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Der Gespensterlöwe

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Autor: W. Belka
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Titel: Der Gespensterlöwe
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein Abenteuerromanzyklus, welcher die Bändchen 89–96 umfaßt. Handlungsort ist Arabien.
Band 90 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
90. Band. Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.
90. Band Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.


Der Gespensterlöwe.
Er durchschnitt Pauls Fesseln.


[1]
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)


Der Gespensterlöwe.
W. Belka.


1. Kapitel.
Die Kupfermine.

Hin und wieder flackerte das durch Distelstauden und getrockneten Kameldünger genährte Feuer höher auf und beleuchtete dann mit unruhigem, rötlichem Schein die Gesichter der fünf Männer, die in einer geräumigen Felsgrotte auf dicken, faserigen Matten lagen und soeben ihre Abendmahlzeit, saftige, in der Glut geröstete Lendenstücke einer Antilope, eingenommen hatten.

Jetzt wälzte sich der eine, geradezu ein Hüne von Gestalt, auf die Bauchseite, stützte den Kopf in beide Hände und sagte, indem er den Jüngsten des Kreises aufmunternd anblickte:

„Na – wie wär’s nun?“

„Aha“, lachte da der kleine, dicke Karl Bolz, von seinen Gefährten nur der rote Knirps ob seines rötlichen Haarwuchses und seiner allzu gedrungenen Figur genannt, – „aha, Kürze-Würze wird ungeduldig, hat soeben [2] ganze vier Worte gesprochen, – – für ihn eine Leistung!“

So klein der Knirps auch war, – eine Stimme hatte er, die „direkt aus dem Magen kommen muß, so tief ist sie“, wie der Ingenieur Fritz Tümmler stets behauptete, der nun ebenfalls den Mund auftat und meinte:

„Ich bin ebenfalls auf Paul Lorings Erzählung über aus gespannt – wie ein Flitzbogen!“

„Bei Dir kein Wunder“, ulkte der Knirps. „Du bist so lang und hager, daß man aus Dir in getrocknetem Zustand wirklich leicht einen Bogen machen kann.“

Dieses Wortgeplänkel entlockte dem einzigen Farbigen des Kreises, einem Mischling von Somali-Neger und Araber, ein kaum merkliches Lächeln.

Auch Paul Loring, ein schlanker, helläugiger, ganz in Felle gekleideter Bursche von etwa sechzehn Jahren, legte sich jetzt auf seiner Matte bequemer zurecht und hob dann wie Schweigen gebietend einen Augenblick die Hand, lauschte eine Weile angestrengt und sagte dann:

„Die Schakale und die Hyänen unten in der Schlucht streiten sich um die Reste unseres Wildbrets. Ihr Heulen und Kläffen ist besser als das drohende nächtliche Schweigen der weiten Wüste. Wir müssen auch hier vorsichtig sein. Es wäre nicht das erstemal, daß Männer vom Stamme der Mula Resch sich hierher verirren. Und die Mula Resch zahlen niemandem Tribut, weder dem Padischah in Konstantinopel noch dem Sultan von Oman.“

Der rote Knirps hatte sich plötzlich aufgerichtet und lauschte nun gleichfalls in die Nacht hinaus, deren Töne durch den schmalen Eingang zu dem Felsenversteck nur gedämpft vernehmbar waren. In seinem feisten Gesicht spiegelte sich gleichzeitig eine gewisse Unruhe wider. Dem dürren Ingenieur entging dies nicht, und er sagte daher mit gutmütigem Spott:

„Lieber Bolz, Du witterst wohl schon wieder neue Schrecken! – Keine Sorge: Der Löwe ist ja nun glücklich … „erlegt“, und die Mula Resch werden wohl nicht gerade heute der Schlucht einen Besuch abstatten.“ Bei dem Worte „Löwe“ hatte er mit der Hand nach einer Ecke hingedeutet, wo das Fell eines prächtigen männlichen [3] Löwen ausgebreitet am Boden lag. Aber – dieses Fell war kein frisches! – Nein, vielmehr bereits sauber gegerbt und an den Rändern mit kleinen Riemen und Löchern versehen, ebenso wie auch der Schädel des Raubtieres noch teilweise vorhanden war.

Der Knirps zuckte auf Fritz Tümmlers „zarte“ Anspielung hin nur die Achseln, wandte sich dann an den blonden, schlanken Paul Loring und bat, dieser solle nun doch mit seiner Erzählung beginnen.

Der Jüngling tat’s. Einleitend aber bemerkte er, daß er sich möglichst kurz fassen wolle, da er sonst Tage zu seinem Bericht gebrauchen würde. – –

„Ich bin das einzige Kind meiner Eltern und in Nürnberg geboren. Daher auch mein leicht bayrischer Dialekt. Mein Vater war Mechaniker. Da er aber in Nürnberg nicht recht vorwärtskam und außerdem in ihm ein gut Teil Abenteuerlust schlummerte, ging er mit einer deutschen Firma in Hamburg einen Vertrag ein, durch den er sich für zwei Jahre verpflichtete, im Auslande für dieses Unternehmen tätig zu sein. – Ich war genau zwölf Jahre alt, als wir Hamburg verließen und den weiten Weg nach Maskat zu Schiff antraten. Maskat ist bekanntlich die Hauptstadt und auch der Haupthafen des unabhängigen Sultanats Oman, das an der Nordostküste Arabiens liegt und reiche Bodenschätze an Erzen birgt, deren Ausbeutung jene Hamburger Firma versuchen wollte.“

Der rote Knirps schlenkerte jetzt ganz erregt mit der Hand in der Luft herum.

„Ein merkwürdiger Zufall!“ rief er. „Wirklich – sehr merkwürdig! Du sprichst von Oman, mein Junge, und gerade der Sultan dieses Landes ist es, der die beiden Landsleute gefangen hält, die wir befreien wollen.“

Paul Loring schien recht überrascht zu sein, ging aber nicht weiter auf die Zwischenbemerkung des Knirpses ein und fuhr fort:

„Der Herrscher von Oman, Said Feysal, steht schon seit langem vollständig unter englischem Einfluß. Natürlich legten die Herren Engländer der deutschen Firma, die ihnen nun in Maskat Konkurrenz machen wollte, alle [4] nur möglichen Hindernisse in den Weg, so daß das Unternehmen nicht recht in Fluß kam. Erst nach einem Jahr gelang es dem Vertreter der Gesellschaft, von dem Sultan das Recht des Abbaus einer weit im Innere des Küstengebirges gelegenen Kupferader zu erwerben. Bis dahin hatte mein Vater in Maskat eigentlich nur den Bureauschreiber für die neue Zweigniederlassung der Gesellschaft gespielt, was ihm bei seinem unruhigen Geiste und seinem ungezügelten Tatendrang wenig behagte. Er atmete ordentlich auf, als er nun mit Sack und Pack, Kind und Kegel sich der Expedition ins Innere anschließen konnte.

Außer meiner Mutter, einer kräftigen Frau, die sich sehr leicht in jede Lebenslage hineinfand, machte nur noch die Gattin des leitenden Ingenieurs Faber die Reise mit. Die Expedition war vorzüglich ausgerüstet! Auf Lastkamelen wurden auseinandergenommene Maschine, reichlich Proviant und anderes mehr mitgeführt. Für die Frauen und mich war ein sogenannter Tachtirwan da, ein zeltartiger Tragsattel, der auf dem Rücken des stärksten Kameles befestigt wurde.

Bereits unterwegs merkten wir, daß die Engländer überall dort, wo wir bewohnte Landstriche passierten, die eingeborene Bevölkerung gegen uns aufgehetzt hatten. Die Bewohner jener Gegenden waren hauptsächlich halbwilde, seßhaft gewordene Beduinen vom Stamme der Rafri, die sich durch Tapferkeit, Ehrgefühl und Rachsucht auszeichnen, aber auch den Wert des Geldes schon so weit schätzen gelernt haben, daß sie für einen einzigen Mariatheresientaler oft einen Mord begehen, wenn ihnen nebenbei nur noch vorgeredet wird, der bei seite zu Schaffende habe einem ihrer Stammesgenossen etwas Böses angetan. – Ich muß hier einflechten, daß die Mariatheresientaler in Oman sehr gern in Zahlung genommen werden, obwohl das Sultanat eigene Kupfermünzen hat.

