Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1/Siebentes Kapitel
« Sechstes Kapitel | Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1 | Achtes Kapitel » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
[405] Siebentes Kapitel.
Luther.
(Die Reformation und der Buchhandel.)
Deutsch als werdende Litteratursprache. – Massenproduktion und Absatz von Luthers Schriften. – Wirkung derselben. – Luther und seine Verleger. – Die Bibelübersetzung. – Die Nachdrucker. (Gegenreformation in Österreich.) – Die Buchführer. – Volkstümliche Flugschriften. – Johann Herrgott. – Die Prädikanten. – Balthasar Hubmayer. – Die Schulen.
„Die Buchdrucker bekommen zu thun“, schrieb Hutten an den Grafen Hermann von Neuenar, als er vom ersten Auftreten Luthers gegen den Ablaßkram gehört hatte; „es werden Streitsätze und Corollarien, Schlüsse und, was manchem übel bekommen ist, Artikel verkauft. So hoffe ich, werden sie (die Pfaffen) sich gegenseitig zu Grunde richten.“ In diesem letztern Punkte täuschte sich Hutten damals gründlich, wenn auch die Drucker mehr zu thun bekamen, als vielleicht der Hoffnungsreichste von ihnen zu erwarten gewagt hatte. Wie Luthers Streit mit Tetzel mehr als ein kleinliches Mönchsgezänk war, über welches die Humanisten schadenfroh jubelten, so entstand aus dem tapfern Angriff Luthers sehr bald ein Weltbrand, der das mittelalterliche Rom niederstreckte, Päpste, Kaiser und Fürsten jahrhundertelang ängstigte und noch ängstigt und die Pressen aller Völker in Bewegung setzte. Die Seele des deutschen Volks wurde bis in die tiefsten Tiefen aufgeregt: Leidenschaft und Zorn, Hoffnung auf bessere Zeiten und das Streben nach ihrer Herbeiführung, selbstlose Hingabe an die von Luther zuerst angeregten Ideen und todesmutiges Wagen bildeten die Signatur der Zeit.
Der unscheinbare Mönch, dem Hutten gewünscht hatte, daß er seine Gegner fresse, damit sie alle zuletzt von einander gefressen würden, trat [406] an die Spitze der täglich mehr anschwellenden Bewegung und wurde gleichsam über Nacht ein gewaltiger Volksmann, ja, eine europäische Macht, mit welcher die größten Herrscher rechnen mußten. Luther war mehr wie jeder andere der bewußte Ausdruck dessen, was die Massen in ihrem dunkeln Drange bewegte, aber er war mehr als das, er verkörperte zugleich in sich das Dichten und Trachten seiner klarer und heller sehenden Zeitgenossen und wurde durch die Vereinigung dieser beiden Eigenschaften sehr bald der mächtige Führer im Streit.
Es kann selbstredend nicht die Aufgabe des vorliegenden Werks sein, die Entwickelung der Reformation zu erzählen. Dagegen liegt ihm als einer Geschichte des Buchhandels die Pflicht ob, die Wechselbeziehungen hervorzuheben, in welche jene gewaltige Bewegung zum deutschen Buchdruck und Buchhandel steht, und durch die Schilderung der äußerlichen Erfolge der Werke Luthers sowohl, als der gleichzeitigen Volks- und Flugschriften die Geistesbewegung jener Zeit und die ungewöhnlich schnell wachsende Macht der Presse dem Verständnis näher zu rücken.
Außer seinen übrigen Ruhmestiteln hat sich Luther auch das große Verdienst um das deutsche Volk erworben, daß er der Schöpfer der hochdeutschen Litteratur ist. Wenn man die Ausbreitung der Buchdruckerkunst in den Anfang des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts setzt, so war sie bei Luthers erstem öffentlichen Auftreten gerade ein halbes Säkulum lang in Thätigkeit gewesen, indessen immer noch dem Volke ziemlich fremd geblieben. Bis dahin hatten in der Litteratur die Scholastiker und Humanisten fast die ausschließliche Herrschaft behauptet; der Befriedigung ihrer Bedürfnisse hatten Buchdrucker und Buchhändler fast ausschließlich gedient. Jene aber schrieben nur ausnahmsweise Deutsch; das Lateinische galt ihnen als vornehmer, zog es doch zwischen ihnen und dem profanum vulgus eine unübersteigbare Scheidelinie! Luther aber war gerade in der größten Zeit seines Lebens (1517 bis 1524) der demokratische Agitator, der sich auf die große Masse des Volks stützen mußte, wenn er siegen wollte. Er konnte die Menge aber nur aufrütteln und anregen und zum selbständigen Denken und geistigen Leben emporheben, wenn er sich in der ihr allein verständlichen, in der deutschen Sprache an sie wandte. Die Schneidigkeit seines Wesens, die Kraft seiner Worte, die Beredsamkeit seiner Beweise zündeten und machten überall, selbst auf die Gegner einen mächtigen, schwer zu überwindenden [407] Eindruck. Fesselnder, ergreifender und packender hat kein Deutscher geschrieben. Dabei beherrschte er seine Muttersprache mit solcher Gewalt, daß er sie zur Schriftsprache zu erheben vermochte.
Deutsche Bücher gab es damals verhältnismäßig wenige; höchstens daß ausnahmsweise ein paar Schriften über Kräuter- und populäre Heilkunde, sogenannte Arzneibücher, Laienspiegel, Volksbücher oder satirische Erzählungen und Dichtungen in Straßburg, Augsburg oder Nürnberg für das Volk gedruckt wurden, oder einige humanistische Flugschriften, welche übrigens so ziemlich mit Luthers erstem Auftreten zusammenfallen.
Wenn Ranke in seiner Geschichte der deutschen Reformation nur auf den durch Panzers Vorarbeiten gegebenen Standpunkt der Bibliographie zurückgreifen konnte, und wenn man diesen heutzutage durch neuere Arbeiten um mehr als das Doppelte überholt sieht, so kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß das, was heute gilt und gelten muß, von der nächsten Generation noch wesentlich erweitert und vermehrt werden wird. Bietet die im Jahre 1864 erschienene verdienstvolle Arbeit E. Wellers schon bedeutend mehr als das, was Ranke nach Panzer anzugeben vermochte, so ergibt die 1870 veröffentlichte und von A. Kuczynski vortrefflich katalogisierte Weigelsche Sammlung von etwa 3000 Flugschriften Luthers und seiner Zeitgenossen, daß über ihre Zahl das letzte Wort noch nicht gesprochen werden kann. Obgleich dieser Katalog das ganze 16. Jahrhundert umfaßt, so enthält er für die kurze Zeit von 1518 bis 1523 schon wieder an hundert neue von Panzer und Weller noch nicht gekannte Ausgaben. Das Verhältnis wird am klarsten durch die Vergleichung der Panzerschen Gesamtzahl mit den Ergebnissen der neuern Forschungen veranschaulicht. Der Zeitraum selbst möge auf die von Ranke ausgezogenen Jahre beschränkt bleiben, weil diese die ausschlaggebende Periode für die Entwickelung der reformatorischen Bewegung in sich schließen. Von den innerhalb dieser 11 Jahre gedruckten deutschen Schriften verzeichnet
für das Jahr | Panzer | ergänzt Weller | zusammen also |
1513 | 35 | 55 | 90 |
1514 | 47 | 59 | 106 |
1515 | 46 | 99 | 145 |
1516 | 55 | 50 | 105 |
1517 | 37 | 44 | 81 |
Gesamtsummen: | 220 | 307 | 527. |
[408] Nach Luthers Auftreten steigert sich die Zahl der deutschen Schriften wie folgt: es verzeichnen, beziehungsweise ergänzen
für die Jahre | Panzer | Weller | Kuczynski | in Summa |
1518 | 71 | 74 | 1 | 146 |
1519 | 111 | 138 | 3 | 252 |
1520 | 208 | 353 | 10 | 571 |
1521 | 211 | 294 | 18 | 523 |
1522 | 347 | 307 | 23 | 677 |
1523 | 498 | 418 | 28 | 944 |
Gesamtsummen: | 1446 | 1584 | 83 | 3113. |
Der Druck dieser Werke verteilt sich über ganz Deutschland unter etwa 50 verschiedene Städte. Auf das vorher als Verlagsort ganz unbedeutende Wittenberg kommen allein in den Jahren 1518 bis 1523 an 600 verschiedene Drucke.
Bis auf Luther waren die in Deutschland gedruckten Bücher in der Regel große und teuere, meist vornehm ausgestattete Folianten oder auch Quartanten, welche man bequem in den Bibliotheken nach damaligem Brauch an die Kette legen, aber nicht in die Welt hinausschleudern konnte, wie die handlichen Oktavbände. Er vorwiegend führte zuerst das demokratische Flugblatt in Quart, die billigen Duodez- und Oktavschriften von wenig Bogen massenhaft in die deutsche Litteratur ein. Auch das war eine revolutionäre That, die vielleicht ebenso entscheidend auf die Geschicke der Menschheit einwirkte, wie im Kriege der leichte Fußsoldat, der den gepanzerten Ritter verdrängte, und wie im modernen Wirtschaftsleben die Siebenmeilenstiefel der Eisenbahn, welche den alten Frachtwagen überflügeln. Wenn auch früher schon oft genug, wie von den Humanisten, derartige kleine Drucke veröffentlicht worden waren, so geht Luther doch planmäßig vor und ist vielleicht, sich selber unbewußt, durch Aldinische Einflüsse bestimmt worden. Eine solche Verwendung seines handlichen Formats für kirchenfeindliche Zwecke hatte sich der gläubige venezianische Verleger sicher nicht träumen lassen. Indem Luther das heftige Kleingewehrfeuer der politischen und kirchlichen Flugschrift gegen das schwere Geschütz der Quartanten und Folianten eröffnete, erhob er erst die Buchdruckerkunst zu ihrer eigentlichen Bedeutung und gewann in ihr einen tausendzüngigen Herold, den keine mündliche Propaganda ersetzen konnte. Lehre und Predigt allein thun es nicht. Sie dringen im [409] günstigsten Fall an das Ohr von Hunderten und Tausenden; die Presse dagegen vermag Hunderttausende und Millionen zu gleicher Zeit für eine neue Idee zu gewinnen und hat denn auch in erster Linie die Reformation zur heiligen Angelegenheit des ganzen Volks erhoben.
Luther war von seinem ersten öffentlichen Auftreten an von der Erkenntnis der Macht der Presse durchdrungen. So ist denn auch seine Thätigkeit auf litterarischem Gebiet eine wahrhaft staunenswerte. Wenn schon seine bis 1520 lateinisch geschriebenen und nur teilweise ins Deutsche übersetzten Predigten und Abhandlungen eine begeisterte Aufnahme fanden, so erfreuten sich seine deutschen Schriften einer bis dahin gar nicht für möglich gehaltenen Verbreitung und wurden von allen Volksklassen förmlich verschlungen. Erst Knaake’s neue kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers wird eine genaue Kenntnis der verschiedenen Einzelausgaben ermöglichen und die Geistesbewegung jener Zeit gründlicher als bisher erkennen lassen. Von dieser bedeutenden Arbeit ist leider bis jetzt (bei Niederschrift dieses Kapitels) nur der erste Band erschienen; indessen liefert er, trotzdem daß er bloß bis 1518 geht, die wichtigsten Bausteine auch zu einer Geschichte des Buchhandels jener Zeit.
Auch fand Luther schon den Boden vollständig vorbereitet für sein Auftreten und Vorgehen. Die Volksbildung war durchaus nicht in dem Maße vernachlässigt, wie dies mit besonderer Vorliebe von der spätern lutherischen Geistlichkeit geschildert ward. Man vergegenwärtigte sich zur Widerlegung dieser irrigen Ansicht z. B. nur die lange Jahre bestehenden verdienstlichen Unterrichts- und Erziehungsanstalten der „Brüder vom gemeinsamen Leben“, die Lehrthätigkeit auch der übrigen Humanisten, die Kloster- und Domschulen und städtischen Anstalten in fast ganz Deutschland. Es gab ferner allerorten auch sogenannte Schreib- und Rechenmeister, ja selbst Lesefrauen, welche eben nur lesen und allenfalls schreiben und rechnen lehrten. Aus diesen Gründen war denn schon vor der Reformation im deutschen Bürgertum eine große Schicht vorhanden, welche lebhaften Anteil an der geistigen Bewegung nahm, Bücher kaufte und las. Wäre der allgemeine Bildungsstand ein so tiefstehender und nicht einmal der Ansatz zu litterarischen Bedürfnissen vorhanden gewesen, wie hätte dann die schriftstellerische Thätigkeit Luthers die mächtige Wirkung ausüben können, welche sie in allen Volkskreisen thatsächlich ausgeübt hat, und zwar nicht nur auf diese, sondern auch auf den Buchhandel?
