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ADB:Müller, Wilhelm (Dichter)

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Artikel „Müller, Wilhelm“ von Friedrich Max Müller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 683–694, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Wilhelm_(Dichter)&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 02:36 Uhr UTC)
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Band 22 (1885), S. 683–694 (Quelle).
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Müller: Wilhelm M. ward zu Dessau am 7. October 1794 geboren und starb in seiner Vaterstadt im 33. Lebensjahre am 30. September 1827. Er stammte aus einer armen, aber geachteten Bürgerfamilie, und da die Eltern fünf Kinder nach einander verloren hatten und dieser Sohn allein ihnen übrig geblieben war, so wurde er mit großer Zärtlichkeit und Nachsicht erzogen und genoß in seiner Kindheit eine fast unbegrenzte Freiheit. Sein Geist wurde früh geweckt und erhielt reichere Eindrücke als eine strengere Erziehung und ein regelmäßigerer Schulunterricht ihm hätten gewähren können. Auch hatte er das Glück, schon als Knabe nicht nur die schönen Wälder und Flüsse seiner Heimath genießen zu können, sondern kleine Reisen nach Frankfurt, Dresden und Weimar weckten in ihm frühzeitig die warme Reiselust, die in vielen seiner Gedichte einen so lebendigen Ausdruck gefunden hat. – In seinem elften Jahre verlor er seine Mutter, und sein Vater verheirathete sich nach einigen Jahren mit einer wohlhabenden Wittwe, vielleicht nicht ohne die Hoffnung, auf diese Weise seinem einzigen Sohn, dessen Talent sich schon früh entwickelt hatte, eine bessere Erziehung geben zu können und ihn später studiren zu lassen. Schon in seinem vierzehnten Jahre hatte der heranwachsende Knabe einen Band für den Druck vorbereitet, welcher Elegien, Oden, kleine Lieder und ein Trauerspiel enthielt. Auch soll er als Primaner oft die ganze schwarze Tafel mit Versen beschrieben haben. Von diesen Jugendversuchen hat er jedoch nichts aufbewahrt. Nur zierliche Zeichnungen von seiner Hand, die eine richtige bis ins Kleinste gehende Beobachtung der Natur bezeugen, haben sich unter seinen frühesten Papieren gefunden.

Nach Vollendung seiner Schulzeit bezog M., als achtzehnjähriger Jüngling, zu Michaeli 1812 die Universität Berlin, und begann seine philologischen und geschichtlichen Studien unter F. A. Wolf, Böckh, Buttmann, Rühs, Solger und Uhden. Seine Collegienhefte, die leider in späteren Jahren sammt seiner ganzen von ihm hinterlassenen Bibliothek ein Raub des Feuers wurden, bewiesen, wie eifrig er seine Studien begonnen hatte. In den meisten fand sich im März des Jahres 1813 die Notiz, „Heute marschiren wir gegen Frankreich“. Er war nämlich am 16. Februar 1813, wie die meisten seiner Freunde, als Freiwilliger in das preußische Heer getreten, und war zugegen bei den Schlachten von Lützen, Bautzen, Hanau und Kulm. Später folgte er dem Heere nach den Niederlanden, war einige Zeit im Commandanturbüreau zu Brüssel thätig, verließ Brüssel am 18. November 1814 und kam zu Ende des Jahres nach Dessau zurück.

Als er nach zweijähriger Unterbrechung seine Studien in Berlin wieder aufnahm, war er, namentlich durch die Kriegsereignisse, zum Manne gereift. Das frohe Bewußtsein, für die Befreiung des deutschen Vaterlandes mitgelitten und mitgestritten zu haben, und das stolze Gefühl, einem großen, freien Volk anzugehören, gaben auch seinen wissenschaftlichen Bestrebungen eine neue Richtung. Er wurde befreundet mit Zeune und Jahn, trat als Mitglied in die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache und widmete sich mit patriotischem Eifer, wie [684] Grimm und andere Altersgenossen, dem Studium der altdeutschen Sprache und Litteratur. Dies war damals für einen classischen Philologen, wie M. es war, eine kühne Schwenkung, und bewies von Neuem die Unabhängigkeit seines Geistes und seines Geschmacks. Die im Jahre 1816 erschienene „Blumenlese aus den Minnesängern“, enthält manche gelungene Uebertragungen mittelhochdeutscher Dichtungen. Die Vorrede „Ueber den Deutschen Minnesang“, bereits im Herbst 1815 abgefaßt, zeugt jedenfalls von selbständiger Forschung, wenn sie natürlich auch manche Spuren jugendlicher Unreife enthält. Er arbeitete damals eifrig an einer Uebersetzung der Nibelungen, von der aber nichts übrig geblieben ist.

Seine Poesie machte nun auch ihre Rechte weit entschiedener geltend. Schon im Jahre 1814 war er mit einigen jungen Männern, die er im Feldzug kennen gelernt hatte, zu einem dichterischen Bund zusammengetreten. Graf Friedrich von Kalkreuth, Graf Georg von Blankensee, und der Maler Wilhelm Hensel, der später die Schwester von Felix Mendelssohn heirathete (Bd. XII, S. 3), waren die ersten Stifter des Bundes gewesen; Wilhelm von Studnitz und M. schloßen sich ihnen an. Bald erkannten die Genossen in ihrem jüngsten Mitgliede das schönste Talent und er wurde zum Ordner des kleinen Bundes ernannt. Die „Bundesblüthen“, welche im Jahre 1815 von den Mitgliedern des Bundes herausgegeben wurden, enthalten die ersten dichterischen Versuche Müller’s. Der junge Dichter fand nun auch Eintritt in die besten Kreise der Berliner Gesellschaft, namentlich durch seinen Freund, den jungen Grafen Kalkreuth, den Sohn des bekannten Feldmarschalls (Bd. XV, S. 34). Das gesellige und litterarische Treiben in Berlin war damals reich und lebendig, und M., obgleich jung, arm und fremd, war gerne gesehen bei den besten Männern und Frauen der deutschen Residenzstadt. Der neu entbrannte Krieg im Frühjahr 1815 unterbrach zwar das frohe Treiben, und die meisten seiner Freunde verließen Berlin. Er selbst aber blieb und benutzte die ruhige Muße zur Fortsetzung seiner ernsteren Studien und zur Ausbildung seines dichterischen Talents.