Jedenfalls erlebten wir auf der Reise nach unserem Bestimmungsorte bereits allerlei Abenteuer, die recht unangenehm hätten auslaufen können, wenn nicht gerade [5] die Wachsamkeit und die Schlauheit meines Vaters uns so vortrefflich geschützt hätten.

Obwohl ich damals erst knapp dreizehn Jahre alt war, nahm ich doch schon an allem den lebhaftesten Anteil, verstand mit meiner leichten Büchsflinte gut umzugehen und begleitete den Vater oft auf nächtlichen Kundschaftergängen, die nötig waren, um der Expedition die Wege zu sichern. Als wir nach zehntägigem Marsch in dem Felsentale anlangten, wo die Kupfermine lag, waren alle Mitglieder der Reisegesellschaft, die aus fünf Deutschen und einigen dreißig farbigen Arbeitern und Kameltreibern bestand – alles übles Gesindel dies! von Herzen froh, daß die stete Angst vor nächtlichen Überfällen und heimtückischen Kugeln nunmehr aufhörte.

Das Tal bildete den Mittelpunkt eines wild-romantischen, in die arabische Wüste sich hineinerstreckenden Gebirgsausläufers, wie ja Oman überhaupt ein weites Gebirgsland ist, in dem fast unmittelbar vom Persischen Golf sich Bergreihe an Bergreihe auftürmt, bis dann der Übergang nach dem endlosen Sandmeer der Wüste genau so plötzlich eintritt, indem aus dem gelblichen Sande schroffe Gebirgsketten jäh aufsteigen, so wie riesige Mauern oder wie Ruinen ungeheurer Burgen. Die Gesteinsarten dieser Gebirgsstätte sind zumeist Glimmer- und Tonschiefer, oft von Porphyrmassen durchbrochen …“

„Donner noch eins, Junge, – Du bist ja der reine Gelehrte!“ lachte der Ingenieur Tümmler, indem er Paul Loring anerkennend auf die Schulter klopfte.

„Mein Vater war nur Mechaniker“, meinte der Jüngling mit gewissem Stolz. „Aber belesen war er wie ein Allerweltsgelehrter. Und einen Bildungsdrang besaß er wie selten einer. – Doch ich will nicht vom Thema abschweifen. Die Umgegend des Tales war ganz unbewohnt, was uns nur lieb sein konnte. Das nächste Dorf lag gute acht deutsche Meilen nach Norden zu. So glaubten wir uns denn, nachdem ein Monat ohne störende Zwischenfälle verflossen war, ganz sicher fühlen zu können. – Ich führte ein recht ungebundenes Leben. Gewiß – mein Vater hatte eine Menge deutscher Schulbücher mitgenommen und unterrichtete mich in seiner freien Zeit [6] so gut es ging. Daß mir aber noch genug Zeit übrig blieb, um die Gegend abzustreifen und sozusagen den Jäger für unsere kleine Kolonie zu spielen, ist wohl selbstverständlich.




2. Kapitel.
Der falsche Missionar.

So lernte ich denn besser wie jeder andere der Männer unseres Trupps den Gebirgsausläufer kennen. Ich war trotz meiner Jugend ein strammer Bursche, gewandt, verwegen und abenteuerlustig wie mein Vater. Mit meiner Büchsflinte, die eigentlich ein Damengewehr war, stellte ich den Bergschafen nach, hielt uns Schakale und Hyänen vom Halse, die uns oft von der Wüste her heimsuchten, und – – fühlte mich bei alledem natürlich überaus wohl.

Dann erschien eines Tages in unserem Langer ein englischer Missionar, der angeblich den umwohnenden Eingeborenen das Christentum predigen wollte, bat um Unterkunft und fand auch gastliche Aufnahme, obwohl mein Vater dem scheinheiligen, überhöflichen Briten keineswegs traute und dem leitenden Ingenieur dringend geraten hatte, den fremden Glaubensapostel auf unauffällige Art fortzuekeln.

[7] Der Engländer hieß Schlook. Ich mochte ihn von Anfang an nicht leiden. Aber im Lager hatte er bald unter unseren Farbigen eine starke Anhängerschaft, und auch Frau Faber ließ sich von dem gerissenen Herrn „völlig einwickeln“, wie man zu sagen pflegt.

Oft verschwand Schlook ganze Tage, angeblich, um die Heiden in den nächsten Dörfern zu bekehren. Nachdem er dann etwa zwei Monate unser Gast gewesen war, merkten wir, daß unsere farbigen Arbeiter immer unbotmäßiger und frecher wurden. Außerdem fanden sich jetzt häufig Männer vom Stamme der Ramar ein, die – – wie die Raben stahlen, denen wir aber alles nachsehen mußten, um sie nicht gegen uns aufzubringen.

Dann wieder versagten die Maschinen jetzt nur allzu häufig. Mein Vater, der die Oberaufsicht über die technischen Anlagen hatte, konnte eines schönen Tages mit größter Bestimmtheit feststellen, daß an der einen Fördermaschine absichtlich aus einem Zahnrad ein Stück herausgeschlagen war.

Doch der leitende Ingenieur, dem gegenüber mein Vater den edlen Master Schlook als den Täter bezeichnete, stand zu sehr unter dem Einfluß seiner Frau, die auf des Briten Harmlosigkeit und vornehme Gesinnung jeden Eid geschworen hätte. So konnte mein Vater denn nichts gegen Schlook ausrichten, beauftragte nunmehr jedoch mich damit, dem heuchlerischen Schlook heimlich nachzuspüren. Der Zufall wollte es, daß ich bald Gelegenheit fand, mich davon zu überzeugen, was der fromme Engländer in Wirklichkeit war.

Etwa eine Meile östlich von unserem Tale lag ein zweites, in dem es ebenfalls eine starke Quelle und eine reiche Vegetation gab, – reich für jene Gegenden, in denen man schon über jedes Tamarisken- und Ginstergestrüpp erfreut ist. – Nun – in jenen Tälern kamen sogar Dattelpalmen neben Sykomoren und Aloesträuchern, Baumwacholder und dem gefährlichen, äußerlich aber so hübschen Adenium-Baume vor.“

„He – halt – einen Momang!“ rief der Knirps jetzt. „Adenium – was ist das für ’n Ding?“

„Ein niedriger, kaum drei Meter hoher, dabei aber [8] über einen Meter dicker Baum, dessen tief herabhängende Zweige an den Enden zahlreiche oleanderähnliche Blüten tragen. Der Adenium ist ein echtes Tropengewächs, siedelt sich auf den Sonnenseiten der Bergabhänge in Mengen an und bedeckt die Felswände mit einem förmlichen Rosenflor, – ein wunderhübscher Anblick! Und doch …! Derselbe Baum liefert in seinem Blättermilchsaft ein böses Herzgift, und die Eingeborenen der wasserreicheren Gegenden Arabiens verstehen es, mit Hilfe dieses Saftes Fische in Unmassen zu betäuben, die sie aber nicht etwa als Nahrung, sondern – als Düngemittel für ihre Felder benutzen. – – Doch zurückt zu Master Schlook. In jenem zweiten Tale überraschte ich ihn eines Tages im Gespräch mit zwei anderen Engländern, die mir von Ansehen bereits von Maskat her bekannt und gerade unsere gefährlichsten Widersacher waren. Die drei bemerkten mich nicht. Wie eine Schlange kroch ich immer näher auf sie zu. Ich hatte inzwischen genug Englisch gelernt, um ihre Unterhaltung belauschen zu können. Auf diese Weise stellte ich fest, daß Schlook nicht Missionar, sondern Vertreter einer Konkurrenzfirma war und die Absicht hatte, die umwohnenden Eingeborenen gegen uns Deutsche aufzuhetzen.

