Die Gartenlaube (1866)/Heft 52

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[809] No. 52.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auferstanden.
Von Paul Heyse.
(Schluß.)


Keine Viertelstunde war vergangen, so klopfte Taddeo oben an der Thür seines Herrn und trat dann mit seiner gewöhnlichen halb lauernden, halb dummen Miene in das Zimmer, wo der Marchese vor einem aufgeschlagenen Buche saß. Er hätte eher sich selbst als seinem Diener vorspiegeln können, daß er darin gelesen habe.

„Alles besorgt, Eccellenza,“ sagte er, „Alles glatt abgelaufen, wie ich mir’s gedacht habe. Den Thurm offen gelassen, den Wein mit dem Schlafgift weggegossen, mich taumlig gestellt und zu Bette getorkelt und drauf hingefallen wie ein Scheit Holz. Dann gleich die verfluchte Hexe über mich her, mir den Schlüssel weggefingert und hinaus, und kaum daß man drei Vaterunser hätte beten können, wieder durch mein Zimmer, den Herrn Oesterreicher hinter sich und ihn in den Garten bugsirt und dann mausestill.“

Der Marchese bewegte sich unwillkürlich auf seinem Stuhl, biß aber die Lippen zusammen und schwieg.

„Ich mußte noch ein Weilchen liegen bleiben,“ fuhr Taddeo fort, „bis sie erst alle Drei im Garten waren. Dann aus den Stiefeln geschlüpft und an die Thür, die in den Garten geht.“

„Du hörtest Alles?“

„Alles, Herr.“ Und er berichtete, auf seine Art, aber in der Hauptsache der Wahrheit gemäß. „Und dann plötzlich,“ schloß er seine Erzählung, „schoß die Frau Marchesa wie ein Pfeil durch die Thür herein, daß ich schon dachte: Nun sieht sie dich. Aber nichts da! Sie stürzte nur geradewegs nach ihrem Schlafzimmer, und ich hörte, daß sie den Schlüssel hinter sich umdrehte. Ich dann wieder nach meinem Bett getappt und die Komödie weiter gespielt. Und da hört’ ich noch, daß der Capitän ihr schreiben will, nämlich der Frau Marchesa, und die Vettel von Barborin will den Brief unterm Stein am Brunnen abholen. Befehlen der Herr Marchese, daß ich der gottverfluchten Hexe den Hals umdrehe?“

Der Marchese, der die letzte Frage überhört zu haben schien, stand auf, in einer Bewegung, die er nicht mehr zu verbergen suchte. Er ging einige Mal die ganze Länge des Zimmers auf und ab, hastige Worte vor sich hinmurmelnd; dann erst schien er sich zu besinnen, daß er nicht allein war.

„Du hast nichts weiter zu berichten?“ sagte er, indem er vor Taddeo stehen blieb und ihn durchdringend ansah.

„Noch mehr?“ erwiderte der Bursch und zwinkerte halb possenhaft mit dem Auge und dem linken Mundwinkel. Dann aber, als er sah, daß sein Herr nicht in der Laune war, Spaß zu verstehen, setzte er wieder in unterwürfigem Ton hinzu: „Befehlen der Herr Marchese, daß ich den Brief abfangen soll?“

Eine kurze Pause trat ein. Dann sagte der Marchese: „Geh’ jetzt zu Bett, Taddeo, und fahre fort, auf Alles Acht zu geben, was geschieht. Den Brief will ich nicht sehen, hörst Du? – nur wissen, ob er geschrieben und angenommen worden ist. Gute Nacht!“

„Wohl zu schlafen, Herr Marchese!“

Und der Diener schlich aus dem Zimmer, nicht in der besten Stimmung. Die Art, wie sein Herr die Sache behandelte, wollte ihm nicht in den Kopf. „Aber wart’ nur,“ murmelte er ingrimmig, während er sich wieder in seine Kammer stahl, „Dir ist’s nicht geschenkt, vermaledeite Giftmischerin! Und den Brief – wenn er ihn nicht zu lesen begierig ist – ich will den Krebs schon aus dem Loche holen, wenn er mich auch in die Finger zwickt!“

Dann entschlief er, einen Fluch auf den Fremden zwischen den Zähnen.

Droben im Thurmzimmer brannte um dieselbe Stunde noch die Lampe und brannte noch lange fort, als der Mond schon untergegangen war. Eugen saß am Tische und schrieb mit Bleistift auf ein Blatt, das er aus seinem Zeichenbuch ausgerissen hatte. Lange war er unschlüssig geblieben, ob er es thun solle und dürfe. Nicht, daß ihn ihre Drohung geschreckt hätte, es dem Marchese zu sagen, wenn er sich ihr noch einmal näherte. Ihr selbst zu mißfallen, fürchtete er, ihre gute Meinung zu verscherzen, ihr zudringlich und vorwitzig zu erscheinen. Aber wenn er schwieg, in einem wie zweideutigen Lichte mußte sie ihn sehen, da er kaum wußte, was er ihr im Garten gesagt und ob sie ihn richtig verstanden hatte! Und es war ihm unerträglich, so von ihr zu scheiden, das Haus zu verlassen und denken zu müssen, daß hier Alles seinen unglückseligen Gang fortgehe, weil er, der Einzige, der vielleicht hätte retten können, nach dem ersten Fehlschlag sich zurückgezogen habe. Also schrieb er, ganz wie es ihm um’s Herz war, mit schlichter, soldatischer Gradheit, erst sich entschuldigend, dann in sie dringend, ihr Leben nicht ein für allemal verloren zu geben. Er wisse nur wenig von den Ereignissen, die sie bewogen hätten, diese furchtbare Einsamkeit aufzusuchen. Aber da ihn der Zufall zum Mitwisser gemacht, könne er den Gedanken nicht ertragen, daß er nun wieder in’s Leben zurück solle und sie hier in freiwilligem Hinsterben wisse, in langsamer Selbstvernichtung, ehe er überzeugt sei, daß es gegen den Kummer, der ihr zur leben verwehre, kein Heilmittel mehr gebe. Er gestand ihr, wie lange er [810] damals sich mit ihrem Bild beschäftigt habe. Er versicherte, nicht eine selbstische leidenschaftliche Regung treibe ihn jetzt, sich ihr zu jedem Dienste anzubieten. Er habe keinen höheren Wunsch, als sie aus dieser tödtlichen Luft wieder in’s Leben zurückkehren zu sehen, und wenn sie selbst jede Kraft, zu hoffen und zu wünschen, in diesem Schattendasein eingebüßt habe, so stehe er nicht dafür, daß er nicht eigenmächtig handle, wie ihm gutdünke, auf die Gefahr hin, das unheilvoll Verworrene nur noch schlimmer zu verwirren. Er bat sie zum Schlusse, ihm schriftlich zu sagen, ob er mit ihrer Mutter reden dürfe, der sie es doch schuldig sei, ihr das einzige Kind zu erhalten. Dann unterzeichnete er mit seinem vollen Namen, faltete das Blatt, so gut es ging, zusammen, und da es ihm an Siegellack und Oblaten fehlte, verschloß er den Brief mit einem Wachstropfen von einer alten Kerze, die er im Schrank gefunden, und drückte seinen Siegelring darin ab.

Noch in der Nacht trug er das Blatt hinunter an den Brunnen, hob den Trittstein behutsam auf und legte den Brief glatt darunter. Die Nachtkühle that ihm wohl. Er ließ den Eimer hinunterrollen und schöpfte sich einen frischen Trunk. Dann saß er noch lange auf dem Brunnenrand und sah in großer Traurigkeit durch das Gitter, das den jetzt ganz dunklen Garten verschloß. Er sagte sich in Gedanken noch einmal Alles vor, was er geschrieben hatte. Kein Wort hatte er zurückzunehmen. Und doch fühlte er mehrmals einen seltsamen Zug in sich, das Blatt wieder hervorzuholen und zu vernichten. Endlich, um den peinlichen Zwiespalt abzuschneiden, stieg er rasch wieder in sein Zimmer hinauf und versuchte zu schlafen, so gut es gehen wollte.


Der folgende Tag war neblig und schwül. Ein schwerer Scirocco wehte die Dünste des Sees in das Gebirge hinauf und die Sonne drang nicht durch. Unter der Platane am Brunnen schien es heute nicht Tag werden zu wollen.

„Schon so früh auf den Beinen, altes Ungewitter?“ sagte Taddeo, als er, mit den Stiefeln des Fremden aus dem Thurm tretend, die Barborin am Brunnen fand. „Und bist doch gestern lange spazieren gegangen, wenn mir recht ist.“

„Was weißt Du davon, Murmelthier?“ brummte die Alte. „Dich hat man schnarchen hören, daß die Mauern einem über den Kopf zu fallen drohten.“

„Gott sei Dank!“ sagte der Bursch mit einem höhnischen Auflachen. „Ich schlafe den Schlaf des Gerechten. Wer ein böses Gewissen hat, den sticht jede Daunenfeder in’s Fleisch.“

„Man kennt Dich,“ erwiderte die Alte, „daß Dich eine glühende Kohle nicht brennen würde, solch’ ein ausgeglühter Höllenbraten, wie Du bist. Geh’ nur Deiner Wege! Gute Worte zerbrechen einem nicht die Zähne, aber ich will lieber den Gottseibeiuns Gevatter nennen, als an Dich ein gutes Wort wenden.“

Sie füllte rasch ihren Krug und trug ihn in’s Haus. „Ob er was gemerkt hat?“ murmelte sie für sich. „‘s ist sonst nicht meine Zeit, an den Brunnen zu gehen, und wie er aus der Thür trat, hatte ich den Brief erst halb in der Tasche. Gleichviel! Wenn der Himmel helfen will, muß der Teufel mit langer Nase abziehen. Ach, du armes Herz! Da geht sie noch immer ohne Schlaf, und Ruhe auf und ab. Frau Marchesa!“ und sie klopfte mit ihren krummen, alten Fingern leise an die Thür. „Ja wohl,“ sagte sie dann, „nun soll ich glauben, daß sie schläft! Aber Barborin ist nicht so leicht anzuführen. Sie will mich nicht sehen, ich weiß wohl. Was soll sie mir für ein Gesicht machen? Daß ich den Herrn Capitano hereingelassen habe, das muß sie mir übelnehmen, und doch weiß sie am besten, es meint es kein Mensch so gut mit ihr, wie dies alte garstige Geschöpf von Barborin. Wart’, ich will ihr den Brief unten durch die Thürspalte in’s Zimmer schieben. Da mag sie ihn dann nehmen oder nicht, ich wasche meine Hände.“

Gesagt, gethan. Die Spalte war breit genug, um den Brief mit einem geschickten Wurf so weit in’s Zimmer zu bringen, daß er nicht übersehen werden konnte. Als es geschehen war, setzte sich die Alte mit zufriedener Miene an den Spinnrocken neben das Fenster, durch dessen zerbrochenen Laden ein grauer Tagesschimmer hereindrang. Sie summte wieder das Lied von der Donna Lombarda vor sich hin:

„Des Schlängleins Kopf zerstoßt im Mörser,
Zerstoßet ihn, zerstoßet ihn!

Das schüttet in den Wein dem Gatten,
Von dem er trinkt, von dem er trinkt,

Wenn er zu Nacht vom Jagen heimkommt
Und durstig ist und durstig ist – – –“

Da ging plötzlich die Thür des Schlafzimmers auf und ihre junge Herrin trat herein. „Barborin,“ sagte sie, und ihre schönen dunklen Augen blickten sehr ernst und strenge, „ich hatte mir vorgenommen, Dir kein Wort über Dein wahnwitziges Treiben gestern Abend zu sagen. Ich weiß, Du hattest es gut im Sinn, und darum wollt’ ich Dir verzeihen, wenn Du von jetzt an Dich vernünftig betrügest. Aber daß Du die Stirn hast, das Spiel fortzusetzen, ist zu stark. Und hiermit sag’ ich Dir’s: Noch der leiseste Versuch dieser Art, und wir sind geschieden. Was den Fremden betrifft, so dauert er mich noch mehr, als ich ihm zürne, und darum will ich das Letzte noch unterlassen und dem Marchese nichts sagen. Ich weiß, er verließe das Schloß nicht lebendig, wenn mein Gemahl von diesem Briefe wüßte. Aber so kann’s nicht bleiben. Ich will, daß Du Dich gleich aufmachst und Fra Ambrogio bittest, ungesäumt zu mir zu kommen. Der soll dem Tolldreisten meinen Willen mittheilen und ihm rathen, je eher je lieber fortzugehen. Hast Du gehört, was ich Dir gesagt, Barborin?“

Die Alte starrte ihre Herrin mit weitgeöffneten Mund und Augen an. „Um Gott, Frau,“ sagte sie, „dazu den Fra Ambrogio?“ Das könnte ja ich –“

„Still!“ herrschte die Marchesa. „Ich wiederhole Dir’s: Wenn Du nur das geringste Zeichen, nur einen Blick oder Wink mit dem Fremden wechselst, so darfst Du mir nie wieder vor’s Angesicht. Eile Dich und hole den Alten. Ich habe ihm noch mehr zu sagen. Am Nachmittag kann er schon hier sein.“

Damit ging sie, ohne die Erwiderung ihrer erschrockenen Getreuen abzuwarten, in ihr Zimmer zurück und schloß sich von Neuem ein. Die Alte kannte sie hinlänglich, um zu wissen, daß nichts übrig bleibe, als zu gehorchen. Es war ihr nie so sauer geworden, wie diesmal. Mit Aechzen und Seufzen machte sie sich auf und vergaß sogar, ihre Dose einzustecken. Taddeo, dem sie im Hof von dem eiligen Auftrag ihrer Gebieterin sagte – sie durfte ohne sein Wissen nicht aus dem Castell – sah an ihrem verstörten Wesen, daß etwas nicht richtig sei, daß der Brief, den er selbst vor Tage noch gelesen, eine unerwünschte Wirkung gehabt habe. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was der Capuziner solle. Endlich beschloß er, seine Schuldigkeit, diesmal blindlings, zu thun und seinem Herrn das Neueste zu hinterbringen.

Er fand ihn mit einem überwachten Gesicht am Fenster stehen, als ob er ihn längst erwartet hätte. Auch die Meldung hörte er an, als habe er sich auf Das und Anderes völlig gefaßt gemacht.

„Taddeo,“ sagte er, während er Briefe und Geld in eine kleine Cassette that, „wir verreisen in einer Stunde. Du wirst mich diesmal begleiten. Gehe sogleich zu meiner Frau und sag’ es ihr, in meinem Auftrage, hörst Du? Wie lange ich fortbleibe, sei noch ungewiß, vielleicht Monate. Wenn sie einen Wunsch oder eine Beschwerde habe, der ich abhelfen könne, solle sie mir’s sagen lassen. Was stehst Du und gaffst?“

„Herr Marchese –“ stotterte der Bursch, der seinen Herrn fast wie einen Irrsinnigen anstarrte, „Sie wollten – Sie könnten – aber das ist ja unmöglich!“

„Es geschieht!“ sagte der Marchese. „Geh’ und packe dann meinen Koffer. Die Martina soll ihn uns nachtragen den Berg hinunter, bis wir einen Schiffer unten am See finden. Du selbst nimmst nur das Nöthigste in Deinen Mantelsack. Geh’ und laß mich nicht warten.“

Als der Diener hinaus war, schloß der Marchese die Cassette, dann warf er sich in den hohen Sessel wie ein tief Erschöpfter und blieb so liegen, die Augen fest auf die Thür geheftet. Er rührte sich nicht; in furchtbarer Spannung aller Sinne horchte er hinaus. Lange hörte er nichts, als das Ticken von Gino’s goldner Uhr, die neben der Cassette auf seinem Tische lag.

Da endlich vernahm er Schritte im Vorzimmer draußen, Schritte, deren schwebender Hall ihn plötzlich aus seiner Lage emporriß. Mit der rechten Hand stützte er sich scheinbar nachlässig auf die Lehne des Sessels, mit der Linken drückte er sein Herz zusammen, das zu springen drohte.

Es klopfte leise an die Thür. Mit gepreßter Stimme, kaum [811] hörbar rief er „Herein!“ Die Thür ging auf und seine Frau trat über die Schwelle.

