Erinnerungen an den alten Holtei

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Autor: Max Kalbeck
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Titel: Erinnerungen an den alten Holtei
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16–17, S. 260–263, 274–276
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[260]
Erinnerungen an den alten Holtei.
Von Max Kalbeck.

Mir ist, als wäre es gestern erst gewesen, und doch liegen so viele unruhige Jahre dazwischen. Es war ein verhängnißvoller Besuchsweg, der einem ganzen Leben Ziel und Richtung geben sollte, und ich bin ihn ahnungslos mit dem Leichtsinn glücklicher Jugend gegangen, den Horaz unterm Arm und einige mit Versen beschriebene Blätter in der Tasche, halb zuversichtlich, halb verzagt – den Weg vom Magdalenen-Gymnasium der Stadt Breslau zu der Wohnung des „Alten von den drei Bergen“.

Als sechszehnjähriger Secundaner stand ich bei meinen Mitschülern im Ansehen eines Poeten. Ich las der Classe in den Zwischenstunden vor, was ich leider meist während des Unterrichts insgeheim gesündigt hatte, konnte auf eine große Schaar begeisterter Anhänger und auf ebenso viele kritische Widersacher zählen und war bei vielfältigen tollen Extravaganzen die Geißel und der Schrecken meiner armen Lehrer. Unter denen, welche mit mir dieselbe Bank drückten, befand sich auch ein aufgewecktes, naseweises rundes Kerlchen, das zur Partei meiner Gegner neigte und mir durch seine überlegene Skepsis besonders gefährlich erschien. Zwar hatte ich ihn einmal gründlich durchgebläut, weil er an einem unsträflichen Distichon etwas auszusetzen wagte, und ihn durch diesen Realbeweis scheinbar auch zu einer milderen und einsichtsvolleren Denkungsart bewogen. Allein damit war, wie ich bald merkte, nicht viel gewonnen. Er befleißigte sich in der Folge bei meinem Vorlesen eines heilsamen Stillschweigens und setzte sich damit bei den Anderen nur in um so größere Autorität. Als er uns nun gar eines Tages von ungefähr mit der Mittheilung überraschte, Herr von Holtei verkehre im Hause seiner Eltern, fühlte ich mich völlig überwunden. Der Umgang mit einem solchen über jeden Zweifel erhabenen Altmeister der Dichtkunst, den wir Alle kannten und verehrten, mußte meinen Widerpart berechtigen, in literarischen Dingen seine eigene Meinung zu haben.

Das leuchtete der Secunda und auch mir ein, und ich betrachtete unsern Kritiker fortan wie einen Bevorzugten mit Blicken scheuen Respects und heimlichen Neides. Tag und Nacht dachte ich jetzt an nichts als an die Möglichkeit, Holtei ebenfalls kennen zu lernen. Oft, wenn ich aus der Classe kam und meine eigenen Seitenpfade einschlug, die gewöhnlich an einem Lehrerinnen-Seminar vorüberführten, begegnete mir der Alte. Hochaufgerichtet, die Hände auf den Rücken gelegt, mit den Augen den Blicken der Vorbeigehenden ausweichend, schritt er durch die Menge, eine Erscheinung, so herrlich und würdevoll, wie man sie selten wieder treffen wird. So kann nur ein wirklicher Dichter aussehen, sagte ich mir, wie dieser schöne große Mann mit den wallenden weißen Locken und den leuchtenden blauen Augen. Mich überlief es immer kalt und warm, wenn ich an die Verwegenheit dachte, jemals ein Wort an ihn zu richten; unwillkürlich wich ich ihm aus, sobald er kam, und zog meine Mütze. Einige Male schlug er die Augen zu mir auf und griff dankend an den braunen Calabreser. Das war ein Triumph – hatte er mich doch wenigstens angesehen.

Inzwischen war ich Primaner geworden, von Homer und Virgil zu Horaz und Sophokles übergegangen, und dichtete immer wüthender darauf los, als verlange man von einem Abiturienten [261] nichts weiter als hundert Oden alkäischen, asklepiadischen und sapphischen Maßes. In’s Unberechenbare aber steigerte sich meine Production, als mir ein Ungefähr Platen’s Gedichte in die Hand spielte; ich sah mich dabei veranlaßt, von Griechenland weiter nach Osten auszuschweifen und ausschließlich Ghaselen zu componiren, in welchen Bülbül sang und sehr viel Wein verzapft wurde, obwohl ich es selber kaum an hohen Festtagen bis zu einem Glase gebracht hatte. Jetzt schwamm ich in meinem Element, und auch die leidenschaftlichsten Feinde streckten vor den Ghaselen, die bataillonsweise anrückten, ihre Waffen und bekannten sich zu meiner Hafisischen Schulweisheit, welche mit unserem Geschmack so wohl übereinstimmte und bei jeder Strophe mit einem neuen Reime melodisch an den Becher klang. Ich trank mir an dieser allgemeinen Begeisterung den gehörigen Muth, ließ mir die Haare wachsen, legte die Hände auf den Rücken und fühlte mich Holtei somit um ein Bedeutendes näher gerückt. Zwanzig meiner besten Ghaselen schrieb ich ab, klappte den Horaz eines schönen mittags sehr energisch zu und machte mich auf nach der Büttnerstraße. Dort wohnte Holtei in dem Hôtel „Zu den drei Bergen“, nachdem er Mitte der sechsziger Jahre von Graz nach Breslau übergesiedelt war, um hier zu sterben und in heimischer Erde zu ruhen, wie er zu sagen pflegte.