Leider schenkte mir der verblendete Herr Faber auch jetzt keinen Glauben, sondern meinte, ich hätte mich sicher verhört, und anderes mehr. Mein Vater war über diese Kurzsichtigkeit seines Vorgesetzten so aufgebracht, daß es zwischen den beiden Männern zu einer erregten Aussprache kam, die leider eine heimliche Zeugin – Frau Faber – hatte. Und diese Dame, von dem Engländer völlig betört, hatte dann nichts Eiligeres zu tun als Master Schlook unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit zu berichten, was ich gegen ihn ausgesagt hatte.

Die Folgen dieser Unvorsichtigkeit zeigten sich erst einen Monat später. Der Engländer war jetzt vorsichtiger, gab sich keinerlei Blößen mehr und benahm sich gerade mir gegenüber überaus liebenswürdig, unterrichtete mich in verschiedenen Fächern und erreichte so, daß selbst meine Eltern schon in ihrer Ansicht über ihn schwankend wurden.

[9] Dann kam jener Sonntag, den ich wohl nie vergessen werde – nie! Am Nachmittag machten wir, meine Eltern und ich, einen Ausflug nach einem Felsgrat, von dem aus man einen wundervollen Fernblick über die Wüste hatte. Wir hatten uns einen Rucksack mit Lebensmitteln mitgenommen und wollten dort den Sonnenuntergang erwarten.

Es war im August, und die Hitze war bei der herrschenden Windstille mehr als erschlaffend. Als wir jenen vorspringenden Felsen erreicht hatten, mußte meine Mutter sich sofort niederlegen, da sie von dem Marsch vollständig erschöpft war. Mein Vater und ich durchstreiften inzwischen die Umgebung und suchten nach Anzeichen für erzführendes Gestein.

Plötzlich überfielen uns dann eine Anzahl Beduinen, höchst kriegerische Gestalten, denen gegenüber Gegenwehr ein Wahnsinn gewesen wäre. Uns wurden sofort in rohester Weise die Hände gefesselt, und wir nach jenem Felsgrat geschleppt, wo meine arme Mutter ahnungslos sich ausgeruht hatte.

Als wir den mächtigen Felsblock erreichten, vorwärtsgetrieben mit Kolbenstoßen und Fußtritten, fanden wir nur noch … eine Tote vor. Das helle Gewand meiner Mutter war mit Blut besudelt, und in ihrem Herzen steckte ein persischer, langer Dolch, den mein Vater ihr vor kurzem geschenkt hatte und den sie stets bei sich trug – am Gürtel als Schmuckstück, da Scheide und Griff reich verziert waren.

Meine Mutter hatte sich selbst den Tod gegeben, um den wilden Beduinen nicht lebend in die Hände zu fallen …

Als mein bedauernswerter Vater die geliebte Tote erblickte, stieß er einen wilden Schrei aus, der mir noch heute in den Ohren gellt, wenn ich an jene Szene zurückdenke.

Mit einem Ruck, mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung zerriß er seine Fesseln und stürmte auf die Leiche zu, warf sich über sie und brach in ein Schluchzen aus, das nur zu deutlich die Qualen seines schmerzdurchzitterten Herzens verriet. Einem Stein hätte dieses Schluchzen Erbarmen eingeflößt … Nicht so den braunen [10] Söhnen der Wüste, die, wie ich erst später erfuhr, durch den Schurken Schlook unter allerlei Lügen bestochen worden waren, uns drei für alle Zeit unschädlich zu machen …“




3. Kapitel.
Der Samum.

Hier schwieg Paul Loring ganz plötzlich, hob warnend die Hand und drehte den Kopf nach dem Eingang der Grotte hin. Gleichzeitig nahm sein Gesicht einen Ausdruck mißtrauischer Spannung an.

Auffallenderweise waren jetzt die Stimmen der stets hungrigen Schakale und Hyänen nicht mehr zu hören. Nur das leise Zwitschern der hin und her schießenden Nachtschwalben, die sich um die Vollmondzeit stets zu ganzen Schwärmen vereinigen, unterbrach die drückende Stille mit dünnen, fast geisterhaften Lauten.

Dann erhob sich der Jüngling mit einemmal, glitt geräuschlos nach dem Eingang hin und schlug das Pflanzenfasergewebe, welches wie ein Vorhang innen angebracht war und das auch nicht einen einzigen Lichtstrahl des Feuers hindurchließ, ein wenig zur Seite. Regungslos stand er so mehrere Minuten lang. Daß irgend etwas seinen Verdacht erregt hatte, unterlag keinem Zweifel. [11] Daher tauschten die vier um das Feuer lagernden Männer jetzt auch beredte Blick aus, hüteten sich aber, ein lautes Wort zu sprechen, zumal Ali Mompo, der Mischling, nun auch seinerseits warnend den Zeigefinger auf die Lippen legte. Seinem scharfen Gehör war das Geräusch draußen in der Schlucht nicht entgangen, das wie halb unterdrücktes Wiehern von Pferden klang.

Zu ungeduldig, um abzuwarten, bis der junge weise „Massa“ Aufschluß über die Ursache seines Argwohns gab, huschte Ali Mompo zum Eingang hin und wechselte dort mit Loring ein paar vorsichtig gehauchte Worte. Dann verharrten sie beide in lauschender Stellung dicht nebeneinander, bis der ebenso kräftige wie hochgewachsene Somaliabkömmling plötzlich verschwand. Er war aus der Felsenöffnung auf den Boden der Schlucht hinabgesprungen.

Erst nach einer guten halben Stunde kehrte er zurück und berichtete, gegen dreißig Beduinen – den Stamm dem sie angehörten, konnte er nicht bestimmen – hätten die Schlucht von Norden kommend passiert, wären aber ohne Aufenthalt weitergeritten.

Paul Loring tat, als sei er nun ganz beruhigt. In Wahrheit blieb bei ihm aber noch eine leise Regung des Mißtrauens zurück. Er wußte ja, daß die eingeborenen Nomaden ringsum nach Möglichkeit die Schlucht vermieden, und er vermutete, daß die dreißig Reiter in bestimmte Absicht hierher gekommen sein könnten.

Der rote Knirps, dem das Herz bei diesem Zwischenfall schon wieder erheblich tiefer gerutscht war, atmete erleichtert auf, als Ali Mompo das Ergebnis seines Späherganges mitteilte und hinzufügte, daß man im übrigen selbst drei Dutzend Beduinen nicht zu fürchten brauche, da die Grotte ebenso gut wie eine kleine Festung sei.

Bald war denn auch diese ganze harmlose Ablenkung vergessen, besonders da die Fortsetzung der Abenteuer Paul Lorings aller Aufmerksamkeit völlig gefangennahm.

„Ich will mich nicht zu lange bei Einzelheiten aufhalten“, fuhr der Jüngling fort. „Gewiß – jene ersten Stunden nach dem heimtückischen Überfall, der meiner [12] geliebten Mutter das Leben kostete, haben sich meinem Gedächtnis mit furchtbarer Deutlichkeit für alle Zeiten eingeprägt. – Ich sehe noch jene Szene, als die rohen Feinde über der Leiche eilig einen Steinhaufen auftürmten, wie zwei von ihnen meinen bewußtlosen Vater über steile Abhänge bis zu einem Versteck hinabtrugen, wo die Beduinen ihre Reittiere untergestellt hatten, höre noch das wahnsinnige Lachen meines Vaters, als er wieder zu sich kam und es sich zeigte, daß er über all dem Schrecklichen den Verstand verloren hatte.

Dann wurden wir auf ein Lastkamel eng gefesselt gepackt, wurden in zwei Tragkörbe wie Stoffballen gepreßt, und fort ging’s nach Südwesten zu, hinein in die Wüste.