Er erschrak vor der Blässe ihres jungen Gesichts, das er so lange nur in dem grauen Zwielicht der Schloßcapelle gesehen hatte und auf das jetzt der kalte Tagesschein fiel. Ein scheuer Blick aus ihren schwarzen Augen streifte ihn; gleich darauf waren ihre Wangen tief in Gluth getaucht. Sie mochte gesehen haben was neben der Cassette lag.

Sie that unwillkürlich einen Schritt zurück, als hätte sie sich in ein falsches Zimmer verirrt. Aber sie blieb am Thürpfosten gelehnt stehen und sammelte all’ ihren Muth.

„Ihr wollt verreisen, mein Gemahl?“ sagte sie tonlos, mit der Hand das Kreuz festhaltend, das auf ihrer Brust hing. „Ich habe kein Recht zu fragen, warum Ihr geht und wohin. Aber die Angst hat mich überfallen, es möchte meiner Mutter etwas zugestoßen sein, das Euch so plötzlich nach Mailand riefe. Ich hatte einen ängstlichen Traum, wo ich sie sterbend sah. Sagt mir aus Barmherzigkeit nur das Eine, ob ich mich täuschte oder nicht.“

„Ich hoffe, die Gräfin ist wohl,“ erwiderte er mit gewaltsamer Fassung. „Wenigstens habe ich keine Nachricht, die das Gegentheil sagte. Wenn ich reisen muß, so sind es andere Gründe, die es mir dringend machen. Aber da ich vielleicht lange von hier abwesend bin, wollte ich vorher erfahren, ob Euch die Luft hier noch zusagt. Ihr seht blaß aus, Giovanna. Der Aufenthalt in dieser Enge mag Euch nicht länger zuträglich sein. Sagt es offen. Ich würde dann Vorkehrungen treffen, daß Ihr den Winter in Venedig zubrächtet, wo die feuchte Seeluft Euch ohne Zweifel heilsam wäre.“

„Ich danke Euch,“ sagte sie und ihre Stimme bebte, „ich verdiene nicht so viel Güte und Rücksicht. Laßt mich, wo ich bin. Ich möchte nirgend anders sterben, als in dieser Einsamkeit. Aber, wenn Ihr für eine Bitte von mir ein Ohr habt, so reis’t heute noch nicht; verschiebt es bis morgen – oder übermorgen – je nachdem.“

„Und aus welchem Grunde?“ fragte er.

„Ich möchte ihn Euch lieber nicht sagen, um Euch Unangenehmes zu ersparen. Wenn Ihr mir glauben wolltet, daß es besser wäre – aber Ihr habt Recht; Euer Vertrauen wäre eine zu große Gunst für mich.“

Er schwieg und ließ seine Augen fest auf ihren gesenkten Wimpern ruhen.

„Nun denn,“ fuhr sie fort, „so muß ich wohl sprechen, auf alle Gefahr. Ich habe es dem Fra Ambrogio vertrauen wollen, der sollte mir rathen. Nicht, was ich Euch schuldig bin. Darüber braucht mich Niemand zu belehren. Aber ob es nicht einen schonenderen Weg gäbe, auch einen Dritten, der mit betheiligt ist, in seine Schranken zurückzuweisen, ohne Euch zu kränken. Nun wollt Ihr so eilig fort; da bleibt nichts übrig, als Alles Eurer großmüthigen Entscheidung zu überlassen.“

„Wovon redet Ihr, Giovanna?“

Sie trat einen Schritt näher und zog die Thür hinter sich zu. „Ein Gast ist im Hause,“ sagte sie, „der ohne mein Wissen und wahrlich sehr gegen meinen Willen erfahren hat, was für ein unglückliches Leben noch unter diesem Dach athmet. Er hat Mittel gefunden, mich bei Nacht im Garten anzusprechen. Ich habe ihn mit aller Entschiedenheit bedeutet, daß ich ein zweites Einmischen in mein Schicksal ihm nicht verzeihen würde. Nun hat eine thörichte, fast wahnwitzige Theilnahme an meiner Lage, die er doch nur von außen kennt, ihn so kühn gemacht, mir zu schreiben, – diesen Brief. Les’t ihn, mein Gemahl. Er wird Euch überzeugen, daß ich mich hier nicht sicher fühlen würde, wenn Ihr mich mit diesem überspannten Mann allein ließet. Ich wollte ihm durch Fra Ambrogio einen Schwur abnehmen lassen, nie von dem, was er hier gesehen, zu einer lebenden Seele zu reden. Das, oder wie Ihr sonst mit ihm zu verfahren denkt, sei nun Euere Sache. Aber laßt mich noch auf meinen Knieen bitten, weder an ihm noch an Jemand sonst wegen dessen, was geschehen, rasch und grausam zu handeln. Sie meinen es gut, so verkehrt sie denken. Sie wissen Alle nicht, daß ich nichts Anderes wünsche, als was mir hier bereitet ist.“

Jetzt erst, während er den Brief in zitternden Händen hielt und lange hineinstarrte, wagte sie ihn anzusehen. Die Herrschaft über sich selbst, die ihn auch jetzt nicht verließ, hielt die Bewegung in ihm so weit nieder, daß sich nichts davon auf dem düsteren Gesicht spiegelte. Und so sagte er endlich auch mit gelassenem Ton, wie wenn er das Gleichgültigste hinwürfe:

„Ich finde diesen Brief ganz vernünftig. Der Schreiber sieht die Lage der Dinge zwar von außen, aber darum nur desto unbefangener, und Ihr thut ihm sehr Unrecht, wenn Ihr ihn für halb wahnwitzig haltet. In der That, auch mir ist der Gedanke mehr als ein Mal gekommen, daß es nicht so fort gehen könne. Denn einen Mord auf mich zu laden, jetzt mit kaltem Blute, nachdem ich damals mit meinem heißen es nicht habe über mich gewinnen können, dazu spüre ich keine Lust. Und doch wird das das Ende sein, wenn Ihr so fortlebt.“

„Gewiß,“ sagte sie, „ich werde sterben, aber daran habt Ihr keine Schuld, mein Gemahl. Und wenn Ihr es hättet, so würde ich Euch auch dafür danken; denn ich habe nichts mehr im Leben zu hoffen.“

„Ihr seid jung, Giovanna. Der Schatten, der auf Euer Leben gefallen ist, wird sich lichten. Was geschehen ist, stirbt endlich ab und läßt das Herz wieder los. Dann werdet Ihr Euch eines Tags wundern, wie Ihr so lange in dieser Dumpfheit ausgehalten habt, und wenn ich, der ich so viel älter bin, dann aus dem Leben gehe und Eure Hand wieder frei gebe, die ich nie hätte ergreifen sollen, da ich wohl wußte, daß Euer Herz sich von mir abwandte –“

„Ihr habt keine Schuld,“ unterbrach sie ihn. „Ich habe Euch nie gesagt, daß ich schon vor Euch geliebt hatte.“

„Aber ich wußte es. Ich sah es mit diesen meinen Augen. Leidenschaft verblendete mich. Ich hoffte, wenn Ihr mein wäret und den Ernst und die Stärke meiner Gefühle sähet, ich würde endlich den Nebenbuhler aus dem Felde schlagen. Ich hatte nicht bedacht, daß eine erste Neigung in einem Gemüth, wie das Eure, die tiefsten Wurzeln treiben müsse; dann kam Alles, wie es kommen mußte, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte.“

„Nein, mein Gemahl,“ sagte sie mit erhobener Stimme und einem vollen Aufleuchten ihres traurigen Blickes. „Ihr thut Euch sehr Unrecht, wenn Ihr sagt, es sei hier nichts geschehen, was nicht alltäglich wäre. Ich war jung, als ich mich mit Euch verband, aber nicht so jung, daß ich nicht Euren Werth hätte erkennen sollen, wenn nicht ein kindischer Trotz, den ich in mir selbst nährte, sich in mir aufgelehnt hätte, je edler und gütiger Ihr waret, desto ungeberdiger Euch fremd zu bleiben, ja eine Todsünde zwischen uns zu stellen, die nichts auslöschen, keine Reue und Buße vergessen machen kann. Ob das noch alltäglich war, ich weiß es nicht, ich habe die Welt zu wenig gesehen. Aber, daß Ihr handeltet, wie Wenige Euch nachthun würden, davon bin ich in meinem Innersten überzeugt. Ihr hattet das Recht, mich und ihn in die ewige Nacht zu schicken. Niemand hätte Euch einen Mörder geheißen. Aber Ihr hättet Schande auf meinen Namen, auf den Namen meiner Eltern gehäuft, und das edelste Mitleiden hielt Eure Hand zurück, in der schon der Degen nach meinem schuldigen Blute zuckte. Und dann, statt mich in der Stille dieses Hauses mit Füßen zu treten, wie den Auswurf des Geschlechts, und davon zu gehen und mich meinen Qualen zu überlassen, habt Ihr es ertragen, die Luft mit mir zu theilen, und mir Muße gegönnt, in mich zu gehen und zu erkennen, wer ich bin und wie tief ich unter Euch stehe. Ich weiß, ich werde nie in’s Leben zurückkehren. Es ist ein Ekel in mir an allen Freuden, an die ich früher mein Herz gehängt habe. Und was hätte ich auch vom Leben, selbst wenn Ihr mir zureden wolltet, die Welt wieder zu sehen, da ich nie hoffen darf, wieder für Euch zu leben? Aber da wir doch gerade von all’ diesem Trostlosen sprechen – und ich danke Euch auf’s Innigste, daß Ihr mich anhört nach so langem Verstummen – Eine Hoffnung hege ich, mein Gemahl, Eine Bitte, die ich Euch in dieser glücklichen Stunde sagen will: Wenn ich sterbe, so bleibt mir nicht fern; wenn ich Euch dann bitten lasse, noch einmal zu mir zu kommen, so kommt und verweigert mir nicht Eure Hand, und wenn ich dann nicht mehr sprechen kann, Euch nur noch ansehe, so wißt, was der Blick bedeutet, daß er Euch anfleht, mir nur einmal die Hand auf die Stirn zu legen und zu sagen: Ich habe Dir verziehen!“

Er schwieg eine Weile und stand, die Augen fest geschlossen, im Kampf mit einer übermächtigen Bewegung. „Nein,“ sagte er endlich und seine Stimme bebte, „das kann ich nicht, das ist zu viel verlangt!“

[812] „Was, mein Gemahl?“ sagte sie erschreckend und trat einen Schritt zurück.

„Daß ich warten soll, bis Du stirbst, um Dir das zu sagen!“ lallte er und öffnete plötzlich die Arme, während ihm ein Strom von Thränen aus den Augen stürzte. Halb blind stürzte er ihr entgegen, verworrene Worte stammelnd: „Mein Weib! – mein armes Weib! – Vergieb – komm’ an meine Brust – sei mein – laß mich Dein sein! – Gott – allbarmherziger Gott – diese Stunde nur überleben und dann Dich preisen – ewig!“ – –

Er haschte nach ihren Händen. Sie aber war dicht an der Schwelle zusammengesunken. Das Uebermaß der Freude schien sie entseelt zu haben. Da versuchte er sie aufzuheben und ließ sie dann wieder niedersinken, kniete neben ihr und lehnte ihr ohnmächtiges Haupt an sein Knie, Stirn und Lippen ihr mit Küssen und Thränen bedeckend. „Wach’ auf,“ rief er ihr in’s Ohr, „wir fangen ja erst zu leben an, wir haben es uns hart verdienen müssen, noch einmal glücklich zu werden; nun laß uns keine Zeit verlieren. Ich geize mit jeder Minute, da ich Jahre verloren habe. Wach’ auf, Giovanna, mein armes geliebtes Weib, wach’ auf!“

Da schlug sie endlich die Augen langsam wieder auf, aber sie konnte noch nicht sprechen, sie lag ganz still auf dem Teppich in seinen Armen und sah ihn groß und ruhig an, als wollte sie aus seinen Augen erforschen, ob dieses Märchen Wahrheit sei. „Geht es denn schon zu Ende?“ war das Erste, was sie hervorbringen konnte. Und er: „Wir fangen erst an,“ wiederholte er. „Komm’, hier gebe ich Dir den ersten Kuß als Dein verlobter Bräutigam. Ehe Du heut’ meine Braut wurdest, hast Du viel Dunkles und Trauriges erlebt. Aber die Liebe, die Dir nun über’m Haupt zusammenschlägt, spült Alles von Dir ab, Du geh’st mir entgegen wie ein neuer Mensch, und so nehme ich Dich an mein Herz und danke Gott für Dich, der Dich mir neu erschaffen hat. Richte Dich auf. Nein, warte noch einen Augenblick, bis ich Dich in meinen Armen aufhebe.“

Er ließ sie sanft auf den Teppich nieder und schloß ihr mit seinen Lippen die Augen. Dann erhob er sich, trat zu dem Tisch am Fenster und warf Etwas, das darauf lag, mit raschem Griff in die Schlucht, die sich jäh hinuntersenkte.

„Die Luft ist völlig rein,“ sagte er, sich wieder zu ihr wendend, die still wie schlafend auf dem Teppich ruhte. „Komm’! Wir wollen nun miteinander sprechen wie zwei vernünftige Brautleute, die miteinander ausmachen, wie sie ihr Leben einrichten sollen.“

Nun hob er sie auf und führte sie zu seinem Sessel, dem Fenster gegenüber. Da setzte er sich und zog sie auf seine Kniee, während sie wie träumend vor sich niedersah und ihn sprechen ließ, wie man einer Musik zuhört. Er sagte ihr Mancherlei, auf das sich wohl eine Antwort geziemt hätte. Aber wenn sie dann stumm blieb, sprach er ruhig weiter. Und von Zeit zu Zeit bückte sie sich auf seine Hand nieder und küßte sie leidenschaftlich.


Der Tag hatte sich aufgehellt nach einem leichten warmen Regen. Oben in den Klippen, nah am Steinbruch, irrte Eugen seit mehreren Stunden umher. Ihn hatte der Regen nicht erfrischt; unter seiner Stirn blieb es schwer und schwül und seine Augen, in die über Nacht kein Schlaf gekommen war, schweiften traurig und unstät über das kahle Hochland.

Er hatte am Morgen die Barborin über die Zugbrücke gehen und den Weg nach dem Kloster einschlagen sehen. Diesmal aber sang sie nicht und gab ihm kein Zeichen. Vielmehr, als sie sich zufällig umwendete und ihn oben am Fenster stehen sah, hatte sie, sichtlich erschreckend, das Tuch dichter über den Kopf gezogen und war eiliger bergan gestiegen.

Was sollte er davon denken? War das schon eine Antwort auf seinen Brief? Oder war eine Gefahr im Anzuge und sie wollte ihn sich nachlocken, um droben in der einsamen Wildniß ihr Herz gegen ihn auszuschütten?

Droben aber hatte er sie vergebens stundenlang gesucht und sich endlich, als die Sonne stechend zwischen den Dünsten hereinbrach, in die Hütte am Steinbruch zurückgezogen. Er mußte voraussetzen, daß sie ihn hier aufsuchen würde, wenn sie ihm etwas zu sagen hätte.

Der Ort schien ihm noch öder, als das erste Mal. Nicht einmal eine Ziege verirrte sich zu ihm. Die Spinne, die an den grauen Balken ihr Netz angehängt hatte, saß schläfrig im Winkel und wartete, daß die Sonne die angesprengten Regentropfen wieder aufsaugen sollte. Da warf er sich in die dunkelste Ecke und über dem Horchen hinaus in die lautlose Mittagsluft schlief er endlich fest ein.

Das Geräusch’ eines stark herniederprasselnden Gewitterregens weckte ihn nach einigen Stunden. Er sprang auf und fühlte sich jetzt erleichtert und wie von einem unnatürlichen Druck befreit. Während er in der Thür der Hütte stehend abwartete, daß das Wetter vorbeizöge, faßte er einen klaren Entschluß. Sein nächstes Geschäft in dieser Gegend war mit der Weigerung des Marchese, seinen Besitz zu verkaufen, so gut wie erledigt, denn die Recognoscirung, die er gestern angestellt, hatte seinem geübten Blick bald gezeigt, daß jede Befestigung des Passes, die das Castell nicht in ihren Plan aufnähme, eine vergebliche Arbeit sei. Bis an den anderen Morgen wollte er nun noch eine Antwort auf seinen Brief abwarten. Wenn Alles stumm bliebe, sollte es ihm ein Zeichen sein, daß ihm das Schicksal keine Rolle in diesem Trauerspiel zuertheilt habe.