[262] Ich weiß nicht mehr, wie ich die drei Stiegen im Hôtel hinaufgekommen bin. Jedenfalls muß ich sehr einfältig und sehr ängstlich ausgesehen haben; denn der Portier lächelte mir mit einer wahren Gönnermiene zu, als wollte er sagen: Nur Muth, mein Junge! Der Alte brummt zwar, aber er beißt nicht. Noch heute aber danke ich dem guten Manne für sein freundliches Gesicht – wehe mir, wenn er mir die übliche vornehme Hausknechtsmiene aufgesteckt hätte!

Außer Athem und mit klopfender Brust stand ich endlich im dritten Stock vor der Nr. 27. Es war eine goldene Ziffer auf grünem Grunde, die mir vorkam wie ein mystisches Räthsel; ich zählte noch: sieben und zwei macht neun, also drei mal drei – das ist eine gute Vorbedeutung – und klopfte schüchtern an. Drinnen und draußen blieb Alles ruhig; nur eine melancholische Bremse summte am Saalfenster auf und ab und stieß mit dem Kopfe gegen die Scheiben. Ich klopfte stärker und stärker; es rührte sich nichts. Schon wollte ich wieder gehen – da wurde innen eine Thür zugeworfen; eine tiefe Stimme raisonnirte etwas von „niederträchtiger Wirthschaft“ und „verfluchtem Gelaufe“; dann rief es mürrisch: Herein!

Der Alte stand vor mir, musterte mich mit prüfendem Blicke, der allmählich freundlicher wurde, und schnitt meine mühsam hervorgestotterten Entschuldigungen damit ab, daß er mich an den Schultern ergriff, auf ein Sopha niederdrückte und fragte:

„Mensch, rauchen Sie?“

„Noch nicht,“ erwiderte ich, „aber ich werde mir wohl auch diese Untugend angewöhnen müssen, vorläufig mache ich nur Gedichte.“

„Um Gotteswillen, wer sind Sie und was wollen Sie? Gesehen hab’ ich Sie schon irgendwo. Sie dichten? Mein aufrichtiges Beileid! Sie wollen mir doch nicht etwa Ihre Verse vorlesen?“

„Das nicht, aber wenn Sie vielleicht selbst die Güte hätten – ich habe Alles auf gutes Papier abgeschrieben; eine ziemlich leserliche Handschrift – es sind nur Ghaselen,“ setzte ich begütigend hinzu.

„Auch das noch! Nun, rücken Sie heraus damit! Sie sind der Erste nicht. Stecken Sie Ihre ‚Früchte aus dem Gartenhain von Schiras‘ dort in jenes Fach, wo meine unbeantworteten Briefe liegen! Ihr Wille geschehe! Nur verlangen Sie nicht mein Urtheil! Ich habe keins.“

Nach und nach wurde er gemüthlicher und aufgeräumter; er erkundigte sich nach meinen Verhältnissen, meinen Plänen für die Zukunft, erzählte auf meinen Bescheid, daß mein Vater mich zum Mediciner bestimmt habe, gleich eine Anzahl lustiger Geschichten von Aerzten und Kranken und lachte laut auf, als ich ihm sagte, wir, das heißt unsere literarisch gebildete Prima, bemitleideten ihn, weil er immer an Zahnschmerzen zu leiden scheine.

Er trug nämlich, auch im Sommer, stets ein schwarzseidenes Tuch um den Kopf.

„Hier sehen Sie – das sind meine Zahnschmerzen.“

Er strich die langen weißen Haare zurück und brachte eine starke Blutgeschwulst unter dem linken Ohre zum Vorschein.

„Wegen dieses jugendlichen Uebermuths meines alten Körpers muß ich mir die Locken so lang wachsen lassen, daß ich aussehe wie Kutschers Affenpinscher oder der leibhaftige Rübezahl. Und damit mir der Wind nicht die Haare herunterbläst, halte ich die ganze Geschichte mit dem Tuche zusammen. Mein Freund und Menschenzerschneider M. möchte mir das Anhängsel gern abnehmen, aber mich kriegt er nicht vor’s Messer. Es lohnt sich ja so nicht; ob ein halbes Pfund Fleisch mehr oder weniger mit mir zusammenfault – was thut’s! Na, adje, mein Sohn! Kommen Sie hübsch wieder! Jetzt muß ich ausgehen. Am Nachmittag treffen Sie mich immer daheeme. B’hüt Ihne Gott!“

Die ersehnte Bekanntschaft war also gemacht; aus ihr sollte sich mit der Zeit ein fortdauernder freundschaftlicher Verkehr entwickeln, welchem ich die Richtung meines Lebens und Förderung und Anregung in jeder Weise zu verdanken habe. Vorerst mußten jedoch noch einige Steine fortgeräumt werden, die ich mir selbst vor die Füße geworfen hatte; denn gleich in den ersten acht Tagen drohten unsere kaum angesponnenen Beziehungen ziemlich kläglich abzureißen. Jene unglücklichen Ghaselen, respective die Eitelkeit ihres grünen Verfassers, waren schuld daran. Denn, als ich wieder zu ihm kam und großes Lob einzuernten hoffte, gab mir der Alte das Manuscript mit vielsagendem Lächeln zurück und wollte nicht mit der Sprache heraus. Endlich nahm er eines der Gedichte – es reimte durchweg auf die bedeutsame Silbe „ocken“ und behandelte einen zwischen himmlischer und irdischer Liebe schwankenden Musensohn, der durch ein schönes Kind vom sonntäglichen Kirchgange zurückgehalten wird – und sagte mit dem gutmüthigsten Spotte: „Hier haben Sie sich eine ebenso naheliegende wie wirksame Pointe entgehen lassen. Sie schließen Ihr Gedicht:

Süß lockt ihre Stimme; dumpf läuten die Glocken;
Ihr Kuß ist zärtlich, die Predigt trocken.