[410] Froben schrieb am 14. Februar 1519 an Luther, daß er zahlreiche Exemplare seiner Werke in Frankreich, Spanien, Italien, Brabant und England abgesetzt habe.[1] Es handelt sich hier um die erste Sammlung von Luthers Werken, welche der baseler Verleger in erster Auflage im Oktober 1518 gedruckt hatte, in zweiter im August 1519 und in dritter im März 1520 druckte.[2] „Deine Schriften“, bestätigt Capito (Köpflin aus Hagenau) einige Tage später, „haben wir hintereinander gedruckt, wie Du aus der Gabe Frobens gleich nach der frankfurter Messe ersehen wirst, und mit großem Glück innerhalb sechs Monaten verbreitet.“ Auf diese Nachrichten gestützt meldete Luther am 14. April 1519 dem Kardinal Lang, daß seine Schriften viel von den Theologen der pariser Sorbonne gelesen würden und daß Froben alle Exemplare in Italien, England, Frankreich und Brabant verkauft habe. Spalatin, der im September 1520 aus Frankfurt a. M. an Mutian schrieb, sagt, daß nichts häufiger gekauft, begieriger gelesen und fleißiger besprochen werde, als Luthers Schriften. Eine Hauptniederlage derselben war in Basel (bei wem? wird nicht gesagt). Ein berner Buchhändler wurde zur Weihnachtsmesse 1519 dahin gesandt und kaufte am Weihnachtsabend eine große Anzahl.[3] Am 23. Mai 1519 schrieb ein Freund an Agrippa von Nettesheim: „Ich bin durch ganz Basel gewandert, habe jedoch kein Exemplar von Luthers Schriften mehr auftreiben können, da alle verkauft sind. Es heißt aber, daß sie in Straßburg neu gedruckt werden sollen.“[4] In Siebenbürgen waren es wieder Kaufleute, welche 1519 die leipziger Messe besucht hatten und einige von Luthers neuen Werken mit nach Hause brachten, wo sie eifrig gelesen, studiert und erklärt wurden.[5] „Wir haben“, meldet Albert Burer aus Basel am 30. September 1519 an Beatus Rhenanus, „alle Offizinen besucht, aber nirgends etwas unter der Presse gefunden, außer Luthers Schrift über die Ehe, welche Adam Petri druckt.“[6] „Wenn Du den deutschen Luther hast“, schreibt Jean Vaugris aus Lyon am 22. November 1520 an Amerbach, „so schicke ihn mir hierher, denn ich habe hier gute Freunde, welche ihn lesen wollen.“[7] „Schon weiß“, schreibt auch der konstanzer Generalvikar Johann Faber 1521 im Mai an Vadian, „durch die Schuld der Buchdrucker jeder Ungelehrte von dem Lutherschen Handel, und alle alten Weiber reden auf offener Straße davon.“
Eine der ersten deutschen Flugschriften Luthers war seine Ansprache [411] an den Adel deutscher Nation, welche am 18. August 1520 ausgegeben und sofort in 4000 Exemplaren verkauft wurde, sodaß schon fünf Tage später, am 23. August 1520, eine neue Auflage veranstaltet werden mußte. Von seiner Disputation mit Eck wurden auf der frankfurter Herbstmesse des Jahres 1518 in ein paar Tagen 1400 Exemplare abgesetzt. Auf dem Gebiete des Buchhandels bereitete sich ein mächtiger Umschwung vor. Kirchenväter und Klassiker, profane und geistliche Gelehrsamkeit traten plötzlich auf dem Büchermarkt in den Hintergrund, sanken zum Teil zu Ladenhütern herab. Selbst die bis dahin vorzugsweise gesuchten Werke des Erasmus waren seit 1518 weniger begehrt. Kaum war dagegen eine Luthersche Flugschrift erschienen, so wurde sie in Basel, Augsburg und Nürnberg, oft auch in andern Städten ohne Angabe des Druckorts, von einem Dutzend, wenn nicht mehr Druckern zur selben Zeit und in verschiedenen Auflagen nachgedruckt. Alte hochstehende Firmen, wie z. B. Froben in Basel und Koberger in Nürnberg, wurden von jungen aufstrebenden Buchhändlern, wie Adam Petri, überflügelt. Ersterer ließ sich von Erasmus einschüchtern und druckte seit 1520 nichts mehr von Luther, wie sich denn auch der gelehrte Rotterdamer dieses Einflusses in seinen Briefen an Papst Leo X. und an den Fürsten Carpi rühmt. Die Koberger verhielten sich sogar ablehnend gegen Luthers Anerbietungen und zogen ihnen ihre alten Folianten vor, auf denen sie dann schließlich sitzen blieben. So warfen sich die jungen und strebsamen Händler bald ausschließlich auf Luther, da er mit jedem Tage mehr eine Goldgrube für sie wurde. Die Schriften der Gegner der Reformation seien unverkäuflich, klagten die leipziger Buchhändler, und es sei nur dann ein Verleger für sie zu finden, wenn der Verfasser die Druckkosten trage, meinen Johann Cochläus und Georg Wizel.
Diese allmähliche, kaum in die Augen fallende friedliche Umwälzung geht schon aus dem Nachweis hervor, welchen die kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers über dessen erste Schriften gibt. Es mögen deshalb über die Verbreitung derselben hier auf Grund des ersten Bandes die nähern Einzelheiten folgen.
Luthers erster Drucker war Johann Weißenburger aus Nürnberg, welcher sich 1513 in Landshut in Bayern niedergelassen und hier für den Humanisten Christoph Scheurl, des Reformators damaligen Freund, gedruckt hatte. Scheurl scheint den Landsmann an Luther empfohlen [412] und dessen Manuskript sogar nach Landshut geschickt zu haben, wo es zweimal, 1517 und 1520 aufgelegt wurde. Das Schriftchen war eine kirchenrechtliche Abhandlung über das kirchliche Asylrecht („Tractatus de his qui ad ecclesias confugiunt“) und beschränkte sich seiner Natur nach auf die gelehrten Kreise. Die ihm folgenden „Sieben Bußpsalmen“ dagegen, deren lateinisches Original Johann Grunenberg in Wittenberg 1517 und bald darauf noch einmal druckte, äußerten bereits eine tiefe Wirkung auf die gebildeten Kreise und fanden einen so reißenden Absatz, daß ehe noch der erste Druck vollendet war, die ersten Bogen schon wieder aufgelegt wurden. Außer jenem Original brachte Grunenberg noch zwei Ausgaben der Übersetzung; Jakob Thanner in Leipzig folgte mit vier deutschen Ausgaben in den Jahren 1518, 1519 und 1520, denen sich noch eine Ausgabe in Erfurt anschloß, sodaß im ganzen neun Auflagen von den „Bußpsalmen“ veranstaltet wurden. Von den berühmten 95 Thesen, welche Luther am 31. Oktober 1517 an die Thüren der wittenberger Schloßkirche genagelt hatte, erschienen dort in demselben Jahre unter dem Titel „Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum“ noch drei Auflagen und eine in Nürnberg, die erste auf einem Folioblatt in zwei Spalten, die andern aber in Buchform auf vier Blättern in Quart gedruckt. Erst im folgenden Jahre kam dann eine deutsche Bearbeitung unter dem Titel „Ein Sermon von Ablaß und Gnade“ heraus. Diese deutsche Ausgabe wurde dann in den Jahren 1518 bis 1520 nicht weniger als zweiundzwanzigmal aufgelegt und nachgedruckt. Es erschienen nämlich im Jahre 1518 folgende Ausgaben: 1) Wittenberg bei Johann Grunenberg, 4 Blätter in Quart, 2) bei demselben, 3) bis 6) ohne Druckort, wahrscheinlich bei Valentin Schumann in Leipzig, 7) bei Jobst Gutknecht in Nürnberg, 8) bei demselben (ohne Jahreszahl), 9) bei Hans Froschauer oder Georg Nadler in Augsburg, 10) ein augsburger Druck, wahrscheinlich von Georg Nadler, 11) und 12) bei Pamphilus Gengenbach in Basel, 13) vielleicht bei Johann Froben? Ferner 1519: 14) bei Melchior Lotter in Leipzig, 15) bei Wolfgang Stöckel in Leipzig, 16) wahrscheinlich bei Martin Landsberg in Leipzig, 17) bei Adam Petri in Basel, 18) bei Adam Dion in Breslau und schließlich 1520: 19) bei Wolfgang Stöckel in Leipzig, 20) wahrscheinlich bei Georg Nadler in Augsburg, 21) desgleichen und 22) wieder bei Johann Grunenberg in Wittenberg.
[413] Wenn auch nicht in derselben Ausdehnung, so erfreuten sich doch alle Flugschriften Luthers selbst zu der Zeit, als er nur Lateinisch schrieb und höchstens Übersetzungen davon erschienen, einer so begeisterten Aufnahme und allseitigen Verbreitung, daß selbst die spätere deutsche Litteratur dieser Erscheinung nichts Ähnliches an die Seite zu stellen vermag. Zum Beweise dessen mögen hier noch die Flugschriften dienen, welche der Reformator 1518 herausgab. In der Reihenfolge kommt zunächst der „Sermo de poenitentia“ im ganzen in acht Auflagen, zuerst, wie alle aus diesem Jahre stammenden Lutherschen Druckwerke, von Hans Grunenberg in Wittenberg veröffentlicht, dann in Leipzig, Augsburg und Basel während der Jahre 1518 und 1519 nachgedruckt. Dann folgt der „Sermo de digna praeparatione cordis“ und die deutsche Übersetzung „Unterweisung, wie man sich würdig auf den Empfang des heiligen Abendmahls vorzubereiten habe“. Das Original erlebte 1518 und 1519 acht Auflagen in Wittenberg, Leipzig und Augsburg, die Übersetzung aber von 1518 bis 1520 dreizehn und zwar außer in dem Originalverlagsort Wittenberg, in Augsburg, Leipzig, Nürnberg, Basel und Halberstadt. Nicht weniger volkstümlich wurde die von Luther herausgegebene und eingeführte Schrift: „Ein Theologia teutsch“ (kurzweg „Die deutsche Theologie“). Im Jahre 1854 zählte Franz Pfeiffer 70 verschiedene Auflagen davon auf, und doch kannte er nicht alle bis 1520 erschienenen Ausgaben. Auch hier sind wieder Leipzig, Augsburg und Straßburg die Hauptnachdrucksorte. Von der im Juni 1518 verfaßten Streitschrift gegen Tetzel: „Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablaß und Gnade belangend“ kamen zwischen 1518 und 1520 zehn Auflagen heraus, darunter acht Nachdrucke in Leipzig, Nürnberg und Augsburg, während die „Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo“ innerhalb derselben Zeit im Original fünf und in der Übersetzung sieben Auflagen erlebten. Auch hier sind wieder Leipzig, Augsburg und Basel die Nachdrucksorte. Neu ist, daß von diesem Büchlein 1520 in Prag auch eine Übersetzung ins Böhmische veranstaltet wurde. Die „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ erlebten 1518 und 1519 fünf selbständige Auflagen und wurden von Johann Froben in die bereits erwähnte Sammlung der Lutherschen Schriften aufgenommen; sein Nachbar Adam Petri druckte sie schon 1520 nach. Von der „Auslegung des 109. Psalms“ kamen 1518 bis 1520 im ganzen sieben Auflagen [414] heraus. Der „Sermo de virtute excommunicationis“ endlich erlebte zehn Auflagen und zwar außer einer wittenberger neun in Leipzig und Augsburg; außerdem aber ging er auch wie die vorhergehenden „Resolutiones“ in die Frobensche Gesamtausgabe über.
Die große reformatorische Bewegung gewann übrigens erst innern Halt und Angriffs- und Widerstandskraft durch die Übersetzung des Neuen Testaments und die ihr von Jahr zu Jahr bis 1534 folgenden einzelnen Teile der ganzen Bibel. Jene Übersetzung, welche Luther auf der Wartburg vollendete, wurde am 22. September 1522 von Melchior Lotter in Wittenberg ausgegeben (die sogenannte September-Ausgabe). Die erste Auflage war 5000 Exemplare stark, wurde jedoch schon innerhalb dreier Monate abgesetzt, sodaß bereits im Dezember 1522 eine neue Ausgabe veranstaltet werden mußte. Natürlich fielen die Nachdrucker gleich über diese willkommene neue Beute her. Adam Petri in Basel war zuerst bei der Hand. Er gab seinen ersten Nachdruck – eine großartige Leistung! – schon zu Ende des Jahres 1522 heraus und veröffentlichte im ganzen in den Jahren 1522 bis 1525 sieben Ausgaben des Neuen Testaments, nämlich vier in Oktav und drei in Folio. Der Baseler Thomas Wolf druckte zwischen 1523 und 1525 fünf Auflagen und Hans Schönsperger in Augsburg stellte von 1523 bis 1524 deren auch zwei her. Selbst im Auslande verlangte man nach der Übersetzung. „Wenn es möglich wäre, das Neue Testament nach Luthers Übersetzung ins Französische zu übersetzen“, schreibt der schon öfter genannte Vaugris aus Basel am 20. August 1524 an Wilhelm Farel, damals in Mömpelgard, „so würde es eine große Wohlthat für Frankreich, Burgund und Savoyen sein. Die französischen Typen (une letre francayse) würde ich nötigenfalls von Paris oder Lyon kommen lassen. Sollte es aber solche in Basel geben, so wäre das desto besser.“[8]
Die Begeisterung des Volks für den Reformator hatte schon seit 1517 mit jedem Tage mehr alle Klassen und Stände ergriffen und schien zu Anfang des dritten Jahrzehnts kaum noch einer Steigerung fähig zu sein. Selbst Ritter und Geistliche standen auf seiner Seite. Diese waren ihm sehr gewogen, teilten seine Ansichten, bezeugten ihm sogar öffentlich ihren Beifall und segneten ihn. Scheurl erklärte dem Johann Eck, daß er Luthers Lehre (1518) für fest, aufrichtig, katholisch, unüberwindlich und unwidersprechlich halte. In Nürnberg wurden Luthers [415] Schriften schon 1520 verkauft und Huttens Kommentar zur päpstlichen Bannbulle in den Straßen umhergetragen. Während des Reichstags zu Worms kündigte ein Anschlag am Rathause den Päpstlichen und vor allem dem Erzbischof von Mainz die Feindschaft von angeblich 400 Rittern an, da man Ehre und göttliches Recht zu unterdrücken suche. Sogar unter den Augen der spanischen Kriegsknechte wurden hier Luthersche Schriften und Lobpreisungen seines Thuns verkauft und Spottlieder auf seine Gegner gesungen. Die Gesandten der Städte, die Großen, die Herren und das ganze Volk waren Luther günstig und jauchzten ihm als dem neuen Moses, dem zweiten Paulus zu. Nur die Bischöfe und einige Herzöge dachten anders. Während seines Aufenthalts auf der Wartburg erschien sein Bild von einem Heiligenschein umgeben, welches namentlich in den Reichsstädten verkauft, aber dann verboten wurde. Dagegen verlachte und verspottete man den päpstlichen Bann.[9] In Mainz weigerte sich 1520 sogar der Scharfrichter, die Schriften Luthers zu verbrennen. Die päpstliche Bulle, welche Eck 1520 in Erfurt gegen diesen anschlagen wollte, wurde dem Drucker geraubt, dann beschimpft und ins Wasser geworfen[10]; sei es doch eine Blase (bulla), so möge sie auf dem Wasser schwimmen („Bulla est, in aqua natet“). Eck selbst aber ward von den ergrimmten Studenten in seinem Hause belagert und war kaum seines Lebens sicher. Fortan drängte ein Ereignis das andere. Das mannhafte Auftreten Luthers in Worms, seine geheimnisvolle Wegführung nach der Wartburg und vor allem die große geistige That, die Verdeutschung des Neuen Testaments erhoben ihn auf den Gipfel seiner Popularität und seines Ruhms. Die Wirkung dieser Übersetzung aber war noch viel nachhaltiger und tiefer, als der Eindruck, den seine Flugschriften gemacht hatten. Mit Blitzesschnelle drang das Neue Testament in die Burgen der Ritter, in die Klöster der Mönche, in die Häuser der Bürger und sogar in die Hütten der Armen.