Inzwischen hatte sich’s abgeregnet und er verließ festen Schrittes die Hütte. Doch stand er oft still und sah zurück, als erwarte er hinter jedem Gebüsch die Alte hervortreten zu sehen. So brauchte er wohl eine Stunde, um den Weg bis zum Castell hinabzusteigen.

Zu seinem größten Erstaunen fand er unten das schwere Hofthor halb offen, ein Haufe von Bauerweibern und Kindern stand davor, gaffte durch den dunklen Bogen in’s Thor hinein und machte kaum Platz, als Eugen sich näherte. Im Hofe drinnen sah er einen Bauernwagen, auf dem Kisten und Koffer standen, während Barborin und eine mürrisch aussehende Magd noch immer neue Gegenstände aus dem Erdgeschoß herausschleppten und sorgfältig zwischen der übrigen Last verpackten. Als die Alte den jungen Officier herantreten sah, that sie einen unverständlichen Ausruf, kletterte hurtig von dem Wagen herunter und zog, indem sie der Martina zurief, das Gepäck zu bewachen, es sei dem Diebsvolk nicht zu trauen, den Ueberraschten in’s Haus hinein, wo sie erschöpft, unter lebhaften Geberden des Wunderns und Sichfreuens, auf Taddeo’s Bett niedersank.

„Was werdet Ihr für Augen machen, Herr Capitano!“ rief sie und schnupfte, um wie sich selbst Fassung zu gewinnen. „Heilige Mutter der Gnaden, wer hätte das gedacht! Heute früh – meinte ich doch, wir zwei würden in alle Ewigkeit kein Wort mehr mit einander reden, denn sie hatte mir gedroht, mich fortzujagen, wenn ich Euch auch nur noch Guten Tag sagte, Alles um Euren Brief, und der Herrgott, der mich geschaffen hat, weiß, mit wie viel Seufzern ich den Berg hinaufstieg, um den Fra Ambrogio zu holen, denn ich dachte nicht anders, als sie will ihm zum letzten Mal beichten und sich dann ein Leids anthun, so entsetzlich hatte sie mich angesehen. Und den ganzen Weg hin und zurück nichts als Stiche hier in der linken Seite, wo ich’s gleich spüre, wenn ich Kummer habe, und was der gute Frate sagte, mich zu trösten, half mir nicht mehr als Limonade gegen das kalte Fieber. Aber wie wir hier angekommen und ich frage: ‚Wo ist unsere Frau, Taddeo?‘ – und der Spitzbube sagt mit einem Gesicht, wie wenn einer den jüngsten Tag prophezeit: ‚Sie ist beim Herrn droben;‘ – und ich: ‚Du willst mich foppen, Tückebold!‘ sag’ ich; ‚das ist ja unmöglich!‘ – ‚Hum!‘ sagt er, ‚unmöglich oder nicht, aber wahr ist es, altes Ungewitter, und wir verreisen, dahin, wo ich hoffentlich Deine gelbe Fratze nicht mehr zu sehen brauche!‘ – wie mir da würde, lieber Herr, und wie ich dann mit dem Fra Ambrogio die Treppe hinaufhaspelte, zwei Stufen auf Einmal mit meinen bald sechszigjährigen Spazierstöcken – und droben, was denkt Ihr? wer sitzt bei dem Herrn und läßt sich schön thun, und wie wir Zwei unangemeldet hereinplatzen, springt sie auf ihre Füße und wird Euch roth wie ein ganz junges verliebtes Ding, das man bei seinem Schatz ertappt? Nun, ich sage nichts weiter, ich weiß auch nicht viel weiter, als daß ich, so alt ich noch werden mag, so einen Tag nicht wieder erlebe.

Wie das Alles gekommen – ja, du lieber Himmel, wer das wüßte! Die Martina hab’ ich gefragt, die weiß aber kein Sterbenswort; selbst dem Spitzbuben, dem Taddeo, hab’ ich das Wort gegönnt, und der that mächtig verschmitzt und geheimnißvoll, aber ich merkte wohl, daß auch er nichts weiß und erhorcht hat, und darum gerade war er so schlechter Laune. Hernach aber wurde er plötzlich umgedreht wie ein Handschuh. [813] Denn meine Frau, als sie eben von ihrem Gemahl herunterkam und ihn im Hof bei seiner Arbeit stehen sah, ging auf ihn zu und sprach eine Weile mit ihm, und gab ihm endlich die Hand, und da sah ich wohl, daß er ganz auseinander war und die Hand festhielt und küßte, was sie aber nicht leiden wollte. Und hernach sang und pfiff er, der garstige Heimtücker, und war um den Finger zu wickeln. Zu mir dagegen sprach die Frau kein Wort, obwohl sie sehr sanft und gut war, und mir und der Martina hat sie all’ ihre Kleider geschenkt, die sie hier getragen. Dann zog sie selbst ein ganz weißes an, das mußt’ ich ihr aus dem untersten Fach herausholen, wo es seit drei Jahren die Sonne nicht beschienen hatte, und wie sie fertig angezogen war: ‚Meiner Seel’,‘ sagt’ ich, ‚Ihr seht ja förmlich aus wie eine ganz junge Braut.‘ – ‚Ich bin’s auch, Barborin,‘ sagte sie, ‚und nun komm’ mit mir.‘ – Und da ging sie vorne in die Capelle hinauf, da war schon der Marchese und auch Taddeo, und Fra Ambrogio ließ die Herrschaften beide auf Einen Schemel am Altar niederknieen und sprach den Segen über sie, als würden sie da zum ersten Mal zusammengegeben. Und ich heulte vor Freuden, und sah, wie auch der hartgesottene Sünder, der Taddeo, den Mund und sein eines Auge verzog, aber geweint hat er denn doch nicht.

Ach, lieber Herr, was haben wir erleben müssen! Und wie anders ist es gekommen, als wir noch gestern um diese Zeit dachten! Denn kaum war der Pater fertig, da stand unser Herr auf, küßte die Frau auf den Mund und führte sie hinaus. Mich sah er nicht einmal von der Seite an, aber ich merkte doch, er dachte nicht daran, mich todtzuschießen. Er führte seine Frau, ohne sich irgend aufzuhalten, hinunter und über den Hof und zum Thor hinaus, so wie sie ging und stand, und der Taddeo hatte nur noch Zeit, mir zu bestellen, ich solle Alles einpacken und morgen mit dem Gepäck den Herrschaften nachfahren, und dies Briefchen, sagt’ er, sei für den Herrn Oesterreicher, also für Euch, und im Uebrigen könntet Ihr ihm, nämlich dem Taddeo, gestohlen werden – der schlechte Kerl, der er ist! – und dann lief er den Herrschaften nach, die noch draußen auf der Brücke von Fra Ambrogio Abschied nahmen. Seht, das ist Alles, was ich weiß. Vielleicht steht das Uebrige in dem Briefchen hier.“

Das Blatt aber, das Eugen in seltsamer Bewegung beim letzten Tagesschein entzifferte, enthielt, mit Bleistift von der Hand des Marchese hingeworfen, nur die Worte: „Ihr seid ein Ehrenmann. Ihr werdet wissen, was Ihr der Gastfreundschaft schuldig seid. Lebt wohl!“

Eine Stunde darauf, als er in tiefer Dämmerung mit einem Knaben, der sein Gepäck trug, den Berg hinunterstieg – er hatte sich nicht entschließen können, trotz Barborin’s heftigem Zureden, noch eine Nacht im Castell zu bleiben – sah er unten, wo die Steine im Bett des Wildbachs weiß heraufschimmerten, etwas Glänzendes, das ihn, ohne daß er wußte warum, zu dem halsbrechenden Umweg in die Tiefe lockte. Er hieß den Knaben warten und stieg von Klippe zu Klippe hinab, die Augen fest auf das Blinkende geheftet. Als er es aufhob, durchzuckte ihn eine seltsame Empfindung. Er zweifelte keinen Augenblick, daß er dieselbe Uhr in den Händen hielt, die so viel bittere Stunden gezeigt hatte seit jener ersten entscheidenden Mitternacht. Nun stand sie für immer still, das Werk war zerschmettert.

Der Finder steckte sie mechanisch in die Tasche; er dachte wohl daran, sie zum Andenken an diese Tage aufzuheben. Als ihn aber in dunkler Regennacht ein Kahn nach Riva hinübertrug, zog er plötzlich mitten auf dem See die Uhr hervor und warf sie über Bord.




Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
Nr. 5. Treu bis in den Tod.
Mit Abbildung.


Treu bis in den Tod.


Noch eine Illustration aus dem deutschen Krieg,“ schreibt uns ein befreundeter Künstler, welcher der Gartenlaube schon manches gute Bild geliefert, „und wieder von den böhmischen Leichenfeldern? So werden Sie mit Kopfschütteln denken, wenn Sie dieses Blatt aufschlagen. Ja, verehrter Freund, noch eine, aber es zwang mir den Bleistift in die Hand, als mir die einfache Geschichte erzählt wurde, die sie darstellt. Die beiden preußischen Soldaten sind Portraits.[WS 1] Ich zeichnete sie, als sie mir auf meiner [814] Rückreise aus Böhmen in einer Dorfkneipe zwischen Pardubitz und Hohenmauth ihr kleines Abenteuer erzählt. Gesicht und Gestalt des Officiers componirte ich möglichst genau nach ihren Schilderungen, weshalb hier Niemand Portraitähnlichkeit verlangen kann. Nun die Geschichte. Der ältere der beiden Soldaten führte das Wort. ‚Wir waren am Tage nach der Schlacht von Königgrätz commandirt‘, sagte er, ‚das Gehölz eines der Hügel zu durchsuchen, von denen aus die Sachsen unseren Truppen viel Schaden zugefügt hatten und von denen sie erst nach tapferer Vertheidigung vertrieben worden sind, nachdem der Kronprinz bereits den rechten Flügel der Oesterreicher zum Weichen gebracht hatte. Da lag mancher brave Junge in seinem Blute, die zerschossenen und zerhauenen Monturen roth bespritzt und gefärbt. Auch an Verwundeten fehlte es nicht, zu denen noch keine ärztliche Hülfe den Weg gefunden hatte. Wir theilten Manchem einen Schluck aus der Feldflasche als augenblickliches Labsal mit, notirten uns auch genau, wo sie lagen, um Meldung darüber machen zu können. Die Wälder dort sind zwar nicht groß an Umfang, aber hochstämmig und von dichtem Gesträuch durchwachsen, wo mancher zum Tode Verwundete, wie das Mensch und Thier im letzten Elend so thun, sich hinverkrochen haben konnte. Als wir durch solches Gestrüpp uns durcharbeiteten, um wieder zu einer hindurchschimmernden Lichtung zu kommen, hörten wir ein anfänglich schwaches Knurren, das aber, je näher wir kamen, immer schärfer wurde. Endlich durchbrachen wir die letzten Zweige des Gesträuchs, und eine kurze Strecke vor uns lag am Abhang hart vor dem Hochwald ein sächsischer Officier, noch den Säbel fest in der Faust, wie er im Kampfe gefallen war. Ueber seine Brust legte, hoch aufgerichtet, ein Hündchen seine Pfoten und wies uns, grimmig knurrend und bellend, die Zähne. Als wir näher kamen, sprang es wie wüthend, doch nicht bis über die Füße seines Herrn hinaus, uns entgegen, eilte aber zum Haupte und auf die Brust zurück, als wir endlich ganz nahe getreten waren.

Sie glauben’s vielleicht kaum, es klingt auch sonderbar, aber es ist doch wahr: mir ausgewettertem Kerl, der in zwei Feldzügen, in Schleswig und hier, an den Anblick vieler Todten, bei denen die Angehörigen jammerten und schrieen, gewöhnt und beinahe ein wenig hart dagegen geworden war, mir war es, als ob ich Respect haben müsse vor dem tapfern Hündchen, das gegen zwei Mann seinen Herrn vertheidigte. Und meinem Cameraden ging’s gerade so. Was war da zu machen? Ich wollte vor Allem wissen, ob der Officier todt oder nur schwer verwundet sei, und doch dauerte mich der brave Hund, Gewalt gegen ihn anzuwenden. So aber ließ er mich nicht nahe genug an den Kopf des Officiers kommen, um nach dem Athem zu lauschen. So oft wir’s versuchten, fuhr er uns gegen die Beine, sprang aber sogleich auf die Brust seines Herrn zurück, wenn wir uns wieder zurückzogen. Die Wunde sahen wir auf der rechten Kopfseite, das Ohr konnten wir vor dick geronnenem Blut nicht erkennen. Wir durchsuchten unsere Brodbeutel und ich gab Alles, was ich vorfand, darunter auch einige Wurstrestchen, meinem Cameraden, der sich nun zu Füßen des Gefallenen stellte und seine für den hungerigen Köter gewiß annehmbaren Herrlichkeiten ihm hinhielt und hinwarf, während ich dem Kopf nahe zu kommen suchte. Aber damit war’s erst recht gefehlt. Das Thier sprang neben und auf seinem Herrn bellend, zähnefletschend und endlich wuthschäumend hin und her, so daß es mich zu dauern anfing und wir von jedem Versuch näherer Untersuchung des Officiers abstanden.

Wir überließen dem tapfern Wächter die Brod- und Wurstbrocken; gern hätten wir ihm auch noch Wasser hingegossen, wenn wir selbst welches gehabt hätten, denn die Zunge hing ihm weit heraus. Wir entfernten uns langsam, immer zurückschauend. Der Hund rührte keinen Bissen an, so lange er uns sah, sondern stand, die Pfoten auf der Brust seines Herrn, fest auf seinem Posten. Um zu thun, was wir unter solchen Umständen vielleicht zur Rettung eines braven Officiers thun konnten, eilten wir, den Vorfall zu melden. Was aus Mann und Hund geworden ist, wissen wir nicht, aber vergessen werde ich den Anblick beider mein Lebtag nicht.‘

So ungefähr lautete die Erzählung meines Preußen, die sein Camerad häufig durch sein Nicken bestätigte. Ich machte den Entwurf zu dieser Illustration sogleich im Beisein der Soldaten, namentlich soweit sie die Lage und Gestalt des Officiers und das Aussehen des Hündchens betrifft, so daß ich wenigstens in dieser Hinsicht ein treues Bild geliefert habe. – In Wiener Blättern wurde von einer ähnlichen Treue berichtet, durch welche ein Hund zweimal der Retter seines Herrn, eines österreichischen Hauptmanns, geworden sei. Ueber den sächsischen Officier, ob er zu den Todten, ob zu den Geretteten gehört, habe ich leider bis heute noch nichts ermitteln können.“ – Soweit unser Künstler. Vielleicht gelingt es durch diese Veröffentlichung, Näheres über das Schicksal des Officiers und seines treuen Vertheidigers zu erfahren. Wir können nur wünschen, daß wir der Erzählung unsers Gewährsmanns ein recht erfreuliches Ende anzufügen haben möchten.




Strafpredigt gegen rücksichtslose Leute.
1. Für Die im Trink- und Speisehause.


Was Du nicht willst, daß man Dir thu,
Das füg’ auch keinem Andern zu.


Das ist die Quintessenz der Humanität, also der Haupttugend eines Menschen, und Jeder sollte beim Umgange mit seinen Mitmenschen fortwährend dieses Humanitätsgesetzes eingedenk sein. Leider leisten nun aber die meisten Menschen im Zufügen von dem, was Andere nicht wollen, ganz Enormes, während sie selbst nichts Unangenehmes zugefügt zu haben wünschen und für sich die zartesten Rücksichten beanspruchen. An Andern bemerken die meisten Menschen fortwährend Rücksichtslosigkeiten, sich selbst halten sie aber für äußerst rücksichtsvoll, zumal wenn sie mit ihren hohlen Redensarten keinen Verstoß gegen die Höflichkeit machen. Am ärgsten treibt es im rücksichtslosen Rücksichten-Fordern das weibliche Geschlecht, und zwar ganz besonders dem Manne gegenüber. Ja, sehr oft sind gerade diejenigen Frauen, die das wenigste Recht dazu hätten, am rücksichtslosesten, unduldsamsten und anspruchsvollsten, am liebsten aber gegen ihres Gleichen.