Aendern Sie das lieber um:

Ihr Kuß ist saftig, die Predigt trocken.

Das giebt einen viel wirksameren, anschaulicheren Contrast.“

Ich war wie vom Donner gerührt und fühlte mich in tiefster Seele verletzt. Mit diesem garstigen Scherze sollten meine vom feinsten orientalischen Gewürz triefenden Ghaselen, der Stolz und die Zierde der Unter-Prima, abgethan werden? Aber es kam noch schlimmer. Holtei schenkte mir ein Exemplar seiner hochdeutschen Gedichte, und mein gekränktes Autorgemüth wäre durch dieses Geschenk jedenfalls wieder ausgesöhnt worden, hätte ich nicht die darin befindlichen Zeilen von seiner Hand auf mich bezogen und mich noch schmerzlicher enttäuscht gesehen. Auf der ersten Seite des Buches stand in den wohlbekannten energischen Zügen des Altmeisters geschrieben:

„Lenzesfrisch im Jugendtraum
     Scheinen uns unsere Lieder,
Säuseln wie hoch vom schattigen Baum
     Blüthenduftig hernieder.

Ach, wir bergen sie an der Brust,
     Wollen zum Kranze sie winden
Und erschrecken dann – – einen Wust
     Welker Blätter zu finden.“

Wie klar und hübsch ist diese allgemeine Wahrheit gesagt, und wie bescheiden trat der Dichter mit dieser Widmung für seine eigenen Jugendgedichte ein! Ich aber, mit dem Dünkel eines siebenzehnjährigen Poeten, meinte in den beiden Strophen eine abweisende Kritik meiner unreifen Versuche sehen zu müssen und zog sehr verstimmt mit dem vermeintlichen Danaergeschenk ab, zeigte es auch Niemandem, sondern verschloß es in meinem Schreibtische.

Ein halbes Jahr lang ließ ich, trotz wiederholter Erkundigungen und Grüße Holtei’s, mich nicht mehr bei ihm sehen und ging erst wieder an seinem Geburtstage, am 24. Januar, zu ihm, nachdem ich mich endlich eines Bessern besonnen hatte. Ich beichtete ihm meinen schnöden Verdacht und ließ mich weidlich auslachen. Auf meines Kritikers theilnehmende Frage nach dem Befinden meiner Muse konnte ich wieder etwas aus der Tasche ziehen, diesmal allerdings keine wohlgesetzten, zierlichen Plateniana, sondern etwas Eigenes, das, wenn auch keinen anderen Vorzug, so doch den der Wahrheit und Treue des Selbstempfundenen hatte. Es war das erste verlegene und unbeholfene Stammeln einer tiefen Leidenschaft, und ich las es ihm mit halb erstickter Stimme und unendlichem Räuspern vor. Er rückte ungeduldig auf dem Stuhle hin und her, sprang dann mit jugendlicher Leichtigkeit in die Höhe, riß mir die Blätter aus den Fingern und rief:

„Und das haben Sie gemacht, Sie Silbenzähler, Wortklauber, Versedrechsler? Da brate mir Einer einen Storch! Das ist mir noch nicht vorgekommen.“

Und nun erging er sich in einem Strome liebenswürdiger Schmeicheleien, die ich nicht wiederholen will, und prophezeite mir Dinge, die leider bis zum heutigen Tage noch nicht eingetroffen sind. Der gute, theilnahmevolle, herzige Mensch! Er war immer maßlos in Lob und Tadel, in Geringschätzung und Bewunderung, eine unmittelbare, ehrliche und warmblütige Natur, voller Antipathien und Sympathien, die, wo sie Verwandtes traf, widerstandslos sich dahingab, wo sie auf Fremdes stieß, mit Händen und Füßen Alles von sich abwehrte.

Mein Schicksal war entschieden. Der Vorsatz, Dichter zu werden, stand in mir fest. Holtei war fortan eifrig hinter Allem her, was ich begann, und schürte das heilige Feuer der Kunst in meinem Herzen durch Wort und That. Er verschaffte mir die [263] Wonne, mich zum ersten Mal in Zeitschriften gedruckt zu sehen, las meine Gedichte in seinen Kreisen überall vor, brachte mich, noch während meiner Gymnasialzeit, als Prologdichter auf das Breslauer Theater und wußte für meine Schülerpoesien sogar einen mächtigen Gönner und unvorsichtigen Verleger aufzutreiben, bei welchem sie denn auch seit einem Jahrzehnt in ungestörter Verborgenheit ruhen.

So wurde er mein bester Freund, dem ich Alles vertrauen konnte, was mir auf der Seele lag, und der auch mir, obgleich ich um mehr als zwei Menschenalter jünger war, sein volles Vertrauen schenkte. Wenn wir in seinem Zimmer zur Dämmerstunde beisammen saßen oder mit einander einen Mittagsspaziergang über die Breslauer Promenaden machten, gab es immer viel zu erörtern. Gespräche politischen, religiösen, philosophischen oder literarischen Inhalts wechselten bunt mit einander.