Alle Welt lese, so berichtet Cochläus, das Luthersche Neue Testament, ja könne es infolge wiederholten Lesens fast auswendig; selbst Schuster und Frauen disputierten über das Evangelium und trügen die Übersetzung in der Brusttasche mit sich herum. Hier noch ein paar andere, die Angabe des Cochläus bestätigende Thatsachen! In Konstanz fanden die ersten Nachrichten Luthers Auftreten unter den Bürgern den freudigsten Anklang; seine Schriften wurden dort kolportiert [416] und gaben Anlaß, der Sache weiter nachzuforschen, namentlich aber, die Bibel gründlicher zu lesen. Um dieses Beispiel aus dem Süden durch eins aus dem Norden zu ergänzen, so schickten schon im Jahre 1522 Rat und Bürgerschaft von Bremen einen Buchhändler nach Wittenberg, damit er von dort Luthersche Schriften mit nach Hause bringe. Die Bürger von Speyer liebten Luther sehr, lasen seine Bücher während der Abendmahlzeit vor und schrieben sie nachts ab. Auch in Memmingen bewirkte das Wormser Edikt gegen Luthers Schriften das gerade Gegenteil von dem, was er bezweckt hatte. Die, welche sich bisher um dieselben wenig gekümmert hatten, wurden erst durch das Verbot angereizt, sich näher mit der neuen Litteratur bekannt zu machen. So fanden denn hier die verbotenen Bücher allmählich Eingang, man las sie in den Bürgerhäusern, man redete davon in den Trinkstuben der Zünfte, und schon 1521 sollen Luthersche Schriften von einem memminger Buchhändler in Bieberach feilgeboten worden sein. Später fand die Bibelübersetzung rasche Verbreitung, das Neue Testament war in den Händen vieler und man pflegte, wie dies in den dortigen Landgemeinden zum Teil noch heute üblich ist, die von dem Prediger angeführten Bibelstellen schon in der Kirche oder daheim nachzuschlagen. Im Juni 1523 wurde im Rate der Antrag gestellt, die Anschaffung der übrigen Schriften Luthers und seiner Anhänger zu verbieten; dieser Antrag wurde aber schon damals, in der Zeit des Übergangs, verworfen. Am 15. November 1523 dagegen wurde in der Stadtkirche die erste lutherische Predigt gehalten.[11] In Ulm war schon 1523 alles lutherisch, trotzdem daß die katholischen Priester die Käufer der Lutherschen Werke denunzierten und Briefe erbrachen, um Beweise gegen die Verdächtigen beizubringen. „Man hat sie (die Lutherschen Bücher)“, schreibt der Prediger Matthäus Zell in Straßburg 1523[12], „auch öffentlich lassen feil haben, auch ob und an dem Ort, da oben an das päpstlich und kaiserlich Mandat gestanden ist. Es sind auch wenig der Gelehrten, die dieser Lehr nit anhangen, zum mindesten heimlich. Es sind auch durch das ganze deutsche Land wenig namhaftiger Stett darin nit viel der Besten diese Lehr lesen hören und ihr gönnen, indem man sie läßt öffentlich verkaufen.“ Der nürnberger Jurist Christoph Scheurl[13] bezeichnete die Stimmung ganz richtig, wenn er in einem Gespräche mit dem päpstlichen Nuntius, Kardinal Lorenzo Campeggi, am 15. März 1524 äußerte, daß der gemeine [417] Mann jetzt nur Schrift (Gedrucktes) fordere und an einem Tage mehr lese als sonst in einem Jahre. Die Nürnberger ließen sich Luthers Schriften auf offenem Markte vorlesen, dürsteten ordentlich nach ihnen, wie der Rat sagt, welcher auf die Dauer deren Verkauf nicht verhindern konnte. Die dortigen Geistlichen baten bereits 1524 den Rat um Erlaubnis, des Studierens halber Luther in Wittenberg besuchen zu dürfen.
Die zünftige Gelehrsamkeit war aber außer sich. Erasmus klagte namentlich seit dem Erscheinen des Neuen Testaments wiederholt darüber, daß der ganze Büchermarkt von Luther und seinen Anhängern beherrscht sei, daß niemand etwas für den Papst drucken wolle, und daß man alles was gegen Luther sei, als nicht vorhanden behandle. „Hier (in Basel)“, schreibt er unter anderm 1523 an König Heinrich VIII. von England, „ist niemand, der es wagte, nur ein Wörtchen gegen Luther drucken zu lassen, während man gegen den Papst schreiben darf, was man will.“ „Bei den Deutschen“, schreibt er am 24. Juni 1524 weiter, „ist jetzt kaum etwas verkäuflich außer den Schriften Luthers und seiner Gegner.“ Während des heiligen Augustinus Werk „De civitate Dei“ sonst einer der gangbarsten Artikel und bisher in zahlreichen Ausgaben verkauft worden war, setzte Froben auf der frankfurter Herbstmesse des Jahres 1524 kein einziges Exemplar davon ab. Andererseits weigerten sich die Verleger allerorten, andere als lutherisch-theologische Schriften zum Druck zu befördern. So war selbst Eobanus Hesse, dessen Namen früher zur Empfehlung eines Buchs hingereicht hätte, nach verschiedenen fehlgeschlagenen Versuchen genötigt, für eine neue Ausgabe seiner einst mit dem größten Beifall aufgenommenen „Heroiden“ Melanchthons Vermittelung in Anspruch zu nehmen. „Ich werde mir Mühe geben“, antwortete dieser, „daß sie entweder hier oder am Rhein gedruckt werden, denn nach der Vollendung des Kommentars zum Neuen Testament werden die lutherischen Pressen einige Muße haben.“[14]
Luthers schriftstellerische Thätigkeit schuf eigentlich erst den norddeutschen Buchhandel und erhob das bisher kleine Wittenberg in wenig Jahren zu einem der bedeutendsten deutschen Verlagsorte, dessen Offizinen an Leistungsfähigkeit mit den ältesten, bis dahin allein maßgebenden Häusern Süddeutschlands wetteifern konnten. Das Verhältnis des Reformators zu seinen Verlegern ist erst neuerdings auf Grund zeitgenössischer Urkunden von G. Wustmann ins rechte Licht gestellt worden; [418] seinen Untersuchungen[15] schließt sich die folgende Darstellung im wesentlichen an.
Die erste ständige Druckerei in Wittenberg besaß seit 1509 Johann Grunenberg, bei welchem, wie bereits angeführt, 1517 die Bußpsalmen Luthers und seine demnächst folgenden Erstlingsschriften erschienen. Von dem Einblatt-Druck der weltgeschichtlichen 95 Thesen, der ja nur akademischen Zwecken dienen sollte, wird das zwar nicht ausdrücklich gesagt, die Wahrscheinlichkeit spricht aber unbedingt dafür; einmal gab es in Wittenberg noch keinen zweiten Drucker, dann aber besorgte später Grunenberg die beiden ersten, für die eigentliche geschäftsmäßige Verbreitung bestimmten Ausgaben. Luther war indessen auf die Dauer mit Grunenbergs Leistungen unzufrieden. Derselbe besaß keine griechischen Typen, seine deutschen waren unschön, seine Drucke selbst aber fehlerhaft und unsauber. Luther spricht sich darüber in einem Briefe aus, welchen er von der Wartburg aus am 15. August 1521 an Spalatin richtete. Dieser hatte ihm nämlich den zweiten und dritten Aushängebogen seiner Schrift über die Beichte zugeschickt, worauf Luther schreibt: „Ich wollte, ich hätte nichts Deutsches geschickt, so abscheulich, so nachlässig, so unordentlich ist es gedruckt, von der Abscheulichkeit der Typen und des Papiers ganz zu schweigen. Buchdrucker Hans bleibt noch ewig Hans. Ich bitte Euch inständigst, sorget dafür, daß er ja nicht die deutsche Postille drucke, sondern daß lieber aufgehoben und mir wiedergeschickt werde, was ich davon geschickt habe, damit ich es anders wohin schicke, denn was hilft es, so gearbeitet zu haben, wenn durch solche abscheuliche Nachlässigkeit den andern Druckern Gelegenheit gegeben wird, die Fehler noch zu vergrößern und zu vermehren? Ich möchte nicht, daß man sich nach diesem Beispiel an den Evangelien und Episteln versündigte; sie bleiben besser ungedruckt, als daß sie so herauskommen. Deshalb schicke ich auch nichts weiter, obgleich ich etwa noch zehn große Bogen darin fertig habe. Daß diese abscheulichen Scharrhänse beim Buchdrucken doch weniger um ihren Gewinn, als um den Vorteil der Leser sorgten! Denn was scheint ein solcher Drucker anders zu denken als: Es ist genug, daß ich Geld verdiene, die Leser mögen sehen, was und wie sie lesen.“ So sah sich Luther gezwungen, einen andern Drucker zu suchen, der seine Ansprüche besser befriedigte. Dies that er schon im Jahre 1518. Der bedeutendste Buchdrucker Leipzigs war damals der [419] bereits genannte Melchior Lotter, welcher dort unter anderm schon 1511 die Antiqua angewandt hatte. An ihn wandte sich Luther zunächst mit kleinen Druckaufträgen von Wittenberg aus. Lotters Drucke waren vortrefflich und seine Schriftvorräte mehr als ausreichend assortiert. So erwarb er sich denn auch Luthers Zufriedenheit in so hohem Maße, daß in diesem bald der Wunsch rege geworden sein mag, den geschickten Mann mehr in seiner Nähe zu haben und ihn ganz für Wittenberg zu gewinnen. In einem Schreiben, das Luther in Gemeinschaft mit dem Rektor und einigen andern Professoren der wittenberger Universität am 23. Februar 1519 an Kurfürst Friedrich richtet, heißt es unter anderm: „Auch ist’s bei Vielen für gut angesehen, so wir mochten einen redlichen Drucker hie zu Wittenberg haben, denn das solt nit wenig der Universität Fürderung und E. k. G. Ehr einlegen. Den Text Aristotelis und ander Lection künnt man damit fürdern, die sonst ohne Bücher gehört nit so begreiflich und nützlich sein mögen.“ Der Zusage des Kurfürsten wohl gewiß, knüpfte inzwischen Luther schon Unterhandlungen mit Melchior Lotter betreffs dessen Übersiedelung nach Wittenberg an. Sie führten auch bald zu einem günstigen Ergebnis; denn schon am 8. Mai 1519 schreibt er hocherfreut an Spalatin: „Melchior Lotter kommt mit trefflichen Matrizen versehen, die er von Froben bekommen hat, und ist bereit, bei uns eine Druckerei einzurichten, wenn unser durchlauchtigster Fürst geruhen wird, seine Zustimmung dazu zu geben. Nun ergeht an Eure Dienstfertigkeit die Bitte, daß Ihr uns zum gemeinen Nutzen mit Rat und Hilfe beisteht. Wir glauben, daß dies für uns, insonderheit für unsere Universität eine Zierde sein werde, aber auch ein Vorteil für die Hörer, zumal der Philippus (Melanchthon) zugegen ist, der die griechische Sprache gern treulich und reichlich ausbreiten möchte.“ Doch erst Ende des Jahres 1519 scheint die Übersiedelung thatsächlich stattgefunden zu haben, denn am 18. Dezember meldet Luther dem Augustiner-Vikar Lange in Erfurt: „Lotter aus Leipzig errichtet bei uns eine Druckerei in drei Sprachen.“
Indessen ging Lotter nicht in eigener Person nach Wittenberg, sondern sandte zwei seiner Söhne dahin, Melchior und Michael, die dem Vater schon in Leipzig im Geschäft beigestanden hatten. Zunächst war es erst der ältere von beiden, Melchior der Jüngere, wie er sich in Wittenberg nannte, der zur Führung der dortigen Filiale des leipziger [420] Geschäfts herüberkam. Ihn begleitete der tüchtige Korrektor Lotters, Hermann Tulich (Dulichius), der bald darauf in Wittenberg eine Professur erhielt. Der erste nachweisbare wittenberger, im Februar 1520 vollendete Druck aus der Lotterschen Offizin ist eine akademische Festrede Melanchthons auf den Tag des heiligen Paulus. Sie trägt die Unterschrift Melchior Lotters des Jüngern. In dieser Offizin nun wurde der größte Teil aller Schriften Luthers aus dem Anfang der zwanziger Jahre gedruckt. Zwar ließ es die Gutherzigkeit des Reformators nicht zu, daß darüber der arme, leider unfähige Grunenberg ganz außer Brot gesetzt wurde. Ab und zu gab er auch ihm immer wieder einzelne Aufträge, wie auch aus dem oben mitgeteilten Brief an Spalatin vom 15. August 1521 hervorgeht. Kommt er doch sogar zu Ende jenes Briefs noch einmal auf den Druck der Postille zurück und schreibt: „Ich habe mich anders besonnen und schicke den Rest der Postille, weil ich denke, es möchte das, was ich früher geschickt, schon angefangen sein zu drucken, sodaß kein Aufschub oder Einhalt werden kann. Ich möchte aber, daß es auf Regalpapier und mit Lotters Typen gedruckt würde.“ So räumt er, nachdem sein erster Zorn sich verflüchtigt, dem verzweifelnden Meister Hans wieder den Weiterdruck der Postille ein, nur sollte dieser – Grunenberg – sich von Lotter die Lettern dazu borgen.
Auch in Leipzig druckte der alte Lotter zu Anfang der zwanziger Jahre einzelne Luthersche Schriften neben seinen Söhnen in Wittenberg. Doch mögen das allerdings Nachdrucke gewesen sein, zu denen er nicht beauftragt war. Auf keinen Fall hätte er sich wundern dürfen, wenn ihm Luther nichts zu drucken gegeben hätte, da er sich kein Gewissen daraus machte, auch Gegenschriften gegen Luther herzustellen. Das brachte aber nun einmal, wie die Buchdrucker und Buchführer meinten, das Geschäft so mit sich. Derb und kräftig schildert Johann Eberlin von Günzburg dies Treiben in seinem Schriftchen „Mich wundert, daß kein Geld im Land ist“ (Eilenburg 1524, Jakob Stöckel). Er sagt: „Itzt sein sie gefallen auff die lutherische buchlein, auff heilige geschriefft, auch allein vmb genieß .... vnn wan der euangelisch handel ynen nit wil mehr gelten, so fallen sie so vast auff den Pebstischen als kein Papist, darauß volgt yr verdamniß, der bauch ist yr got, sie suchen gelt vnn gut gurch gottis wort .... vnd dan zu schyrm yres abfals sprechen sie, Dieweil so grosser zangk sey zwischen predigern, wöllen sie beyde partheyen lesen, [421] trucken vnd verkeuffen biß zu einem außtrag der sache.“ Und in Leipzig „galt der Evangelische Handel“ nichts mehr, nachdem Herzog Georg nach Publikation des wormser Edikts eine entschiedene Stellung gegenüber der reformatorischen Bewegung eingenommen hatte und den Druck und Vertrieb der betreffenden Litteratur zum größten Kummer und Schaden der leipziger Buchdrucker und Buchführer unterdrückte. Meistenteils waren sie innerlich und aus Überzeugung der neuen Lehre anhängig, wenn auch der Druck der äußern Verhältnisse einzelne – darunter auch Melchior Lotter – zur Mantelträgerei verleitete.