Nur in einem Falle scheint dieses Humanitätsgesetz eine Ausnahme zu gestatten, nämlich beim sogenannten „Jemandem die Wahrheit sagen“. Allein dies scheint auch nur so und zwar deshalb, weil es den allermeisten (natürlich vorzugsweise den eingebildeten und arroganten) Menschen sehr unangenehm und ärgerlich ist, die Wahrheit, würde sie auch in der zartesten Form gesagt, zu hören. Das sollte aber nicht so sein und eigentlich ist jeder gebildete Mensch geradezu verpflichtet, auch wenn’s ihn noch so unangenehm berührt, im Interesse des allgemeinen Besten, sowie zu seinem eigenen und Anderer Wohle, die Wahrheit ebenso unverblümt zu hören wie zu sagen. Es stände sicherlich um die Menschheit weit besser, wenn Diejenigen stets die Wahrheit zu hören bekämen, welche sie am wenigsten gern hören wollen.

Ganz etwas Anderes ist es, wenn man unaufgefordert Jemandem unangenehme Wahrheiten, ohne allen Zweck oder um ihn zu ärgern oder gar ihm wehe zu thun, zu hören giebt. Bei solchem rein persönlichen Wahrheitsagen, das wohl gar körperliche Gebrechen betrifft, da denke man freilich stets daran, wie uns selbst eine solche Wahrheit thun würde. Auch wundere man sich dann nicht, wenn man sich dadurch den Titel eines Grobians erwirbt. – Wie würde Dir’s z. B., kahlköpfiger Leser, thun, wenn man Deine Perrücke, die Du doch für echtes Haar gehalten zu haben wünschest, in Damengesellschaft zum Stoffe der Unterhaltung wählen wollte? – Oder sollte es etwa nicht Denen unangenehm sein, die noch gar nicht an’s Altern denken, wenn man sie fortwährend an ihre Jahre erinnert, oder sie auf ihre Runzeln, grauen Haare, dünnen Stellen auf dem Kopfe und dergleichen Altersveränderungen mehr aufmerksam macht? – Wie ungern hört man nicht: „Du siehst ja recht elend aus, bist Du unwohl? Fehlt Dir’s wo? Was ist Dir passirt?“ – So fühlt sich der Verfasser auch nicht gerade angenehm berührt, wenn er auf der Straße von Hinzen und Kunzen auf den (allerdings corpulenten) Bauch geklopft wird und hören muß: „Nein, werden Sie dick!“ oder wenn ihn die Müllers und Schulzes mit den Redensarten verfolgen: „Sie müssen nach Carlsbad“; „Wollen Sie denn nicht die Banting’sche [815] Entfettungscur vornehmen?“ – Solches ganz zwecklose und ungern gehörte Wahrheitsagen lasse man also sein.

Dagegen halte man das nicht für eine ausgesuchte Grobheit, wenn man Jemanden, natürlich nicht in verletzender Weise, auf Angewohnheiten und leicht zu beseitigende Uebel aufmerksam macht, die ihn bei seiner Umgebung widerwärtig machen können. Ich sagte es z. B. früher Jedem, wenn er aus dem Munde roch und deshalb ein Kuß von Ihm oder Ihr nicht gerade wünschenswerth sei, setzte dann aber auch hinzu, daß sich der üble Mundgeruch durch richtige Pflege der Zähne, besonders durch öfteres Putzen mit Zahnspiritus (auf eine Unze Spiritus eine Drachme Essigäther) beseitigen läßt. Trotz dieser Mundkußlichermachung hat mir mein Rath doch stets nur Undank eingebracht. – Macht man einen Bekannten über sein die Nerven der Tischgenossen in Aufruhr versetzendes Schlürfen, Schmatzen und Matschen beim Essen, oder über das gleich nach der Suppe schon beginnende und bis zum Kaffee fortgesetzte Zähneausstochern, oft mit ohrbeleidigenden Geräuschen, oder auch über sein fortwährendes Pfeifen, Singen und Beingezittere sanfte Vorwürfe, dann ist’s gewöhnlich aus mit der Bekanntschaft. – Nimmt man sich eines Kellners, der doch den Gästen das Essen und Trinken nicht anders bringen kann, als wie er’s aus dem Keller oder der Küche bekommt, aus Humanität an und vertheidigt denselben wegen ungerechter (eigentlich doch nur dem Wirthe zu machender) Vorwürfe, so hat man die unfreundliche Redensart zu gewärtigen: „Das geht Dich nichts an,“ obschon man wegen des fortwährenden Nörgelns entweder über einen zu kleinen Schnitt, oder über schales Bier, über zu wenig Fleisch am Gänseknochen oder zu viel Fett am Schweinscarré, über zu wenig Butter und zu viel Käse oder umgekehrt aus der Haut fahren könnte. – Sprudelt uns unser Vis-à-vis beim ungenirten Niesen oder Husten etwas in die Mockturtlesuppe und setzt man diese mit einigen ärgerlichen, auf Lebensart bezüglichen Redensarten bei Seite, so fühlt sich das sprudelnde Gegenüber auch noch gekränkt. – Rümpft man mit einem „Pfui“ die Nase (so wie es etwa die prüden Leser ob dieser Zeilen thun werden), wenn der Herr Tischnachbar die seinige in unappetitlicher und ostensibler Weise reinigt oder wohl gar vor unsern Augen ihren Inhalt als Massa pilularis verarbeitet, dann ist man ein roher Patron. – Wird man nicht – um auch ein anderes Gebiet zu berühren – für den gröbsten der Grobiane gehalten, wenn man das Gebahren von Männern, die sich in jeder Volksversammlung als sogenannte Liberale oder Demokraten (angeblich vom reinsten Wasser), oder gar als anilinrothe Republikaner aufspielen, in ihrem bürgerlichen Leben aber höchst illiberal und undemokratisch, ja sogar lumpig handeln, die in- und ausländische Fürsten andichten, ansingen, mit Lobhudeleien aller Art, schön eingebundenen Büchern und Dedicationen um einen Ring, eine Dose, einen Titel, einen Orden u. dgl. anbetteln, wenn man dieses Gebahren öffentlich für charakterlos und verächtlich erklärt?

Dies sind vorläufig einige wenige Thatsachen, welche zeigen sollen, wie unangenehm sich der macht, welcher das unangenehme und widerwärtige Benehmen seiner Mitmenschen rügt. Wer in seinen Handlungen rücksichtslos verfährt, sieht in der Regel den, der ihn auf diese Handlungen aufmerksam macht, für rücksichtslos an, während er selbst, naiver Weise, gar nicht fühlt, daß er Tadel verdient. Wollten die Menschen doch nur einmal eine Zeit lang recht genau auf ihr eigenes Thun und Treiben achten und mehr sich als Andere in die Scheere nehmen, dann würden sie sicherlich, vorausgesetzt, daß sie in Eitelkeit und Arroganz nicht geradezu verdummt sind, die Entdeckung machen, daß sie nicht zu den rücksichtsvollsten und humansten Personnagen gehören und daß Ihnen ein zur Seite stehender oder sitzender wahrheitsagender Grobian ganz dienlich wäre.

Beleuchten wir nun zunächst das Anderen nichts weniger als angenehme Gebahren der Menschheit im Trink- und Speisehause, und zwar ganz besonders im Winter. Welche Rücksichtslosigkeiten treten da nicht schon beim Kommen und Gehen der Gäste zu Tage! So werfen Manche die Thür mit einer so rohen Kraft zu, daß die Gläser auf den benachbarten Tischen tanzen und die umsitzenden Damen sich Gänsehaut anschrecken. – Andere reißen die Thür so heftig und weit auf, daß, wer zufällig dahinter steht, dem Zerquetschen ausgesetzt ist. – Noch Andere lassen die Thür hinter sich so weit aufstehen, daß alle in kalte Luft gesetzte Trinker ihrem Zorn im grimmen Aufschreie „Thür zu!“ Luft machen und Der mit den kältesten Beinen aufspringt, um ein Exempel, aber nicht an dem Missethäter, sondern an der armen Thüre in so zuschlagender Weise zu statuiren, daß der Thüransitzende eine halbe Elle vom Stuhl auffliegt. – Es giebt Leute, die beim Kommen und Gehen die Thür ganz zart behandeln, dieselbe aber stets nur anlehnen und so die in der Zuglinie Sitzenden, zumal die mit Glatze oder Rheuma Behafteten, in Verzweiflung bringen. – Auch die artigen Leute, von denen keiner zuerst zur längst geöffneten Thüre hinaus- oder herein will, sowie die Schwätzer, welche selbst inmitten der offenen Thüre noch lange Reden halten, gehören zu den rücksichtslosen Mitgästen. – Und die Moral? Man zeige Humanität auch beim Auf- und Zumachen der Thüren und nehme dabei Rücksicht auf seine Mitmenschen.

Werfen wir jetzt forschende Blicke auf die sich setzende oder sitzende, speisende oder trinkende, rauchende oder schnupfende Menschheit um uns herum und sehen wir, wie’s da zugeht. – Ein so eben erst in Besitz eines Stuhles Gelangter geberdet sich wie ein Verhungernder oder Verdurstender, weil der Marqueur nicht gleich mit einem Töpfchen Bier und der Speisekarte angeflogen kommt. Er trommelt entweder mit dem Stocke auf den rings mit Gästen besetzten Tisch oder schlägt mit dem Deckel auf ein leeres Bierglas so los, daß es dem ruhigen Bürger kalt über den Buckel läuft. Und wenn beim Fortgehen eines solch’ ungestümen, rücksichtslosen Burschen der Zahlkellner nicht sofort bei der Hand ist, dann wiederholt sich die Trommelei. Erwarten, bis der Kellner mit Andern, die auch fort wollen, abgerechnet hat, das können die Meisten nicht, sie meinen, nur für sie sei der Kellner da. –Bringt der Marqueur einem andern Neuangekommenen sofort ein Glas vom frischen Fasse, dann kann’s ihm passiren, daß er für seinen Diensteifer noch die schönsten Grobheiten vor allen Gästen bekommt, denn der gnädige Herr wollen vorher essen und erst nachher trinken, und das soll ihm der Kellner an der Nase ansehen. – Der Eine lamentirt, wenn nicht gleich nach Vertilgung seines Bierrestes ein frischgefülltes Seidel vor ihm steht, der Andere lamentirt, wenn ihm sein geleertes Töpfchen zu schnell gefüllt wiedergebracht wird, denn er argwöhnt dann schales, abgestandenes Bier; ein noch Anderer wehklagt fortwährend darüber, daß er den ganzen Abend immer nur das Letzte vom Fasse bekommt, während sich andere Biernörgler über Bitterkeit, Süßigkeit, Kälte, Wärme, Farbe, Glanz des Bieres nicht zufrieden geben können. Daß zwischen solchen Lamentos rechts und links Einem, der mit Gemüthsruhe seinen Schlaftrunk zu sich nehmen will, das an und für sich schon bittere Bier noch mehr verbittert wird, ist kein Wunder. Und die Moral? Auch die Biernörgelei muß ihre Grenzen haben.

Wenden wir uns nun zur Geißelung der Speisenden; denn auch diese haben Angewohnheiten, die gegen die Nächstenrücksicht oft arg verstoßen. So werden viele durch das nervösmachende Matschen, Schlürfen, quitschende Zähneausstochern u. s. f. den Ohren ihrer Umgebung recht unangenehm. – Andere versündigen sich gegen die Zunge ihrer Mitesser gar nicht selten dadurch, daß sie sich mit demselben Messer, das sie eben erst zum Bearbeiten von Käse, Hering oder Pökling benutzten, Brod oder Butter abschneiden, welche doch auch für die andern Gäste und mit eigenen Messern versehen da sind, daß sie vom Brode wohl gar nur die Rinde ringsum ablösen. Das abwechselnde Hin- und Herfahren mit dem Messer aus dem Munde in das Senfbüchschen oder Salznäpfchen dürfte ebenfalls nicht zur Nachahmung empfohlen werden. Auch ist es nichts weniger als erfreulich, wenn unser Tischnachbar die Citrone über seinem Caviar so ausdrückt (ohne die Hand darüber zu halten), daß ihr Saft rings umher spritzt und unsere oder unser Damen Kleider befleckt. – Wenn der Gourmand oben an der Tafel sich die meisten Bruststücken vom Fasan aneignet und fast alle Austern aus dem Sauerkraute herausfischt, so daß Denen am untern Tafelende nur noch Geknöcheltes mit nacktem Kraute verbleibt, so wundert man sich heutzutage über solch’ eingreifendes Verfahren gar nicht mehr, ebensowenig wie über andere ähnliche Annexionen in Compot und Dessert, denn das Verschen:

„Bescheidenheit, Bescheidenheit, verlaß mich nicht bei Tische
Und gieb, daß ich zu jeder Zeit das beste Stück erwische“,

ist ja zum Wahlspruche für die Table d’hôte geworden. – Daß ein Gesättigter das Geschirr mit seinen Speiseresten von sich hinweg und seinem Nächsten unter die Nase schiebt, das ist ein gar nicht seltenes Tischmanöver. Diesem folgt dann zuweilen die [816] reinigende Scheuerung des Speisefeldes mit dem nächstliegenden, selbst neuesten Zeitungsblatte, was auf diese Weise den Lesern höchst unappetitlich gemacht ist. Und die Moral? Beim Essen muß man nicht blos Rücksicht auf seinen Magen, sondern auch auf seine Mitmenschen nehmen.

Was die Zeitungsleser in Restaurationen betrifft, so dürfte unter ihnen wohl die raffinirteste Rücksichtslosigkeit angetroffen werden. Da giebt es z. B. die bekannten Zeitungstiger, welche dem Kellner, trotz alles Protestirens, jede eben angekommene Zeitung aus den Händen reißen und sich schleunigst darauf setzen, um im sichern Besitze derselben zu bleiben, während sie sich noch mit dem Lesern eines andern Blattes, ja wohl sogar mit Essen und Trinken beschäftigen. – Dort sitzt Einer, der die neuesten politischen Nachrichten neben sich auf dem Tische liegen hat, von Zeit zu Zeit abwechselnd einige Zeilen darin liest, dann wieder mit der langsamsten Behaglichkeit einige Bissen Kaltes verzehrt und darauf einen Schluck aus dem Glase thut, dann wohl auch zwischendurch ein Gespräch mit dem Nachbar anknüpft, worin er sich auch nicht stören läßt, wenn ihm zu wiederholten Malen und immer eindringlicher: „ich bitte mir nach Ihnen die Zeitung aus,“ zugeraunt wird. Ein solcher Kunde raisonnirt gewöhnlich am meisten, wenn er nicht schnell genug in den Besitz der gewünschten Zeitung gelangt. – Ist endlich ein solcher rücksichtsloser Patron mit Lesen, sogar der Verkaufs-, Entbindungs- und Vermählungsanzeigen, fertig, so fällt’s ihm gar nicht ein, die Bitte seines Nach-Ihm zu erfüllen, er wirft das Blatt auf den ersten besten Stuhl oder Tisch und überläßt dasselbe seinem Geschicke. – Manche sind von der Sucht befallen, nicht nur ihrer Nachbarschaft, ganz gegen ihren Willen und ihr Wohlbehagen, lange Artikel aus den Zeitungen vorzulesen, sondern auch noch ihre superklugen Bemerkungen dazu zu machen. Und wehe dem, der sich über dieses Gelangweile moquirt! – Ein gesuchtes Blatt entweder eines interessanten Artikels oder eines Bildes wegen mitgehen zu heißen (vulgo klemmen), oder zu diesem oder jenem Zwecke zu mißbrauchen, das halten Viele, weil sie es thun, durchaus nicht für unverschämt, bei Andern ist’s das. – Oft wird nach einer Zeitung in allen Winkeln herumgesucht und schließlich findet sie sich als Spielzeug in schönen oder unschönen Händen oder als Schutz vor Fettflecken unter den Aermeln eines Sonntagsrockes. – Für diesen Abend leiste man nur gleich Verzicht auf ein Zeitungsblatt, wenn man’s in den Händen eines bebrillten alten Herrn sieht, der es entweder mit halblauter Stimme oder mit entsprechendem Mundgewackele Zeile für Zeile durchbuchstabirt und sehr böse wird, wenn er sich etwas beeilen soll. – Und die Moral? Spute Dich beim Lesen der neuesten Zeitung und laß sie baldigst Deinem Nächsten zukommen.