War er besonders gut aufgelegt, so las er wohl auch Dies und Jenes vor, eine Scene aus einem Shakespeare’schen Stücke, einige seiner köstlichen schlesischen Gedichte, oder etwas Fremdes, Neues, das sein Gefallen erregt hatte. Als Erzähler wie als Vorleser war Holtei unerschöpflich und unübertrefflich. Er konnte Einen plötzlich und ohne weitere Vorbereitung lachen und weinen machen, erschüttern und beseligen, zermalmen und erheben, und beherrschte seine Stoffe mit so großer Virtuosität, daß auch das Unbedeutendste durch die Art, wie er es darbot, den Schein des Bedeutenden gewann. Eigenthümlich war das Mittel, durch welches er die Aufmerksamkeit seines Hörers zu fesseln verstand. Er las, als wenn er sich unterhielte, und nagelte den Angeredeten, der oft nicht wußte, wo das Gespräch aufhörte und die Vorlesung begann, mit den Augen fest.

Welche Augen! Aus ihrem hellen Blau leuchtete die volle Seele, und ihre Lider überflog entweder ein Schatten leichter Melancholie, oder es umspielten sie hundert schalkhafte Falten des Humors. Diese Augen hatten nichts zu verheimlichen, und wen sie ansahen, der konnte, im Moment wenigstens, einer Ausflucht oder Lüge nicht fähig sein. In ihren Blicken waren seine rührende Gutmüthigkeit, seine oft geradezu erschreckende Offenherzigkeit, seine ausgelassenen Launen und seine aus Todessehnsucht und Sterbensfurcht gemischte Schwermuth deutlich zu erkennen. Was Holtei vor der Mehrzahl der anderen Menschen voraus hatte, war die in’s Unglaubliche gesteigerte Macht der Persönlichkeit. Man kann sagen, ohne damit seine poetische Begabung im mindesten herabzusetzen, daß der Mensch in ihm den Dichter an Bedeutung bei weitem übertraf. Auch seine beliebtesten, gerade ihres natürlichen Zaubers wegen so gern gelesenen Schriften geben kein vollständig zutreffendes Bild des eigenthümlichen Originals, das nur im nähern persönlichen Verkehr genau zu verstehen war.

Von der merkwürdigen Gabe des anschaulichen Vergegenwärtigens, die seinem Erzähler- und Vorlesertalente eigen war, habe ich namentlich in einer Hinsicht profitirt. Als Gymnasiast hatte ich noch sehr wenig von deutscher Literatur erfahren, die mittelalterliche ausgenommen, die mir gar nicht behagen wollte; in der neuern Geschichte der Poesie wurden wir mit trockenen Zahlen und Namen abgespeist, und nur der Zufall und der einmal erwachte Wissenstrieb machten mich mit dem oder jenem Dichter näher vertraut. Da hatte ich nun in Holtei ein lebendiges Buch vor mir, das mir Aufschluß über Alles gab, was ich nur wissen wollte, und zwar auf die allerunzweideutigste Art. Nicht nur, daß er selbst ein sehr langes und interessantes Stück Literaturgeschichte repräsentirte, das den ganzen Entwickelungsproceß des neunzehnten Jahrhunderts enthielt: seine ihm wieder von Aelteren mitgetheilten Erinnerungen reichten noch weiter zurück, bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Ich habe ihn weidlich gequält, bis er mich mit allen Größen der letzten Epoche genau bekannt gemacht hatte. Es gab kaum einen Dichter, Musiker und Schauspieler von 1820 bis 1870, dem er nicht irgendwo begegnet wäre. Dabei war der üppige Haushalt seiner Erinnerungen und Erlebnisse in so vorzüglicher Ordnung, daß Wiederholungen zu den allerseltensten Ausnahmen gehörten. Erst in der letzten Zeit, nachdem er von den „drei Bergen“ in’s Kloster der barmherzigen Brüder übergesiedelt war und seine allmähliche körperliche Auflösung begann, begegnete es ihm, daß er sich öfter wiederholte. [274] Einige der Haupthistorien Holtei’s sind mir in voller Frische gegenwärtig; ich sehe ihn deutlich auf dem glattpolirten schweren Mahagonistuhle vor mir sitzen und agiren. Er begleitete das Gespräch in der Regel mit äußerst drastischer Mimik und den lebhaftesten Bewegungen, die dem jeweiligen Charakter der von ihm citirten Personen genau angepaßt waren. Der ehemalige Schauspieler brach fortwährend in ihm durch. Ein Bild, wie es Holtei z. B. von Goethe entwarf, in dessen Hause er eine Zeitlang ungenirt ein- und ausgegangen war, darf Ansprüche auf Portraitähnlichkeit machen. Er stand vom Stuhle auf und zerlegte sich gleichsam in zwei Charaktere; der eine war der lustige und burschikose junge Holtei, der andere der gemessene und wie ein lebendiges Weltorakel auftretende alte Goethe. Den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, die Hände hinten über den Rocktaschen gekreuzt, stand er kerzengerade und steif da; die Augen weit geöffnet und fest auf einen Punkt gerichtet, fertigte er den vorlauten Burschen, der es gewagt hatte, die Schiller’sche Inscenirung des „Egmont“ anzugreifen, mit der ruhigen Bemerkung ab:

„Was wollt Ihr von meinem ‚Egmont‘, Ihr junges Volk, die Ihr kaum in die Welt gerochen habt? Unser Freund Schiller wußte, was er that, und also war es gut.“

Und dann machte er den Gang des Olympiers nach und wandelte wie eine geschobene Statue im Zimmer auf und ab, zuweilen inne haltend und mit den Blicken auf Tischen, Schränken und Kästen suchend, einen Zettel in der Hand, auf welchem wenige Zeilen standen. Als Goethe am zweiten Theile des „Faust“ dichtete, waren überall solche Zettel verstreut, die er dann zusammenschob oder beiseite legte, je nachdem es ihm gefiel. Oder der Alte ahmte nach, wie Goethe, was selten zu geschehen pflegte, in Zorn gerieth, die Nasenflügel bewegte, mit gehobener Stimme ausrief: „Nun, nun, das ist ja recht schön!“ und zur Thür hinausging. Dies war der höchste Ausdruck seiner Unzufriedenheit, und dann fand Niemand mehr den Muth, ihm vor Augen zu treten.

