziel aller Volksbildungsarbeit.

Rückblick und Ausblick.

Diese Ausführungen haben nicht darstellen können, was in dem bestimmten Zeitraum der letzten 25 Jahre sich entwickelt, gestaltet und gewandelt hat; das öffentliche Leben ist ein Kontinuum, das beständig, aber für unser Auge unsichtbar, für unsere Hand ungreifbar anders und immer wieder anders wird. Sie konnten daher nur versuchen, an gewissen Erscheinungen der Gegenwart aufzuzeigen, wie es heute ist. Erst wenn wir weitere Strecken rückwärts gehen, wird uns der Wandel deutlich. Vor 120 Jahren hat Wilhelm von Humboldt in seinen „Ideen“ versucht, „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Es war ein Protest gegen den viel regierenden und alles bevormundenden Polizeistaat des aufgeklärten Despotismus, der diese Grenzen so weit als möglich gezogen und sich beschränkend und hemmend in alles und alles eingemischt hatte. Dagegen hat ihm Humboldt jede Kulturaufgabe abgesprochen und ihm lediglich den Schutz nach innen und nach außen als Aufgabe zugewiesen; namentlich habe er sich schlechterdings alles Bestrebens zu enthalten, „direkt oder indirekt auf die Sitte und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern dies als eine natürliche, von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings notwendigen Maßregeln unvermeidlich sei“. Das war das Staatsideal des Individualismus mit seiner Innerlichkeit und seinem sich selbst genügenden In-und-durch-sich-selber-sein: alles war privat und persönlich und sollte es bleiben. Dieser Auffassung trat in den Tagen der Schlacht von Jena Hegel in seiner Phänomenologie und noch ausdrücklicher 1820 in seiner Rechtsphilosophie entgegen und entwickelte ein sich an der Staatsomnipotenz des klassischen Altertums orientierendes Staatsideal ganz anderer Art, worin der Staat sozusagen alles war und als Träger des Nomos das ganze Leben des Volkes bis in sein Innerstes und Intimstes, bis in seine Gesinnung hinein für sich in Anspruch nahm: hier war nichts privat, alles öffentlich. Diese Hegelschen Gedanken haben im neunzehnten Jahrhundert mehr [1692] und mehr den Sieg davongetragen über die „Ideen“ Humboldts. Schulen und Universitäten, Wissenschaft und Bildung sind verstaatlicht, und vielfach ist das Problem gerade das, wie sie sich dem Staat gegenüber in ihrer Selbständigkeit behaupten oder wenigstens einen Rest von Selbständigkeit sich erhalten können. Der Staatssozialismus beherrscht in Theorie und Praxis das wirtschaftliche Leben, wie umgekehrt dieses den Staat und seine Gesetzgebung, die innere und die äußere Politik beherrscht. Der Verkehr, der früher privat war, ist vom Staat monopolisiert und in Post und Eisenbahnen, in Telegraph und Telephon zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden; und auch das, was scheinbar privat geblieben ist, Handel und Industrie und Bankwesen, wird dadurch zu einer öffentlichen Angelegenheit, daß sich große Verbände und Interessengemeinschaften bilden, die schon durch das Riesige und Großartige dieser Zusammenballungen die öffentliche Aufmerksamkeit erzwingen; und weil so viele, aktiv oder leidend, an ihnen partizipieren, ist an ihrem Prosperieren oder an ihrem Zusammenbrechen die Gesamtheit irgendwie mitinteressiert; als Staat im Staat stehen sie dem wirklichen Staat selbst wieder als Macht gegenüber und suchen auf seine Maßregeln und seine Gesetzgebung Einfluß zu gewinnen, ihn geradezu von sich abhängig zu machen. Unsere auf immer zahlreichere privatim Beschäftigte und Angestellte sich ausdehnende Versicherungsgesetzgebung, die schließlich jeden zum pensionsberechtigten Beamten macht, zeigt uns dabei noch einmal die beiden Seiten einer solchen Erweiterung staatlichen Eingreifens und staatlicher Fürsorge: indem sie den einzelnen in Krankheitsfällen und im Alter vor der äußersten Not schützt, macht sie unser aller Leben sicherer und bequemer, nimmt der Hilfe das Willkürliche und Zufällige und erspart viel unnötiges Sorgen und Besinnen; aber auf der anderen Seite führt sie auch die Gefahr herauf, daß Wagemut und eigene Initiative zu früh erlahmen und über der Staatshilfe die Selbsthilfe versäumt wird; das sittlich Kräftigende und Stählende in dem „Mensch, hilf dir selber“ geht darüber verloren. Oder: ein Streik ist an und für sich lediglich Privatsache; trotzdem kann er in Zustimmung oder Verurteilung die öffentliche Meinung aufs heftigste erregen, mit ihrer Hilfe siegen oder weil sie sich ihm versagt, unterliegen und schließlich, nicht erst durch den Terrorismus gegen Arbeitswillige oder in der Form des Generalstreiks, zu einer öffentlichen Gefahr werden und das Einschreiten der öffentlichen Gewalten nötig machen. Das eben ist das Eigentümliche an unserem modernen Leben, daß, was eben noch Privatsache gewesen ist, im nächsten Augenblick schon zu einer öffentlichen Angelegenheit wird; das Umgekehrte, das Freilassen und Freigeben eines Staatlichen an die private Initiative ist weit seltener. Darum gibt es kaum etwas, das man heute nicht zum öffentlichen Leben rechnen könnte und das nicht eine dem öffentlichen Leben zugewandte Seite hätte.