Betrachten wir nun auch die Rücksichtslosigkeiten der Raucher und Schnupfer. Von den ersteren machen gewöhnlich diejenigen den unausstehlichsten Qualm, die das schlechteste Kraut rauchen. Sie versetzen ihre Umgebung in Wolken, in denen auch der gesündesten Lunge zu athmen sauer wird. Manche von ihnen können es sich auch nicht versagen, ihren Rauch nicht in die Luft, sondern ihren Nachbarn in’s Gesicht zu blasen. – Der gebildete Raucher, der die Spitze seiner Cigarre nie abbeißt, sondern abschneidet, thut dies gar nicht selten mit dem Messer des noch reinen Couverts an seiner Seite und legt ganz ungebildeter Weise dasselbe Messer ruhig zu weiterem Gebrauche beim Essen wieder hin. – Noch glimmende Cigarrenstummel, sogar noch brennende Zündhölzchen, cavalièrement unter die Gesellschaft zu werfen, den Damen damit die Kleider zu verbrennen, das genirt den noblen Raucher nicht. – Die Asche der Cigarre am oder wohl gar in das Pfeffer- oder Salznäpfchen abzustreichen, kommt nicht selten auch bei nichtkurzsichtigen Rauchern vor. – In Bezug auf die Schnupfer läßt sich vorzüglich darüber klagen, daß dieselben ihre Schnupftabaksnase nicht immer so präsentiren, wie es das Organ, welches auch als Ausläufer des Gehirns bezeichnet wird, verlangt. Auch geschieht der Act des Schnupfens und des Priseanbietens gar nicht selten in einer für die Nachbarn nicht eben angenehmen Weise. Immer sind aber die Unarten der Schnupfer eher als die der Raucher zu ertragen.

Schließlich soll nun noch Derer, aber nicht mit Liebe gedacht werden, die mit ausgehungerten gefräßigen Hunden und unartigen Kindern kneipen gehen. Sie bringen durch ihre ungezogenen Lieblinge oft dahin, daß man vor Aerger Essen und Trinken stehen läßt und macht, daß man fortkommt. – Das wäre denn solches, aber noch lange nicht alles Thun mancher unserer Mitmenschen im Bier- und Weinhause, was Andere nicht zugefügt zu haben wünschen und was auch die Thäter selbst nicht zugefügt haben wollen. Schlimmer wird es in dieser Hinsicht aber noch im Concert und Theater, auf dem Balle und im Salon, im Waggon und Hôtel getrieben, und darum folgen diesem ersten Artikel über Nächstenrücksicht noch einige andere.
Bock.




Drei Abende mit Ferdinand Hiller.


Musik ist unter allen Künsten die
rein menschlichste, die allgemeinste.
Jean Paul     


In einem großen anmuthigen Zimmer, mitten unter den epheuumrankten Statuen Bach’s und Händel’s, unter den charakteristischen Portraitköpfen Beethoven’s, Felix Mendelssohn’s, Mozart’s und Schumann’s, einem reichbesetzten Blumentisch gegenüber, stand ein Härtel’scher Stutzflügel. Die Lichter waren weggenommen, und selbst über die große Lampe drüben auf dem Theetisch hatte man einen rosenrothen verhüllenden Schleier gebreitet, die kleine Gesellschaft aber, die sich um ihn versammelt, Frauen und Männer, lauschten eben einer reizenden, kleinen Tondichtung: Ferdinand Hiller spielte sein „Zur Guitarre“.

Draußen war es Herbst, der Wind klopfte ungestüm an die Fenster, Regenschauer schlugen gegen die Scheiben, drinnen träumte man von einer warmen Sommernacht unter italienischem Himmel. Die Rosen blühten, vom hohen Balcon neigte sich eine schöne Frauengestalt à la Giulietta, das Mondlicht verklärte ihr Blumengesicht, und der elegante glühende Cavalier gestand ihr „zur Guitarre“ seine Liebe. Es war eine Liebe, wie sie im Lande, wo die Citronen blüh’n, aufflammt, und der arme Nordländer beneidete den Glücklichen, denn Orangenblüthen duften süßer als Vergißmeinnicht, die Nordländerin aber seufzte. Wer könnte ihr ein Ständchen „zur Guitarre“ bringen, im Lande der Regenschauer und Gewitterstürme, des Hustens und Schnupfens und der klatschsüchtigen neidischen Nachbarn?

Ich habe diese entzückende musikalische Déclaration d’amour bis jetzt nur vom Componisten selbst spielen hören, aber ich meine, sie könne nie und nirgend ihre Wirkung verfehlen. Was unseren damaligen kleinen Kreis betrifft, so waren wir Alle bezaubert, wie man beim Anblick des ersten Frühlingsstraußes bezaubert ist, oder von dem Ton einer langentbehrten theuren Stimme. Hiller mußte sein Lied sofort noch einmal singen. Er kam damals, mit Ehren überhäuft, etwas ermüdet von allerlei lucullischen Festsoupers mit obligaten Toasten und Lorbeerkränzen, von Bremen zurück, wo man seine Oper „die Katakomben“ zum ersten Mal aufgeführt und den Componisten in glänzendster Weise gefeiert hatte, und da ruhte er denn einen Abend in dem Freundeshause aus. „Ausruhen“ aber hieß: im tiefen Sessel behaglich plaudern und einmal nicht „ex officio“, sondern nur con amore musiciren. In der Nacht um drei Uhr wollte er weiter, nach Köln zurück, vorher noch ein paar Stunden schlafen. Da galt es denn die Zeit zusammennehmen, hatte man sich doch so lange nicht gesehen, so viel zu fragen und zu erzählen. Hiller selbst spricht und erzählt so frisch und köstlich, wie er spielt, und erschien während des kleinen Soupers sprudelnd heiter. Es war eben einer jener Abende, wie sie selten vom Himmel fallen, Stunden, die einen Veilchenduft in der Seele zurücklassen. Später hörten wir noch eine kleine Beethoven-Sonate von ihm; dann spielte er noch einige geistvolle Kleinigkeiten – „Bagatellen“, wie er sie nannte, eigener Composition. Dazwischen sang die Hausfrau seine tiefergreifende „Wallfahrt nach Kevelaer“, diese schöne Tonillustration zu dem Heine’schen Gedicht, dann Mendelssohn’s Suleika, Schubert, Schumann, Franz und endlich das Scheidelied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath etc.“[WS 2]

Mitternacht war längst vorüber, wer hätte daran gedacht! [817] Mit aller Lebhaftigkeit wurden noch musikalische, literarische und andere Themen besprochen, auch pikante Skizzen des Pariser Lebens von Hiller entworfen, er schloß den Reliquienschrein seiner Erinnerungen auf, um manches funkelnde Kleinod herauszunehmen und an’s Licht zu tragen. Dabei leuchteten die klugen Erzähleraugen, und die Mundwinkel umspielte ein schalkhaftes Lächeln. Plötzlich sprang Hiller auf und setzte sich noch einmal an den Flügel. Leise huschten die vollen Hände über die Tasten – Hiller hat keine eigentliche Clavierhand – und es war zuerst nur wie ein „Rufen aus Träumen“, allmählich aber reihten sich die Gedanken aneinander, und der seltene Gast phantasirte über alle jene Lieder, die man ihm gesungen. Die Kirchenglocken läuteten zu der Procession: „Das ist zu Köln an dem Rheine“, die Mutter Gottes kam leise hereingeschritten und legte ihre Hand auf das Herz des Kranken, dann wehte der West auf feuchten Schwingen daher. Suleika hauchte: „Sag’ ihm, aber sag’s bescheiden,“ Schumann’s Frühlingslied klang wie Nachtigallenschlagen dazwischen, Schubert’s „Auf dem Wasser zu singen“ zog vorüber, und das köstliche Liebeslied Rückert’s, von Franz, „Er ist gekommen in Sturm und Regen“ brauste daher, und endlich kam die liebe Melodie, weich und tief wie ein Abschiedsblick:

„Wenn Menschen auseinandergehn,
So sagen sie: auf Wiederseh’n!“

Als Hiller sich erhob, da standen manche schöne Augen in Thränen und schlanke Frauenhände streckten sich ihm dankend entgegen. Aber mitten in diese erregte kleine Scene fiel eine Männerstimme, die halb scherzend, halb ernst sagte: „Es hilft eben nichts, mein verehrter Herr Capellmeister, das Scheiden ist da; wir müssen hinunter gehen, in sieben Minuten fährt der unerbittliche Courierzug ab. Es ist drei Uhr vorüber.“ Das war die „lustige Person“ des Stückes.

Ferdinand Hiller ist ein Frankfurter Kind, der zärtlich geliebte Sohn hochgebildeter Eltern, im Jahre des großen Kometen und des feurigen Weines geboren, und hell und feurig ist diese Künstlerseele bis zur Stunde geblieben. Allerlei gute Geister haben bei seiner Jugend gleichsam Pathe gestanden: Goethe’s Hand lag auf dem Scheitel des Knaben, als er, um den Clavierunterricht Hummel’s zu genießen, nach Weimar kam. Beethoven’s erlöschende Augen haben ihn bedeutungsvoll angeschaut, als der Jüngling seinen berühmten Lehrer nach Wien begleitete und mit ihm an das Schmerzenslager des sterbenden Titanen trat. Der tiefdenkende gelehrte Gründer des Cäcilien-Vereins in Frankfurt a. M., Schelbele, nannte Hiller seinen Liebling, und Aloys Schmitt prophezeite ihm eine glanzvolle Laufbahn. Der strenge, abgeschlossene Cherubini thaute dieser liebenswürdigen Künstlernatur gegenüber auf, und die ganze geistige und musikalische Aristokratie des damaligen Paris interessirte sich für den kaum Siebenzehnjährigen, als seine Mutter, um ihn in diese reiche Welt einzuführen, dort einen Salon eröffnete, in dem sich oft die heterogensten und anziehendsten Elemente zusammenfanden. Welch’ ein Vorwurf für einen Maler, diese Vereinigung von feinen Köpfen und Gestalten!

Es ist ein Winterabend. Das Feuer im Kamin brennt. Draußen rollen die Equipagen vorüber und beim Scheine der Laternen zeigen sich rosengeschmückte Frauenköpfchen, blitzende Diamanten, bauschende Stoffe hinter den Scheiben. Paris tanzt heute in den Tuilerien, im Stadthause, im Theater, in der Closerie de Lilas, im Jardin d’hiver und wer weiß noch wo. – Das große Musikzimmer der Hiller’schen Wohnung ist sanft erwärmt und beleuchtet; man tanzt auch dort, aber nur zehn Finger sind’s, die tanzen, die Finger Chopin’s. In einer Marmorschale auf dem Tisch duften Veilchen, die holden Lieblingsblumen einer holden Kaiserin, die bei uns nur im Frühling, in Paris aber zu allen Zeiten blühen. Ein Erard’scher Flügel steht in der Mitte, vor ihm der junge träumerische Chopin. Er scheint die Tasten kaum zu berühren; wie aus weiter Ferne schwebt eine feurige und doch tief klagende Tanzweise herein, näher und näher, sie wird immer lauter; er spielt seine wunderbaren Mazurken und dämonischen Walzer. Hiller selber mit der Künstlerstirn und den klugen Augen steht neben dem Spieler und verliert nicht den Hauch eines Tones. Am Kamin, vor lustig flackerndem Feuer, sitzt der alte Cherubini, der Schöpfer des Wasserträgers, zerstreuten Blickes und doch wider Willen dem zauberhaften Spiele, lauschend, es

Die Schweden kommen!
Illustrirt von Adolph Menzel. (Aus Bodenstedt’s Album.)

[818] stört ihn fast, und doch hält es ihn so fest – der Schlußchor seines Requiem liegt ihm eben im Sinn. Neben ihm lehnt Adolf Nourrit, der edelste Pylades eines Gluck’schen Orestes, der je auf der Bühne erschienen, der Abgott der Frauen. Wenn er die berühmte Arie sang:

„Nur einen Wunsch, nur ein Verlangen“,

so zerflossen nicht allein die Damen in Thränen. Seine Stimme war von einem wunderbar weichen Timbre und doch voll Kraft, und sein Vortrag, wenn auch mehr elegisch als dramatisch, immer edel und tief empfunden. Wer hätte damals das tragische Ende des Vielgefeierten geahnt?! Fünfzehn Jahre später stürzte er sich in Neapel, in einem Anfall von Schwermuth, aus einem Fenster des dritten Stocks auf das Straßenpflaster.

Auf der anderen Seite des Kamins haben die Violinspieler Lafont und Baillie Platz genommen. Hinter ihnen taucht das charakteristische Profil des jungen Musikers Berlioz auf; eine Welt von Gedanken verbirgt sich hinter dieser schönen, von dunkelen Haaren beschatteten Stirn. In der Fensternische steht Ary Scheffer, der geniale Maler, mit ernsten Augen die Gruppen überschauend. Es ist etwas in diesem edlen Kopfe, das an sein berühmtes Bild, „der heilige Augustin neben seiner Mutter Monica“, erinnert. Nicht weit von ihm, in dem dunkelsten Winkel, sitzt einsam ein krank aussehender Mann, fast wie zusammengebrochen, die Wange auf die blasse Hand gestützt, den milden seelenvollen Blick wie in endlose Fernen gerichtet. Um den Mund liegt ein unverwischbarer Schmerzenszug, der Ausdruck eines unendlichen Heimwehes, der das seltene Lächeln so rührend erscheinen läßt. Die Stirn ist von hoher Schönheit, klar und licht. Es ist der Verfasser der Briefe aus Paris, der geistvollsten Kritiken und der glühenden Gedächtnißrede auf Jean Paul: Ludwig Börne. Die Musik ist seine Freundin; hat er doch von ihr gesagt: „Musik ist Gebet; ob nun das Kind es herstammele, ob der rohe Mensch in roher Sprache es halte, ob der Gebildete in feurigen geistvollen Worten – der Himmel hört sie mit gleicher Liebe an und giebt Jedem den Widerklang seiner Empfindung als Trost zurück.“

Chopin’s Spiel war ein Wunderbalsam für die Seele Börne’s. Diese feurigen und schwermüthigen Geister mußten sich verstehen und lieben.

An einem Blumentisch voll exotischer Pflanzen, aus deren Grün die Statue einer Polyhymnia hervorlauscht, mitten in einer Gruppe junger Frauen, sah man den verzogenen Liebling der Grazien und Musen, den Dichter des Buches der Lieder, Heinrich Heine. Als sein Nebenbuhler in der Gunst der Damen tritt der liebenswürdige schalkhafte Componist des Barbier von Sevilla, Rossini, auf. Der etwas corpulente Herr war trotz dieser kleinen Schwerfälligkeit noch immer Figaro ci, Figaro là, und die Schönen und Häßlichen schwärmten für ihn. Damals war der fein modellirte Kopf Heine’s unberührt von jener langsam schleichenden Krankheit, die später all’ seine Schönheit so grausam zerstörte, daß nur die Alles ausgleichende Hand des Todes die verzerrten Züge wieder zu glätten vermochte. Die blauen Augen blitzten noch wie die Sterne und die Lippen flüsterten den bezauberndsten gereimten und ungereimten Unsinn, so lange bis sich endlich eine schöne Hand auf den vornehm geschnittenen Mund legte. Diesmal waren es die Lilienfinger der berühmten und reizenden Delphine Gay, die als Schriftstellerin in Paris kaum mehr gefeiert wurde denn als Frau. Heinrich Heine küßte demüthig und feurig zugleich die kleine Hand, die, als Chopin’s Spiel begann, wie ein Rosenblatt leicht und flüchtig seine Lippen streifte. Jetzt hatte er längst den übermüthigen Scherz vergessen. Eine tiefe Melancholie lag auf seiner Stirn, der Kopf war auf die Brust gesunken, die langen Wimpern berührten fast die Wangen, manch’ schönes Auge verfolgte in diesem Moment die fesselnde Profillinie. Vielleicht träumte er Gedichte zu den phantastischen Weisen Chopin’s.