Ein anderes Bild: Heinrich Heine hatte seine ersten Gedichte herausgegeben, welche die Jugend elektrisirten und ihren Verfasser zum verzogenen Liebling der Berliner Salons machten. Er saß mit Ludwig Robert, dem Bruder der Rahel (Friederike Varnhagen von Ense), und Holtei zusammen und sonnte sich im Glanze seines jungen Ruhmes. Trotz seiner Erfolge war er schüchtern, argwöhnisch, eifersüchtig, empfindlich und gereizt und lauerte auf jedes Wort des Lobes oder Tadels. Robert zog beständig mit den harmlosesten Scherzen über ihn her, und Heine nahm jede Ironie für baare Münze und befand sich in der übelsten Stimmung.

„Sie haben sich’s nicht sauer werden lassen, lieber Heine, mit Ihren Paar Liedern. So was macht Ihnen Jeder nach,“ begann Robert.

„Nun bitte, versuchen Sie es doch einmal, wenn es gar so leicht ist!“ replicirte der gekränkte Dichter.

„Warum nicht? Hören Sie:

‚Sie gab mir bei ihrem Tode
     Ein blasses, blaues Band –
Es liegt in meiner Kommode
     Im Schube linker Hand?‘“

Heine sprang wie von einer Spinne gestochen auf und sagte mit zitternder Stimme alles Ernstes:

„Lieber Robert, lassen Sie das um Gotteswillen nicht drucken – sonst bin ich ein verlorener Mann.“

Wie Holtei zuvor Goethe copirt hatte, so that er es auch mit Heine und Robert, und man glaubte die drollige Scene selber zu erleben.

So wüßte ich noch eine Menge von Anekdoten aus Holtei’s Gesprächen zu berichten. Zum Theil finden sie sich schon in den „Vierzig Jahren“, dort allerdings meist in veränderter Fassung, und sie nehmen sich im Druck stumpf und todt aus.

Hand in Hand mit diesen mündlichen Ueberlieferungen ließ Holtei schriftliche Demonstrationen gehen. Wenn man in sein von ihm nur als Garderobe und Stapelplatz für einlaufende Bücher und Geschenke benütztes Vorzimmer trat, sah man auf einem Tische eine Reihe von großen blauen Mappen liegen, in alphabetischer Ordnung und sauber abgefegt. Das war seine kostbare Autographensammlung, sein liebster Besitz, von welchem er sich später nur nach langem Widerstreben und durch die äußerste Geldverlegenheit gedrängt zu trennen vermochte. Hätte ich damals die lumpigen dreizehnhundert Thaler gehabt, die er für diese unbezahlbaren Reliquien erhalten hat, so wären sie heute noch beisammen und nicht, wie leider geschehen, in alle vier Winde zerstreut und verzettelt. Das Wenige, was ich an Handschriften aus der reichen Fundgrube besitze, sind einige Doubletten, die mir Holtei zum Geschenk gemacht hat, als ich den Kauf zwischen ihm und dem wunderlichen Kunstliebhaber Robert Weigelt – er ist unlängst in Elend und Armuth gestorben – vermittelte. Weigelt war ein stadtbekanntes Breslauer Original, ein genialer, herzensguter, aber für das Leben völlig unbrauchbarer Mensch. Er hatte Theologie studirt, war dann Maler und Photograph geworden, trieb aber bald sein Geschäft nur aus Liebhaberei, nachdem er seine Kunden durch Launen und Schrullen der seltsamsten Art verscheucht hatte.

Sein väterliches Vermögen schien ihm unerschöpflich; er kaufte Alles, was ihm irgendwie interessant schien, war immer mit geheimnißvollen Plänen beschäftigt, die nicht zur Ausführung gelangten, und hatte niemals eine Minute Zeit, obgleich er eigentlich nichts that. Von ihm rührt das beste Portrait unseres Dichters her, das mir Holtei vor zehn Jahren mit folgender Unterschrift überreicht hat:

„Und wenn der Junge zum Alten kommt,
Vermeint Ihr, daß es dem Jungen frommt?
Der Alte möcht’ weise Lehren geben,
Durch Lehren aber lernt Keiner leben.
Jedweder selbst soll sich Weisheit kaufen,
Soll rechts und links mitunter anlaufen.
Erfahrung hat, theuer bezahlt, erst Gewicht;
Was Einem geschenkt wird, achtet er nicht.“

[275] Wenn die blauen Mappen hervorgeholt wurden, war kein Ende des Lesens, Fragens und Berichtens zu finden, und die Stunden flogen mit Windeseile dahin, sodaß ich Mittag- und Abendmahlzeit über den vergilbten Herrlichkeiten versäumte und in ewig sich erneuernde Conflicte mit der Ordnung des Vaterhauses gerieth:

„Wen erlabend die Himmlischen nähren,
Kann der irdischen Speise entbehren.“

Da zeigte sich Holtei als rechter Geisterbeschwörer; denn er ließ mit den Manuscripten zugleich ihre Autoren erscheinen, und aus den kümmerlichen Resten ihres Erdendaseins wuchsen die leuchtenden Gestalten herrlich empor. Das enge Gasthofzimmer erweiterte sich zur Ruhmeshalle der deutschen Dichtung, und ihre Heroen schritten grüßend an dem Nekromanten und seinem begeisterten Adepten vorüber. Klopstock und Lessing , Goethe und Schiller, Herder und Wieland , Hölderlin und Hölty, Tieck und Schlegel, Arnim und Brentano, Bürger und Kleist, Immermann und Heine, Grillparzer und Lenau, Platen und Rückert, Uhland und Chamisso, Hebbel und Grabbe, Strachwitz und Eichendorff – sie alle lernte ich gleichsam persönlich kennen, und als ich dann später ihre Werke las, machten mir diese einen doppelt tiefen Eindruck und erschienen wie vertrauliche Mittheilungen.

Solche Literaturstunden, von solchem Lehrer gegeben, werden mir schwerlich ein zweites Mal wieder kommen. Heute bewundere ich die unendliche Geduld, Nachsicht und Güte meines väterlichen Freundes und begreife nicht, wie er seine Zeit dem blutjungen Menschen widmen konnte, der damals dies Alles als etwas Selbstverständliches in Empfang nahm und kaum ein „Danke schön!“ dafür sagte. Aber eben diese Selbstlosigkeit war charakteristisch für Holtei, wie er sie denn auch nach einer andern Seite hin übte, indem er mit verschwenderischer Freigebigkeit fortschenkte, was er besaß. Für den Armen der bei ihm anklopfte, hatte er immer noch einen Thaler übrig, obwohl er selber Noth litt und erst wenige Jahre vor seinem Tode durch die Güte des Kaisers und als Pensionär der Schiller-Stiftung vor dem äußersten Mangel bewahrt wurde. So lange er konnte, hat er seinen Unterhalt sich ehrlich verdient, wenn auch die Feder manchmal seiner müden Hand entsinken wollte und er unter der Last widerwilliger Arbeit seufzte.

Wie oft, wenn ich ihn zur festgesetzten Stunde am Schreibtisch überraschte, erging er sich in Expectorationen, wie:

„Gut, daß Sie kommen und daß ich die nichtswürdige Schmiererei liegen lassen darf! Schreiben oder Hungern – mögen Sie nie vor dieses traurige Dilemma gestellt werden! Es ist eines so schlimm wie das andere, und ich bin noch gut daran, die Leute kümmern sich hier und da noch um das dumme Zeug; sonst müßte es heißen: Schreiben und Hungern! Und gar heutigen Tages! Wer liest denn noch Bücher, wie man sie früher las, mit Andacht, Behagen und Ruhe? Und wer kauft sie? Die gnädige Frau Baronin oder die Frau Oberstlieutenant oder die Frau Regierungsräthin wollen überhaupt nur reden über ein Buch, und ihre Zeitung bringt ihnen die übliche alberne Anzeige mit einem Extract der Geschichte, der dem Autor das Beste vorweg nimmt. Allenfalls schicken sie dann in die Leihbibliothek und schämen sich nicht, einen Band in ihre hochwohlgeborene Pfote zu nehmen, der aussieht, als wenn er drei Tage im Rinnstein gelegen hätte. Pfui Teufel! Dieses hochnasige, knickerige und unverschämte moderne Bildungsgesindel, das seine Nase in jeden Quark steckt und über Alles das Maul bis an die Ohre aufreißt! Für diesen Pöbel strengt unsereiner sein abgemartertes Gehirn an. Keine Zeile mehr würd’ ich auf’s Papier setzen, wenn ich’s nicht nöthig hätte. Geschenkt wollen sie Alle haben und thun noch, als ob sie einem eine besondere Ehre erwiesen, wenn sie das Buch huldvollst und geneigtest entgegennehmen und dem armen Verfasser das Geld aus der Tasche stehlen. Wenn ich die Groschen beisammen hätte, die mich meine Bücher schon gekostet haben, weil ich sie immer und immer wieder kaufen muß, um sie meinen ‚Verehrern‘ zu dediciren – es wäre ein hübsches Sümmchen.“

Sobald Holtei am Arbeitstische saß, einem ungeschlachten, die halbe Wand ausfüllenden einfachen Möbel, das er nach eigener Angabe sich hatte anfertigen lassen, spielte er mit einer Kugel von braunem Bossirwachs, die er in der linken Hand hielt, knetete und rollte. Deutsche Bücher, besonders Romane, las er nur, wenn er sich für den Autor interessirte. Geistige Nahrung und Anregung zog er meist aus französischer Lectüre, die er sehr hoch schätzte. Auch wollte er in seinem Stil von Niemandem beeinflußt sein und haßte nichts so sehr, wie Nachahmung und Schablone. Eine Bibliothek besaß er nicht; seine Bücher lagen sämmtlich in Graz bei seinen Angehörigen, und nur das Allerunentbehrlichste hatte er in einem kleinen Glasschranke im Vorzimmer untergebracht. Dazu gehörten Rückert’s sämmtliche Werke, ein Geschenk des Verlegers Sauerländer, Goethe's und Christian Günther’s Gedichte, Béranger und Horaz. So wenig er für die moderne Literatur im Allgemeinen eingenommen war, so innig und warm verehrte er einige der neuesten Dichter, vor Allen Paul Heyse als Novellisten und Emanuel Geibel als Lyriker. Das „Geheimniß der Sehnsucht“ mit seinem Heimweh nach der Ewigkeit, eines der schönsten und tiefsinnigsten Gedichte Geibel’s, rührte ihn zu Thränen. Was ihn bei beiden Dichtern mit lebhaftester Bewunderung erfüllte, der er nie genug rühmende Worte zu geben wußte, war die hohe künstlerische Vollendung ihrer Form, als hätte er gefühlt, woran es ihm selber am meisten gebrach.