Aus dieser Zeit haben wir eine Beschreibung des jungen Dichters von der Hand eines andern deutschen Dichters. der ihm damals nur flüchtig begegnete, später aber ihm ein treuer Freund geworden, Gustav Schwab. Schwab verweilte nach Beendigung seiner Studien auf einer Reise durch Norddeutschland einige Monate in Berlin. „Müller“, so schreibt er, „ward damals von dem Professor Messerschmidt von Altenburg dem Freiherrn de la Motte Fouqué im Saale eines Kaffeehauses, dem Sammelplatz der Litteraten, vorgestellt. Er stand erröthend vor dem Meister, dessen Poesie auf ihn wie auf die meisten jungen Dichter jener Zeit, einen so großen Einfluß geübt hatte. Sein Gesicht blühte in der ersten Jugend, eine fast jungfräuliche Scham färbte mit einem schnell wechselnden und vergehenden Roth die durchsichtige Haut seiner Wangen. Im Auge glänzte der Stolz des werdenden Dichters, ein voller Kranz von blonden, halbgelockten Haaren umgab seine hohe Stirne. In dieser Gestalt ist er mir später immer erschienen, wenn ich die begeisterungsvollsten seiner Gesänge, namentlich seine „Griechenlieder“ las“.

Obgleich M. damals nur erst Weniges der Oeffentlichkeit übergeben hatte, so wurde ihm doch schon in Berlin manche Aufmerksamkeit und Anerkennung zu Theil. Er war ein beliebtes Mitglied der „Deutschen Gesellschaft“, und war gern gesehen in den gelehrten und litterarischen Kreisen. Wir sehen ihn bei Frau von der Recke, bei Tiedge; auch bei der Prinzessin Wilhelm wurde er eingeladen. Sein Liederkreis, „Die schöne Müllerin“, soll seine erste Anregung einem dichterischen Vereine verdankt haben, in welchem befreundete Männer und Frauen die Rollen eines solchen Liederspiels unter sich vertheilt [685] hatten, und wobei M. die Rolle des Müllerburschen zugefallen war. Als Theilnehmer an diesem Vereine sind mir Frau von Olfers, Fouqué, Hensel, seine Schwester Louise Hensel (Bd. XII, S. 1), auch Förster genannt worden. Die damals gedichteten Lieder sollen sich noch handschriftlich im Besitz des Grafen von York befinden. Auch persönliche Schicksale knüpften sich an dieses Liederspiel, namentlich eine innige Zuneigung zu der Schwester seines Freundes Hensel, die lange Zeit einen wohlthuenden Eindruck auf sein jugendliches Herz übte. Kleine litterarische Beiträge von ihm erschienen damals in Gubitz’ „Gesellschafter“. Daß er sich in dieser Zeit auch schon ernstlich mit englischer Litteratur beschäftigte, beweist seine Uebersetzung des Doctor Faustus, Tragödie von Christoph Marlowe (Berlin, Maurer 1818), die Achim von Arnim mit einer Vorrede begleitete.

Als M. eben im Begriff war, sein genußreiches Leben in Berlin mit seinem Berufe in seiner kleinen Vaterstadt zu vertauschen – sein Abgangszeugniß vom August 1817 ist von Schleiermacher unterzeichnet – wurde ihm von der Berliner Akademie der ehrenvolle Antrag gemacht mit dem Baron, später Graf Sack eine wissenschaftliche Reise nach Egypten zu unternehmen. Der Weg sollte über Italien und Griechenland führen und unter den Auspicien der Akademie erhielt M. den Auftrag, über classische Alterthümer und Kunstwerke im Orient Bericht zu erstatten, Inschriften zu sammeln, und wichtige Schätze, namentlich in Corfu, Chios und Athen, für die Regierung zu erwerben. Die Empfehlungsschreiben, welche Buttmann und andere Professoren dem jungen Gelehrten mitgaben, sprechen von ihm als ὀ χαριέστατος καὶ ἑν ταϊς περὶ τΐν ἀρχαιολογίαν ἑπιστίμαις μάλιστα πεπαιδευμένος νεανίας. Er war besonders von F. A. Wolf warm empfohlen worden, dessen Ansichten über die Homerischen Gedichte er später mit großem Erfolg in seiner „Homerischen Vorschule“, einem größern Publicum zugänglich zu machen suchte. Die Reise führte M. zunächst auf zwei Monate nach Wien, wo er sich eine Kenntniß der neugriechischen Sprache zu erwerben suchte. Anstatt aber von da weiter nach Constantinopel zu reisen, bewog er seinen Gönner, den Grafen Sack, zuerst nach Italien zu gehen, was seit Goethe das gelobte Land aller deutschen Dichter geworden war. Ihr Weg führte über Venedig und Florenz nach Rom. In Florenz schwelgte der junge Dichter in toscanischer Kunst und unwiderstehlich zog es ihn dann weiter nach Rom, wo er am 4. Januar 1818 eintraf. Sein älterer Freund fügte sich eine Zeit lang den Wünschen seines von Italien trunkenen Begleiters, aber nachdem er bis Ostern 1818 ihm zu Liebe in Rom verweilt hatte, sah er ein, daß es für beide Theile gerathener war, ihr gegenseitiges Verhältniß zu lösen. Graf Kalkreuth, der zu derselben Zeit in Rom war, vermittelte die Auseinandersetzungen. Graf Sack reiste mit dem Architecten Gau nach Egypten, M. ließ sich im April 1818 von Niebuhr, dem damaligen preußischen Gesandten, einen Paß nach Neapel ausstellen und reiste frohen Herzens nach Süden. Dann zog es ihn wieder nach Rom zurück. Juli und August brachte er in Albano zu, von wo aus die meisten der in „Rom, Römer und Römerinnen“ veröffentlichten Briefe geschrieben sind. Im August war er wieder in Rom, mußte aber am 30. August die Rückreise antreten, die ihn über Orvieto, Perugia und Florenz (October), Verona, Tirol und München, im Anfang des Jahres 1819 wieder nach Dessau führte.