Und dort drüben dieses junge Wesen, dies feenhafte Geschöpf mit den großen südlichen Augen und der Fluth von dunkelm Haar, – diese Frau mit dem Lächeln eines Kindes und den Bewegungen einer Grazie, mit der Maestro Rossini so angelegentlich geflüstert? Wer anders als Marie Malibran, die größte Sängerin aller Zeiten, das geniale warmherzige Weib, der Abgott von Paris. Die Gräfin Merlin, ihre Beschützerin, hatte sie in dem kleinen deutschen Salon eingeführt. Auch andere berühmte und unberühmte Schülerinnen Garcia’s waren da, die Damen Lalande und Favart und allerlei süße Blumengesichter, die das Vorrecht hatten, sich eben nur zu zeigen, um der Bewunderung sicher zu sein.

Ich glaube, daß, wenn der Blick aus Beethoven’s Augen nicht den Musiker in Ferdinand Hiller gleichsam hieb-, stich- und kugelfest gemacht, der junge Mann damals, wie die Studenten sagen, „umgesattelt“ hätte und unter die Literaten gegangen wäre. Das Zeug dazu hatte er wie selten Einer. Hiller selbst gesteht auch in einem seiner Briefe, wie mächtig der Verkehr mit den bedeutendsten und verschiedensten Geistern, wie sie damals in Paris gewissermaßen „aufeinander platzten“, ihn aufgeregt und wie er zuweilen auf arge Gedanken gekommen sei.

„Der Umgang mit den größten Künstlern der Zeit und so vielen andern berühmten Männern,“ schreibt er, „war im höchsten Grade anregend, aber alles das, das ganze Pariser Treiben, auch die Politik, der ich mich leidenschaftlich hingab, und der ganze Strudel des hin- und herwogenden Lebens brachten mich doch, so zu sagen, aus mir selber heraus und störten die Entwicklung meiner musikalischen Anlagen. Ich hatte mehr als einmal Lust, die ganze Musik an den Nagel zu hängen, die mir ohnedies in diesem großartigen geistigen Treiben als etwas sehr Geringes vorkam.“

Wer Hiller’s Briefe kennt und seinen eleganten bei aller deutschen Gedankentiefe echt französischen Plauderstil, wie er in seinen vielen geistvollen Aufsätzen, Kritiken, Plaudereien mit Rossini, Feuilleton-Artikeln zu Tage tritt, der gewinnt den Schriftsteller Hiller nicht minder lieb wie den Musiker und Componisten, und wer ihn jemals über ein ihn begeisterndes Thema reden, oder über das Wesen und die Entwicklung der Musik Vorträge halten hörte, so klar, warm und fließend, der muß ihn auch als Sprecher bewundern.

Ferdinand Hiller hat sehr früh schon – mit zehn Jahren – und stets mit ungemeiner Leichtigkeit componirt, und es ist ein Zeichen, wie tief der Sonnenstrahl der Goethe’schen Freundlichkeit in das junge Herz gedrungen daß er zum Text seines ersten Liedes die „rastlose Liebe“ wählte und unerschrocken den „Schnee“, den „Regen“ in Musik setzte. Mit siebenzehn Jahren trat er in Paris als Lehrer in die institution royale de musique classique et religieuse und ertheilte den Unterricht in der Harmonie daselbst, spielte auch in der Kirche der Sorbonne die Orgel, wenn die Schüler dort Messen sangen. Einige große Concerte, die er im berühmten Conservatorium gab, brachten ihm viel Ruhm und Ehre. Das elegante und künstlerische Publicum, das sich hier versammelte, lernte nun Hiller’sche Compositionen kennen, Symphonien und Clavierstücke. Französische und deutsche Blätter brachten Schilderungen von der warmen Aufnahme, die der junge Deutsche gefunden.

Viel Reizendes entstand in dieser Zeit: Trios, Quartette, Lieder, die verlockende danse des fantômes und die ersten Reverien. Dem berauschenden Pariser Leben folgte ein kurzer Aufenthalt in Frankfurt am Main, dann ein dolce far niente am Comersee, wohin die treue Mutter den Sohn begleitete (den Vater verlor er schon während seines ersten Aufenthaltes in Paris), und dort entstand das Oratorium „die Zerstörung Jerusalems“, dann ein Winter in Mailand, und endlich – ein Liebesfrühling.

Vor gar manchem Jahr erschien im Gewandhausconcerte zu Leipzig eine schöne Frau mit dunklem Haar und Feueraugen und einem Profil, dem man auf Cameen häufig, im Leben aber selten begegnet; sie sang die „Tarantella“ aus Rossini’s Soirées musicales mit brillanter Stimme und lebensvollem Vortrag: es war Frau Antolka Hiller. In demselben Concert spielte Hiller eine seiner reizenden Reverien. Eine liebenswürdige Frau sagte ihm nachher scherzend: „Jetzt weiß man doch endlich, von wem Sie immer so süß und geheimnißvoll geträumt!“

Nichts aber war anmuthiger, als Frau Hiller die Sopranpartie in jenen frischen originellen Quintetten singen zu hören, für Sopran und Männerstimmen, die Hiller in der ersten Zeit seines Eheglücks in Rom componirt. Der Gedanke, eine Frauenstimme in all’ ihrer Weichheit und Klarheit über einem Männerquartett schweben zu lassen, ist so bezaubernd in seiner Wirkung, daß man sich mitten in einen Frühlingstag versetzt fühlt, wo über uns und Allem, was da kreucht und fleugt, singt und brummt, die schmetternde Lerche aufsteigt, gerade in den blauen Himmel hinein.

[819] Hiller leitete, als Mendelssohn, mit dem ihn die innigste Freundschaft verband, Leipzig mit Berlin vertauschte, die Leipziger Abonnementsconcerte, siedelte aber bald nach Dresden über, um dort ebenfalls Concerte im größeren Stil einzurichten und zu dirigiren. Dazwischen componirte er seine Oper „der Traum in der Christnacht“, seinen „Konradin von Hohenstaufen“, verschiedene Streichquartette, Sonaten, Capriccios, Etüden und seine schönen Impromptus, auch viele Lieder. Die „Zerstörung Jerusalems“ ging von Dresden aus in alle Welt, mit dem tiefsten Interesse und dem wärmsten Beifall aufgenommen. Wer könnte je den klagenden Chor wieder vergessen: „Eine Seele tief gebeuget“, oder das ergreifende: „Wir ziehn gebeugt, das Joch auf unserm Nacken“, und das herrliche Duett: „O wär’ mein Haupt eine Wasserquelle“

Im Jahre 1850 nahm Hiller einen ehrenvollen Ruf als städtischer Capellmeister und Director des Conservatoriums nach Köln an, und schafft und wirkt dort mit einer kurzen Unterbrechung, wo er einen Winter in Paris die italienische Oper dirigirte, bis zur Stunde in ungetrübter Kraft und Frische. Seine schöpferische Phantasie treibt immer neue Blüthen, unter welchen als eine der anmuthigsten wohl seine „Operette ohne Worte“ für Clavier zu vier Händen erscheint. Seine Oper „die Katakomben“ entstand, seine Symphonie mit dem köstlichen Veilchenduft und dem Motto: „Es muß doch Frühling werden!“ und ihre Schwester, die fröhliche „Im Freien“. Mehrere größere und kleine Gesangsstücke erschienen für Solo und Orchester, das Oratorium „die Gründung Roms“, mit dem Text des geistvollen Musikkenners und Kritikers Professor Bischoff. Trotz alledem fand Hiller noch immer Zeit, die feinsten ästhetisch-kritischen Artikel zu schreiben und manchen wunderschönen Nachruf heimgegangenen berühmten Freunden. Die lebenden Freunde, berühmte wie unberühmte, finden ihn immer bereit zu heiterem und ernstem Geplauder, und nicht nur männliche, sondern auch die bekanntlich viel plauderlustigeren weiblichen Freunde. Liebenswürdig, offenherzig, lebensfroh und opferbereit, ist er jeden Augenblick mit Rath und That bei der Hand, wenn man ihn persönlich oder brieflich aufsucht. Sein Haus ist noch immer, wie es überall war, das gastfreie Asyl der Künstler von Nah und Fern. In diesem Augenblick – Dienstag Abend, den 4. December – steht er am Dirigentenpult im Gürzenichsaal in Köln, den Tactstab in der Hand, es ist sein Oratorium „Saul“, das er dem dichtgedrängten Publicum zum zweiten Mal vorführt.

Welch’ ein gewähltes Publicum lauscht den „prächtigen Chören“ mit der „pomphaften Instrumentirung“! Wie heiter erscheint das Gesicht des kritischen Richters Professor Bischoff in der Nähe des Orchesters! Welch’ ein embarras de richesse von schönen und minder schönen Frauen, von Civil und Uniformen, Jugend und Alter! Und dabei die Sängerinnen „in Weiß“ und die Sänger „in Schwarz“! Das Orchester, das unter seinen Mitgliedern viele glänzende Namen zählt, schaut mit gespannter Aufmerksamkeit auf seinen König und Herrn, der Chor hängt an seinen Blicken und den Bewegungen seiner Hand. Wie sie mit sichtlicher Liebe und Lust unter seiner sichern Leitung spielen und singen!

Man nennt Ferdinand Hiller einen unübertrefflichen Dirigenten, und wer ihn einmal am Dirigentenpult stehen sah oder unter seiner Führung sang, den überkommt die felsenfeste Ueberzeugung seiner und der eigenen Unfehlbarkeit, und so kann also eine musikalische Leistung, die sich unter seinem Schutze hervorwagt, nicht verderben. Das letzte Düsseldorfer Musikfest hat den Beweis geliefert, wie elektrisirend die Persönlichkeit Hiller’s mit dem Tactstab in der Hand auf Chor, Orchester und Publicum wirkt. Der kleine, runde Mann mit dem edlen Kopfe wird der Größten Einer, wenn er das Podium des Orchesters betritt. Die Rheinländer sind stolz auf ihren Hiller, besonders aber die Kölner auf ihn als den Leiter und die Seele ihrer berühmten Gürzenich-Concerte.




Der Kanonenkönig.


Da wir jetzt so viel von der militärischen Größe und Vergrößerung Preußens hören, ist es natürlich, daß wir die Gründe derselben etwas genauer kennen zu lernen suchen. Sie stammt aus der Geschichte, noch mehr aus der Geographie, dem Klima, dem Königsgeschlechte und der Natur der alten Brandenburger und der späteren Preußen, Quellen, die wir aber hier nicht näher untersuchen wollen.

Wir haben das Zündnadelgewehr kennen gelernt und dessen Erfinder besucht und sehen darin, wie alle Welt, wenigstens eine Hauptquelle der neuesten Siegesthaten Preußens, dürfen indeß auch den Kanonenkönig Krupp in Essen nicht übersehen, obgleich die achttausend und einige Hundert Eisen- und Stahlmänner seiner größten Cyclopen-Schmiede für alle Welt und sogar für die Japanesen arbeiten. Die weltberühmte Anstalt liegt ungemein günstig, da sich um sie drei große Eisenbahnlinien des westlichen Deutschland kreuzen und zwar zwei Stunden Weges von Köln, in der Richtung nach Berlin. Hier in Essen erbte der vierzehnjährige Knabe, Alfred Krupp, eine kleine Werkstatt für die Fabrikation von Schneideinstrumenten. Durch Genie, Muth, Geschicklichkeit, Energie und Glück dehnte der Mann seine kleine Werkstatt allmählich so weit aus, daß er im Jahre 1865 mit Hülfe von hundertundsechszig Dampfmaschinen, neununddreißig Dampfhämmern und vierhundert Schmelz-, Glüh- und Cementöfen nicht weniger als eine Million Centner Gußstahl zu einem Drittel in Kanonen und das Uebrige in mächtige Barren für Dampfmaschinen, Achsen, Räder, Dampfmaschinenkessel und sonstige stählerne Werkzeuge und Bekleidungen verarbeitete.

Krupp’s erste Stahlkanonen wurden im Jahre 1849 gegossen und den hauptsächlichsten deutschen Mächten angeboten, aber von ihnen abgewiesen, da ihnen die Sache zu neu und kostspielig erschien. Merkwürdiger Weise war der Vicekönig von Aegypten der Erste, der Stahlkanonen bestellte. Seitdem haben wohl alle Großmächte der civilisirten Welt Krupp’sche Stahlkanonen gekauft und zum Theil bereits in ihre Artillerie eingeführt. Rußland entschied sich zuerst für vollständige Umwandelung seiner Kanonen in stählerne nach Krupp’schem Muster, welche jetzt in einer besonderen Fabrik zu Alexandrosssky ausgeführt werden. Preußen läßt nur allmählich Krupp’sche Stahlkanonen, die in Essen gegossen und in Spandau gereifelt werden, an die Stelle seiner bisherigen gußeisernen und bronzenen treten; es hat aber noch ein besonderes System von Hinterladung, das mit dem Krupp’schen nicht verwechselt werden darf. Belgien und einige kleinere Staaten haben das Krupp’sche Princip angenommen oder gebrauchen noch zum Theil die preußische Waffe. Die österreichische und holländische Flotte sind zum Theil mit Krupp’schen Stahlkanonen versehen worden. Die Italiener haben zunächst einige Sechszoll-Hinterladungskanonen von Krupp gekauft. Seine besten Kunden waren bisher die Türken, die ihm nicht weniger als zweihundert Sechspfünder abgekauft haben, und die Japanesen, welche vor zwei Jahren ihre interessante Reise durch Europa machten, bestellten bei ihm sofort sechszig Sechszoll-Kanonen, von denen dreißig im vorigen September abgeliefert wurden. Bis zum Herbste dieses Jahres hat die Krupp’sche Anstalt nicht weniger als zweitausend fünfhundert gußstählerne Feuerschlünde geliefert, größtentheils gezogene Hinterlader, von denen vierhundert ein Kaliber von acht Zoll und mehr, die andern drei bis vier und einen halben Zoll haben.

Die Werkstätten Krupp’s bedecken jetzt über fünfhundert Morgen Landes, verzehren täglich fünfzehntausend Centner Kohlen, arbeiten mit dem Dampfe aus einhundert und zwanzig Kesseln, werden durch siebentausend Gasflammen erleuchtet und beschäftigen, wie bereits erwähnt, mehr als achttausend Männer und Knaben, welche jährlich etwa zwei Millionen fünfmalhunderttausend Thaler Lohn beziehen und außerdem noch manche andere Vortheile genießen. Um nämlich einmal eingelernte Arbeiter durch ihr eigenes Interesse zu fesseln, ist eine Casse gegründet worden, für welche jeder Arbeiter einen halben bis einen ganzen Groschen von jedem Thaler seines Lohnes beitragen muß, wofür er im Krankheitsfällen Unterstützung für sein Alter eine ordentliche Pension bezieht. Herr Krupp selbst trägt zu dieser Casse die Hälfte der von den Arbeitern gezahlten Summe bei. Aus dieser Geldquelle bezieht jeder Arbeiter nach fünfundzwanzigjährigem Dienste eine anständige Pension, eine Wohlthat und eine Gerechtigkeit, wovon gar viele andere Arbeitgeber noch keine Ahnung haben, da sie sich bei uns nur noch auf Staatsdienste [820] beschränkt. Leute, welche bei der Arbeit zu Schaden kommen, erhalten während der ganzen Zeit ihrer Arbeitsunfähigkeit ihren vollen Lohn, und sonstige Erkrankte werden auf anständige Weise mit Mitteln und Medicin versehen, das Begräbniß der Todten endlich wird aus dieser Casse bestritten.

Außerdem genießen die Krupp’schen Arbeiter noch manche andere Vortheile. Um sie stets mit gutem und wohlfeilem Brod zu versorgen, ließ Herr Krupp besondere Bäckereien für sie einrichten, für welche er das Mehl im Großen von Rußland kauft. Aehnliche Einrichtungen sind getroffen worden, um ihnen immer gute und billige Kartoffeln zu verschaffen, und sollen demnächst auch auf das Fleisch ausgedehnt werden. Diese väterliche und

Alfred Krupp.
Nach einer im Privatbesitze befindlichen Originalphotographie.

wirthschaftliche Einrichtung erweist sich als sehr wohlthätig für die Interessen von Herrn und Arbeiter, wie man dies namentlich in England schon längst erkannt hat und immer mehr in großen Fabriken ein- und durchführt. Die Arbeitsstunden sind blos in zwei Theile getheilt – das Tagewerk von sechs Uhr früh bis sieben Uhr Abends, die Nachtarbeit von da an bis wieder zum Morgen.