Außer den zahlreichen und hochbedeutenden Schriften, welche Luther im Anfang der zwanziger Jahre in die Welt sandte, druckte nun Lotter auch die Übersetzung des Neuen Testaments. Der Druck hatte im Frühjahr 1522 begonnen und wurde, wie schon erwähnt, am 22. September 1522 vollendet. Am 10. Mai schickte Luther die ersten Aushängebogen an Spalatin. Da gleichzeitig die Evangelien und die Apostelgeschichte einerseits, die apostolischen Briefe andererseits in die Presse kamen, so waren in der ersten Hälfte des Juli bereits das Matthäus-, Markus- und Lukas-Evangelium und zugleich der Römer- und Korintherbrief fertig. Die vollendeten Bogen sandte Luther fort und fort Spalatin mit der Bitte, sie auch dem Kurfürsten mitzuteilen. Ende Juli arbeiteten drei Pressen gleichzeitig, da jetzt wahrscheinlich auch die Offenbarung Johannis neben den beiden andern Reihen gesondert in Angriff genommen wurde, und so kamen nun täglich 10000 Bogen, oder vielleicht nur Formen, aus der Presse. Die Ausgabe erschien in Folio mit dem einfachen Titel: „Das newe Testament, Deutzsch, Vuittenberg.“ Weder Uebersetzer, noch Drucker, noch Jahreszahl sind genannt; erst auf der zweiten Auflage, der Dezember-Ausgabe, nennt sich Melchior Lotter der Jüngere als Drucker. Trotz der Höhe der Auflage (5000 Exemplare) und des hohen Preises (bis zu 1 ½ Gulden, etwa 25 Mark heutigen Geldes) war diese erste Ausgabe schon innerhalb dreier Monate vergriffen. Das Alte Testament ließ Luther demnächst allmählich in mehrern einzelnen Teilen folgen; er fürchtete, das Buch würde, wenn es auf einmal erschiene, zu umfänglich und zu teuer werden. Im Januar 1523 war der Druck der fünf Bücher Mose im Gange. Sie erschienen für sich allein noch in demselben Jahre, wieder ohne Angabe des Druckers, aber ohne alle Zweifel von Melchior Lotter dem Jüngern gedruckt. Anfang 1524 wurde der zweite Teil des [422] Alten Testaments ausgegeben, der die Geschichtsbücher von Josua bis Esra und Nehemia umfaßte; das Buch Esther stand damals vor diesen beiden. An der Herstellung dieser Teile arbeitete Melchior Lotter jun. bereits in Gemeinschaft mit seinem Bruder Michael. Schon eine zweite Ausgabe der Bücher Mose 1523 ist von beiden gemeinsam unterzeichnet. Von beiden Brüdern zusammen wurde dann auch im Jahre 1524 noch der dritte Teil des Alten Testaments gedruckt, in welchem Luther den Hiob, den Psalter, die Sprüche, den Prediger und das Hohelied zusammengefaßt hatte. Die ursprüngliche Absicht, auch die Propheten in diesen Abschnitt mit aufzunehmen, hatte er wieder fallen lassen. Wohl aber erschienen von den bisher ausgegebenen Teilen noch mehrfach neue Auflagen – alle das Werk der Lotterschen Pressen. Mit der Herausgabe des dritten Teils vom Alten Testament erlitt die Arbeit einen längern Stillstand.
Einer der beiden Söhne Lotters hatte sich nämlich ein „Vergehen“ zu schulden kommen lassen, das den Vater Melchior Lotter beim Kurfürsten in Ungnade fallen ließ und ihm die ratenweise Zahlung einer schweren Buße aufnötigte. Welcher Art dies Vergehen war, ist bisher nicht nachzuweisen gewesen. Anhaltspunkte dafür bieten jedoch die Briefe Luthers und eine ausführliche, aber erfolglos gebliebene Bittschrift, welche der alte Melchior Lotter am 11. September 1524 an den Kurfürsten richtete. Schon am 13. Juni 1520 hatte Luther an Spalatin geschrieben: „Wegen Lotters glaubet den Angebern nichts, mein Spalatin; es ist Menschenwort, welches zu Euch gedrungen ist: ich weiß es anders –“, und im Mai 1524: „Um Christi Willen bitte ich Euch, sehet zu, daß Lotter nicht in so bösem Leumund stehe beim Fürsten. Ihr glaubet nicht, wie sehr der Mann sich ängstigt, weil er gehört, daß er so schlimm angegeben worden. Es ist gewißlich ein guter Mann und schon mehr als genug bestraft für sein Vergehen –“, und am 13. September abermals: „Ich höre, daß es Melchior Lotter bei dem Fürsten schlecht ergangen. Was ist es not? Ich bitte Euch, einem Betrübten nicht noch mehr wehe zu thun. Laßt uns seiner doch einmal schonen, er hat Strafe und Unglück genug. Darum seid ein guter Mittler, und so es nötig ist, daß ich selber für ihn schreibe, will ich’s gern thun.“ Wahrscheinlich war auf die zwei Tage früher eingereichte Bittschrift Lotters schon ein günstiger Bescheid eingetroffen. Aus allem geht hervor, daß Lotter Neider [423] in Wittenberg hatte und daß er durch eifersüchtige Konkurrenten beim Kurfürsten angeschwärzt worden war. Übrigens kann er nicht ganz schuldlos gewesen sein, denn sonst hätte der so nachsichtig und milde denkende Luther ihm in der Folge seine Aufträge nicht ganz entzogen.
Von 1525 ab ist von Melchior Lotter, Vater und Sohn, in Wittenberg keine Spur mehr zu finden; wahrscheinlich ging auch der jüngere nach Leipzig zurück, wo sich das Geschäft noch bis Ende der dreißiger Jahre nachweisen läßt. Dagegen blieb Michael einstweilen noch in Wittenberg, wo er noch von 1525 bis 1528 druckte und auch noch von Luther Aufträge erhielt, bis er gleichfalls die Stadt verließ und zu Anfang 1529 in Magdeburg eine Druckerei errichtete, wo er 1554 starb.
Nunmehr kam ein anderes Verlagsgeschäft in Wittenberg zu Stande. Zu den Freunden Luthers gehörten der Goldschmied Christian Döring und der berühmte Maler Lukas Cranach. Ersterer besaß schon 1518 eine eigene Druckerei, und auch Cranach errichtete eine solche im Jahre 1524, die der vielseitige Künstler noch neben seiner Malerwerkstatt, seiner Apotheke, seinem Papier- und Buchhandel besorgte. Diesen beiden nun wurde der Verlag der Lutherschen Schriften gemeinsam übertragen. Nachdem sie trotz Luthers abermaliger Verwendung ein Anerbieten Lotters, den Druck für sie zu unternehmen, ausgeschlagen hatten, sahen sie sich nach einem andern Drucker um und fanden ihn in der Person des Hans Luft. Dieser war vermutlich ein Gehilfe Grunenbergs gewesen und hatte auch wahrscheinlich dessen Offizin übernommen, da des letztern Thätigkeit mit dem Jahre 1523 abschließt, während diejenige Lufts mit 1524 anfängt.
Nun begann diese neue Gesellschaft zu arbeiten, in welcher Hans Luft nur der von seinen Verlegern abhängige und von ihnen bezahlte Drucker ist. In Luthers Briefen aus den nächsten Jahren ist daher immer nur von Dörings und Lukas’ Offizin die Rede, während Lufts Name nie erwähnt wird, obgleich dieser ihn schon 1524 auf die Drucke setzte. Als im Jahre 1534 die erste Gesamtausgabe der Bibelübersetzung unternommen wurde, ging der ganze Verlag durch Kauf an eine andere Gesellschaft über, nur blieb Luft wie bisher der Drucker. Das neue Geschäft bestand aus den drei wittenberger Buchführern: Moritz Goltz, Christoph Schramm und Barthel Vogel, die vom Kurfürsten Johann Friedrich ein Privileg auf die Bibel erhielten, übrigens auch Melchior Lotter für [424] seinen Verlagsanteil an der Bibel entschädigt zu haben scheinen, bestimmt aber ihm die Cranachschen Holzschnitte zur Apokalypse abkauften. Von Hans Luft aber, welcher nun allerdings auf lange Zeit der einzige Drucker der Luther-Bibel in Wittenberg blieb, heißt es, daß er davon bei Lebzeiten des Reformators nicht weniger als 100000 Exemplare gedruckt habe.
Die massenhafte Verbreitung der Lutherschen Werke und der durch sie hervorgerufenen Volkslitteratur wäre übrigens nicht in so großartigem Maßstabe erfolgt, wenn sich nicht drei starke Bundesgenossen – jeder im eigenen Interesse und sich doch untereinander ergänzend – in die Hände gearbeitet hätten. Es waren diese Bundesgenossen die Nachdrucker, die Buchführer und die Prädikanten, die beiden letztern den Machthabern deshalb so gefährlich und verhaßt, weil sie überall und nirgends auftauchten und, wenn hier ergriffen und grausam unterdrückt, dort wieder erschienen und vorsichtiger auftraten.
Man darf den Nachdruck jener Zeit nicht mit dem Maßstab der heutigen Anschauungen messen. Das elfte Kapitel wird diesen Unfug und die allmähliche Entwickelung der dabei sich zeigenden Gewohnheiten und zum Schutze dagegen sich ausbildenden Rechtsnormen näher darlegen. Hier daher nur so viel, daß für die damaligen Anschauungen der Nachdruck eigentlich als ein ganz legitimes Geschäft galt und daß, wie z. B. im fünften Kapitel gezeigt wurde, selbst Männer wie Johann Amerbach oder Johann Petri in dieser Beziehung ein sehr weites Gewissen hatten. Ja, auch die staatlichen Behörden fanden, wie der demnächst mitzuteilende Erlaß der Stadt Nürnberg zeigen wird, nichts Arges in dem Nachdruck. Ebenso wenig verständlich für die Gegenwart ist der naive Ausdruck des Kummers Wolfgang Stöckels in Leipzig vor dem Rate der Stadt – bei Gelegenheit des 1524 von neuem erfolgenden Verbots der Reformationslitteratur – darüber, daß in Leipzig nichts verkauft und gedruckt werden solle „das zu Wittenberg oder sust gemacht“. Luther selbst war auch weniger ob der That des Nachdrucks seiner Schriften überhaupt, als ob der rücksichtslosen und frechen Art erbittert, in welcher derselbe betrieben wurde.
In der Verwahrung vom September 1525 wendet er sich zunächst an die Drucker und fragt sie, ob sie Diebe und Straßenräuber geworden seien, weil sie ihm sein Eigentum stählen? „Ich habe“, führt er näher aus, „die Postillen angefangen von der heiligen drei Künige Tage an, [425] bis auf Ostern, so fähret zu ein Bube, der Setzer, der von unserm Schweiß sich nähret, stiehlet meine Handschrift, ehe ich’s gar aus mache, und trägt’s hinaus und läßt es draußen im Lande drucken, unser Kost und Erbeit zu verdrucken ..... Nu wäre der Schaden dennoch zu leiden, wenn sie doch meine Bücher nicht so falsch und schändlich zurichten. Nu aber drucken sie dieselbigen und eilen also, daß wenn sie zu mir widder kommen, ich meine eigene Bücher nicht kenne. Da ist etwas außen, da ist’s versetzt, da gefälscht, da nicht korrigirt. Haben auch die Kunst gelernt, daß sie Wittemberg oben auf etliche Bücher drucken, die zu Wittemberg nie gemacht noch gewesen sind. Das sind ja Bubenstück, den gemeinen Mann zu betriegen..... Es ist je ein ungleich Ding, daß wir erbeiten und Kost sollen drauf wenden, und andere sollen den Genieß und wir den Schaden haben.“ Schließlich meint der Reformator, ein Drucker solle aus christlicher Liebe doch wenigstens ein oder zwei Monate warten, ehe er einem andern ein Buch nachdrucke.
Ein zweites Schreiben Luthers, vom 26. September 1525, ist an den Rat von Nürnberg gerichtet und enthält die Klage, daß seinen wittenberger Druckern ein Teil der noch in der Presse befindlichen Postille, wohl über die Hälfte des Buchs, gestohlen, nach Nürnberg gebracht, mit Eile nachgedruckt und nun vor Erscheinen des wittenberger Originals verkauft würde, wodurch seinen Druckern ein merklicher Schaden zugefügt sei. „Wenn er nicht irre“, sagt Luther, so solle „das Herrgettlein“ dabei beteiligt sein. Er meint hiermit den durch sein tragisches Ende bekannt gewordenen nürnberger Buchdrucker und Buchführer Johann Herrgott, von dem noch weiter unten die Rede sein wird. Andere Städte am Rhein thäten das nicht, und selbst wenn es geschehe, so brächte es doch keinen direkten Schaden, denn am Rhein hergestellte Nachdrucke würden nicht bis nach Wittenberg vertrieben, wohl aber die aus dem nahe gelegenen Nürnberg. So werde er jetzt durch die Beraubung seitens nürnberger Bürger daran verhindert, die Übersetzung der Propheten in Angriff zu nehmen. Die Nachdrucker wendeten weder Geld noch Mühe auf seine Arbeit, die ihm herzlich sauer werde; sie hätten sie durch Diebstahl erlangt und er müsse still herhalten. Es sei gerade so, als ob er im Hause oder auf der Straße beraubt werde. Luther bittet nun den Rat, auf seine Drucker einzuwirken, daß sie doch wenigstens sieben oder acht Wochen warten sollten, ehe sie seine Werke nachdruckten. Ob [426] sie aber sagten, sie müßten sich nähren, ja! aber ohne des Andern Schaden. Sollte jedoch seine Bitte nichts helfen, so müsse er durch öffentliche Schrift solche Räuber und Diebe ermahnen, wenn es ihm auch lieber sei, daß er die Stadt Nürnberg nicht zu nennen brauche. Der Rat beschloß in seinen Sitzung am 7. Oktober 1525: „Item auff Doctor Martin Luthers schreiben soll man sich bei den puchtruckern erfaren, was seiner gemachten pucher durch sy nachgedruckt und geendert seyen und darinnen ein ordnung geben, damit seiner pucher keins in ainer bestimpten zeit nachgedruckt auch bei den puchfüerern verschaffen, nichtzt neus zu verkauffen vor und eche solchs besichtigt werd.“
Der Rat verspricht also nur den Erlaß einer Verordnung, wonach die nürnberger Buchdrucker innerhalb einer bestimmten Zeit Luthers Bücher nicht nachdrucken sollen, scheint aber mit diesem Beschluß die Beschwerde für abgethan erachtet zu haben. Luther aber hat, wie es scheint, einige Jahre später seine Klagen erneuert, denn unterm 11. Mai 1532 findet sich im Ratsbuch folgender Beschluß: „Allen Buchdruckern alhie soll bei iren pflichten bevohlen werden, wann sie hinfür Doctor Luthers und andere Buchlein nachdrucken wollen, das sie den namen Wittenberg zu drucken unterlassen und die stat Nürnberg und ihre namen dafür setzen, auch sich besser correctur befleyssen, oder ein rat müst mit ernstlicher straf gegen inen handeln.“ Die Strafandrohung – wegen falscher Ortsangabe – ist allerdings nur auf die Reichsverordnungen basiert und findet ihre Begründung nicht in einer sittlichen Verurtheilung des Nachdrucks an sich.