Obgleich M. auf seinen Reisen mit berühmten Männern zusammentraf, so war doch sein Aufenthalt an verschiedenen Orten zu flüchtig, um bleibende Beziehungen anzuknüpfen. Er sah Niebuhr in Rom, und Bunsen, der damals auf der preußischen Gesandtschaft in Rom war, erzählte mir später in London viel von der frischen jugendlichen Erscheinung meines Vaters. Auch mit Rückert muß mein Vater auf seinen italienischen Wanderungen zusammen getroffen sein, [686] und als ich im Jahre 1845 in Berlin bei ihm Persisch hörte, erzählte mir Rückert, daß ihm mein Vater einst das Leben gerettet habe. Sie seien zusammen zu Fuße gewandert, und nachdem sie eine Nacht in einer ärmlichen Herberge eingekehrt und stark von Ungeziefer heimgesucht waren, seien sie beide in einen See gesprungen, um sich zu baden. Der See war tiefer als sie geglaubt, und Rückert, der nicht schwimmen konnte, war dem Ertrinken nahe, als ihn mein Vater glücklich ans Ufer brachte. „Ich schrieb darauf“, erzählte mir Rückert, „mein erstes episches Gedicht und nannte es „die Lausiade“.

Enger befreundet wurde M. in Italien mit dem Architect Ludwig Sigismund Ruhl und mit dem Schweden Daniel Amadeus Atterbom, denen er sein 1820 erschienenes Werk, „Rom, Römer und Römerinnen“ zueignete. Die Widmung an Atterbom, am 1. Jan. 1820 datirt, enthält einige inhaltsschwere Worte, die eine tiefe Verstimmung gegen die damaligen politischen Zustände in Deutschland an den Tag legen. „Und somit grüße ich Sie“, schreibt er, „in Ihrem altheiligen Vaterlande, nicht wie das Buch, dessen Schreiber mir fremd geworden ist, scherzend und spielend; nein, ernst und kurz; denn die große Fastenzeit der europäischen Welt, der Marterwoche entgegensehend und harrend auf Erlösung, verträgt kein gleichgültiges Achselzucken und keine flatterhaften Vermittelungen und Entschuldigungen. Wer in dieser Zeit nicht handeln kann, der kann doch ruhen und trauern“.

Dies waren für jene Zeit ominöse Worte, und sie beweisen, daß M. den damaligen nach deutscher Einheit trachtenden Bewegungen nicht ganz fern stand. Schon in Berlin hatte ihn sein Verhältniß zu Jahn und andern deutsch-gesinnten Männern der Regierung verdächtig gemacht. Er klagt in seinem Berliner Tagebuch über Conflicte mit der Censur und spricht sich entrüstet über die Delationen von Schmalz und Consorten aus. Daß er selbst zur Burschenschaft oder zu einer geheimen Verbindung gehört habe, ist nicht wahrscheinlich, aber sicher ist, daß, als die Untersuchungen gegen die Burschenschaftsvereine um sich griffen, auch er vielfachem Verdacht ausgesetzt war und nur durch glückliche Umstände den Verfolgungen entging, die viele seiner Freunde trafen.

Die schöne Zeit der Freiheit und des Vollgenusses der Jugend war nun vorüber und M. mußte sich mit einer kleinen Stelle als Lehrer des Lateinischen und Griechischen am neueingerichteten Gymnasium und als Assistent bei der herzoglichen Bibliothek begnügen. Dies muß ihm Anfangs schwer gefallen sein und wir hören von mannigfachen Conflicten mit dem Director des Gymnasiums. Im nächsten Jahre (1820) übertrug ihm der Herzog die Verwaltung seiner Bibliothek, und da auch seine schriftstellerische Thätigkeit jetzt belohnender zu werden anfing, so verlobte er sich im November 1820 mit Adelheid, der Tochter des Regierungsraths, spätern Präsidenten von Basedow, einer Enkelin des berühmten Pädagogen (Bd. II, S. 113). Im Mai 1821, am Tage der Silbernen Hochzeit seiner Schwiegereltern, fand die Hochzeit statt, zu welchem Feste der glückliche Bräutigam das schöne Gedicht, „Dem elterlichen Brautpaare“, verfaßte.

Die nun folgenden sechs Jahre (1821–27) waren Jahre eifriger Arbeit und ungestörten Glückes. Zwar war das Einkommen des jungen Ehepaares ein sehr bescheidenes, aber seine gesellschaftliche Stellung in der kleinen Residenzstadt war nichtsdestoweniger sehr genußreich. Müller’s Reisen, seine Verbindungen mit berühmten Männern, und vor Allem sein einfaches, liebenswürdiges Wesen machten ihn überall zu einer beliebten und geschätzten Persönlichkeit. Der Herzog und namentlich auch die Herzogin, eine preußische Prinzeß von hoher Bildung und weitreichenden Interessen, erkannten bald was sie an dem jungen Dichter und Gelehrten besaßen, und gaben ihm zahlreiche Beweise ihrer persönlichen [687] Hochschätzung. Im Jahre 1824 wurde er zum Hofrath ernannt, ein Titel, der zu damaliger Zeit nothwendig war, um einem, nicht zum Adel Gehörigen, Eintritt bei Hof zu verschaffen. Von leerem gesellschaftlichen Treiben hielt sich M. fern, aber sein Haus in den schönen Räumen der herzoglichen Bibliothek wurde bald der Mittelpunct der gebildeten wissenschaftlichen und künstlerischen Gesellschaft in Dessau. An einigen Abenden hielt M. Vorlesungen über die besten Schriftsteller Deutschlands, Englands, Italiens, Spaniens, an andern veranstaltete seine junge Frau, die eine schöne Altstimme besaß, musikalische Aufführungen. Musik war in Dessau durch Friedrich Schneider heimisch geworden, und die herzogliche Capelle, sowie das Theater brachten viele ausgezeichnete Talente dahin. Man hat jetzt keine Idee, wie viel Großes und Schönes damals mit kleinen Mitteln geleistet wurde, und welch’ hoher Genuß am Schönen und Edeln trotz der engen Verhältnisse einer kleinen Residenzstadt möglich war. M. war zufrieden und glücklich in seinem kleinen, schönen und glücklichen Vaterlande und die Idee, nach einer größern Stadt zu übersiedeln, oder in einen einflußreichen Wirkungskreis einzutreten, scheint für ihn bis zu Ende seines Lebens nichts Verlockendes gehabt zu haben.

Seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten schritten rasch vorwärts. Im J. 1821 erschien nicht nur der erste Band der „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines Waldhornisten“, sondern auch das erste Heft der Griechenlieder, die seinen Ruf als deutscher Lyriker schnell begründeten. Er arbeitete nach Allem was ich erfahren konnte, mit unglaublicher Leichtigkeit, keineswegs anhaltend und angestrengt. Man täuscht sich, wenn man aus der reichen Fülle seines Schaffens auf seiner kurzen Lebensbahn eine zu mühevolle Thätigkeit folgert und aus dieser seinen frühen Tod ableitet. Er schrieb im Durchschnitt des Tags nicht über vier bis fünf Stunden, und dies noch durch zwei öffentliche Lectionen unterbrochen, welche er täglich in den oberen Klassen der Gelehrtenschule gab. Nie arbeitete er Abends, und oft genoß er ganze Tage unbeschäftigt im Kreise der Seinigen. Besonders liebte er Spaziergänge und dichtete manche seiner schönsten Lieder in der idyllischen Umgegend seiner Vaterstadt. Im J. 1822 erschienen das zweite Heft der „Lieder der Griechen“, und zwei Hefte „Neue Lieder der Griechen“, denen 1823 die „Neuesten Lieder der Griechen“ folgten. Im J. 1824 wurde das zweite Bändchen der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, unter dem Titel, „Lieder des Lebens und der Liebe“ veröffentlicht, und die in demselben Jahre bei Brockhaus in Leipzig erschienene „Homerische Vorschule“ bewies der Welt, daß der Dichter den Gelehrten in keiner Weise beeinträchtigt hatte.

Auch für Reisen fand Wilhelm M. immer Zeit und Muße. Besonders gern weilte er in Dresden, wo er im Grafen Kalkreuth einen liebevollen Wirth, in Otto von der Malsburg (Bd. XX, S. 148) und dem Grafen Löben (Isidorus Orientalis, Bd. XIX, S. 40) neue Dichterfreunde, in Ludwig Tieck einen theilnehmenden Berather, in Karl Maria von Weber einen aufmunternden Genossen fand. In der Villa Grassi bei Dresden sang er im J. 1824 als Gast bei dem Grafen Kalkreuth seine lieblichen Frühlingslieder aus dem Plauen’schen Grund. Mit Karl Maria v. Weber, der eben an seinem „Oberon“ arbeitete, plante er den Text zu einer neuen Oper, und widmete ihm die zweite Sammlung seiner Waldhornistenlieder als ein „Pfand seiner Freundschaft und Verehrung“. An Ludwig Tieck, „seinen hochverehrten und inniggeliebten Freund zum Danke für mannichfache Belehrung und Ermunterung“ sandte er im J. 1826 den Weihegruß der zweiten Auflage der ersten Waldhornistenlieder.

Am 2. Juli 1824 sehen wir ihn in Quedlinburg, um an der hundertjährigen [688] Geburtsfeier Klopstocks Theil zu nehmen, und überall erwarb er sich Freunde und Gönner, die ihm für das ganze Leben treu blieben.

Einer seiner neuen Freunde war Baron von Simolin, ein Kurländer, der seine Erziehung in Dessau erhalten und in der Basedow’schen Familie freundlich aufgenommen worden war. Er hatte im Herbste 1822 dem jungen Ehepaar seinen ersten Besuch gemacht, und kam im Juli 1825 wieder nach Dessau. M. war damals auf der Insel Rügen, als Gast des Dichters Furchau (Bd. VIII, S. 206), und sammelte neuen Stoff für seine Muse, die „Muscheln vom Strande Rügens“. Simolins längerer Aufenthalt in Dessau führte bald zu einem engen Freundschaftsbündniß zwischen dem hochbegabten und etwas schwärmerischen Edelmanne und dem jungen Dichter. Wir verdanken Simolin manchen Einblick in die glückliche Häuslichkeit seines deutschen Freundes. Er beschreibt ihn uns als glücklichen Vater beim Weihnachtsfest 1825 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern (Auguste, geb. 20. April 1822, Friedrich Max, geb. 6. Dec. 1823), so selig im Geben und Empfangen, daß man das Reinmenschliche und Unschuldige seines reichen Gemüths hier am besten zu erkennen im Stande war. Er erzählt uns von seiner Krankheit im Frühjahr 1826, als er von seinen Kindern angesteckt einen scharfen Anfall von Keuchhusten hatte, und der Herzog von Dessau ihm zu seiner Erholung eine Wohnung im Luisium, einem herzoglichen Park in der Nähe der Stadt, gegeben hatte. Hier, wo früher auch Matthisson viele Jahre gelebt, führte M. ein wahrhaft elysisches Leben und feierte unter den kosenden Lüften und den duftenden Blumen seinen Lebensmai. Er lagerte sich ins tiefe grüne Gras, ließ die Blüthen über sich wehen, die Nachtigallen über sich schlagen, und suchte Gesang und Lust in die tiefste Brust einzuathmen. Oft sah ich ihn, so fährt Simolin fort, mit Thränen der Wonne im Auge in jene großen Geheimnisse der Natur hineinlächeln, die für ihn aufgeschlossen dalagen. Sein Vollgefühl jener Stunden hat er in dem schönen Gedichte, „Morgengruß aus Luisium“ ausgesprochen. Sonst dichtete er während dieser Zeit wenig, theils weil er durch Hin- und Hergehn nach der Stadt, wo er seine Lehrstunden fortsetzte und meist zu Mittag blieb, nicht ungestörte Muße finden konnte, theils weil er der Biene gleich genießen und sammeln wollte für kommende Zeit.