Im Uebrigen war er, wie aus vielen seiner mündlichen und schriftlichen Aeußerungen hervorgeht, kein Freund der modernen Zeit mit ihren Eisenbahnen, Correspondenzkarten, Parlamentsreden, Journalen, Reclamemachern, Schwindlern und Clavierspielern. Das Alles warf er bunt durch einander in Einen Topf und pries dann die guten alten stillen Tage von ehemals, die golden in seinem Gedächtniß fortlebten. Es war unter Umständen gefährlich mit ihm zu politisiren und zu philosophiren; er wurde leicht verstimmt und trug seinen Groll dem, der ihm widersprochen hatte, lange nach.

In der Politik stand ihm das autokratische Königthum der Hohenzollern und die Hausmacht des preußischen Staates auf unantastbarer Höhe; er nannte sich mit Vorliebe den alten Royalisten und wollte von der Wandlung der Dinge, die in den siebenziger Jahren eintrat, und vom deutschen Reiche anfänglich wenig wissen. Wurde er von Thatsachen und schlagenden Beweisgründen in die Enge getrieben, so schnitt er die Debatte kurzweg ab und deckte sich den Rückzug mit drolligen Redensarten wie: „Daraus mag einer von Euch Gelehrten klug werden; ich bin zu alt und zu dumm für Eure Weisheit von gestern.“ Oder er sagte: „Was geht mich die ganze Wirthschaft an? Ich hab’s ja doch bald überstanden; ‚auf einer Wolke will ich sitzen und zusehen wie sie einander unten die Köpfe abreißen.‘“

Hielt er in politischen Angelegenheiten starr an dem überlieferten Autoritätsprincip fest, so dachte er in Gefühls- und Glaubenssachen um so freier und humaner. Er übte Toleranz gegen jede natürliche Schwäche des Herzens und achtete jede ehrliche Ueberzeugung. „Da ist kein Jude, kein Heide, kein Christ – wir sind allzumal Sünder, die des Ruhmes ermangeln“ – in diesen Worten war sein Glaubensbekenntniß enthalten. Priesterlichen Beistand und eine geistliche Grabrede hat er sich vor seinem Ende ausdrücklich verbeten. Und doch beschäftigten ihn die Gedanken über Seele, Gott und Unsterblichkeit bis in die letzten Tage. Ein Skeptiker vom reinsten Wasser, verließ er sich auf nichts als auf seine eigenen Erfahrungen, die ihn zuweilen in abenteuerliche Phantasien verwickelten. Noch kurz vor seinem Tode versicherte er mir mit aller Bestimmtheit, es gäbe keine Unsterblichkeit; er fühle, wie mit den Kräften des Leibes auch die des Geistes allmählich schwächer würden und auslöschten. Und dann meinte er wieder, wenn ein Gott existirte, der sich um jeden miserabeln Kerl und um alle Weltläufe, welche aus Millionen von Gestirnen herumkriechen, bekümmere, so werde er ihm gewiß verzeihen, daß er nicht an ihn habe glauben können. Sei der Geist göttlichen Ursprungs, so vermöge man keinen besseren Gebrauch von ihm zu machen, als zu zweifeln. Der Glaube beschränke, während der Zweifel befreie. Man diene also Gott eher dadurch, daß man seine eigenen Meinungen sich in Kampf und Verwirrung des Lebens bilde, als daß man als gläubiges Schaf hinter einem Leithammel herliefe und sich von den Pfaffen etwas vorreden ließe. Die Atheisten seien die wahren Diener des heiligen Geistes etc.

Bei solchen Ansichten und Sophistereien mochte es befremden, daß Holtei, der obendrein geborener Protestant war, entschieden zum Katholicismus hinneigte. Aber diese Neigung hatte, wie bei vielen künstlerisch angelegten Naturen, ihren Grund in den

[276] ästhetischen Anschauungen und beruhte keineswegs auf seiner positiven Ueberzeugung. Ich hatte ihm einmal eine Anzahl geharnischter Sonette geschickt, die, aus einer äußern Veranlassung entstanden, gegen die despotische Kirche zu Felde zogen, und erhielt folgende schriftliche Abweisung: „Ich fühle mich nicht befähiget, Dichtungen zu beurtheilen, welche gegen den Katholicismus im Allgemeinen gerichtet sind, da ich an diesem stets nur das poetische Ideal betrachtet habe, ohne mich von den Entartungen der Realität abschrecken zu lassen.“

Das poetische Ideal war es, was ihn zum weihraucherfüllten, von Musik durchklungenen Dome und zu der Menge anbetender Gläubigen hinzog; vor dem Unbegreiflichen und Ewigen wollte er mit ihnen auf den Knieen liegen, ohne darum ihre Dogmen und Satzungen zu beobachten. Er unterschied zwischen religiöser Stimmung und religiösem Glauben und mochte nicht leiden, daß ihm dieser durch eine protestantische Predigt aufgenöthigt wurde, während er jene am reinsten und unmittelbarsten im Cultus der katholischen Kirche zu empfangen schien. Sein intimer Umgang mit dem ehemaligen Fürstbischof von Breslau, der sofort abgebrochen wurde, als Dr. Heinrich Förster seinen Beitritt zur Unfehlbarkeitserklärung aussprach, ist Holtei, wie vieles Andere, von den biederen Breslauern schwer verübelt worden. Sie nannten ihn einen Achselträger und Heuchler und hatten keine Ahnung davon, wie ungebunden und rückhaltlos der Dichter mit dem geistlichen Oberhaupte vom Dome verkehrte, und wie er auch ihm gegenüber aus seinen freien Ansichten durchaus nicht den geringsten Hehl machte.