In einem dritten Briefe, welcher sich den obigen beiden Schreiben anschließt und am 7. November 1525 an den nürnberger Syndikus Lazarus Spengler gerichtet wurde, wiederholt Luther seine Beschwerden und zeigt ihm an, daß sich etliche Buchdrucker am Rhein erboten hätten, mit den Wittenbergern gemeinschaftlich zu arbeiten, um solcher Büberei (dem Nachdruck) zu steuern. Da nun unlängst der Koberger sich ihm gegenüber in ähnlicher Absicht geäußert habe, so schlage er den andern Druckern vor, Koberger mit in den Bund aufzunehmen. Seine Bitte gehe also dahin, Spengler möge mit jenem und seinen (Luthers) Abgesandten diese Angelegenheit beraten. „Ich achte es“, schreibt er wörtlich, „es solle dem Koberger nicht schädlich seyn, weil (solange) wir lebten, so er den Vordruck und Laden bey uns zu Wittenberg überkäme, samt meinen [427] Druckern, davon sie selbst weiter wohl werden sich beratschlagen und unterreden.“ Dieser Plan hat sich übrigens in der Folge nicht verwirklicht; auch ist es mehr als fraglich, ob durch seine Ausführung dem Nachdruck wirksam gesteuert worden wäre. Denn wenn auch die Stellung Kobergers eine mächtige und hohe Achtung gebietende war, so blieb er doch dem Nachdruck gegenüber ebenfalls wehrlos, ja doppelt wehrlos, weil diesem bei der leichten Flugschriftenlitteratur viel eher, als den schweren Folianten gegenüber nachgesehen werden konnte.
Kurz, der Nachdruck nahm Luther gegenüber nicht ab, sondern griff immer weiter um sich und wurde, wenn er Luther persönlich auch schädigte und ärgerte, durch seine täglich wachsende Betriebsamkeit der bedeutendste Hebel zur Ausbreitung der Reformation. Die Entwickelung der buchhändlerischen Verbindung des deutschen Nordens mit dem Süden, und des Ostens mit dem Westen, war in ihren vielversprechenden Anfängen gehemmt, der buchhändlerische Verkehr auf der leipziger Messe durch die Haltung Herzog Georgs von Sachsen gegenüber der Reformation schwer geschädigt worden. Der gesamten Reformationslitteratur war dieser geschäftliche Vermittelungspunkt verschlossen. Aber der Nachdruck überbrückte die gewaltsam gerissene Kluft und vermittelte auf diesem Gebiete für das ganze Volk die Einheit der geistigen Interessen. Das ist keine Übertreibung, sondern bis zum Edikt von Regensburg (Juni 1524) eine unbestreitbare Thatsache.
Die Bibliographie der Reformationslitteratur hat bis jetzt nur die Nachdrucke aus den größern Offizinen verzeichnet und zu verzeichnen vermocht; sie weiß so gut wie nichts von den Winkeldruckereien zu berichten, welche aus einem oder dem andern Grunde mit ihrem Namen nicht hervorzutreten wagten, oder sich zur Irreleitung der Behörden einer erdichteten Firma bedienten. Ihre Thätigkeit kann indessen nicht unbedeutend gewesen sein, da sie ihre Ware namentlich an die kleinen wandernden Buchführer verkauften, vielleicht gar vorwiegend für sie arbeiteten. Wolfgang Stöckel, der Buchdrucker, betont in seiner Aussage vor dem leipziger Rate im Jahre 1524, daß Luthersche Schriften unter anderm in Grimma, Zwickau und Eilenburg gedruckt und nach Leipzig eingeführt worden seien, verschweigt aber unter den gerade obwaltenden Verhältnissen natürlich, daß dies z. B. an dem letztgenannten Orte wohl unter fingierter Firma für seine eigene Rechnung geschehen sein dürfte [428] – unter dem Namen seines Sohnes Jakob und seines Gesellen Nikolaus Wydamer (Weidener); unter des letztern Namen geht allerdings auch ein Originaldruck. Wenig mag von derartigen Nachdrucken erhalten geblieben, oder als solche jetzt noch erkennbar sein. Wenn aber in Leipzig eine hausierende Frau 1523 das Luthersche Neue Testament für 15 Groschen (¾ Gulden) ausbot, dasselbe in Meißen um dieselbe Zeit vor dem „Freiburger Keller“ auf dem Domplatz für 20 Groschen (1 Gulden) verkauft wurde[16], so darf man darum, gegenüber dem sonst angeführten üblichen Preis von 1 ½ Gulden, nicht gleich an Nachdrucksexemplare denken. Der Nachdruck Adam Petri’s konnte kaum seinen Weg nach Sachsen gefunden haben. Feststehende Ladenpreise aber gab es ja noch nicht, und Lotters Agenten und Hausierer mochten je nach Gelegenheit mit größerm oder geringerm eigenen Verdienst verkaufen. In Nürnberg müssen außer den namhaften, zahlreiche und unbedeutende Drucker den Nachdruck Lutherscher Werke eifrig betrieben haben. Abgesehen von dem lebhaften Verkehr in der Stadt und Nachbarschaft, bezogen von hier die Buchführer von Franken und Thüringen, ja einem Teile Schwabens und Böhmens, ihren Bedarf und besuchten von Zeit zu Zeit die alte Reichsstadt, um hier ihre litterarischen Vorräte zu vervollständigen. Denn die Schriften aller Sekten und Parteien wurden hier gedruckt, und kaum an irgendeinem andern Orte Deutschlands fanden sich so bedeutende Lager, namentlich der theologischen Tageslitteratur. Schon 1517 wurde dem Hieronymus Hitzel verboten, „in behemischer Gezung gar nichtzt mer zu drucken“, und noch in demselben Jahre das Gesuch des jungen Kaschauer abermals abgelehnt, „die Bibel und ander pucher in Behemischer sprach allhier drucken zu lassen und darbei statlich undersagt, wo er darüber ain rath mit weittern ansuchen oder fürschrifften überziehen werd, will man im von Hinnen weysen“. Im Oktober 1524 kam Heinrich Pfeiffer, zuweilen auch Schwerdtfeger genannt, der spätere Statthalter Thomas Münzers in Mühlhausen, von dieser Stadt nach Nürnberg und ließ hier des letztern Schriften drucken. Wenige Tage später ließ sich ein fremder Buchführer aus Mellerstadt ebenfalls eine Münzersche Flugschrift ohne Wissen des Rats und von diesem unbesichtigt drucken; derartige von vornherein bedenklich erscheinende Sachen wurden, um sie durchzuschmuggeln, mit andern zusammen verheftet und verkauft.[17] Unterm 27. Juni 1526 wurden die nürnberger Buchdrucker [429] und Buchführer bei „ernstlicher eines erbarn Rats straff“ angewiesen, sich des Drucks und des Verkaufs „der Karlstädtischen, Ecolampadischen, Zwinglischen und irer anhänger büchlein zu enthalten“. Der Druck der Lutherschen Schriften dagegen wurde nur des Scheins wegen und nur so lange verboten, als die päpstlich-kaiserliche Politik noch einen Druck auf den Rat ausübte.
In Norddeutschland war Magdeburg der Luthersche Vorort und Ausgangspunkt für den östlichen Teil Niedersachsens geworden. Es entwickelte als solcher eine lebhafte Thätigkeit für die Verbreitung und Befestigung der Lehre Luthers, namentlich durch den Druck seiner und anderer reformatorischer Schriften in niederdeutscher Sprache. Außer zahlreichen Streitschriften erschienen hier die Lutherschen Auslegungen und Episteln, namentlich aber erwarb sich Magdeburg sehr bald einen hohen Ruf wegen seines Bibel- und Gesangbuchdrucks und behauptete denselben bis zu seiner Zerstörung (1631). Auch mit Dänemark standen die magdeburger Drucker und Buchführer lange Zeit in Verbindung (1529 bis 1562), ganz ebenso wie die Wittenberger. Namentlich beteiligte sich der Drucker Hans Walter seit 1530 an dem Verlage kleiner Schriften, welche Luther zur Zeit des augsburger Reichstags schrieb; er ließ sie ins Niederdeutsche übertragen und nur wenige Wochen nach dem Erscheinen der Originale verbreiten. Während der Flacianischen Streitigkeiten (1549 bis 1552) erschienen in Magdeburg weit über hundert Streitschriften, sodaß es auf Grund dieser umfangreichen Litteratur „unsers Herrgotts Kanzlei“ genannt wurde. Vielleicht gelingt es der neuen kritischen Gesamtausgabe der Lutherschen Werke, den vollen Anteil der Stadt auch an deren Verbreitung festzustellen. Bis jetzt ist das noch nicht versucht worden, zum Teil aber mag es sich auch gar nicht nachweisen lassen, da Krieg und Feuer dort wiederholt arg gewütet und die wichtigsten Spuren vielfach verwischt haben.
Noch schwerer ist das für jene Gegenden festzustellen, welche von der Reformation im Anfang ihres Auftretens erobert waren und später dem mächtigern Andrängen der alten Mächte wieder unterlagen. Das war z. B. im Nordwesten in Münster und im Südosten in ganz Österreich der Fall. Das verhältnismäßig unbedeutende Münsterland zunächst war bis zum Ausbruch der Wiedertäuferunruhen so gut wie lutherisch. Einige seiner bedeutendsten Söhne, wie z. B. Rottmann und Glandorf, [430] hatten die neue Lehre von Wittenberg aus in ihre Heimat getragen und hier mit so großem Erfolg verbreitet, daß die Hauptstadt der Mittelpunkt des Lutherthums für ganz Westfalen geworden sein würde, wenn sich die Wiedertäufer ihrer nicht für ein paar Jahre bemächtigt hätten. Das Ende ist bekannt. Die nunmehr eintretende Reaktion richtete sich selbstredend auch gegen die Luthersche Lehre, aus welcher in ihren Augen jene Sektirer erwachsen waren; mit den gewaltsamsten Mitteln wurde die Herrschaft der katholischen Kirche wiederhergestellt. In dem Wüten gegen die Presse, und vor allem gegen die Lutherschen Werke, waren beide feindlichen Parteien, die Besiegten und Sieger, einig. Zuerst hatten die Wiedertäufer, mit Ausnahme der Bibel und der Flugschriften Rottmanns, alles vernichtet und verbrannt, was sie an gedruckten und ungedruckten Büchern auftreiben konnten. Sie entleerten außer der kostbaren Dombibliothek die Buchläden im Paradiese des Doms und die Druckereien, ja sie zwangen die Bürger, alles, was sie an gedruckten Werken hatten, auf dem Domplatz abzuliefern, damit es dort den Flammen übergeben werde. Daß sich eine Menge Lutherscher und reformatorischer Streitschriften darunter befand, darf wohl um so eher angenommen werden, als der Boden des damaligen Münster schon jahrelang von den religiösen Parteien unterwühlt war und Rottmann – der noch vor der Katastrophe aus einem Lutheraner zum Anhänger Zwingli’s geworden war – sicher die Kenntnis und den Besitz der Streitschriften beider protestantischen Parteien vermittelt und ihren Vertrieb befördert hatte. Als dann die wieder zurückgekehrten bischöflichen Behörden ernstliche Vorkehrungen gegen das Wiederaufleben der gesunden reformatorischen Richtung trafen, auch bald darauf in den Münster auftretenden Jesuiten ihre beste Stütze fanden, schritten sie natürlich in erster Linie gegen alle ketzerischen Bücher ein. So ordnete ein Landtagsbeschluß vom 24. Juni 1562 an, daß Bücher, welche über die Calvinsche oder Zwingli’sche Lehre handelten, von den Unterthanen weder zu kaufen noch zu lesen, vielmehr anzuzeigen und zu vernichten seien. Es scheint, daß man einen solchen Befehl gegen die Lutherschen Schriften für überflüssig erachtete, sei es, daß die Wiedertäufer bereits genügend aufgeräumt hatten, oder daß man ihn für selbstverständlich hielt, weil die Ausrottung des Luthertums die erste Voraussetzung der Wiederherstellung der katholischen Kirche bildete.
[431] Die übrigen geistlichen Staaten, wenn man den vornehmen Begriff Staat auf diese politischen Mißbildungen und römischen Filialen anwenden darf, kommen hier deshalb nicht in Betracht, weil sie auf dem Gebiete des Glaubens nur ultramontane Befehle auszuführen und kaum tief eingreifende ketzerische Unruhen zu verzeichnen hatten. Es ist darum auch ziemlich gleichgültig, ob diese Bistümer oder Erzbistümer 100 oder 1000 Bücher verbrannten, oder ebenso viel und mehr Ketzer aus dem Lande trieben. Viel schlimmer ist es, daß die litterarische Thätigkeit hier bald ganz aufhörte, daß das Volk des Denkens entwöhnt und einer strengen priesterlichen Dressur unterworfen, auch die Lust an geistiger Erholung verlor und infolge dessen auch das Bedürfnis des Lesens ganz einbüßte. Das Herzogtum Bayern setzte seinen Stolz darein, sogar noch päpstlicher zu sein, als die geistlichen Kurfürstentümer, und kann deshalb nicht einmal Anspruch auf die Ehre einer besondern Erwähnung machen.