Dieser tagelange Ritt war für uns Gefangene eine entsetzliche Marter. Die Weidenkörbe, in denen wir hockten, hingen jeder an einer Seite des Lasttieres herab, wurden andauernd durch den wiegenden Trab hin und her geschüttelt und setzten uns schlimmer zu, als ein Sturm, den man in einer Nußschale von Boot auf hoher See erlebt. – Meinen Vater behandelten die Beduinen – es waren einige zwanzig Leute vom Stamme der Bir Billa – besser als mich, gaben ihm reichlichere Nahrung und mehr Trinkwasser und fesselten ihm nur die Hände. Fraglos flößte ihnen der weiße Mann, der zumeist still vor sich hin lächelte und mich seinen Sohn nur gelegentlich wie einen Fremden anredete, eine gewisse Scheu ein.

Ich selbst habe die ersten Tage in einer Art Betäubung verbracht, habe mich um nichts gekümmert, kaum auf das geachtet, was um mich her vorging. Meine Gedanken beschäftigten sich nur immer mit der toten Mutter und mit dem armen Vater, der eigentlich für die Welt ebenfalls schon tot war als einer, dessen Geist die Schrecknisse jener Unglücksstunde verwirrt hatten. –

Dann aber gewann doch die jugendliche Geschmeidigkeit die Oberhand. Mein Interesse wurde rege. Alles um mich her war mir ja neu: das Lagerleben der Beduinen, die Reise durch das Sandmeer und ebenso die Menschen, die uns als Gefangene davonführten. Hatte ich doch bisher nur seßhaft gewordene Araber kennen gelernt. Nun [13] hatte ich die ersten wilden Wüstenreiter vor mir und zwar Krieger der Bir Billa, die in Oman etwa in demselben Rufe standen wie die Matabele in Südafrika, eben im Rufe verwegener Räuber und fanatischer Anhänger des Gesetzes der Blutrache.

Wie gesagt: meine Teilnahme an dem, was ich erlebte, war geweckt und wuchs mit jeder Stunde, in der ich mir klarmachte, daß ich den Vater und mich nur befreien konnte, wenn ich all meine Geisteskräfte zusammennahm. Wie sehr die Bir Billa gerade mich, den erst halb den Kinderschuhen entwachsenen, fürchteten, bewiesen sie täglich aufs neue. Wenn wir lagerten und man mir erlaubte, mich ein wenig zu bewegen, begleiteten mich stets drei Mann mit gespannten Flinten. Ich wiederum gab mir die größte Muhe, möglichst einfältig zu erscheinen, stöhnte und jammerte über die Fesseln, die besonders meine Handgelenke zum Schwellen brachten, und tat so, als ob ich kein Wort von der Unterhaltung der Araber verstand. In Wirklichkeit vermochte ich ihren Gesprächen leidlich zu folgen, da bei uns in der Kupfermine ein von seinem Stamme verstoßener Bir Billa gearbeitet hatte, zu dem ich schnell zutraulich geworden war und der mir daher einige Kenntnisse der arabischen Dialekte vermittelt hatte. Meine Begabung für fremde Sprachen kam mir jetzt also sehr zugute. Ich hatte bald heraus, daß der Engländer Schlook der Anstifter jenes Überfalles gewesen, und daß er den Bir Billa eingeredet hatte, ich hätte einen der ihren auf der Jagd erschossen. Ebenso konnte ich mir aus gelegentlichen Bemerkungen zusammenreimen, daß wir, mein Vater und ich, an einer bestimmten Stelle in der Wüste ausgesetzt und unserem Schicksal überlassen werden sollten.

Kein Wunder, wenn ich unter diesen Umständen mehr denn je daran dachte, bei guter Gelegenheit zu entfliehen. Und zwar mußte dies bald geschehen, eben bevor wir uns zu weit von den Randbergen Omans entfernten.

Am vierten Reisetage gegen Abend – wir hatten die Tageshitze im Schatten einer Oase vorübergehen lassen – sollte dann gerade wieder aufgebrochen werden, als deutliche Anzeichen dafür sprachen, daß ein Samum im Anzuge sei.

[14] Samum …! Der Glutwind, der Sandsturm! – In welchem Reiseroman, der im Orient spielt, wird er nicht erwähnt?! So mancher Schriftsteller hat die Furchtbarkeit dieser Naturerscheinung nach eigenem Gutdünken noch phantastischer ausgeschmückt als ein anderer seiner Kollegen, bei dem er mal eine Schilderung dieses heißen Orkanes gelesen hatte. – Angeblich soll der Samum ganze Karawanen unter sich begraben haben. Dies ist eines der vielen Märchen, die kritiklos von jedem geglaubt werden. – Durch die Sandmassen, die der Samum mit sich führt, ist noch kein Mensch ums Leben bekommen. Die Schrecken dieses Glutwindes hat man ganz wo anders zu suchen. – Sie, meine lieben Landsleute, werden aus meiner weiteren Erzählung sich leicht ein richtiges Bild der Wirkungen dieses berüchtigten Sturmes machen können. –

Also – – es sollte aufgebrochen werden, als sich der westliche Horizont plötzlich stark rötete und dieses Rot in den oberste Schichten schnell in ein verwaschenes Gelb überging. Ich erlebte damals zuerst das Schauspiel einer Sonnenuntergangsbeleuchtung, während das Tagesgestirn noch über dem Horizont stand. Auf diese Verfärbung des Himmels folgte sehr bald eine eigentümliche Bewegung in der Luft, als ob Scharen unsichtbarer Vögel vorüberzogen. Ebenso schnell wurde aus dem merkwürdigen Geräusch ein heftiges Brausen, und gleichzeitig sah ich von Westen her eine Sand- und Staubwolke von riesiger Ausdehnung sich auf unseren Lagerplatz zuwälzen.

Ich tat es den aufgeregten Bir Billa gleich, die sich in ihre Mäntel hüllten und sich platt auf den Boden warfen. Mein Vater folgte, harmlos wie ein Kind lachend, mit dem man Verstecken spielen will, sofort meinem Beispiel. Der Zufall wollte es, daß seine Hände gerade nicht gefesselt waren. In der allgemeinen Angst vor dem Samum hatten die Bir Billa hieran nicht mehr gedacht. Und dieser Umstand sollte mir helfen, meine Befreiungspläne zur Ausführung zu bringen.

Kaum hatte uns die Staubwolke als der Vorläufer des Glutwindes erreicht, kaum war ringsum alles in [15] undurchdringliche Finsternis gehüllt, als ich auch schon ein vorher beiseite geschafftes wertloses Messer meinem Vater in die Hand drückte und ihm bedeutete, meine Fesseln zu zerschneiden, die meinen Armen immerhin einigen Spielraum gaben, da ich soeben meine Mahlzeit erhalten hatte: zähes Hammelfleisch und halbgaren Reis.

Mein Vater tat rein mechanisch, was ich verlangte. Kaum waren meine Glieder frei, als ich ihn mitfortzog und nach der Stelle hineilte, wo die Dromedare lagerten. Sie waren bereits gesattelt, und im Nu hatte ich die beiden besten Reittiere zum Aufstehen gebracht.

Inzwischen war aber der Staubwolke sowohl die für den Samum bezeichnende Glutwelle als auch jene Reihe von Sandwirbeln gefolgt, die im Augenblick die Kehle völlig austrocknen, Nase, Mund, Ohren und Augen mit den feinen Körnchen füllen und einen furchtbaren Hustenreiz hervorrufen.

Gewiß – diese Flucht damals war mehr als ein tollkühnes Wagnis! Aber – – sie gelang. Gottes schützende Hand war über uns. Kaum hatten wir auf den wie rasend dahinstürmenden Tieren einige hundert Meter zurückgelegt, als wir – eine glückliche Fügung! – aus dem Sturmzentrum heraus waren. Trotzdem ging’s in demselben Tempo weiter. Mit geschlossenen Augen, verstopften Ohren, blutenden, von der Hitze aufgesprungenen Lippen rasten wir über die Sandhügel dahin, indem wir die Dromedare laufen ließen, wohin sie wollten.