Holtei’s Lebensabend wurde durch zwei außergewöhnliche Ereignisse verschönt: durch sein goldenes Dichterjubiläum, das in seiner Vaterstadt festlich begangen wurde, und durch die allgemeine Feier seines achtzigjährigen Geburtstages, an welcher ganz Deutschland sich betheiligte. Auch für mich waren der 21. Mai 1869 und der 24. Januar 1878 denkwürdige Ehrentage; denn man hatte mich ausersehen, für Widmung und Prolog zu sorgen, und ich bin der ehrenvollen Aufforderung mit großer Freude nachgekommen. Konnte ich dem väterlichen Freunde doch einmal vor vielen Ohrenzeugen sagen, wie lieb ich ihn hatte und wie dankbar ich ihm war!

Die Erinnerung an Holtei’s Dichterjubiläum wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Hinter einer glänzenden und zahlreichen Deputation vornehmer Herren und schöner Damen – die Artôt und Padilla waren als junges Ehepaar dabei – schlich ich in einem geliehenen Frack die Stiegen des bekannten Hôtels hinauf. Freiherr von Ende trug auf einem Atlaskissen den Lorbeer aus massivem Golde, welcher auf seinen Blättern die Titel von Holtei’schen Werken zeigte. Eine Dame überreichte dem Jubilar das Zueignungsblatt, das außer meinen Versen die Namen seiner Freunde und Kranzspender enthielt; eine andere Dame übergab ihm ein verblichenes gedrucktes Papier mit altmodischen Lettern, von einem gestickten Rahmen eingefaßt – es war der Theaterzettel vom 21. Mai 1819, der die erste Aufführung der „Farben“ im Breslauer Stadttheater ankündigte. Während die Schauspielerin Helene Widmann die Zueignung sprach, lehnte Holtei an dem Thürpfosten und weinte wie ein Kind. Dann aber war er schnell gefaßt, unterhielt die Gesellschaft auf’s Lustigste und erzählte seine „Göttergeschichten“.

Ernster und trauriger für den Dichter verlief die Feier seines achtzigjährigen Geburtstages. In völliger Gebrochenheit und von Leiden aller Art gequält, saß er in der stillen einsamen Zelle des „Barmherzigen Bruderklosters“, die er nur verlassen sollte, um sie mit einer noch einsameren und stilleren unter der Erde zu vertauschen. Nur wenige Gratulanten wurden vorgelassen, und die wenigen standen verlegen, einsilbig und niedergeschlagen um den Kranken, dem die Vernichtung schon ihre sichtbaren Zeichen in’s Antlitz geprägt zu haben schien. Während am Abend vor einem unabsehbaren Publicum, das aus ganz Schlesien nach der Hauptstadt geeilt war, Holtei’s Lieder gesungen und seine Gedichte declamirt wurden und der Festredner Karl Weinhold den Dichter in warmen beredten Worten feierte, stöhnte der gequälte Mensch auf seinem Schmerzenslager und rief vergebens nach dem einzigen barmherzigen Bruder, der ihn von seinen Schmerzen erlösen konnte, nach dem Allerbarmer Tod. Noch zwei lange, unsäglich elende Jahre sollten hingehen, ehe der ersehnte Erlöser und Befreier an seine Thür klopfte.

Gleich einem Gefangenen, der kaum ein Stück blauen Himmels und ein paar Schornsteine von seinem vergitterten Fenster aus zu sehen bekommt, verlebte Holtei, an den Lehnstuhl gefesselt, düstere Stunden; von Schreiben und Lesen war bald die Rede nicht mehr; er ließ sich in der ersten Zeit noch manchmal etwas vorlesen und nahm auch an den Ereignissen des Tages Theil, so gut es eben anging. Dann aber kamen Perioden, wo sein Geist umnachtet war, Gesichtstäuschungen und Gedankenstörungen eintraten und er Niemanden erkannte. Nur mit innerstem Widerstreben bin ich den Weg zum Kloster gegangen. Jeder Besuch regte mich im Tiefsten auf; das Bild, das ich aus früheren Tagen von Holtei empfangen hatte, erschien mir bis zur Unkenntlichkeit entstellt und verzerrt, und der Geruch des Krankenhauses, sowie die sich fühlbar machende Nähe von Sterbenden und Todten wirkten so deprimirend auf Geist und Körper, daß ich jedesmal unwohl und im Fieber nach Hause kam.

Bei unserem letzten Wiedersehen hatte er einen guten Tag. Sein Gedächtniß war wieder da, und wir plauderten eine halbe Stunde. Zu meinem Erstaunen fand ich ihn auf das Genaueste über alle meine Verhältnisse, die mich in die Fremde fortgedrängt, unterrichtet. Und er hat mich beruhigt und getröstet wie in alter Zeit, und seine letzten an mich gerichteten Worte waren Worte herzlicher Liebe und Güte. Ich fühle noch den Druck seiner kalten abgestorbenen Hände, die nun in der Erde ruhen.

Als ich ihn noch einmal besuchen wollte, um Abschied von ihm zu nehmen, hatte er selber auf ewig Abschied genommen.