Was aber eine vollständig durchgeführte Gegenreformation in einem großen Lande heißen will, das zeigte sich nur zu bald in Österreich. Hier ist es den Jesuiten in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, die von Luther eingeleitete Bewegung bis auf die bescheidensten Lebensäußerungen zu beseitigen und jahrhundertelang ein begabtes Volk von der Entwickelung des deutschen Geisteslebens vollständig auszuschließen. Luthers Lehre fand von Anfang an in Wien und ganz Österreich einen wohlvorbereiteten und empfänglichen Boden vor und gewann trotz der Verfolgungen der Regierung und der katholischen Geistlichkeit im 16. Jahrhundert eine so große Verbreitung, daß man neun Zehntel der ganzen Bevölkerung als lutherisch bezeichnen konnte. Erst der Dreißigjährige Krieg vermochte den Protestantismus mit der Wurzel auszurotten. Schon im April 1518 wurden verschiedene in religiöser Beziehung verdächtige und anstößige Bücher in Wien veröffentlicht und verbreitet, gegen deren Drucker, Verkäufer und Käufer der Bischof vorerst nicht einzuschreiten wagte. Johann Eck stellte Ende 1520 lange vergeblich das Ansinnen an die wiener Universität, daß sie die päpstliche Bannbulle gegen Luther veröffentlichte und alle Lutherschen Bücher und Schriften von den Universitätsangehörigen einfordere und dann vernichte. Ehemalige Priester predigten 1522 selbst mit bischöflicher Erlaubnis für die Ehe der Geistlichen und vertheidigten in der Stephanskirche Luthers Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Ferdinand I. hatte zwar am 12. März 1525[18] verboten, die Werke [432] Luthers, Ökolampadius’, Zwingli’s und anderer dergleichen „never verfüerisch lerer pücher anzunehmen, zu halten, zu kaufen, zu verkaufen, zu lesen, abzuschreiben, zu drucken noch drucken zu lassen“, allein das Verbot reizte nur noch mehr zum Studium derselben. Jakob Peregon, Pfarrer am Bürgerspital, rühmte sich, 50 Luthersche Schriften zu besitzen und sie fleißig zu lesen. Eifrig wurden dieselben auch nachgedruckt, z. B. „Ain Schöne Predig von zwayerlay gerechtigkeit“ (1520) und „Aine predig von dem Eeligen stand“, ebenso lutherisierende Schriften, wie z. B. die Eberlins von Günzburg. Österreichische Studenten besuchten deutsche Universitäten, namentlich Wittenberg, gegen den Willen der heimischen Regierung. Von Luthers erstem Auftreten an bis unmittelbar nach seinem Tode, zwischen 1522 und 1548, studierten hier 66 Österreicher, darunter 38 Wiener und verschiedene Angehörige des ständischen Adels. Natürlich brachten sie von der Quelle des Luthertums auch dessen gedruckte Lehren und Schriften nach Hause und verbreiteten sie hier, sei es im Original, sei es im Nachdruck, unter die Massen. Während des ganzen 16. Jahrhunderts kümmerte man sich nicht um das Verbot des Studierens im Auslande. So planmäßig Ferdinand und seine Nachfolger auch vorgingen, so zielbewußt ihnen die seit 1551 ins Land gerufenen Jesuiten bei ihren gegenreformatorischen Angriffen halfen, die neue Lehre griff während der ersten fünfzig Jahre nach ihrem Aufkommen immer weiter um sich. Die lutherischen adeligen Stände fanden zugleich ihren Vorteil in der Aneignung des Kirchenguts und brachten es im Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Anerkennung der vollen Gewissensfreiheit, die natürlich mit dem Dreißigjährigen Kriege wieder zu Grabe getragen wurde. Diese Zeit gehört nicht mehr hierher, allein in der ganzen ihr voraufgehenden und auch in der spätern Periode ist die systematische Verfolgung der Lutherschen Litteratur bis in den engen Kreis der Familie das erste Augenmerk der weltlichen und geistlichen Behörden, die nur zu gut wußten, daß sie ihren Gegnern die Wurzeln der Kraft raubten, wenn sie ihnen auf die Dauer die geistige Nahrung entzogen. Die katholischen Gegenreformatoren siegten mit ihrer zähen Energie, aber ihr „perinde ac cadaver“ war nur durch Vernichtung des Buchhandels zu erzwingen.
Auf die Nachdrucker folgten die Buchführer. Jene würden sich der Tageslitteratur nicht so zahlreich bemächtigt haben, wenn diese nicht den [433] massenhaften Absatz der nachgedruckten Preßerzeugnisse allerorten vermittelt hätten. Die Buchführer und Hausierer überschwemmten bald ganz Deutschland und vertrieben nicht allein die katholischen Werke, sondern auch die durch das Vorgehen des Reformators hervorgerufenen Streitschriften und Gesprächbüchlein (Dialoge). „Unzählig sind die Schmachbüchlein und Lästerreden“, schreibt Johann Cochläus aus Wendelstein (1479 bis 1552), „die unter das Volk ausgehen wider päpstliche und weltliche Autorität, wider alle, welche Macht und Reichtum haben und nicht abfallen wollen vom Glauben ihrer Väter.“ „Die Schmachbüchlein und Lästerreden“, von welchen dieser unflätigste Gegner Luthers hier spricht, waren Flugschriften auf Flugschriften in Reim und in Prosa, in lyrischem Erguß und in lebendigem Dialog, welche Kunde davon geben, daß Luthers Wort an das Ohr des Volks erklungen, in sein Herz eingedrungen war und daß es dort klares Verständnis und jubelnde Aufnahme gefunden hatte. Das deutsche Volk verknüpfte sich selbst mit des Reformators Person und Geschick aufs engste: seine Feinde sind auch des Volkes Feinde, und dieses, welches in ihm den klaren und beredten Ausdruck seiner Schmerzen und Freuden gefunden hatte, verfolgte und vernichtete sie alle, vom Papste herab bis zum Bettelmönch, mit den Waffen der Polemik, mit sittlicher Verachtung und übersprudelndem Humor, mit derbem, schonungslosem Spott und nationalen Beweisgründen. Anfangs verbot und nahm die Polizei solche Schriften noch in Beschlag; allein vom wormser Reichstag ab wurde das immer mehr unmöglich, und wird sogar die Gewalt mit Gewalt, am liebsten aber durch List vereitelt. Je verpönter aber eine Schrift war, desto leichter wurde sie verkauft, desto teuerer bezahlt und desto gewinnbringender abgesetzt. Selbst Gefängnis und harte Leibesstrafen vermochten den gewinnsüchtigen Händler nicht abzuschrecken. Die Verbote der Obrigkeit schlug er meist in den Wind; sie waren auch häufig nicht so streng gemeint. Nur ab und zu wurde bitterer Ernst gemacht. So bildete sich denn der Hausierhandel mit Flugschriften zu einem einträglichen Geschäft aus, das seinen Mann gut nährte, das vielfach auch von Frauen und selbst von Knaben betrieben wurde. Es waren darin wohl vielfach junge Männer thätig, die ihren Beruf verfehlt und nichts zu verlieren hatten, Menschen, die nicht viel arbeiten, aber doch ihr Leben genießen wollten, Abenteurer, die sich von den aufgeregten Wogen der Zeitströmung tragen [434] ließen, einerlei, wo und ob sie dereinst landeten, und endlich catilinarische Existenzen, welche das Leben für kaum mehr als einen schlechten Witz nahmen, oder durch alle denkbaren Hindernisse möglichst glatt hindurchzugleiten wußten. Besonders gefährlich aber wurden solche von Haß gegen das Bestehende beseelte Buchführer durch die zielbewußte Auswahl der von ihnen vertriebenen Schriften. Unermeßlich war daher der von ihnen auf die Gemüter ausgeübte Einfluß. Wo während der Reformationszeit „etwas los war“, da tauchten auch die Buchführer wie die Sturmvögel auf und wieder unter. Der Kampf und die Revolution waren das Element, in welchem sie sich am wohlsten fühlten. Man hört nur ausnahmsweise von katholischen Flugblättern, welche von Buchführern vertrieben wurden, meistens nur von Verbreitern Lutherscher oder lutherisierender Schriften. Wo nur einer dieser Leute genannt wird, da gehört er zur revolutionären Partei, und in der That gibt es kaum einen Sitz der Bewegung, wo man ihrer nicht einen oder mehrere findet. So tritt z. B. in Rothenburg a. d. Tauber 1524 ein Buchführer und Buchdrucker Kunz Kern auf, der nach dem Siege über die Bauern mit 40 Gulden gestraft und aus der Stadt verwiesen wird. Ein anderer Aufrührer, auch Buchführer, Bernhard Schmidt, teilt dasselbe Schicksal mit ihm und darf als „ausgetretener“ (entflohener) Bürger nicht wiederkommen.[19] Auch in den spätern Wiedertäufer-Unruhen im Norden Deutschlands schüren die Buchführer das Feuer und drängen das Volk zur That, so z. B. 1533 und 1534 in Westfalen ein Peter aus Lippstadt, welcher als Buchführer durch das Land zog und den Massen die wiedertäuferischen Lehren verkündigte.
In ihrem Geschäftsbetrieb knüpften diese hausierenden Buchführer ganz an die Gewohnheiten der alten Handschriftenhändler und ersten Buchführer an. Auf Märkten und vor den Kirchen, in Schenken – hier selbst, wie in Breslau geklagt wird, ihre Ware ausspielend – und auf offener Landstraße, in Universitätsstädten an den Thüren der Kollegien und Bursen suchten sie ihre Käufer. Dabei hatten sie wieder ihre Gehilfen, Jungen und Frauen, welche mit den Flugschriften in die Häuser liefen oder sie auch, mit unverdächtigen Büchern zusammengeheftet, in den Gassen verkauften. Gustav Freytag hat in seinem „Markus König“ ein recht anschauliches Bild dieses Hausierhandels gegeben, welches den Charakter des Geschäfts treu widerspiegelt.
[435] Für den städtischen Handel bietet Nürnberg einzelne sehr lehrreiche Beispiele. Die dortigen Buchdrucker Stuchs und Arbogast hatten 1523 eine vom Barfüßermönch Kettenbach verfaßte „Praktika“ veröffentlicht, in welcher Papst und Kaiser mit Schmähungen überhäuft wurden. Der Rat ließ den Verkauf, wie auch den von Luthers Büchlein gegen Heinrich VIII. von England bei allen Buchführern, Bürgern und Inwohnern am 14. September verbieten und die vorhandenen Exemplare wegnehmen. „Das alte Fräulein im Tuchscherergäßchen“ büßte den Verkauf, wie schon früher erwähnt, vier Tage und Nächte an eine Bank angeschlossen. Unter dem Rathause aber sollte man in Zukunft weder gedruckte Bücher noch Briefe oder Gemälde feil haben dürfen. Ferner verbot der Rat im September 1524 den Verkauf der andern Lutherschen Büchlein, in welchen Kaiser und Fürsten Narren genannt wurden. Die Buben, welche solche Büchlein am Marke feil hatten, ließ der Rat vorladen. Einer derselben hieß Johann Faust; er hatte Luthers neuen Traktat „Über zwei kaiserliche widerwärtige Mandate“ feilgeboten. Obschon nun kaiserliche Majestät darin sehr geschmäht wird, erhielt der Knabe doch nur einen starken Verweis und den Befehl, sich in Zukunft des Verkaufs solcher Schmähbüchlein zu enthalten. Er hatte übrigens auf Befragen Wolf (Präunlein?) von Augsburg als den Buchführer genannt, der ihm solche Büchlein zum Verkauf übergeben. Aber Leonhard Fink, Buchführer in der Mendlin Hinterhaus, wurde strenger behandelt; er wurde zur Strafe vier Tage und vier Nächte in den Turm gesetzt. Dem Fremden, der in Pirckheimers Hofe gemalte Tüchlein feil hatte, ließ der Rat den Verkauf untersagen, weil sich schändliche Gemälde über den Papst darauf befanden. Frau Agnes, Stephan Hammers des Briefmalers Weib, hatte etliche Büchlein zum Verkauf ausgeboten, welche gegen die vom päpstlichen Legaten in Regensburg erlassene Reformation gerichtet waren; die Bischöfe wurden darin geschmäht und „Fladenmacher“ genannt. Hierfür ward der Frau Agnes zur Strafe auferlegt, drei Tage und ebenso viel Nächte an einer Bank zu büßen.[20]
Ebenso eifrig trugen aber die Buchführer die Flugschriften auch auf das Land. Sie lasen den Bauern Kraftstellen daraus vor, machten übertriebene Anpreisungen vom Inhalt oder sagten ihnen plumpe Schmeicheleien, um sie der Anschaffung des neuesten, „in diesem Jahr gedruckten“ Büchleins desto eher geneigt zu machen. Im Durchschnitt kostete ein [436] solches, drei bis vier Bogen starkes Heft einen Groschen. Wenn es für einen zu teuer war, so kauften es mehrere gemeinschaftlich. Ebenso häufig nahm aber der Bauer diese Schriften auch aus der Stadt mit nach Hause. Waren sie dann im Korbe unter eingekauften Haushaltungsgegenständen oder Gartenerzeugnissen, welche keinen Abnehmer gefunden hatten, zum heimatlichen Dorf gewandert, so traten sie ihren Gang durch dieses an. Mit besonderer Vorliebe benutzte die lutherisch werdende Bauernschaft die Wirtsstuben, um sich das Neueste vorzulesen und über das Gelesene zu verhandeln. Als die öffentliche Verbreitung gefährlich wurde, flüchtete sich diese Litteratur auf einen unverfänglichen Boden. So brachten der Kalender, die „Praktika“, auf ihren letzten Blättern die großen Fragen der Zeit in Prosa oder gutgemeinten Reimen zur Besprechung, die man hier bei der herkömmlichen Inhaltslosigkeit der Wetterbüchlein nicht erwartete. Da der Bürgersmann und der Bauer der schweren Kunst des Lesens nicht immer oder vielleicht in den seltensten Fällen mächtig war, so ergänzten ihn, wie den Mann des Mittelalters, fahrende Leute, die vom Vortrage fremder und eigener Werke lebten und die eben in jenen Jahren, von der reformatorischen Bewegung erfaßt, als Vorleser der Streitschriften von Landschaft zu Landschaft zogen und das neue Licht in die fern entlegensten stillen Wald- und Gebirgsdörfer trugen. Diese Sendboten im zerschlissenen Wams bedeuten an mancher Stelle des Vaterlandes mehr, als der Magister, der sein Wissen auf einer hohen Schule geholt hatte und nun vor seiner ländlichen Gemeinde das schlichte Wort nicht fand, das sie erwartete.
So wurde denn die Flugschrift und das Gesprächbüchlein (Dialog) ein treuer Mithelfer Luthers und seiner Anhänger.
Die Zahl der volkstümlichen Flugschriften aus der Reformationszeit ist sehr bedeutend, aber heutzutage kaum mehr festzustellen. Viele sind ebenso schnell wieder verschwunden, als sie aufgetaucht waren, die einen durch die spätern Kriege vernichtet, andere von Geistlichen verbrannt, wieder andere von der Polizei unterdrückt, viele auch sonst zu Grunde gegangen oder verwahrlost. Denn das Volk verbraucht die Bücher, welche es sich kauft, es hat kaum Platz für deren Aufbewahrung; der Gelehrte hingegen behütet seine Bücher sorgfältiger. Im vorliegenden Falle aber schrieb man eben nur für das Volk. Sodann dachte sonst niemand daran, das, was von dieser anscheinenden Eintagslitteratur in [437] seinen Kreis gefallen war, zu sammeln; das litterarische Interesse war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht stark genug oder zu einseitig, um solchen Erscheinungen bei ihrem bescheidenen Äußern irgendwelche Aufmerksamkeit schenken zu können. Was also von ihnen erhalten ist, das hat mit wenigen Ausnahmen, wenn nicht ein berühmter Name dahinter steckte, der Zufall, ein Aktenheft, der versteckte Winkel einer Bibliothek, ein planlos zusammengestellter Sammelband, wie man sie damals liebte, oder ein für nichts geachteter Einband gerettet. Allen diesen Tagesschriften gemeinsam ist die Anonymität des Verfassers und Verlegers. So treten sie mit dem Reiz des Geheimnisvollen, mit dem Schein einer doppelten Autorität vor den damaligen Leser und machen einen um so größern Eindruck. Nur einmal heißt es im „Karsthans“ (wahrscheinlich zu Anfang 1521 von Ulrich von Hutten geschrieben), Karsthans solle beim Buchdrucker Grüninger in Straßburg dessen beide Büchlein „Vom Bapstthumb“ und „Ain christliche und brüderliche ermanung“ kaufen und lesen. Aus den verdienstvollen Arbeiten von Karl Hagen, F. David Strauß und Oskar Schade u. a. weiß man, daß die hervorragendsten und edelsten Geister der Nation vor allem auf diesem Gebiete thätig waren und sich zum Theil hier ihre ersten litterarischen Sporen verdient haben.