Der Samum war nach einer Stunde vorüber. Ich wußte, daß unsere Spuren längst verweht waren und daß wir es wagen durften, uns einige Zeit auszuruhen.

In einem alten, steinigen, längst ausgetrockneten Flußbett machten wir halt. Jetzt, als die furchtbare Nervenanspannung bei mir nachließ, versagte der Körper mir den Dienst: ich wurde ohnmächtig.




[16]
4. Kapitel.
Zwei Einsame.

Erst lange nach Mitternacht erwachte ich, trank schnell einen Schluck aus den Wasserschläuchen, gab auch den beiden Tieren zu trinken (mein Vater hatte schon selbst für sich gesorgt) und drängte zum Aufbruch.

Ich will Sie, liebe Landsleute, nicht durch eine eingehende Schilderung unserer weiteren Flucht langweilen, will nur erwähnen, daß wir uns gründlich verirrten und am Abend des sechsten Tages, nachdem unser Wasser- und Dattelvorrat verbraucht war, den sicheren Tod vor Augen zu haben glaubten.

Unsere beiden Reitkamele waren zu Skeletten abgemagert, wir, Vater und Sohn, taumelten bereits vor Schwäche. Trotzdem drängte ich vorwärts. Ich wollte ein letztes verzweifeltes Mittel versuchen, eine Oase zu finden, wollte den Dromedaren die Zügel freigeben und mich lediglich auf den tierischen Instinkt verlassen.

Als die Sonne untergegangen war und ein kühler Wind über die Wüste hinstrich, brachen wir auf. Mein [17] Vater war in allem folgsam wie ein Kind. Er lebte in dem Wahn, daß wir nach Maskat unterwegs seien, wo wir die Mutter lebend, frisch und munter wiederfinden würden.

In müdem Trab strebten unsere Tiere vorwärts. Nach etwa zwei Stunden merkte ich dann, daß ihre Bewegungen lebhafter wurden. Sie hoben die Köpfe, sogen schnaubend die Luft ein und begannen plötzlich einen Galopp, als gelte es ein Wettrennen.

Der Mond stand als volle Scheibe am Himmel, hüllte die Wüste in ein fast grünlich erscheinendes Dämmerlicht … Und um das Rund des Nachtgestirns herum schimmerten all die unzähligen Sterne des südlichen Firmaments in jener verschwenderischen Lichtfülle, wie man sie eben nur in den Tropen zu sehen bekommt.

Der Sand flog unter den eiligen Füßen der flinken Tiere nur so dahin … Immer schneller wurde die Gangart, immer wilder diese Hetze. Dann bemerkte ich vor uns einen dunklen Strich. Es war eine tiefe, felsige, mit Steinblöcken in allen Größen übersäte, gut eine Meile lange Schlucht – dieselbe, in der wir uns jetzt befinden und in der ich all diese Jahre gehaust habe – einsam, verlassen, – nur auf mich allein angewiesen.

Wir fanden hier wirklich Wasser. Zwei natürliche Zisternen, in denen das Regenwasser sich angesammelt hatte, labten uns und die braven Dromedare, nachdem wir uns dann noch ein Versteck zwischen den Felsen gesucht hatten, hüllten wir uns in unsere Mäntel und schliefen sofort ein, – ich mit der Büchse im Arm, die dem Anführer der Bir Billa gehört und zu der ich in einer Satteltasche etwa neunzig Patronen gefunden hatte.

Mit der Büchse im Arm …! Ich fürchtete die Verfolger! Daß die Bir Billa alles daran setzen würden, uns wiedereinzufangen, war ja sicher …! –

Am Morgen gab es dann ein böses Erwachen für mich: unsere Reittiere lagen verendet am Boden! Vielleicht hatte ihnen der allzu reichliche Genuß des Wassers nach den Tagen des Durstes den Rest gegeben. –

Mit dem Tode der beiden Dromedare war uns vorläufig jede Möglichkeit genommen, die Schlucht zu verlassen [18] und uns bewohnte Gegenden zuzuwenden. Dieser Gedanke, so ernst er mich auch stimmte, drückte mich doch nicht nieder. Ich fühlte die Verantwortung, nicht nur für mich, sondern auch für meinen Vater zu sorgen. Und diese Verantwortung trieb mich zum Handeln.

Wütender Hunger quälte uns. Mein Vater jammerte wie ein kleiner Bube, der noch nicht seinen Morgenimbiß erhalten hat. Zum Glück hatte ich das Messer mitgenommen, mit dem meine Fesseln durchschnitten worden waren. Ich löste ein Stück Lenndenfleisch aus dem Kadaver eines der Kamele heraus, klopfte es weich und briet es über einem Feuer, das ich mit Hilfe des Luntenfeuerzeugs meines Vaters bald angezündet hatte.

Als wir uns gesättigt hatten, unternahm ich eine Streife durch die Schlucht. Mein armer Vater wollte indessen die toten Dromedare bewachen, die, wie er glaubte, nur schliefen.

So fand ich nach zweistündigem Umherirren dann zufällig hier im Südteil der Schlucht diese Grotte, die mir sofort als zukünftige Behausung recht geeignet schien. Hat sie doch den Vorteil, daß der Eingang nicht ganz leicht zu entdecken ist und daß der Rauch durch schmale Spalten im Gestein nach oben abzieht, besonders aber, daß es hier noch einen zweiten Ausgang gibt, der zwar nur kriechend zu passieren ist, dafür aber inmitten eines dichten Distelgestrüpps mündet, das für einen Uneingeweihten ganz undurchdringlich ist.

Mein seltsames, abenteuerliches und abenteuerreiches Leben begann an diesen Tage. – Das Wort: „Not macht erfinderisch“ und „Wo ein Wille, da ist auch ein Weg“ traf bei mir so recht zu. An meinem Vater hatte ich keinerlei Hilfe. Er war ganz zum harmlosen Kinde geworden, lebte in einer unwirklichen Welt, die er mit den Gestalten seiner[1] kranken Phantasie bevölkerte. Von ihm hatte ich keinerlei ernstliche Hilfe oder Unterstützung zu erwarten. Bat ich ihn, dies und jenes zu tun, zum Beispiel dürre Gräser zu sammeln, so arbeitete er, bis die Sache ihm langweilig wurde. Und das geschah stets sehr bald. So lag denn die ganze Sorge für unser beider Wohl und Wehe allein auf meinen Schultern.

[19] Ich kann Ihnen hier auch nicht im entferntesten einen Überblick über das geben, was ich durch meiner Hände Arbeit schuf, wie ich mich bald in mancherlei Künsten, die mir bis dahin fremd gewesen, vervollkommnete. Nur einiges will ich hier kurz streifen. – Sie haben ja selbst mit eigenen Augen gesehen, liebe Landsleute, daß ich den hinteren Teil dieser Grotte durch eine Steinmauer zum Schlaf- und Wohngemach abgeteilt habe; staunend sprachen Sie mir Ihre höchste Anerkennung für das primitive Mobiliar aus, das ich als Tischler aus gebleichten Tierknochen, Häuten und Teilen der Kamelsättel schuf. Meine Weberarbeiten gestatten es uns, hier auf Matten zu liegen, während Sie dort vor dem Eingang einen Vorhang erblicken, zu dessen Herstellung Fäden benutzt wurden, die ich durch besondere Zubereitung von Distelstauden gewann. – Aus den eisernen Nägeln aus den Sätteln wurden allerlei kleine Instrumente und Werkzeuge. Flache, ausgehöhlte Steine dienten als Kochgeschirre. Tierknochen lieferten mir ebenfalls mancherlei Geräte, so auch Löffel, Eßstäbchen und manches andere.