Die Eisenerze für den ungeheuern Bedarf werden zum Theil aus Krupp’s eigenen Minen in Nassau und bei Coblenz bezogen, theils gekauft. Die erstern liefern das wohlbekannte Spiegeleisen. Die Verwandlung des Eisens in Stahl geschieht durch den bekannten Proceß des Puddelns, und nur Schmiedeeisen wird durch Anwendung des von dem Engländer Bessemer erfundenen Processes, mittels durchgeblasener Luft, hergestellt.

Das Spiegeleisen enthält viel schädliches Mangan, wird aber durch den Puddel-Proceß fast ganz davon gereinigt, so daß es zu mehr als achtundneunzig Theilen von hundert aus reinem Eisen besteht, die übrigen zwei fallen zu mehr als die Hälfte auf Kohlenstoff, dann auf Kiesel, Kobalt und Nickel, Kupfer und eine unbedeutende Kleinigkeit Phosphor. Auf eine Schilderung des Puddelprocesses können wir uns hier nicht einlassen und erwähnen für den Laien nur, daß er in nachhaltiger Umrührung des geschmolzenen Eisens, der heißesten und mühseligsten Riesenarbeit, besteht. Die Eisenmasse, die zu Kanonen verarbeitet werden soll, muß weicher werden, als sonstiger Stahl, um eine gewisse Elasticität gegen die plötzlichen Schläge beim Abfeuern zu erzielen. Diese Weichheit wird durch Beimischung eines Theils von Schmiedeeisen in die Stahlmasse erreicht. Eisen und Stahl werden in kleine Stangen etwa sechs Zoll lang zerschnitten und in Graphit-Schmelztiegel gelegt, die von je dreißig bis sechszig Pfund enthalten. Diese Krupp’schen Schmelztiegel waren lange ein kostbares Geheimniß, aber die von Ruel in London und der Patent-Schmelztiegel-Compagnie in Battersea gelten jetzt für fast gleich gut.

Die Gießerei ist ein ungeheures Gebäude mit so vielen Oefen, daß zu gleicher Zeit darin in zwölfhundert Schmelztiegeln für Güsse der größten Art die nöthigen Eisen- und Stahlmassen in Fluß gebracht werden können. In jedem Ofen haben oft bis zehn Tiegel Platz und zwar so, daß sie auf losen Eisenbarren ruhen, welche herausgenommen werden können. Die Hitze in den Oefen erreicht eine solche Höhe, daß die besten schottischen feuerfesten Steine, womit sie umgeben sind, und die Tiegel selbst zu schmelzen anfangen, so daß letztere auch immer nur einmal gebraucht werden können. Um den Inhalt der verschiedenen Tiegel gleichzeitig in ein Reservoir und von da in die Form zu gießen, die sich unterhalb befindet, sind die Arbeiter ganz militärisch eingetheilt und folgen mit der größten Präcision militärischen Commandos. Im rechten Augenblicke giebt der commandirende Ingenieur vom Reservoir aus das Wort, welches sofort von den Vorstehern der verschiedenen Abtheilungen laut wiederholt wird. Jetzt ziehen einige die losen Eisenbarren aus den Oefen und andere stoßen die an dem Tiegel hängenden Feuermassen ab. Der „Auszieher“ stößt nun seine Eisenzange hinab, faßt damit den Tiegel und hebt ihn mit Hülfe Anderer auf den Flur; dann fassen ihn zwei andere Arbeiter mit einer Doppeltrage und bringen ihn nach dem nächsten Troge, in welchen sie die geschmolzene Masse schütten, woraus sie den Tiegel durch eine Oeffnung in einen Raum unter der Gießerei werfen, da er jetzt unbrauchbar ist und die Gießerei selbst nicht durch Anhäufung in der Räumlichkeit beeinträchtigen soll. Nun giebt der commandirende Ingenieur das Wort für die nächsten Abtheilungen, die ebenso schnell ihre Tiegel durch die Tröge in das Reservoir gießen, von wo es in die Form darunter fließt.

So geht es fort, bis alle Tiegel geleert sind. Hierauf läßt man dem Gusse so viel Zeit, bis er zu einer festen Masse zusammengelaufen und so weit abgekühlt ist, daß er aus der Form herausgenommen werden kann. Dann wird er mit heißer Asche umgeben und in einer rothen Gluth erhalten, bis er zum Schmieden kommt. Da dies nur in kühlem Wetter geschehen kann, liegen die größten Stücke der Art manchmal zwei, drei Monate in ihren heißen Betten, deren Decken durch immer neue Zufuhr von glühender Asche für Erhaltung der nöthigen Temperatur sorgen. Nichts kann malerischer und dämonischer aussehen, als dieses Leben und die Arbeit bei einem solchen großen Gusse. Ringsum nach allen Seiten die feurigen Oefen, aus denen unzählige, unabsehbare Arbeitermassen mit größter Geschwindigkeit und scheinbarer Leichtigkeit die großen glühenden Tiegel mit den geschmolzenen Stahlmassen herausreißen, um sie massenweise in die Tröge zu entleeren, bis die oft unersättlich erscheinende Form endlich gefüllt ist. Da dies nicht selten bei zwanzig bis fünfundzwanzig Grad Réaumur im Schatten draußen geschieht und im Innern jeder Ofen und jeder der tausend Schmelztiegel zu einer neuen glühenden Sonne wird, kann man sich wohl denken, daß diese Krupp’schen Männer oft in einer Temperatur arbeiten wie die drei Männer im feurigen Ofen und ungefähr ebenso unverbrennbar sein müssen, wie Sadrach, Mesach und Abednego. Allerdings sind dabei nicht selten einige in Ohnmacht gefallen.

[821] Die Güsse bestehen zunächst aus mehr oder weniger großen, runden oder viereckigen Formen und werden erst hernach in die erforderliche bestimmte Gestalt geschmiedet, gehämmert und gedrechselt. Durch die regelmäßige Form des Gusses wird eine gleichmäßige und von Luftblasen freie Masse erzielt; der Dampfhammer giebt dann der rothglühenden Masse die nöthige Dichtigkeit, Kraft und Elasticität und drängt sie in der Regel zu einer zwei bis drei Zehntel Procent größeren Dichtigkeit zusammen, und die Widerstandskraft steigt von siebenhundertundsechszig bis eintausenddreihundertundzwanzig Centner auf den Quadratzoll. Die letzte Masse für die Kanonen ist ziemlich weich und hat eine Widerstandskraft von acht- bis neunhundert Centnern.

Die kleineren Kanonen bestehen aus einem einzigen soliden Stück, die über acht Zoll im Kaliber sind zusammengesetzt und durch Ringe befestigt. Die bis jetzt fabricirte größte Stahlkanone von elf Zoll Kaliber wurde zunächst als Cylinder siebenhundertundfünfzig Centner schwer und sieben Fuß im Durchmesser gegossen und dann zuerst geschmiedet, worauf sie mit Schildzapfenringen von Gußstahl und durch mehrere Reifen befestigt ward. Zwei solche Ungeheuer, jede fünfhundertundvierzig Centner schwer und im Werthe von beinahe vierzehntausend Thalern, sind für die russische Regierung verfertigt worden. Es sind Hinterlader, werfen mit fünfzig Pfund Pulver eine Kugel von fünfhundertundvierzig Pfund und sind zur Vertheidigung von Kronstadt bestimmt. Ein noch größeres Ungeheuer von fünfzehn Zoll Kaliber, ebenfalls für die russische Regierung bestimmt und Kugeln von neunhundert Pfund werfend, wird zunächst auf der großen Pariser Ausstellung prangen.

Eine Hauptrolle in der Krupp’schen Anstalt spielen die Dampf-Eisenhämmer von der Schwere eines Centners bis zu tausend Centnern. Der größte dieser Art hat einen Fall von zehn Fuß und kostet gegen siebenmalhunderttausend Thaler, wovon zwei Drittel allein für den Bau der Unterlage oder des Bettes verwendet wurden, welches denn auch so fest gerathen ist, daß, obgleich er schon fünf Jahre lang Tag und Nacht gedonnert und die Erde ringsum erschüttert hat, bis jetzt kaum eine Senkung zu bemerken ist. Man sollte glauben, daß nichts der Gewalt dieser Schläge widerstehen könnte, aber die großen Massen rothglühenden Stahls, die er oft zurecht zu schmieden hat, ertragen diese Schläge mit so viel Widerstandskraft, daß sie nur durch lange Wiederholung nach immer erneuerter Glühung sich etwas fügen und schicken lernen. Deshalb hat sich Herr Krupp auch bereits entschlossen, eine dreifach größere Gewalt gegen seinen störrischen Stahl anzuwenden und einen Hammer von zweitausendvierhundert Centnern mit einem Falle von dreizehn Fuß zu schmieden. Die Kosten dafür sind auf mehr als 1,300,000 Thaler berechnet worden.

Bisher waren Stahlkanonen die Hauptwunderwerke der Krupp’schen Anstalt; neuerdings fabricirt er aber auch viele Kugeln und Bomben dazu, zunächst für die russische Regierung, welcher er viele Tausende von länglichen, Acht- und Neun-Zoll-Kaliber-Bomben, alle von dem feinsten Stahl, geliefert hat. Die kleinere Art davon enthält acht Pfund Pulver und ist im Stande, vierundeinenhalben Zoll dicke Eisenplatten zu zerschmettern, ohne selbst beschädigt zu werden; aber jede dieser Pillen kostet mehr als hundert Thaler, da sie alle gehämmert und geschmiedet sind. Aehnliche, etwas kleinere Bomben sind für die italienische Regierung bestimmt und zum Theil schon geliefert worden.

Auch die Engländer, die seit Jahren mit den ungeheuersten Mitteln in dieser Sphäre arbeiten und probiren, leisten in gewaltigen Zerstörungswerkzeugen Bedeutendes, wie neuerdings die Schießübungen auf der berühmten Land- und Sandzunge von Shoeburyneß an der Mündung der Themse bewiesen haben sollen. Hier haben sie seit Jahren eine Art Concurrenzkrieg zwischen Bomben und künstlichen Schiffseisenwänden geführt und erstere immer größer und zerstörender, letztere immer dicker und undurchdringlicher gemacht, bis diese endlich eine Stärke erreichten, die nicht mehr vergrößert werden kann, wenn überhaupt die betreffenden Schiffe noch schwimmen sollen. Aber die Whitworth-Kanonen und deren Bomben schlugen schließlich durch die dicksten, sehr dick gefütterten Eisenplatten hindurch. Den größten Triumph feierten zuletzt die Bomben des Major Palliser von gekühltem Eisen, d. h. solchem, welches in Rothglühhitze schnell und auf einige Augenblicke in’s Wasser geworfen ward. Sie schlugen sofort durch die allerdicksten Eisenplatten hindurch und barsten erst hinterher, was bei sämmtlichen früher versuchten Bomben nur ausnahmsweise der Fall war. Eine Hauptsache dabei ist noch, daß sie selbst viel billiger sind, als alle früher versuchten Bomben, und viel weniger Pulver erfordern. Da nun die Dicke und Stärke der Schiffswände nicht mehr vergrößert werden und diese den Palliser’schen Bomben nicht mehr widerstehen können, haben die Engländer wieder etwas Ruhe bekommen und hoffen, daß sie in einem nächsten Seekriege ihre alte Ueberlegenheit behaupten werden. Was inzwischen aus der Krupp’schen Werkstatt und aus dem immer noch erfinderischen Kopfe des Zündnadelgewehr-Helden in Sömmerda hervorgehen wird, das kann man freilich nicht wissen. Jedenfalls dürfte England noch lange Zeit brauchen, ehe es den Einen und den Anderen erreicht.

Zwischen den beiden Halbgöttern der militärischen Production, Krupp und Dreyse, scheint eine Art Gegensatz zu bestehen, da Letzterer darauf hin arbeitet, es nicht nur der Infanterie, sondern auch der Artillerie im massenhaften Zerstörungswerke immer leichter zu machen, während Ersterer darauf hinarbeitet, Kanonen und Kugeln zu furchtbarer Größe anzuschwellen. Sie Beide arbeiten auch nach geschlossenem Frieden mit ungeschwächten Dampf- und Menschenkräften an immer größerer Vervollkommnung und Vermehrung der furchtbarsten Zerstörungsinstrumente des Krieges und haben in der ganzen civilisirten Welt alle Collegen, alle Großmächte zu der fieberhaftesten Thätigkeit und Production angefeuert, so daß wir leider noch auf keinen dauernden Frieden rechnen können, wohl aber befürchten müssen, daß der nächste Krieg alle andern an Furchtbarkeit und großartiger Zerstörungskraft übertreffen werde. Der einzige Trost ist auch hier wieder, daß die Herren über Krieg und Frieden im Bewußtsein dieses Entsetzens mehr als bisher ihre Kräfte aufbieten werden, dem Frieden Opfer zu bringen, statt die Blüthe ihrer Landeskinder und die heiteren Werke der Cultur dem Schlachtengotte preiszugeben.




Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Schluß.)


In das kleine Gewölbe, das Paul Jochus jetzt betrat und das dicht an den Burghof stieß, fiel allerdings die Sonne noch nicht herein, denn die einzige dort eingebrochene Thür lag nach der Nordseite, es war jedoch hell genug darin, um sich umsehen zu können, und er athmete hoch auf, als er keinen Menschen hier erblickte; war es doch fast, als ob er erwartet hätte, hier Jemanden zu finden. Plötzlich aber stieß er einen lauten Angstschrei aus, denn in dem Moment sprangen zwei dunkelgekleidete Gestalten durch die schmale Thür und warfen sich auf ihn. Jeder Flucht- und Widerstandsversuch war unmöglich, weil den Zweien noch Andere folgten. Soldaten sah er ebenfalls mit ihren blitzenden Helmen und Gewehren. Im Nu hatten sie seine Arme gefaßt und ihn an weiterer Flucht verhindert.

„Was wollt Ihr?“ schrie er absichtlich laut, „was habt Ihr vor? Seid Ihr Räuber und Mörder?“

Das Klopfen hatte unten aufgehört, aber immer mehr Menschen drängten in den engen Raum.

„Laternen her!“ rief der Assessor Schüler, der das Ganze leitete, „hier ist der Eingang zu dem Versteck. Klettere einmal Einer mit einer Laterne voran. Ihr Uebrigen breitet Euch oben aus; ich brauche nur vier Mann mit mir, wir wissen nicht, ob der Bau nicht noch eine Nothröhre hat, durch welche die Schufte vielleicht ausfahren könnten. Vorwärts! Ihr kennt Eure Ordre.“

Paul Jochus war ein baumstarker Mann, und in gewöhnlicher Zeit würden vielleicht vier Leute kaum hinreichend gewesen sein, ihn zu überwältigen und zu halten, jetzt konnte ihn fast ein [822] Kind niederwerfen. Er war wie gebrochen, und ließ Alles mit sich geschehen, sträubte sich auch nicht im Geringsten, als man ihm die Hände auf dem Rücken zusammenschnürte und so jeden Fluchtversuch abschnitt.

Da fielen draußen am Hügelhang rasch hintereinander zwei Schüsse, dann war Alles still und nicht einmal die in das Gewölbe Gestiegenen kehrten zurück.


Assessor Schüler kannte das alte Nest, in dem er sich schon als Knabe herumgetummelt, ziemlich genau. Er wußte auch, daß es unterwölbt sei, und war schon als Kind, wo man den Platz noch häufiger besuchte, überall darin umhergekrochen. Lagen auch lange Jahre dazwischen, so erinnerte er sich doch des Terrains noch deutlich genug und traf danach seine Vorsichtsmaßregeln. Es schien ihm nämlich nicht unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, wenn sie sich wirklich dort oben sollten eingenistet haben, auch schlau genug gewesen wären, irgend einen ihnen durch die verschiedenen Gänge gebotenen Vortheil zu benutzen; wohin diese auszweigten, wußte er freilich nicht.

Er begnügte sich indeß auch nicht damit, bloß die Burg selber geräuschlos zu ersteigen und zu besetzen, sondern er ließ den ganzen oberen Hügel, auf welchem sie stand, richtig bestellen, wie bei einer Treibjagd, so daß Soldaten mit scharfgeladenen Gewehren immer etwa vierzig Schritt von einander an kleine Lichtungen oder Pfade postirt und einander noch in Sicht waren. Erst als er sich in dieser Hinsicht so viel wie möglich gesichert wußte, folgte er selber den vorangeschickten Polizeidienern und erhielt von diesen schon an der steinernen Treppe die Meldung, daß man einen kellerartigen Eingang, der nach unten führe, entdeckt habe und dort unten ein dumpfes Klopfen hören könne.