Trotz alledem sind aber noch so viele jener Flugschriften auf die Gegenwart gekommen, daß sie eine der wichtigsten Quellen zur Kenntnis der Volksstimmung und des innern Ganges der Bewegung bilden. Sie weisen den Reflex der Ereignisse im Gemüt und Bewußtsein des Volkes nach, begleiten jedes neue Ereignis mit ihren Kommentaren und lehren vor allem den Charakter der Reformation viel tiefer und höher, denn als einen nur theologisch-dogmatischen Kampf gegen die alte Kirche auffassen. Es handelt sich nämlich von Anfang an für das Volk nicht nur um die Abschüttelung des römischen Jochs, sondern auch um die Befreiung von weltlichen Lasten, um die Beseitigung des weltlichen rohen Drucks und einer in gesetzliche Formen gebrachten Aussaugung durch heimische Herren und Machthaber. In vielen dieser Schriften gingen die letztern Beschwerden selbst den gegen Rom gerichteten voran; für alle aber war das Papsttum der Inbegriff jeder Art von Gewalt und Niedertracht. So ist es denn ziemlich auch derselbe Grundgedanke, welcher in der Tageslitteratur der Reformationszeit von immer neuen Gesichtspunkten aus behandelt wird.
[438] Bei der Würdigung dieser Erscheinungen hat die Geschichte des Buchhandels ein doppeltes Interesse. Einmal weckt diese allgemeine Verbreitung von Flugschriften die Lust am Lesen und verstärkt damit die natürliche Grundlage für die Entwickelung und Kräftigung des Buchhandels, dann aber bereitet die fast regelmäßige Mitbesprechung und Erklärung der Zeitereignisse den Boden für die politischen Flugblätter, „die newen Zeitungen“ vor, in welchen bei verringerten geistigen Interessen wenigstens die Neugier der Leser ihre Befriedigung fand. Das Flugblatt des Reformationszeitalters ist eben die Mutter der neuen Zeitung, der Zeitung überhaupt.
Johann Herrgott und seine Frau Kunigunde sind die echten Typen wandernder Buchdrucker und Buchführer aus der Mitte der Reformationszeit, eifrig und betriebsam, wo sie eine gutziehende Schrift drucken oder nachdrucken und vertreiben konnten, einander ergänzend, indem die Frau das Geschäft zu Hause besorgte, wenn der Mann auf Messen und Jahrmärkte, oder auf Agitationsreisen in die Weite wanderte. Sie hatten zur Zeit, als sie zuerst genannt werden, manche, vielleicht viele von Luthers Schriften nachgedruckt und vertrieben – darunter auch wenigstens zweimal das Neue Testament und zwar in Partnerschaft mit einem andern kleinen Buchführer, Michael Kuder von Wiesensteig bei Ulm –, weshalb der Reformator auf das „Herrgettlein“ auch gar nicht gut zu sprechen war. Später waren sie auf die radikale Seite getreten, wie dies der Druck Thomas Münzerscher Schriften (1524) und die längere Anwesenheit Herrgotts in Rothenburg, einem der Hauptsitze der „Sektirer“ und der Bauernbewegung, beweisen. Er arbeitete hier und anderwärts für die Ausbreitung der extremsten Richtung, der sozialen Revolution. Im Jahre 1526 taucht er plötzlich in Sachsen auf und verbreitet dort eine Flugschrift von 18 Seiten in klein Oktav, welche ohne Angabe des Druckorts, der Jahreszahl, des Verfassers und Verlegers den Titel führt: „Von der newen wandlung eynes Christlichen lebens“. A. Kirchhoff hat sie im leipziger Stadtarchiv gefunden und auch veröffentlicht. Der Umschlag, in welchem sie lange im Archiv eingeschlagen gelegen hatte, trägt die Aufschrift: „Hans Hergots von Nurmberg vffrurisch buchlein, vmb welchs willen er mit dem Schwerte alhir gericht. Montag nach Cantate (20. Mai) Anno Dom. 1527.“ Diese Bemerkung kann allerdings soviel heißen, daß Herrgott auch der Verfasser des [439] Schriftchens gewesen sei – der zeitgenössische Petrus Sylvius scheint ihn auch dafür zu halten –, muß es aber nicht unbedingt bedeuten, zumal, soviel sonst bekannt, Herrgott sich nur mit dem Vertrieb der von ihm gedruckten Bücher abgab und das vorliegende Schriftchen, um jene Bemerkung zu rechtfertigen, nur in seinem Besitze gefunden zu sein braucht. Jedenfalls wurde es von ihm, und in Leipzig von einigen Studenten, verkauft. Letztere Thatsache ist bezeichnend für die Ausdehnung und Einträglichkeit des Hausiergeschäfts, sie zeigt, welche Hilfstruppen dem wandernden Buchführer zur Verfügung standen. Lange Zeit hat sich durch die einschlägige Litteratur die Sage fortgeschleppt: Herzog Georg der Bärtige von Sachsen, ein ebenso erbitterter Feind Luthers als der aufständischen Bauern, habe Johann Herrgott im Jahre 1524 seiner religiösen Überzeugungen halber hinrichten lassen. Diese Annahme ist schon um deswillen hinfällig, weil die Herrgottsche Flugschrift gar nicht gegen den Papst, „unsern heiligen Vater“, gerichtet ist, sich vielmehr gegen alle Sekten, also auch gegen die Reformation wendet. Seit den Kirchhoffschen Forschungen und dem durch sie bekannt gewordenen Inhalt des Büchleins steht vielmehr fest, daß Herrgott den Tod wegen seiner sozial-agrarischen Propaganda erlitt. Akten über den Prozeß sind nicht mehr vorhanden. Nur einige kurze Notizen werfen ein düsteres Licht auf den Fall. Einmal nämlich findet sich auf Blatt 127 der leipziger Stadtkassenrechnung von 1527 die Ausgabe verzeichnet, welche die Überführung der die Flugschrift vertreibenden beiden Studenten von Leipzig nach Dresden und zurück verursacht hatte. Dann wurde dem Ratszimmermeister in der Woche nach Cantate der Lohn für zwei Hilfsarbeiter an einem Tage ausgezahlt, was auf das Aufschlagen des Schafotts hindeutet, endlich aber heißt es ganz positiv auf Blatt 114 der bereits erwähnten Stadtkassenrechnung: „Sabbato post Cantate. Vom Hergot zu begraben dem Todengräber 6 gr.“ Kostbar war, wie man sieht, das Begräbnis nicht. Fünfundsiebzig Pfennige! soviel wie etwa heute drei Mark! Die beiden Studenten aber kamen mit leichter Strafe davon.
Die Prädikanten, die Dritten im Bunde mit den Nachdruckern und Buchführern, erlangten dadurch eine so hohe Bedeutung für den Buchhandel, daß sie mittels des gesprochenen Wortes den Bildungstrieb in die Massen trugen, sie geistig hoben, also auch das Bedürfnis nach Büchern weckten. Während aber die Buchführer nur geschäftlich mit [440] dem Volke verkehrten und mit dem Vertrieb ihrer Ware möglichst leicht und schnell Geld zu gewinnen suchten, machten die Prädikanten dagegen lediglich geistige Propaganda für ihre Überzeugung und suchten durch die Verteilung von Flugschriften, wenn sie überhaupt welche bei sich führten, neue Anhänger für ihre Ansichten zu gewinnen. So wenig sonst auch Buchführer und Prädikanten geistig miteinander gemein hatten, so traf die Thätigkeit dieses leichten Fußvolks der Reformation doch in dem einen Punkte zusammen, daß sie die im Dienste der neuen Ideen stehende Litteratur mächtig förderten und Hunderttausende für die neuen Anschauungen gewannen.
Die Prädikanten nun waren teils ehemalige Priester, teils Laien und heuchelten oft noch sogar eine gewisse Unbildung, um ihres Eindrucks auf die Massen desto sicherer zu sein. Sie suchten, das Land durchziehend, durch ihre Predigten die Gemüter für die neue Lehre zu entflammen und wußten sehr geschickt die Saiten anzuschlagen, welche bei ihren Zuhörern begeisterten Anklang fanden. In der Regel hielten sie sich nicht zu lange an einem Orte auf, predigten dort, bis sie für ihre Auffassung des Evangeliums Boden gewonnen zu haben glaubten, oder bis sie durch Gewalt vertrieben wurden. Nach dem Zeugnisse der Zeitgenossen sind sie von unermeßlichem Einfluß auf das Volk gewesen, da sie, selbst aus ihm hervorgegangen, seine Bedürfnisse, Beschwerden und Lasten genau kannten und seine Leidenschaften anzustacheln wußten. Weil sie zudem nirgends lange blieben, zeigten sie sich überall in ihren glänzendsten Eigenschaften. Das Ungewohnte, Neue und Geheimnisvolle, welches diese Männer umgab, konnte nicht verfehlen, einen tiefen Eindruck auf die Massen hervorzubringen. Natürlich gab es unter diesen Prädikanten edle und gemeine Charaktere, einerseits Männer von idealer Lebensauffassung und schwärmerischer Begeisterung, welche ihre ganze Persönlichkeit freudig für ihre Sache einsetzten, wie namentlich die ersten sogenannten Wiedertäufer, und andererseits niedrige Demagogen, die in ihrer bisherigen Lebensstellung Schiffbruch gelitten hatten, oder selbstsüchtig im Trüben Vorteile für sich erstrebten. Dem Einen waren sie Engel, dem Andern Teufel. Der Erfurter Mechler erblickt in ihnen die wichtigste Stütze des Evangeliums, der katholisch gebliebene Priester Usingen dagegen will alle Prädikanten als Falschmünzer verbrannt wissen; und dabei war er einer der Gemäßigtsten. Zu den geistig bedeutendsten [441] und wirksamsten unter diesen Männern gehören unter andern die begeisterten Anhänger Luthers, wie die beiden großen Volksprediger Eberlin von Günzburg und Heinrich von Kettenbach, Jakob Strauß aus Basel, Urbanus Rhegius, Paul von Spretten und Diebold Schuster, ernste, für ihre Sache begeisterte Männer, die später als lutherische Geistliche in angesehenen Stellungen über ganz Deutschland zerstreut wirkten. An geistiger Bedeutung standen übrigens die Prädikanten der lutherischen Opposition, ein J. Denck und Thomas Münzer, bedeutend über ihnen.
Während die Vertreter des Alten sich den Weg zu den Gemütern des Volks versperrten, weil sie nur lateinisch schrieben und schlecht deutsch sprachen, besaßen die Prädikanten alle die Eigenschaften, welche zu einem guten Volksredner erforderlich sind: Vertrautheit mit ihrem Stoff, wirkliche oder zur Schau getragene Begeisterung für die Sache, eine energische, mit sich fortreißende Sprache und daneben jene volksmäßige Derbheit und meistens auch jenen gesunden Mutterwitz, welche, wenn auch Gründe nicht einschlagen sollten, niemals die gewünschte Wirkung verfehlen.
Diese Prädikanten tauchen meteorartig auf, verschwinden so schnell wieder, als sie kommen, oder fallen auch in die Hände ihrer Gegner und finden hier ein unglückliches Ende. Namentlich trifft dieses Schicksal die Anhänger der extremen Parteien, welche mit dem Bauernkriege handelnd in die Politik eintreten und auch noch ein Jahrzehnt nach dessen Niederwerfung zerstreut im ganzen Reiche heimlich und öffentlich wühlen.
Als eines der bedeutendsten, aber auch unglücklichsten dieser Wanderprediger sei hier des Balthasar Hubmayer aus Friedberg bei Augsburg gedacht. Er wurde wahrscheinlich in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts geboren, am 1. Mai 1503 in Freiburg immatrikuliert und war ein Zeitgenosse Johann Ecks, als dessen Nachfolger er Vorstand der Burse „Zum Pfau“ auf der genannten Universität wurde. Hubmayer nahm energisch für Eck Partei bei dessen Streit mit der Fakultät, schloß sich später der neuen Lehre an und trat entschieden auf die Seite Münzers, als dieser im Herbst 1524 den Klettgau und Hegau für seine Pläne zu gewinnen suchte. Hubmayer wirkte damals in Waldshut an der schweizer Grenze und übte einen gewaltigen Einfluß auf seinen engern Kreis und die ganze benachbarte Schweiz aus. Er gilt vielfach als der Verfasser der zwölf Artikel der Bauern, eine Annahme, zu welcher sein politischer Radikalismus wohl berechtigt; der Chronist Andreas Lettsch nennt ihn sogar den [442] Anfänger und Aufwiegler des ganzen bäuerischen Kriegs. Religiös stand Hubmayer ganz auf dem damaligen Standpunkt der Wiedertäufer und von ihm aus predigte er mit starken kommunistischen Zuthaten die Handhabung des Evangeliums und des göttlichen Rechts. Nach der „Niederwerfung“ des Bauernaufstandes wandte sich Hubmayer zu Anfang des Jahres 1526 nach Mähren und ließ sich in Nikolsburg nieder, wo er unter dem Schutze des Eigentümers der Herrschaft, Leonhard von Lichtenstein, anfänglich unbehelligt lebte und lehrte. Er hatte eine Druckerei aus der Schweiz her mitgebracht, welche der aus Zürich gekommene Buchdrucker Froschauer leitete und in der während der zwei Jahre ihres Bestehens zahlreiche Schriften der „Brüder“ in deutscher Sprache gedruckt wurden. Die größte derselben erschien 1526 unter dem Titel: „Ein Gespräch Balthasar Hubmör’s von Friedberg, Doktors, auf Meister Ulrich Zwinglens zu Zürich Taufbüchlen von dere Kindertauf. Die Wahrheit ist untödtlich. Erd, Erd, Erd höre das Wort des Herrens“ (9 Bogen in Quart). Hubmayer gewann eine große Zahl Anhänger, welche den König Ferdinand um so mehr beunruhigten, als sie zu Gewaltthätigkeiten übergingen, Heiligenbilder verbrannten, Sakramentshäuser und Altäre niederrissen und die Priester verspotteten oder gar verfolgten. Der König trat daher mit seiner ganzen Macht dagegen auf. „Welcher oder welche“, heißt es in seinem Mandat vom 20. August 1527, „die Gottheit oder Menschheit Christi, oder auch desselbigen Geburt, Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt und dergleichen Artikeln mit freventlichen Reden und Predigten antasten oder verachten, die sollen ohn Gnad mit dem Feuer gestraft werden.“ Da Hubmayer seine Lehren nicht widerrief, sogar verteidigte, so forderte und erlangte Ferdinand vom Herrn von Lichtenstein seine Auslieferung. Der Ketzer ward nach Wien gebracht und zuerst hier, dann in dem nahen Greifenstein gefangen gehalten. Die Theologen der wiener Universität, welche unter dem Bischof der Stadt als „Inquisitores haereticae depravitatis“ ein eigenes Gericht bildeten, suchten ihn bei wiederholten Besuchen vergebens zum Widerruf zu bewegen. So ward Hubmayer denn nach Wien zurückgebracht, in das Schanzenhaus gesetzt, daselbst unter Anwendung der Folter examiniert und am 10. März 1528 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die zeitgenössischen Quellen erzählen mit großem Behagen von seinem schweren Gange und geben die kleinsten Einzelheiten über sein Ende.