Wie oft habe ich gerade in der ersten Zeit meines Robinsondaseins in dieser Schlucht an den berühmten Helden Defoes gedacht, eben an Robinson Krusoe …! Und doch: wie viel besser hatte dieser es als ich! Er lebte auf einer von der Natur reich ausgestatteten Insel, lebte inmitten einer üppigen Vegetation, hatte um sich allerlei nützliche Vertreter des Tierreichs! Hier gab und gibt es nichts als Sand, Felsen, kümmerliche Gräser, spärliches Gestrüpp; von Tieren nur Schakale, Hyänen, auch Löwen, Springmäuse und flüchtige Trupps von Wildeseln. – Halt – Etwas darf ich nicht vergessen, eine Pflanze, die mir überaus wertvoll wurde. Ich kannte sie bereits von meinem Aufenthalt in dem Kupferminen-Tale her, wußte, daß sie bei den Nomaden als Gemüse benutzt wird; ich meine die eßbare Mannaflechte, die auf dem kahlen Felsboden gedeiht und gekocht recht würzig schmeckt. Sie heißt ja auch „Mannaflechte“; Manna regnete es, als Moses mit dem erwählten Volke durch die Wüste zog. – –

Ein halbes Jahr verging, bis ich mich hier sozusagen [20] häuslich eingerichtet hatte, – eine lange Zeit für das Wenige, was ich geschaffen. Wenig erscheint es. Und doch – wie mühsam war es all das, was ich brauchte, aus dem nichts gleichsam hervorzuzaubern. – Sie dürfen nicht vergessen, daß ich nebenbei noch die nötige Fleischnahrung für meinen Vater und mich zu erjagen hatte, daß es oft Tage dauerte, bis ich eine Antilope oder ein wildes Eselfüllen erlegte, daß ich zu diesem Zweck mich weit, weit in die Wüste hineinwagen mußte.

Diese ersten sechs Monate verstrichen schnell. Langeweile kannte ich nicht. Zum Nachgrübeln hatte ich keine Zeit. Stets sank ich abends übermüdet auf mein Lager, schlief wie ein Toter, bis die Sonne aufging. In diesem halben Jahr wurden wir durch keine fremden Besucher hier gestört, wenigstens durch keine zweibeinigen. Gäste aus dem Tierreich stellten sich öfters ein. Darunter auch Löwen. So hatte sich einmal eine Löwin mit zwei Jungen meine Schlucht als Standquartier ausgewählt. Die Nachbarschaft war höchst ungemütlich. Daher verscheuchte ich die Bestie, indem ich ihr mit Feuerbränden auf den Leib rückte. Töten wollte ich sie nicht. Meine Patronen waren mir zu kostbar. Ich mußte sehr mit Munition sparen, und nie habe ich eine Kugel aus dem Lauf gesandt, wenn ich nicht meines Schusses sicher war.




[21]
5. Kapitel.
Das Löwenfell.

Kein Wunder, daß ich mich nach diesen sechs Monaten hier ganz sicher fühlte und kaum noch damit rechnete, es könnten eines Tages Beduinen erscheinen und die friedliche Ruhe dieser Schlucht stören. Ich nahm bestimmt an, jener schurkische Engländer, der die Schuld an dem Tode meiner Mutter trug, hätte längst unsere Verfolgung aufgegeben.

Dann wurde ich eines besseren belehrt, dann begann der zweite Abschnitt meines Robinsonlebens; er begann mit dem Tage, wo ich auf einem Jagdausflug Gelegenheit fand, ein Beduinenlager bei Anbruch der Dunkelheit zu beschleichen und Gespräche zu belauschen, aus denen ich zu meinem Schrecken entnahm, daß die Nomadenstämme ganz Südarabiens offenbar die Geschichte unsere Flucht kannten und daß jener Brite nicht weniger als hundert Mariatheresientaler dem zugesagt hatte, der sichere Kunde von uns brächte oder uns gefangennähme.

Die Leute, die ich belauschte, waren Zugehörige eines [22] wenig kriegerischen Stammes. Trotzdem leuchtete ihnen die Gier nach den Silbermünzen aus den Augen. – So wurde ich gewarnt, mehr auf der Hut zu sein. Von da ab traf ich Vorkehrungen, um mich vor Überraschungen zu sichern. Ich wurde überaus vorsichtig und mißtrauisch, richtete mein Leben so ein, als sei ich rings von Feinden umgeben.

Wieder verstrich ein Monat ohne störenden Zwischenfall. Dann beobachtete ich eines Abends eine Karawane, die von Nordwest her auf die Schlucht zukam. Es war ein Teil eines Beduinenstammes samt seinen Herden, der sich für volle fünf Tage in der Schlucht häuslich niederließ, Zelte aufschlug und so die Weidetiere die durch lange Regengüsse hervorgelockten Grasflächen ausnutzen ließ. Während dieser fünf Tage, wo wir uns aus der Grotte nicht hinauswagen durften und bald von Hunger und Durst gepeinigt wurden, erkrankte mein Vater und starb bereits nach wenigen Stunden. Ich glaube, daß es eine Lungenentzündung war, die seinem Leben ein Ende machte. Kurz vor seinem Hinscheiden klärte sich merkwürdigerweise sein Geist vollkommen. Die Erinnerung an jene Schreckensszene, als er in wildem Schmerz sich über die Leiche meiner Mutter geworfen hatte, kam ihm zurück. Seine letzten Gedanken gehörten der geliebten Toten, und mit einem Segenswunsch für mich hauchte er den allerletzten Seufzer aus.

Am Morgen nach dieser Nacht, da er starb, fand ich den Platz des Beduinenlagers leer. Die braunen Söhne der Wüste waren weitergezogen. Ich begrub den Vater drüben in jenem dichten Gestrüpp. Den Steinhügel schmückte ich mit einem weißen Kreuz aus gebleichten Knochen.

Etwa eine Woche später dann erlebte ich gegen Abend das Schauspiel einer richtigen Treibjagd, die vier Löwen auf ein Antilopenrudel abhielten. Dies Erlebnis gehört zu den merkwürdigsten aus meiner Robinsonzeit, denn – einmal hatte ich noch nie den König der Tiere als schlauberechnenden vierbeinigen Jäger beobachten können, dann aber brachte mich dieser Abend auch in Besitz jener [23] Löwenhaut, die ich nachher mit so viel Glück und vielleicht auch Geschick zu meiner Maskerade benutzte.

Ich lag am Rande der Schlucht auf einem einzelnen Felsen und hatte das Schauspiel des Sonnenuntergangs genießen wollen. Da tauchten die von den Löwen eingekreisten Antilopen auf. Das größte der Raubtiere kam auf Schußweite an meinem Felsen vorbei. Ich hätte den mähnenumwallten, prächtigen „Herrn mit dem dicken Kopf“ vielleicht geschont. Aber die gelben Bestien vertrieben mir das eßbare Wild, wenn ich sie nicht schleunigst aus der Umgegend verscheuchte. Meine Kugel ging dem Löwen mitten in die Stirn. Ich war inzwischen ein vorzüglicher Schütze geworden. Ich lobe mich selbst. Aber ich darf es in dieser Beziehung wirklich tun.

Ich erreichte meinen Zweck. Die drei übrigen Bestien, leider aber auch die schnellfüßigen Antilopen verschwanden. Bald war das Fell des Raubtieres so hergerichtet, wie Sie es jetzt dort in der Ecke sehen. Zunächst schnürte ich mich mehr zum Scherz einmal darin ein und beschlich in dieser Vermummung eine Herde wilder Maulesel. Dann aber kam mir der Gedanke, wobei ich an die große Furcht der Beduinen vor dem König der Tiere dachte, daß es vielleicht ganz zweckdienlich sei, die Maskerade für alle Fälle so einzuüben, daß ich den Nomaden gegenüber in Ehren als Löwe bestehen könnte.