Bis zum 25. Juli lebte er in dem lieblichen Garten, dann verließ er mit seiner Frau die von Rosen und Weinlaub umrankten Fenster, und reiste über Leipzig und Altenburg nach Eger, um die Bäder zu gebrauchen. Die Kur bekam ihm sehr gut, und regte ihn zu neuem dichterischem Schaffen an. Der Rückweg führte über Wunsiedel und Bayreuth, wo M. jedes Plätzchen das an Jean Paul erinnern konnte, aufsuchte. Bei seinem Grabe stand er lange Zeit still und schaute mit nassem Auge darüber hinweg; endlich pflückte er eine Blume von demselben und sagte tief bewegt: „Der lebt ewig.“

Er reiste dann mit seiner Frau über Nürnberg und Bamberg nach Weimar, wo er dem großen Meister Goethe an seinem Geburtstage, den 28. August, seinen Besuch machte. Ich habe oft von meiner Mutter gehört, daß Goethe den jungen Dichter etwas kalt empfing, und daß sich zwischen ihnen eine gewisse Meinungsverschiedenheit gezeigt in Bezug auf die Griechischen Volkslieder, welche Fauriel gesammelt, und die M. im J. 1825 in das Deutsche übersetzt und in zwei Bänden herausgegeben hatte. Als Goethe sich erkundigte, was für eine geborene die junge und schöne Frau des Dichters sei, antwortete dieselbe: „Excellenz sollten das eigentlich riechen! Ich bin die Enkelin „des Propheten rechts oder links“, Ihres alten Freundes Basedow, dessen Tabak und Stinkschwamm Ihnen im J. 1774 so viel Kummer bereiteten.“ Der alte Herr lachte, war aber [689] gerade an seinem Geburtstage zu sehr mit sich selbst und seinen hohen Gästen beschäftigt, um ein eingehenderes Gespräch mit jedem Einzelnen anzuknüpfen.

Nach Dessau zurückgekehrt ging M. mit gestärkter Kraft an die Arbeit. Seine Gesundheit schien ganz wiederhergestellt. Seine Brust war stark zu nennen, denn er konnte des Abends, wenn er wöchentlich einen kleinen Cirkel bei sich sah, fast ohne anzuhalten ein ganzes Stück von Shakespeare mit aller Kraft vorlesen. Seine Lage war sorgenfrei und angenehm geworden, da seine Arbeiten sehr gesucht und gut bezahlt wurden. Freilich trat dadurch auch eine gewisse Zersplitterung seiner litterarischen Thätigkeit ein. Er war ein Mitarbeiter an dem „Literarischen Conversationsblatt“, das später als „Blätter für literarische Unterhaltung“ erschien; an der „Hallischen Litteraturzeitung“, der „Encyclopädie von Ersch und Gruber“, am „Hermes“, und den berliner „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik“. Die von ihm im J. 1820 ins Leben gerufene Zeitschrift „Askania“, ging nach einem Jahre wieder ein, aber die von ihm unternommene „Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts“ dauerte fort von 1822 bis zu seinem Tode 1827, und umfaßt 10 Bände. Sie wurde später von Karl Förster fortgesetzt. Auch in der „Zeitung für die elegante Welt“ finden sich Beiträge von ihm von 1821 bis 1826; in Gubitz’ „Gesellschafter“ von 1819 an. Die Urania enthält Beiträge von ihm aus den Jahren 1820, 22, 25. Im J. 1827 erschien darin seine erste Novelle, „der Dreizehnte“, nach seinem Tode 1828 eine andere Novelle, „Debora“. In Holtei’s „Jahrbüchern deutscher Nachspiele“ finden sich von ihm, Huno Peter Squenz, Posse in 2 Abtheilungen nach Andreas Gryphius und Shakespeare, sowie Leo, Admiral von Cypern, Trauerspiel, Erster Act. In den „Zeitgenossen“ veröffentlichte er 1825 seinen Aufsatz über George Gordon Lord Byron; in dem „Neuen Nekrologe der Deutschen“, 1825, einen ähnlichen über seinen Freund, Otto Heinrich Graf von Löben; und im „Deutschen Regenten-Almanach“, 1827, eine biographische Skizze des Herzogs von Anhalt-Dessau, Leopold Friedrich. Im „Morgenblatt“ 1824 finden sich von seiner Hand „Belustigungen aus der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts“, und andere Beiträge mögen wol sonst noch in wissenschaftlichen und belletristischen Zeitschriften verstreut sein. Zu alledem war er noch eine Zeit lang bei der Direction der Ersch und Gruber’schen Encyclopädie, sowie bei der Revision der siebenten Auflage des Conversationslexicons thätig betheiligt.

Aus den letzten Jahren seines Lebens 1826 und 1827, haben wir noch ein Heft Griechenlieder, „Missolunghi“, 3 Gedichte, und den dritten und letzten Band seiner „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“, unter dem Titel: „Lyrische Reisen und epigrammatische Spaziergänge“ zu erwähnen. Hiermit war seine poetische Thätigkeit abgeschlossen.