[443] In Scharen begleitete ihn „das gemeine Volk“ auf seinem Todesgange. Dagegen waren „das ehrsame Volk“, die Bürger, seine Gegner und hatten sich bewaffnet; auch bewaffnete Söldner standen in Bereitschaft. Nachdem ihm die Kleider ausgezogen und Hände und Füße gebunden waren, rieb ihm der Scharfrichter Bart und Haare mit Schwefel. Als diese brannten, rief Hubmayer: „Jesus, Jesus!“ Der Rauch erstickte seine Stimme.[21] Sein Tod aber machte einen derartig überwältigenden Eindruck, daß die weltlichen und geistlichen Behörden sich gezwungen sahen, ihr Verfahren zu rechtfertigen. Selbst seine Gattin, ein kühnes, starkes Weib, das ihren Gatten zum männlichen Ausharren ermahnte, ward nicht verschont und drei Tage später mit einem Stein am Halse in die Donau gestürzt. Die Buchdruckerei in Nikolsburg aber, die eine so wichtige Rolle in diesem düstern Drama spielt, gab nunmehr kein Ärgernis mehr, da die Wiedertäufer aus ganz Mähren und Österreich vertrieben wurden. Zwei andere Gesinnungsgenossen Hubmayers teilten gleich darauf in Wien sein Los.
Die Schilderung des Endes Hubmayers hat übrigens schon über die Grenzen der hier in Betracht kommenden Zeit hinausgeführt, da der große Bauernkrieg den Wendepunkt in der Geschichte der Reformation bildet. Hatte bis dahin trotz fürstlicher und päpstlicher offener Angriffe und heimlicher Gegenarbeit ihr Siegeslauf nicht unterbrochen werden können, so war mit der blutig-grausamen Unterdrückung des Aufstandes der Bauern der gewaltigen lutherischen Bewegung als einer national kirchlichen der Lebensnerv durchschnitten. Die Jahre des ungestümen Stürmens und Drängens von 1517 bis 1521, die Zeiten des freudigen Schaffens und Aufbauens von 1521 bis 1525, in welchen sich wie im Anfang jeder großen weltgeschichtlichen Epoche der Geist und das ideale Ziel am reinsten und deutlichsten aussprechen, traten fortan selbst in der Erinnerung der Mithandelnden zurück. Luther war durch die Revolution über Nacht ein anderer geworden und trat in bewußten Gegensatz zu seinen stürmischern Anhängern. Er rief die Polizei zu Hilfe, um den Individualismus der religiösen Empfindung in feste Ordnungen zu zwängen, und suchte mit Hilfe der Landesfürsten, die auch gern kleine Päpste werden wollten, sein kirchliches Werk unter Dach zu bringen. Durch dieses despotische Verfahren wurde allerdings das, was von seiner Lehre noch übrigblieb, vom Zerfall gerettet; allein die theologischen Tüfteleien [444] und dogmatischen Streitigkeiten vermochten niemand mehr zu erwärmen und ließen die Massen kalt, während sich das Volk dem fürstlichen Kirchenregiment mit passivem Gehorsam fügte. Nach der Niederlage versiegen auch die Quellen der Begeisterung, des Witzes, der Laune und Satire; in der Gefangenschaft singt man nicht. Die Volksschriftenlitteratur erlischt deshalb auch nach dem Bauernkriege, die Polemik der Gegner aber wird einseitiger, persönlicher, gereizter und zuletzt auch bei täglich zunehmender Inhaltlosigkeit ziemlich gleichgültig.
Der Geist der Bewegung war aber doch von Anfang an ein zu gewaltiger, als daß er in lahme Klopffechterei der Theologen hätte verlaufen können. Eine religiöse oder politische Richtung kann und muß sich allerdings erschöpfen, und das vielleicht um so eher, je stürmischer sie anfangs aufgetreten ist; allein eine große sittliche und geistige Umwälzung, welche, wie die Reformation, das ganze Volk ergreift und durchzittert, durchdringt auf Jahrhunderte hinaus mit reinigender und neubelebender Kraft aller Klassen der Bevölkerung, alle Gebiete des wirtschaftlichen und öffentlichen, des sittlichen und geistigen Lebens.
Das bedeutendste dieser Gebiete ist die Erziehung und der Unterricht. Die deutsche Volksschule zunächst ist das Kind der Reformation und bewegt sich ein volles Vierteljahrtausend in den von dieser vorgezeichneten Bahnen. An ihrer Wiege stand ein geistig hervorragender Gelehrter, Valentin Ickelsamer aus der Nähe von Rothenburg a. T., dessen Geburts- und Sterbejahr völlig vergessen sind. Er hat die erste deutsche Grammatik nicht etwa geistlos den lateinischen Schulbüchern jener Zeit nachgebildet, sondern auf Grundlage der lateinischen frei aufbauend, durch „Eine Teutsche Grammatica“ die Jugend zuerst in ihrer Muttersprache methodisch lesen und denken gelehrt. Er wollte durch sein Buch, dessen erste Auflage um 1534 und dessen dritte 1537 erschien, das Seine zur Förderung des Unterrichts im Deutschen beitragen.[22] Ickelsamer war, wie er sich voll Selbstgefühl nannte, der erste „teutsche Schulmeister“ und stand mitten in der geistigen Bewegung jener Zeit. Anfangs ein warmer Verehrer Luthers, schloß er sich eine Zeit lang Karlstadt an, wurde, da er sich in Rothenburg an der Bauernbewegung beteiligt hatte, nach der Einnahme dieser Stadt aus ihr verbannt und ging dann nach Augsburg, wo er von neuem in ein persönlich freundschaftliches Verhältnis zu Luther trat. Seine Grammatik sowol, als seine [445] frühere Schrift „Die rechte weis auffs kürtzist lesen zu lernen“ (1527 und 1534) waren für ihre Zeit vortreffliche Leistungen und fanden bald so zahlreiche Nachbildungen und Nachahmungen, daß sie nicht lange im Gebrauch blieben. Weiter über ganz Deutschland verbreitet gewesen, länger – Jahrhunderte hindurch – im Gebrauch und noch heute, gleichsam sprichwörtlich, bekannt ist dagegen Adam Riese’s Rechenbuch. Riese war 1492 zu Staffelstein bei Lichtenfels in Franken geboren und starb 1559 als Bergbeamter und Privatlehrer zu Annaberg in Sachsen. Sein Buch erschien zuerst 1518, und in zweiter Auflage 1525, zu Erfurt. Beide Männer, Ickelsamer und Riese, sind die Neubildner des ersten Jugendunterrichts und die Vertreter einer Richtung, welche sich im Laufe der Jahre nicht allein über das protestantische, sondern auch über das katholische Deutschland ausgebreitet hat. Zu den von ihnen geschaffenen unentbehrlichen Lehrmitteln der Volksschule kam nur noch im Laufe des 16. Jahrhunderts der Katechismus, welcher die Glaubenslehre in fortlaufenden Fragen und Antworten behandelt, und zwar für die Lutheraner der kleine Luthersche (1529), für die Reformierten der heidelberger (1563) und für die Katholiken in erster Linie der „Catechismus parvus“ des Pater Canisius (1563).
Dieselbe Aufgabe, welcher sich Ickelsamer und Riese für die Elementarschule gewidmet hatten, löste Philipp Melanchthon, der Freund Luthers, der Praeceptor Germaniae, für den höhern Unterricht. Er veranlaßte und schrieb selber die maßgebenden Lehrbücher für lateinische Schulen und Universitäten: griechische und lateinische Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Theologie, Ethik, Physik und Psychologie, Lehrbücher, die sich länger als zwei volle Jahrhunderte im Gebrauch erhalten haben. Er drang überall auf klares System und war ein ordnender, aber kein bahnbrechender Geist. Man hat ihn mit Recht den Lehrer Deutschlands genannt. Die großen wissenschaftlichen Fortschritte um ihn her sind von andern gemacht worden; dagegen hat das deutsche Schulwesen, wie es vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestand, durch Melanchthons Hand die entscheidende Organisation erhalten und auch den Jesuiten zum Vorbild gedient.[23] Wittenberg wurde für das ganze lutherische Deutschland die Pflanzschule der Rektoren und Lehrer, und im Südwesten gewann Straßburg eine Zeit lang dieselbe Bedeutung für die Reformierten.
Unwissenheit und Dünkel wähnen vielfach, daß es in „den barbarischen [446] Zeiten des Mittelalters“ keine Schulen gegeben habe, und rechnen deren Einrichtung überhaupt erst der Reformation als wesentliches Verdienst an. Diesem Irrtum schlagen die Thatsachen überall ins Gesicht. Die Kirche errichtete vielmehr und förderte in ihrem eigenen Interesse Unterrichtsanstalten aller Art, von den Elementar- (Pfarr- oder Küster-)Schulen an bis hinauf zu den oft vortrefflichen Domschulen und Universitäten. Bereits im 13. Jahrhundert mußten die Küsterschulen nach einem bestimmten Lehrplan die Jugend im Lesen und Schreiben unterrichten; aus den lateinischen Schulen aber sind die ältern, zum Teil noch bestehenden deutschen Gymnasien hervorgegangen, und die spätern Hochschulen bilden in ihren wesentlichen Einrichtungen vielfach die Fortsetzung der mittelalterlichen Universitäten. Natürlich dienten jene Schulen in erster Linie kirchlichen Zwecken. Das Kind mußte der Mutter gehorchen und deren Einfluß auf das Volk verstärken helfen, ein Verhältnis, welches sich um so natürlicher entwickelte, als zu jener Zeit die Kirche die einzige geistige Macht war, welcher man sich gern unterwarf. Auch die protestantische Kirche behandelt die Schule als ein ihr von Rechts wegen gehörendes Gebiet und sucht selbstredend in ihrem eigenen Geiste auf sie zu wirken. Sie tritt also in dieser Frage nicht in bewußten Gegensatz zum Katholizismus, sondern geht nur insofern über ihn hinaus, als sie die Schule als Selbstzweck gelten läßt und durch sie dem Schüler eine Mitgift fürs ganze Leben gibt, während die katholische Kirche den Unterricht als bloße Beigabe zur Seelsorge ansieht und in diesem Sinn den Schüler für ihren Zweck modelt. Der Protestantismus erweitert den Begriff der bisherigen begrenzten, kirchlichen Schule zur nationalen Volksschule. Das ist der mächtige Unterschied zwischen den beiden Weltanschauungen! Wie die lutherische Kirche sich der Staatsgewalt unterordnet, so muß ihr auch die Schule folgen. Der Staat verallgemeinert im Laufe der Jahre den Unterricht und führt teilweise sogar für das ganze Volk den Schulzwang ein. Die protestantische Schule erhält eine von der Kirche mehr unabhängige und freiere Stellung und wird nationale Bildungs- und Erziehungsanstalt. Ihre katholische Schwester hingegen bewegt sich nur innerhalb der von Rom gezogenen Grenzen und begünstigt eine mehr schablonenartige Bildung, welche vielfach das individuelle Leben verwischt. Der Katholizismus stützt seine Herrschaft auf ein möglichst großes Laientum, welches in [447] seinem Denken und Thun von den Priestern abhängig ist; der Protestantismus kennt eigentlich keine Laien und will jeden Menschen zu einem selbst Denkenden erziehen. Diese äußerlich oft verblaßten, aber nie ganz verwischten Ziele lassen sich überhaupt nicht ausrotten und bedingen auf protestantischer Seite die Massenproduktion der Bildungsmittel, namentlich der Bücher. Sie erweitert sich mit jedem Jahre mehr zu einer reichern und umfassendern Litteratur. Die Pädagogik wird eine Wissenschaft und die Verbreitung der gelehrten Erziehung eine Art nationaler Eigentümlichkeit, welche durch mancherlei politische Rückschläge sogar noch gefördert wird.
Luther ist der Ausgangspunkt für alle diese Strömungen des geistigen Lebens. Er hat zuerst die Kräfte entfesselt, in deren Wechselwirkung das ABC-Buch von Ickelsamer den berechtigten Anfang bildet. Buchdruck und Buchhandel verdanken Luther ihren großartigen Aufschwung. Bis zur Zeit des Humanismus und der Reformation hatte allerdings schon in Deutschland ein bedeutender Bücherhandel geblüht. Aus diesen beiden mächtigen Bewegungen heraus entwickelte sich aber ein für das Leben des deutschen Volks und den Fortschritt der ganzen gebildeten Welt noch viel bedeutenderer Faktor – der deutsche Buchhandel.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Herzog, J. J., Das Leben Johann Ökolampads. Basel 1843. I, 85.
- ↑ Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar. I, 1883. II, 1885.
- ↑ Zwinglii opera; cur. M. Schuler et J. Schulthess. Vol. VIII. Turici 1830. p. 61.
- ↑ Agrippae a Nettesheim, Corn., opera. II, 748.
- ↑ Teutsch, F., im Archiv f. Geschichte des deutschen Buchh. IV, 24.
- ↑ Petzholdts Anzeiger f. Bibliographie u. Bibliothekswissenschaft. 1882. S. 59.
- ↑ Une visite etc. p. 42.
- ↑ Daselbst S. 43.
- ↑ Soden a. a. O. S. 75. 123. 127. 142.
- ↑ Kampschulte a. a. O. II, 41.
- ↑ Dobel, F., Memmingen im Reformationszeitalter. Augsburg 1877. S. 22–31.
- ↑ Hagen, K., Deutschlands religiöse und litterarische Verhältnisse im Reformationszeitalter. Erlangen 1841–1844. II, 159.
- ↑ Soden a. a. O. S. 170.
- ↑ Kampschulte a. a. O. II, 193.
- ↑ Grenzboten 1878. Nr. 34. S. 281–301.
- ↑ Kirchhoff im Archiv. I, 20.
- ↑ Soden a. a. O. S. 202. 203.
- ↑ Wiedemann, T., Die kirchliche Büchercensur in der Erzdiözese Wien. Wien 1873. I, 31.
- ↑ Baumann, F. L., Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Oberschwaben. Freiburg 1877. S. 58. 144. 541. 616.
- ↑ Soden a. a. O. S. 202–204.
- ↑ Wiedemann a. a. O. I, 50.
- ↑ Fechner, H., Vier seltene Schriften des 16. Jahrhunderts. Berlin 1882.
- ↑ Scherr, J., Geschichte der deutschen Litteratur. S. 294.