So lernte ich mich in der Löwenhaut leidlich „tiergetreu“ bewegen. Und wie gut und vortrefflich dieser Einfall gewesen, sollte sich sehr bald zeigen. – Abermals erschienen wandernde braune Wüstensöhne mit Weibern, Kinder, Hunden und Pferden in der Schlucht. Ich hätte also wieder vielleicht eine längere Hungerkur durchmachen müssen, wenn ich es nicht keck gewagt hätte, in meiner Schreckenerregenden Tierhaut gleich in der ersten Nacht mich den weidenden, nur von vier Wächtern behüteten Herden zu nähern und dabei einen Kampf mit den bissigen Hunden auszufechten, der dreien das Leben kostete, während anderseits die Weidetiere in toller Angst auseinanderstoben und die Wächter schreiend in die Schlucht flüchteten. Den Beduinen war die Nähe eines männlichen Löwen unheimlich. Sie zogen ab. Und auf dieselbe Weise konnte ich [24] dann noch vier andere Nomadenzüge regelrecht „weggraulen“.

Nach diesen billigen Heldentaten gelang es mir, – es war wieder auf einem Jagdausflug –, ein paar Leute eines kriegerischen Stammes in einer Nacht am Lagerfeuer zu belauschen, wobei ich erfuhr, daß die Wüstensöhne weit und breit nur von dem Gespenster-Löwen sprachen der jetzt in der El Akra-Schlucht (so nennen die Beduinen diese steinige Senke) sein Wesen treibe. – Die Nomaden hatten also doch schon bemerkt, daß es mit diesem Herdenwürger eine besondere Bewandtnis haben müsse.

Ich sah denn auch bald, daß mein Aufenthaltsort von den Wüstenbewohnern ängstlich gemieden wurde. Nur bei Tage erschienen sie zuweilen, tränkten ihre Tiere in den Zisternen und zogen weiter. Einmal aber wäre es mir „als Löwe“ doch beinahe schlecht ergangen. Und dieses Ereignis liegt gar nicht so sehr weit zurück.

Eines Morgens hatte ich in der Schlucht seit langer Zeit wieder Besuch bekommen: fünf Weiße und eine Anzahl von Eingeborenen. – Ich hatte dann schon am Abend festgestellt, daß die Weißen Engländer waren und hier einen Überfall auf Leute vorbereiten sollten, die von Süden her erscheinen sollten. – Ich konnte mich nicht nahe genug heranschleichen, um alles, was sie sprachen, genau verstehen zu können.

Als sie sich zum Schlafe hinstreckten, kroch ich jedoch dichter heran. Ich trug wieder meine Löwenhaut. Aber ich fühlte mich vielleicht zu sicher, war daher etwas waghalsig und hatte es mithin mir ganz allein zuzuschreiben, daß mir plötzlich Kugeln um die „Löwenohren“ pfiffen …

Noch nie war mir der Tod so nahe wie damals, – noch nie! Und es war wirklich ein Wunder, daß ich mit heiler Haut davongekommen. – Immerhin hatte dieses Erlebnis so ernst es auch hätte ausgehen können, einen Vorteil: ich war auf die Absichten der Engländer aufmerksam geworden, hoffte ihre Pläne durchkreuzen zu können. Alles, was Brite hieß, haßte ich ja seit dem Tode meiner Mutter mit einer Leidenschaftlichkeit, wie wohl selten jemand eine Nation in all ihren Vertretern hassen wird. – Ich sollte also den Engländern wenn möglich hindernd in [25] den Weg treten, aber – nur dann, wenn diese Fremden, denen sie einen Hinterhalt legen wollten, nicht selbst Engländer waren …“ –

Hier unterbrach der rote Knirps den Jüngling, indem er, eifrig mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd, rief:

„Aha – ich verstehe, ich begreife …! Diese Fremden waren natürlich wir … Ist’s nicht so?“

„Wozu diese Frage?!“ meinte Kürze-Würze, der große Schweiger, achselzuckend. „Ein Säugling würde hier sagen: „Natürlich wir – – wer sonst …?!“

Paul Loring nickte. „Ja, liebe Landsleute, um Sie handelte es sich hier. Leider habe ich aber erst zu spät gemerkt, wen ich vor mir hatte – eben Deutsche! Und daher verhinderte ich es nicht, daß alles so kam, wie es gekommen ist. – Nun – Wir sind ja jetzt glücklich vereint, und gemeinsam werden wir schon Mittel und Wege finden, uns nach einem türkischen Hafen durchzuschlagen. Reittiere besitzen wir in Gestalt der von Ihnen eingefangenen wilden Maulesel, die hoffentlich recht schnell zahm werden, und Sättel werde ich für uns herstellen.“ (Unseren lieben jungen Lesern sei hier verraten, daß die Erlebnisse der vier Abenteurer, denen der Jüngling soeben seine Lebensgeschichte erzählt hatte, unter dem Titel. „Die Schlucht in der Wüste“ im vorigen Bändchen dieser Sammlung veröffentlicht worden sind.)




[26]
6. Kapitel.
Schlook taucht wieder auf.

Nachdem Paul Loring mit der Schilderung seiner Erlebnisse zu Ende gekommen war, hielt der Ingenieur Fritz Tümmler sich seinerseits für verpflichtet, dem Grottenbewohner kurz mitzuteilen, was ihn und seine drei Gefährten in das Sandmeer der Wüste gelockt hatte.

„Es ist dies ebenfalls eine recht seltsame Geschichte“, sagte er nach ein paar einleitenden Worten. „Sogar sehr seltsam! Angedeutet halben wir den Zweck unserer Reise hier durch die endlose Einsamkeit Dir gegenüber bereits mit einigen Sätzen, mein wackerer Freund. Du hast aber ein Anrecht darauf, alles zu erfahren …“

Wiederum mischte sich hier Knirpsens Baß ein:

„Halt, lieber Tümmler, – halt! Das Erzählen überlaß bitte mir! Du hast eine so trockene Art, Dinge zu schildern, hast so gar keinen dichterischen Schwung. – Also, mein tüchtiger Löwen-Darsteller, – wir sind auf der Suche nach zwei Landsleuten, die, wie Du bereits weißt, von irgendwelchen Bösewichtern an einem Orte gefangen [27] gehalten werden, den wir nicht ganz leicht finden dürften. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß wir diesem Plan jetzt aufgeben. Und so, wie ich Dich aus Deinen bisherigen Abenteuern kennengelernt habe, scheinst Du mir recht geeignet, uns ein wertvoller Kamerad und Helfer zu werden. Nach der geheimnisvollen Mitteilung, die wir auf recht wunderbare Art von jenen Unglücklichen erhielten, wird uns reicher Lohn winken, wenn unser Unternehmen gelingt. – Ja, denke Dir, mein tapferer Landsmann, auf hoher See erreichte uns die Kunde von …“

Der rote Knirps hielt plötzlich inne, denn Ali Mompo, der braune Fremdenführer, den die drei Landsleute sich in Aden angeworben hatten, machte ihm sehr energische Zeichen, sofort zu schweigen.

Auch Paul Loring lauschte jetzt gespannt auf ein leises Geräusch, daß von draußen in zunehmender Stärke hereindrang.

„Die Reiter kehren zurück“, flüsterte er vorsichtig. Und sie reiten in vollem Galopp. Dazu muß irgend eine besondere Veranlassung vorliegen … Ah – – ein Schuß …! Noch einer! Schüsse aus Araberflinten, aus Vorderladern, waren es … Sollte etwa …“

Ali Mompo war inzwischen nach dem Eingang geschlüpft und spähte hinaus. Der Bewohner der Grotte folgte ihm sogleich …

Die drei an dem niedrig brennenden Feuer Zurückbleibenden ahnten, daß da draußen irgendetwas vorging, das nicht ganz harmloser Natur sein konnte.

Dann kam Paul Loring mit ein paar schnellen Schritten zu ihnen zurück.