Trotz der guten Wirkung der Badekur in Eger kränkelte er im Frühling des nächsten Jahres, 1827, und vermochte durchaus nicht zu arbeiten. Seine Amtsgeschäfte setzte er gewissenhaft fort, aber im Sommer empfahl ihm sein Arzt eine Erholungsreise, die er dann auch im Juli mit seiner Frau antrat. Sie reisten nach dem Rhein, wohin sich M. schon lang gesehnt hatte, um alte Freunde wiederzusehen und neue Bekanntschaften anzuknüpfen. In Frankfurt wohnten sie bei Georg Döring (Bd. V, S. 847), und gingen von da über Karlsruhe nach Stuttgart, wohin ihn Gustav Schwab eingeladen hatte. Den Aufenthalt dort beschreibt Gustav Schwab selbst in folgenden Worten: „Von Karlsruhe meldete er mir am 29. August 1827 seine baldige Ankunft mit dem Zuruf: Hand in Hand und Aug’ im Auge; und am 4. September trat er in einer frühen Morgenstunde, wo ich ihn nicht erwartete, ins Zimmer zu unserem Frühstück. [690] Mit Mühe fand ich in den feinen, aber bleichen und kränklichen Zügen das jugendliche Bild wieder, wie es seit 12 Jahren von ihm in meiner Phantasie lebte. Es brauchte einige Secunden, bis ich ihn erkannte, ich mußte ein wehmüthiges Schmerzgefühl unterdrücken und war recht ängstlich freundlich; doch verbannte bald die Frische seines Geistes und die fröhliche Lebendigkeit seiner liebenswürdigen Gattin jene geheime Angst. Wir verschafften dem Dichter die Bekanntschaft mit Uhland, nach der er sich gesehnt hatte. Auch freute er sich Wolfgang Menzel zu begrüßen, brachte fröhliche Stunden mit Wilhelm Hauff, Haug, Reinbeck und dessen Familie und Karl Grüneisen zu, und besuchte die Versammlungen des Liederkranzes und des Schillervereins, in welchen er mit der Achtung empfangen wurde, die der Ruf, der ihm vorhergegangen war, längst den Mitgliedern jener Gesellschaften eingeflößt hatte. Auch der lachenden Umgegend von Stuttgart erfreute sich das Müller’sche Paar, und auf das schönste Rebenthal Württembergs, bei Uhlbach, sah M. mit begeisterten Blicken hinab und gelobte ihm ein Lied, an dessen Gestaltung nur der Tod ihn gehindert hat.“

„Wenn mich schon seine Lieder dem liebenswerthen Dichtergeiste recht nahe gebracht hatten, so versprach die Woche, die ich ihm ausschließend widmen durfte, mir ein langes, inniges Verhältniß mit M., dem Menschen. Seine Gedichte ließen harmloses Wohlwollen gegen jedermann, schnelle Begeisterung für Schönes und Gutes, Talent für Geselligkeit und geistreiche Unterhaltung zum voraus ahnen. Im nähern Umgang aber entwickelte sich bei ihm auch ein Ernst der Gesinnung, ein biederer Sinn, eine sittliche Zuverlässigkeit, die, wenn man sie einmal erkannt hatte, auch den leichtesten Producten seiner Muse, ein besonders reitzendes Ansehen verliehen, wie Lusthütten, die auf Felsen gebaut sind. Er weihte mich in alle seine Lebensverhältnisse ein, gedachte mit der wärmsten Dankbarkeit seines edlen Fürsten, durch dessen Gnade ihm ein sorgloses Leben zutheil geworden, und sprach mit inniger Liebe von seinen Freunden Simolin, Kalkreuth, und den vorangegangenen O. von der Malsburg und Grafen von Löben. Wir verbrüderten uns beim letzten Glase Wein, und auch unsere Frauen schieden als beste Freundinnen.

„Auf der Rückreise kehrte er in Weinsberg bei Justinus Kerner ein und verbrachte bei diesem echten Dichter einen Abend voll Sängerjugend. Die Seherin von Prevorst, eine Somnambüle, die Körner[WS 1] damals behandelte, und von welcher uns seine Schrift berichtet hat, beschäftigte Müller’s Geist aufs lebhafteste, und er erschien hier selbst seiner Frau, die bisher ganz sorglos gewesen war, in etwas überreiztem Zustande. Inzwischen schrieb er mir von Gotha aus zwei Zeilen, die Wohlsein und Zufriedenheit athmeten. In Weimar traf er seinen Freund Simolin wieder und erschien auch diesem gesunder und wieder ganz der alte lebenslustige und genießende Mensch. Er war voll von Reiseerzählungen und von neuen Dichterplänen, aber offenbar tief ergriffen von Allem was er in Weinsberg bei Justinus Kerner gesehn. Seinem Freunde Simolin, der sich selbst schon seit einigen Jahren für magnetische Erscheinungen interessirt hatte, sagte er: „Ich bin jetzt mit dir einer Meinung; – du bist aber nur auf halbem Wege; um auf den ganzen zu kommen, mußt du nach Weinsberg gehen – dort wirst du vertraut werden mit den Geistern, die über uns sind.“

Am 25. September 1827 traf er mit seiner Frau wieder in Dessau ein, erfreute sich des Wiedersehns seiner Kinder und seiner Verwandten und Freunde, machte auch die nöthigen Besuche bei seinen Vorgesetzten, und bereitete sich für seine neue Arbeit vor. Den Sonntag, den 30. September verlebte er heiter und glücklich im Kreise seiner Familie, legte sich zeitig zu Bett, und noch vor Mitternacht war sein Leben hier auf Erden beschlossen. Kein Glied war verzuckt; ruhig beide Arme unter der Decke auf der Brust, die Augen geschlossen, [691] lag er da im ewigen Schlafe. Eine plötzliche Ausdehnung des Herzens hatte den zarten Lebensfaden schnell und schmerzlos zerschnitten. Ganz ahnungslos scheint er nicht in den Tod gegangen zu sein; denn man fand in einem medicinischen Buche, das er wenige Tage zuvor durchgeblättert, ein von ihm gemachtes Zeichen bei dem Abschnitt Nervenschlag.

Auch die Worte, welche Uhland dem Dichter bei seinem Abschied in sein Stammbuch geschrieben, klingen wie eine Prophezeiung seines frühen Todes und müssen sich wohl auf Gespräche über Unsterblichkeit beziehen, welche zwischen Uhland und seinem jungen Freunde stattgefunden hatten.