So hat dieser Abschnitt in der Weite seiner Aufgaben, die in engem Rahmen nicht erschöpft werden können, vieles von dem noch einmal berühren müssen, was in den einzelnen Kapiteln dieses Werkes zerstreut je an seinem Ort ausführlicher dargestellt worden ist. Das öffentliche Leben ist heute der große Leviathan, wie Hobbes den Staat genannt hat, das Übergreifende und Allgewaltige, das alles verschlingt und demgegenüber sich der einzelne nur mühsam in seiner Existenz und seinem Recht behauptet. Wer sich von ihm nicht völlig verschlingen und um Schwungkraft, Initiative und Selbständigkeit [1693] bringen lassen will, der muß alle Kraft aufbieten, um als einzelner zu bleiben und immer mehr zu werden, der er ist, eine Persönlichkeit, die sich neben dem Allgemeinen noch einige Sonderrechte vorbehält. Nur der Starke kann sich heutzutage ihm gegenüber behaupten und durchsetzen und sich aus der Rolle eines bloßen Atoms und Massenteilchens zur eigenen inneren und äußeren Selbständigkeit und zur Führerschaft über andere durch- und emporringen. Denn immer noch gilt auch im Zeitalter der Demokratie und des Staatssozialismus für Volk und Knecht und Überwinder das Goethewort:

Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit,

und der Goethetrost:

Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.

Darum ist es die große Gunst der Stunde, daß der, dessen Name an der Spitze dieses Werkes steht, daß Kaiser Wilhelm II., in dem sich als in der sichtbar monarchischen Spitze die Macht des öffentlichen Lebens unserer Nation verkörpert, zugleich eine so ausgesprochene Persönlichkeit mit stark ausgeprägten Eigenzügen ist. Als solcher beschäftigt der in den Mittelpunkt deutschen Lebens gestellte Fürst das Ausland aufs lebhafteste; für unser Volk aber, in dem das Monarchische so festgewurzelt ist, ist dieses ganz Persönliche wertvoll als Vorbild und Symbol zugleich. Wenn jeder, der im öffentlichen Leben steht und davon absorbiert zu werden fürchtet, in dieser entschiedenen Weise an dem Reservatrecht seiner Persönlichkeit festhält und sich nicht scheut, gelegentlich einmal auch seinen Kopf und sein Herz, seine Überzeugung und seinen Willen gegen die Allgemeinheit und ihre Organe oben und unten zu riskieren und zu behaupten, dann und nur dann kommen wir zu der gesuchten Synthese von Sozialismus und Individualismus, die wir für unser öffentliches Leben als den Weg zum sozialen Frieden und als Mittel zur Gewinnung von Führern für die Massen so notwendig brauchen. Das öffentliche Leben mit Persönlichkeit erfüllen, was wir als Organe der Öffentlichkeit zu tun und zu leisten haben, mit eigenem Geist und eigenen Gedanken, mit Herz und mit Charakter treiben, das bewahrt vor Mechanismus und Schablone und macht das öffentliche Leben erst zu einem Lebendigen und zu einem Reichen. Nur das wahrhaft Lebendige aber ist wert gelebt zu werden. Wir Deutsche sind nach langem Schlaf und schweren Träumen seit fünfzig Jahren zum Leben erwacht, alles um uns, unter uns und in uns ist lebendig geworden und atmet Leben: darum ist „Leben“ das Losungswort der Zeit, Lust am Leben und Wille zum Leben ihr innerster Nerv und ihre höchste Kraft.

Mit diesem Willen gehen wir aus einer reichen und bewegten Gegenwart getrost und mutig der Zukunft entgegen, als die da leben und wissen, daß das Lebendige fertig werden kann mit dem, was krank ist unter uns, und das Starke fertig werden kann mit dem, was Gefahr droht außer uns, gehen ihr entgegen mit dem sieghaften Ruf:

Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?