„Die Leute, die vorhin hier die Schlucht passierten, sind angegriffen und zurückgeschlagen worden und werden von Weißen verfolgt, – fraglos von Engländern. Ich will einmal hinaus, um zu sehen, was eigentlich geschieht. Der Mond wird bald über die Ränder der Schlucht hinüberlugen. Dann ist es hell genug, um alles genau beobachten zu können.“

Fritz Tümmler war durchaus nicht einverstanden damit, daß der wackere Jüngling sich Gefahren aussetzte, die nach des Ingenieurs Überlegung ziemlich zwecklos waren. [28] Doch Paul Loring ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Sein Gesicht zeigte jetzt einen Ausdruck, der gegen den bisherigen so stark abstach, daß selbst bei der dürftigen Beleuchtung durch die schwelende Glut des kleinen Feuers deutlich zu erkennen war, daß eine seltsame Erregung die Seele des frühreifen jungen Menschen durchzittern mußte.

Der stille, wortkarge Emil Kurz war es, dem diese Veränderung zuerst auffiel, zumal Paul Loring mit einer gewissen ungeduldigen Heftigkeit seinen Plan, sich draußen in der Schlucht genauer umzusehen, verteidigte. Auf seine Frage, weshalb er denn die wohlgemeinten Warnungen des Ingenieurs so völlig unbeachtet lasse, zuckte Loring nur halb ärgerlich die Achsel, griff nach seiner Büchse und der Löwenhaut und verschwand mit einem kurzen „Auf Wiedersehen“.

Als der Vorhang hinter ihm wieder zugefallen war, kam auch Ali Mompo langsam zu den dreien an das Feuer zurück und sagte, indem er sich nach Art der Orientalen in Hockestellung niederließ: „Junge deutsche Herr hören, wie einer von Leuten in der Schlucht etwas gerufen haben. Da er zusammenzucken wie von Kolbenhieb. Muß Stimme kennen …“

„Wie … sollte vielleicht gar …“ Aber der Ingenieur konnte diesen Satz nicht beenden, denn der rote Knirps fuhr mit seinem Baß dazwischen.

„Natürlich, – natürlich hat er an der Stimme seinen Todfeind erkannt, jenen Engländer Schlook, der ihm die Eltern geraubt hat …! Deshalb auch sein verzerrtes Gesicht und …“

Ali Mompo war urplötzlich kerzengerade hochgeschnellt. „Still – still – – hören!“ rief er gedämpften Tones. „Das sein die Stimme des falschen Löwen. Wir sie kennen … So brüllen nur Mensch in Löwenfell …“

„Wenn wir Loring nur zurückgehalten hätten …!“ meinte Fritz Tümmler besorgt. „Ich habe so eine dunkle Ahnung, als ob …“

Draußen jetzt mehrere Schüsse …

Da hielt den Mischling nichts mehr in dem Felsenversteck zurück. Er, der mit den Gefahren der Wüste und [29] mit der Hinterlist der Menschen, die sie abenteuernd durchquerten, als langjähriger Fremdenführer nach den heiligen Stätten des Islam Mekka und Medina am besten vertraut war, glaubte der einzige zu sein, der sich in das, was da draußen in der Schlucht geschah, einmischen konnte.

„Hier warten auf mich; gleich zurücksein …“, sagte er hastig, hob nur das neben dem Feuer liegende Dolchmesser als Waffe auf und verließ lautlos die Felsgrotte, ehe der Ingenieur noch ein Wort des Widerspruchs über die Lippen bringen konnte.

Karl Bolz schaute sich ängstlich seine beiden Gefährten an. Er wollte aus deren Gesichtern herauslesen, ob etwa ihnen selbst eine Gefahr drohe. – Nun, der Ingenieur suchte es gar nicht weiter zu verheimlichen, daß er sich durch dieses halb eigenmächtige Handeln der beiden, die nun allein einer Überzahl unbekannter Gegner gegenüberstanden, recht beunruhigt fühlte. Nur der bärenstarke Hüne Emil Kurz blieb auch jetzt gelassen und nickte dem Knirps aufmunternd zu, als ob er sagen wollte: „Nur keine Angst – die Sache wird schon gut enden!“

Anders jedoch Fritz Tümmler. Der schritt jetzt nach dem Eingang hin, steckte den Kopf hinter der schützenden Faserdecke hervor und spähte in die Schlucht hinab. Der Mond war bereits so hoch gestiegen, daß sein weißblaues, geisterhaftes Licht bis auf die Sohle des tiefen, mit Felsgeröll bestreuten Erdeinschnitts hinabreichte.

Nichts war zu sehen oder zu hören – nichts! Jeder Laut schien erstorben. Die im Schatten liegenden Stellen der Schlucht waren in tiefstes Dunkel gehüllt. Wie schwarze Flecke von gar wunderlichen Formen hoben sich diese dunklen Tupfen von dem helleren Grunde ab.

Der Ingenieur drehte den Kopf nach rechts. Neben ihm war Kürze-Würze erschienen. – „Nichts?“ fragte der in seiner Gewohnten Art.

„Nichts!“ erwiderte Tümmler. – Da drängte auch der dicke Bolz sich zwischen sie.

So standen die drei Deutschen, die ausgezogen waren, um Landsleuten Rettung und Befreiung zu bringen, und [30] starrten hinaus in das gespenstische Dämmerlicht der mondbeschienenen Senke. Die Nacht war kühl, fast kalt, wie so oft in dem Sandmeer der Wüste, wo dann am Morgen der Tau an allen Gräsern hängt und sie labt, den seltenen Regen ersetzend.

Tümmler schauerte fröstelnd zusammen. Er hatte für die poetisch-phantastische Stimmung dieser Stunde das meiste Empfinden. – „Ein wunderliches Land, dieses Arabien,“ meinte er leise.

„Da – was war das?! – Ein Hilferuf …?“ flüsterte der Knirps hastig.

„Ich fürchte ja!“ meinte der Ingenieur nur. Und der Hüne Kurz sagte bestätigend … „Hilfe!“ rief jemand. Es war Paul Loring. – Was nun?“

„Wir werden ihn nicht im Stiche lassen“, erklärte Tümmler ernst. – Gleich darauf schlichen drei Gestalten auf der Sohle der Schlucht, im Schatten der Felsen sich haltend, nach Norden zu, woher der Notschrei erklungen war.

Sie streiften die Talsenke nach allen Seiten hin ab. Sie waren unermüdlich im Suchen. Und fanden doch nichts – nichts! Die Schlucht barg kein lebendes Wesen mehr. Aber auch keinen Toten.

Während die drei Gefährten, wie die Indianer auf dem Kriegspfade sich bewegend, hinter jeden Felsblock schauten und jede Vertiefung durchstöberten, strebten droben in der Wüste zwei Reitertrupps nach verschiedener Richtung hin einem fernen Ziele entgegen. Der eine waren die brauen Söhne des arabischen Sandmeeres, der andere eine Anzahl Weiße … – –

Die Sonne war aufgegangen. Fritz Tümmler und seine beiden Gefährten überschauten von einem Steinblock am Rande der Schlucht die endlose Scheibe von Sand und spärlichen Gräsern mit suchenden Blicken.

Dann seufzte der Ingenieur schmerzlich auf. „Sie sind als Gefangene in der Gewalt der Engländer – kein Zweifel!“ meinte er. „Wir aber werden jetzt wohl unseren Plan, den Landsleuten als Retter zu erscheinen aufgeben müssen. Zum Glück haben die verd… Briten unsere wilden Maulesel in ihrem Versteck nicht gefunden. Sehen [31] wir zu, daß wir die Tiere zähmen und als Reittiere benutzen können …“ – – Es gelang wirklich. Und nach mannigfachen Abenteuern, denen der nächste Band der „Erlebnisse“ gewidmet sein soll, kehrten unsere Helden wohlbehalten in die deutsche Heimat zurück.


Ende.


     Der nächste Band enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S. 14.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: seine