Stimmen der Liebe und des Schmerzes schallten aus der Nähe und aus der Ferne nach seiner Heimath und Ruhestätte herüber. Er hatte eines neidlosen Ruhmes genossen, und dieser Ruhm ist ihm geblieben, trotz der kurzen Spanne Zeit in der er ihn erworben, trotz des engen Kreises in dem seine Thätigkeit auf Erden eingeschlossen war. Von den vielen Gedichten die ihm bei seinem Tode und noch später wie z. B. von Freiligrath, gewidmet worden sind, füge ich nur eines hier bei von seinem Freunde und dem Herausgeber seiner Vermischten Schriften (Morgenblatt, 18. Okt. 1827), Gustav Schwab, das den Dichter in wenigen Zügen treu und lebendig schildert:

Des Himmels Schützlinge, die Sänger
Der Erd’ und ihrer Lieblichkeit,
Hieß das Geschick sonst gütig länger
Verweilen in der flücht’gen Zeit.
Es gab dem graugelockten Greisen
Die junge Leyer in den Arm,
Und ließ sie Wein und Liebe preisen
Von langer Spätlingssonne warm.
Doch Dich, der an der Jugend Borne
Die unerschöpften Lieder sang,
Und lächelte, wenn nicht im Zorne
Die Leyer, Freiheit fordernd, klang:
Ach, warum riß vom Quell der Musen,
Und aus der treuen Liebe Wacht,
Und von des Herzensfreundes Busen
Dich früh die schwarze Mitternacht?
Wir fragen nicht: Du warst der Bote
Von eines Volkes Aufersteh’n,
Gesandt noch vor dem Morgenrothe,
Und bei der kühlen Lüfte Weh’n.
Da hat Dein Sang sich aufgeschwungen,
Noch eh’ der Tag im Osten graut;
Jetzt ist die Sonne durchgedrungen:
Wohl Dir, Du hast sie noch geschaut.
Der Hauch in Deinen Liedern lebte,
Der einst Hellenenbrust geschwellt,
Vor dem verklärten Auge schwebte
Des Jugendvolkes Götterwelt.
Und Deine Sendung war vollendet;
Da trat aus der Gestalten Chor
Der sanfte Jüngling, abgewendet
Mit der gesenkten Fackel vor.
Still griffest Du zum Wanderstabe,
Du zogst noch durch Dein Erdenland.
Und grüßtest auf dem Weg zum Grabe
Noch manches Herz, das Dich verstand.
Und schied’st, und ließest Deine Lieben;
Dein reicher Morgen war gelebt;
Uns aber ist Dein Lied geblieben,
Das durch die Brust lebendig lebt.

Wenn man sich fragt, was M. seine bleibende Stelle unter den besten classischen Dichtern Deutschlands verschafft und was namentlich seinen Liedern [692] eine so liebevolle Aufnahme bei dem ganzen Volke gesichert hat, so findet man die Antwort in der Einfachheit, Natürlichkeit, der Anmuth und Wahrheit seiner Dichtung. Er hat ein warmes Herz für Alles, für Natur, für die Menschheit, für Gott. Er hat zwar nur wenige sogenannte geistliche Lieder geschrieben, aber eine tiefe religiöse Stimmung durchweht viele seiner Lieder; man lese nur das Frühlingsmal (I, S. 87), Pfingsten (I, S. 93), Weihnachten (I, S. 122), und den ganzen Liederkreis: Johannes und Esther. Die Natur ist ihm überall wie lebendig, und die „Lieder aus dem Plauenschen Grund“ bezeichnet Gustav Schwab als die lieblichsten und schwungreichsten Producte seiner Muse. Am tiefsten aber war bei dem Dichter das Mitgefühl des Menschen für den Menschen, und dies erklärt es wohl am besten, weshalb die Menschen ihn so schnell verstanden und seine Lieder in so treuem Gedächtniß bewahrt haben.

Seine Begeisterung für die Befreiung der Griechen vom türkischen Joch war weit mehr menschlich als politisch. In seinem eigenen deutschen Vaterlande fühlte er wohl das Erniedrigende einer Regierung, die nicht der Diener, sondern der Meister der Volkes sein will; aber bei der wahrhaft teuflischen Mißregierung und Mißhandlung des griechischen Volkes durch die Türken, war es der Mensch, und nicht der Politiker, der voll Zorn seine begeisterte Stimme für die geschändete Menschheit erhob und die Geißel schwang gegen Alle, die diesem Höllenwerk kalt und gleichgültig zuschauen konnten. Seine Griechenlieder wurden damals eine geistige Macht, die der griechischen Sache mehr nützte als manche sogenannte Bundesgenossen. Seine letzten Griechenlieder und die Hymne auf den Tod des spanischen Märtyrers Raphael Riego (II, S. 128–134), wurden sogar von der Censur unterdrückt, und konnten erst lang nach seinem Tode veröffentlicht werden. Daß die Griechen den Dichter der Griechenlieder nicht vergessen haben, haben sie noch vor Kurzem bewiesen, indem die griechische Regierung den nöthigen Marmor für das in Dessau, seiner Vaterstadt, zu errichtende Denkmal Müller’s bewilligt hat.

Und ebenso wie er sich in die Gefühle eines griechischen Patrioten hineinlebte, fühlte er sich hinein in das Leben und Treiben aller Menschen, die er dichterisch wiederzugeben wünschte. In den Müllerliedern ist er der Müllersknecht, in den Trinkliedern der Trinker, in den Jägerliedern der Jäger, in den Wanderliedern der Wanderbursch. So verschwindet das rein Persönliche in seinen lyrischen Gedichten, und die meisten erhalten einen fast dramatischen Charakter.

Dieser dramatische Charakter, gepaart mit natürlichem Volkston, erklärt es vielleicht, weshalb so viele bedeutende Componisten seine Lieder in Musik gesetzt haben. Er selbst klagt einmal in seinem Tagebuche: „Ich kann weder spielen noch singen und wenn ich dichte, so sing ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte, so würden meine Lieder besser gefallen als jetzt. Aber getrost, es kann sich ja eine gleichgesinnte Seele finden, die die Weise aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgiebt“

Wie merkwürdig hat sich dieser Wunsch erfüllt! Nicht nur sein Landsmann, Friedrich Schneider, sondern auch Bernhard Klein, Tomaschek, L. Berger, Methfessel, aber vor allen Franz Schubert haben die Weise aus den Worten herausgehorcht, wie es selten bei anderen Dichtern geschehen ist. Leider hat M. die Schubert’schen Compositionen, so viel ich erfahren konnte, nicht mehr gehört. Die „Schöne Müllerin“, ein Cyclus von Liedern, gedichtet von M., in Musik gesetzt für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung, dem Carl Freyherrn von Schönlein gewidmet von Franz Schubert, 25. Werk, (Wien, Sauer und Leidesdorf), erschien allerdings schon im Jahre 1824. Aber Musik verbreitete sich damals nur langsam, und Wien galt noch immer für draußen im Reich! Die [693] „Winterreise“ erschien später in zwei Abtheilungen. Das erste Heft, Nr. 1–12 enthaltend, trägt von Schuberts Hand das Datum: Febr. 1827, während das zweite Heft erst nach Schuberts Tode, im J. 1829, annoncirt wurde. Letzteres enthält die Lieder Nr. 13–24 und zeigt als Compositionsdatum, Nov. 1827. Alles was sich auf die Geschichte der Schubert’schen Lieder bezieht, so wie eine sorgsam kritische Herstellung des Originaltextes der Musik und der Worte findet man in der verdienstvollen Ausgabe von Max Friedländer, bei Peters, Leipzig erschienen.

Durch Musik, „Auf Flügeln des Gesanges“ sind Müller’s Dichtungen weit und breit in das Volk gedrungen, und in der Musik werden sie ihr bestes, bleibendes Denkmal finden. Wenige Dichter haben das Glück gehabt so viele ihrer Lieder zu Volksliedern werden zu sehn, als er. Wo es Studenten gibt, da singen sie: „Wenn wir durch die Straßen ziehn“ (I, 37); „Das Essen, nicht das Trinken bracht uns ums Paradies“ (II, 43). An allen Liedertafeln hört man: „Ich bin nicht gern allein mit meinem Glase Wein“ (II, 28); „Lustig leben, lustig sterben, heißt des Teufels Spiel verderben“ (II, 56). Die Jäger singen: „Es lebe was auf Erden stolzirt in grüner Pracht“ (II, 75); Soldaten stimmen ein in das Lied: Vor meiner Liebsten Fenster da klingen meine Sporn“. Und manche Wanderer auf der Reise erheitern sich noch immer mit den zu verschiedenen Weisen gesetzten Liedern: „Im Krug zum grünen Kranze“ (I, 83); „Mit der Fiedel auf dem Rücken“ (I, 40); „Guten Abend, lieber Mondenschein“ (I, 34); „Ich hab ein Liebchen an dem Rhein“ (I, 145) u. s. w. Daß auch seine ernsten Gedichte und Balladen, auch ohne Musik feste Wurzel im Volke gefaßt haben, das beweist am besten, daß wohl wenig Schüler die Schule verlassen, ohne den Glockenguß zu Breslau (I, 124), Alexander Ypsilanti (II, 104) oder den kleinen Hydriot (II, 106) declamirt zu haben.

Viele seiner früheren Lieder sind anakreontisch und machen den Eindruck, als ob der Dichter selbst die Liebe nur in erotisch tändelnder Weise aufgefaßt habe. Die Lust am Leben, die gute Laune, die Freude am Schönen wo es sich fand, gehören gewiß zu seinem Charakter; aber wer ihn gekannt, der wußte auch wie fest bei ihm die ewigen Grundsätze standen, die ihn im Urtheil gegen sich selbst so wie im Urtheil über Andere leiteten. Er war in seinen Gedichten kein Prediger, auch seinen Freunden gegenüber kein Sittenrichter. Aber wo es galt, da sprach er mit einem Freimuth der keinen Zweifel ließ. Einer seiner liebsten Freunde, Baron Simolin, hatte wohl in manchen Dingen die Ansichten eines kurländischen Edelmanns, nicht die eines deutschen Schullehrers. M. aber ertrug auch in der Freundschaft keine Meinungsverschiedenheit, wo es sich um die höchsten Interessen des Lebens handelte. Baron Simolin hat selbst die Briefe mitgetheilt die er von seinem Freunde erhielt, und die seinen wahren Charakter in das hellste Licht stellen. „Wahrheit, so beginnt ein Brief, ist ein Grundzug meiner Natur, meines Charakters und meines Lebens. Ohne Wahrheit gibt es für mich keine Tugend, keine Schönheit, keine Liebe und keine Freundschaft. Ich kann daher, auch auf die Gefahr einen Freund zu verlieren, nicht unwahr sein. Nun gibt es aber freilich Momente, Stunden – warum nicht auch Tage –, in denen ich, mit Rücksicht auf den Seelen- oder Körperzustand eines Menschen, mit meiner Wahrheit schweigend zurücktreten könnte und sollte; denn Schweigen ist nicht immer eine Lüge. Ob du seit einiger Zeit in jenem Zustande wärest, darüber habe ich lange mit mir berathschlagt; aber es kam eine andere Frage ins Spiel: darf der Arzt mit seiner bittern Arznei zurücktreten, wenn er glaubt, sie müsse dem Kranken helfen, ob dieser sich auch gegen die Hand empöre, die sie ihm reichen will? … Was ich gesagt, weiß ich, und wir werden, wenn wir müssen, aber später, darüber sprechen; denn [694] Freunde können wohl über einzelne Meinungen, Ansichten, Maximen verschieden fühlen, denken und urtheilen; aber wenn es das Höchste gilt – die Principien über Gut und Schlecht, Edel und Unedel, Recht und Unrecht –, da kann keine Differenz zwischen ihnen obwalten. Daher ist auch hier durchaus von keiner Uebereilung, Heftigkeit und dergleichen die Rede. Die Grundsätze, die ich gegen dich ausgesprochen, sind allgemein, die in mir so feststehen wie der Glaube an Gott, Tugend und Gerechtigkeit.“

Seine Wittwe überlebte den früh heimgegangenen Gatten viele Jahre. Sie starb in Dessau im Jahre 1883, und liegt an seiner Seite auf dem alten Gottesacker in Dessau begraben. Seine an Dr. Krug verheirathete Tochter starb im J. 1868 in Chemnitz. Sein Sohn, Friedrich Max M., ist der Verfasser dieser Biographie.

Ein Denkmal für den Dichter soll jetzt in seiner Vaterstadt vor dem herzoglichen Gymnasium errichtet werden.

Ein Verzeichniß von Müller’s Schriften findet sich im Anhaltischen Schriftsteller-Lexikon von A. G. Schmidt, Bernburg 1830.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist der im Text erwähnte Justinus Kerner.