Nachdem man sich nun rasch überzeugt hatte, daß dies wirklich der einzige sichtbare Weg sei, der oben von der Burg aus in das Innere führe, wurde derselbe besetzt und der Assessor machte sich gerade selber bereit hinabzusteigen, als sie den Wirth langsam heraufkommen hörten. Seine Gefangennahme erfolgte dann, wie vorher beschrieben, und Assessor Schüler säumte nun keinen Augenblick, um das Nest da unten selbst auszustöbern.

Das hämmernde Geräusch hatte gleich nach dem ersten Angstschrei des Gefangenen aufgehört. Todtenstille herrschte und die matt brennenden Laternen warfen ein unheimliches Licht auf den schmalen, düsteren Gang, aber unaufhaltsam und so rasch es der schlüpfrige Boden erlaubte, drangen sie vor, als sie sich plötzlich an einem Loch sahen, in das weder Leiter noch Treppe hinabführte und dessen Tiefe sie auch in der Dunkelheit nicht erkennen konnten. Die Leute wußten sich aber zu helfen, denn daß sie auf dem richtigen Pfad seien, bewiesen die dem weichen Boden hier eingedrückten vielen Fußspuren. Einer der Polizeidiener knüpfte rasch ein mitgenommenes Seil an die Laterne und ließ sie in das Loch hinab, wonach sich dann bald herausstellte, daß es kaum zehn Fuß tief sei und unten weichen Boden habe. Wahrscheinlich hatte hier eine Leiter gelehnt, die bei dem ersten Alarm von den unten Befindlichen weggezogen worden, um den Verfolgern den Weg abzuschneiden.

Da hörten sie draußen die Schüsse.

„Ob ich’s mir nicht gedacht habe,“ brummte der Assessor. „Vorwärts, Leute, wir müssen hinunter. Wer springt dort zuerst hinab?“

Einer der jüngsten Polizeidiener ließ sich nicht lange bitten, denn auch sein Geschäft war Jagd und was thut ein Jäger nicht, um dem verfolgten Wilde beizukommen? Er hob sich die Laterne ein wenig aus dem Weg und war mit Einem Satz unten.

„Geh’ ein kleines Stück vor, ob Du keine Leiter findest.“

„Hier liegt sie schon!“ rief der Mann, der mit der aufgenommenen Laterne nach vorn geleuchtet hatte.

„Her damit! Bravo, mein Bursch, das war gut gemacht, und nun hinunter mit Euch, Ihr Leute!“

Rasch ging es immer nicht, denn es war nachtdunkel dort unten, aber sie schienen hier auch den tiefsten Platz des Gewölbes erreicht zu haben. Ein schmaler Gang bog links ab und wenige Schritte weiter fanden sie sich in dem Gewölbe, das Paul Jochus vor noch nicht langer Zeit verlassen hatte und wo seine beiden Helfershelfer zurückgeblieben waren. Von diesen ließ sich jedoch nirgend mehr eine Spur erkennen.

Die halb zugeworfene Grube fanden sie, mit dem Werkzeug noch daneben, doch kein menschliches Wesen, und erst als Assessor Schüler selber die Laterne nahm und an den Wänden rings herumleuchtete, entdeckte er eine kleine Oeffnung, durch welche eben gebückt ein Mann kriechen konnte. Dort waren sie jedenfalls hinaus; ohne weiteres Zögern folgte er nach.

Die rings um den Hügel postirten Soldaten hatten indessen ihre Plätze mit dem Gefühl eines Jägers behauptet, der mitten im Wald angestellt ist, ohne zu wissen, von welcher Seite das Treiben kommt. Sie drehten, das Gewehr in Anschlag, den Kopf bald nach der, bald nach jener Seite und fuhren fast erschreckt zusammen, wenn ein Eichhörnchen von Zweig zu Zweig sprang oder eine Maus im Laub raschelte, ja begriffen zuletzt nicht recht, was sie hier draußen eigentlich sollten, denn befanden sich die Verbrecher wirklich in der Ruine und wußten sie einen geheimen Weg zur Flucht, so würden sie doch nie in dieses Dickicht hineingekrochen sein. Allerdings kam es ihnen so vor, als ob sie irgendwo ein dumpfes Klopfen hörten, aber woher das tönte, ließ sich nicht bestimmen, und es konnte ebensogut von irgend einem Holzfäller herrühren, der weit im Walde drin an einem Baum hackte. Bald schwieg auch das und Todtenstille lag im Wald.

Der eine Soldat, ein Jägerbursch aus dem Spessart, stand etwa zehn Schritt über einer schmalen Felsplatte, wo er eine kleine, mit Heidelbeerbüschen überwachsene Lichtung unter sich hatte. Da, horch! was war das? Ein Fuchs, der vielleicht hier seinen Bau hatte und den schönen Morgen zu einem Spaziergange benutzen wollte? Unbewußt fast machte er sich schußfertig. Da wurde Moos bei Seite geworfen, das konnte ja doch kein Fuchs sein. Das Herz schlug ihm wie ein Schmiedehammer in der Brust. Jetzt arbeitete sich eine dunkle Gestalt unter dem Felsen vor – das war ein Mensch und mit zwei Sätzen stand der Jäger unten auf der Platte.

„Halt oder ich schieße!“ schrie er und suchte sich festzustellen, allein der Flüchtige hielt nicht. Im Nu hatte er den freien Boden erreicht und wie ein flüchtiger Hirsch setzte er mitten in das Dickicht hinein. Er war aber an den richtigen Mann gekommen, denn der gelernte Jäger brauchte nicht lange, um wieder einen festen Stand zu bekommen, und ehe der Fliehende das schützende Dickicht erreichen konnte, fiel sein Schuß, bei dem der Getroffene in den Busch hineinschlug. Fast zugleich feuerte auch der ihm nächststehende Soldat, durch den Ruf aufmerksam, nach der Gestalt, die er ebenfalls durch die Büsche erkennen konnte, und von allen Seiten flogen die dort postirten Soldaten jetzt herbei, um Theil an der Verfolgung zu nehmen. Sie hatten aber leichte Arbeit, denn während zwei hinuntersprangen, um den Verwundeten aufzunehmen, bewegte sich das überhängende Moos und Gestrüpp noch einmal und ein bleiches, zitterndes Menschenbild kam daraus vorgekrochen, das nicht mehr den geringsten Widerstand leistete.

Es war Franz. Hinter sich die Verfolger, der Vater gefangen, der Freund erschossen, der Platz von Soldaten umstellt, auf den sie ihre letzte Hoffnung gesetzt, was hätte da noch ein verzweifelter Fluchtversuch genützt? Er war verloren und ergab sich, vollständig gebrochen, in sein Schicksal.


Der Verlauf des Processes nahm das allgemeine Interesse des Publicums in Anspruch, die Beweise waren jedoch zu klar, als daß auch nur einer der Gefangenen hätte wagen dürfen, zu leugnen. Nicht allein der ganze Vorrath gefälschter Noten war aufgefunden worden, sondern auch die Presse, die zu der Arbeit gedient. Das Urtheil für Paul Jochus und seinen Sohn lautete auf acht Jahre Zuchthaus.

Anders war es mit Brendel, der einen Kugelschuß in den Schenkel bekommen hatte und wochenlang lag, ehe er transportirt werden konnte. Man erkannte in ihm während der Untersuchung einen schwereren, lang verfolgten Verbrecher, der einst in der unmittelbaren Nähe von Berlin einen frechen Raubmord verübt, und auf Requisition des dortigen Gerichts wurde er dahin abgeliefert.

Einer der Inhaftirten aber entzog sich der Strafe. Am fünften Tag der Untersuchung fand man Paul Jochus in seinem Gefängniß erhängt. Er hatte sich mit seinem Taschentuch an dem eisernen Gitter seines etwas hochgelegenen Fensters erdrosselt.

Das Weinhaus zum Burgverließ war mittlerweile von den Gerichten in Beschlag genommen worden und Rosel zu ihrem Pathen, dem alten Registrator, gezogen.

Dorthin kam Bruno von der Haide, um sie aufzusuchen. Das [823] Verbrechen des Vaters hatte die Liebe zu dem Mädchen nicht ertödten können, ja sie wuchs mit dem Unglück, das sie betroffen, aber er sah sie nicht wieder. Zweimal war er dort und zweimal ließ sie ihm sagen, daß sie ihn nicht sprechen könne. Als er zum dritten Mal kam, fand er einen Brief von ihr vor, in dem sie mit herzlichen Worten den letzten Abschied von ihm nahm.

Sie hatte sich in die Gesellschaft der Barmherzigen Schwestern aufnehmen lassen und war nach Lima in Peru gegangen.




Blätter und Blüthen.


Ferdinand Raimund und der Censor. Raimund hatte eines seiner ersten dramatischen Volksmärchen für die Leopoldstädter Bühne geschrieben und es der Wiener Theatercensur unterbreitet. Wenn auch reich mit rothen Krähenfüßen illustrirt, wurde ihm das Manuscript dennoch mit dem Imprimatur der Ober-Polizei- und Censurbehörde zurückgestellt. Auf ein paar Zeilen jedoch hatte diese unfehlbare Großinquisition ein Condemnatur geschleudert, über welches der Dichter Müllner’s Warum heraussprudelte, das bekanntlich erst offenbar wird, wenn die Todten auferstehen.

In dem hochtrabenden Verse: „Mein Gott, laß nicht den Teufel triumphiren!“ hatte man den alten deutschen „Teufel“ dick durchstrichen, und durch den speciell österreichischenTeuxel“ ersetzt. In einer andern Scene waren mit unverkennbarem Ingrimm die Worte gestrichen: „Komm’ in mein Cabinet, mein Kind, ich habe unter vier Augen mit Dir zu sprechen.“ Diese Aufforderung, die in dem Märchen ein Vater an seine Tochter richtet, war in einem Meer von rother Tinte ertränkt.

Raimund starrte wie ein Blödsinniger aus die gestrichenen Stellen. Wie gesagt, er konnte es nicht begreifen, warum man aus seinem Teufel einen Teuxel gemacht und nicht dulden wollte, daß der Vater mit seiner Tochter ein Wörtchen unter vier Augen spricht. Schnell entschlossen, steckte er sein gemaßregeltes Manuscript in die Tasche und eilte der Ballgasse zu, um sich dort in dem alten Dunkel der Jahrhunderte Aufklärung zu erbitten. Als er in das Bureau des Censors trat, saß dieser an seinem Schreibtisch nahe am Fenster und den Rücken der Thür zugewandt. Raimund hielt sich in bescheidener Ferne. Nach ein paar Minuten scharrte er ganz leise mit den Füßen, um sich bemerkbar zu machen, dann räusperte er sich ein wenig, endlich fing er tollkühn und verwegen zu husten an.

„Herr Raimund?“ frug der Gewaltige, mit dem Griffel in der Hand die Gedanken wie die Fliegen tödtend und ohne das edle Haupt zu wenden.

„Ergebenst aufzuwarten, Herr Hofrath.“

„Wünschen?“

„Eine gütige Belehrung,“ antwortete schüchtern der Gefragte, indem er sich mit dem Manuscript in der Hand dem Bayard vom Griffel schüchtern näherte. „In diesen rein deutschen Jamben haben Sie mir meinen Teufel gegen einen Teuxel vertauscht. Ich bin zwar dankbar für Alles, denn alles Gute kommt von oben, aber ich fürchte, das Publicum wird mich und die tragische Liebhaberin verhöhnen, wenn sie mit Pathos declamirt: ‚Mein Gott, laß nicht den Teuxel triumphiren!‘“

„Sind Sie Katholik?“ frug der Censor abermals, aber die Stirn runzelnd und mit inquisitorischer Würde.

„Allerdings, und ein sehr guter Katholik.“

„Nun; als guter Katholik sollten Sie wissen, daß es ein Frevel ist, den Namen des Teufels auf der Bühne auszusprechen.“

„Aber den Namen Gottes auszusprechen, ist kein Frevel?“

„Nein, denn Gott darf man überall anrufen, selbst auf der Bühne. „Wenn Ihnen der ‚Teuxel‘ in Ihren Kram nicht paßt, so machen Sie einen Mephisto oder Vitzliputzli aus ihm.“

„O, das wird hübsch werden, wenn meine tragische Liebhaberin in höchster Aufregung ruft: ‚Mein Gott, laß nicht den Vitzliputzli triumphiren!‘“

„In der That, das klingt gar nicht übel!“

„Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt, Herr Hofrath. Nun meinetwegen, den Teuxel soll der Teufel holen, aber für die paar harmlosen Worte hier im zweiten Acte bitt’ ich um gnädigen Pardon.“

„Lesen Sie.“

„‚Komm’ in mein Cabinet, mein Kind, ich habe unter vier Augen mit Dir zu sprechen.‘“

Der Censor erhob sich in seiner ganzen Majestät, kreuzte die Arme über die Brust und richtete durchbohrende Blicke auf den Dichter.

„Herr,“ donnerte er, „die Bühne soll eine Schule der Sitten sein, und Sie werden nicht schamroth, dem Schauspieler dergleichen Zoten in den Mund zu legen?“

„Zoten? Der Herr Hofrath scheinen mich nicht verstanden zu haben. ‚Komm’ in mein Cabinet, mein Kind, ich habe unter vier Augen mit Dir zu sprechen,‘“ wiederholte Raimund ganz verblüfft.

„O, ich habe Sie nur zu gut verstanden, das muß Ihnen meine Entrüstung sagen.“

„Aber du lieber Himmel, Herr Hofrath, es ist ja der Vater, der mit seiner Tochter unter vier Augen sprechen will.“

„Vater? Tochter? Herr, stellen Sie sich so einfältig, oder halten Sie mich für einen Einfaltspinsel? Wenn Vater und Tochter die Rollen mit einander spielten, hätte ich die Rede ohne Anstand passiren lassen, aber der Schauspieler ist nicht der Vater der Schauspielerin, mit der er spielt, sie stehen nur in collegialer Verbindung, darum ist die Rede nichts als eine grobe Zote, die ich nicht dulden darf. Gott befohlen!“

Der arme Raimund schlich davon und murmelte: „Es giebt Dinge unter der Kappe eines Censors, von denen sich unsere Philosophie nichts träumen läßt!“




Die Zauber- und Cigarrenrauch-Photographien. Eine einfache Cigarrenspitze, welche an einer Seite einen ovalen, anscheinend blos mit weißem glänzenden Papier überklebten Ausschnitt zeigt, – das ist die neueste Erscheinung der jetzt Mode gewordenen chemischen Spielereien. Man steckt eine Cigarre hinein, entzündet sie und nach wenigen Zügen schon beginnt auf dem Papierblättchen ein photographisches Bild sich zu entwickeln. Dem Laien tritt nun die Erklärung in folgender Weise entgegen: Während bei der gewöhnlichen Photographie das Licht, bei der „Zauberphotographie“ die Feuchtigkeit, also das Wasser, so muß hier der Rauch oder die Wärme als Factor der Erscheinung angesehen werden. Im Allgemeinen ist dies richtig, obwohl die wissenschaftliche Erklärung in Hinsicht der beiden letzteren noch andere Details herausstellt. Bei der „Zauber“-, ebenso wie bei der Cigarrenrauch- oder „Wunderphotographie“ ist das Bild bereits vollständig vorhanden und nur durch ein Bad von Quecksilberchlorid latent, d. h. unsichtbar, gemacht worden. Das die Zauberphotographie bedeckende Löschpapier enthält aber das eigentliche Reagens; es wurde nämlich mit einer Auflösung von unterschwefligsaurem Natron getränkt und dann getrocknet, und dies Salz ist es, welches, allerdings nur mit Hülfe der Feuchtigkeit, an Stelle der farblosen Verbindungen von Chlorsilber und Quecksilberchlorür, die braunen und schwärzlichen von Schwefelsilber und Schwefelquecksilber erzeugt und dadurch das Bild sichtbar werden läßt. Während die kleine Photographie auf der Cigarrenspitze zwar auch bereits durch die Erwärmung an sich erscheint, so ist ihr eigentlicher Erzeuger doch erst das im Cigarrenrauche enthaltene Ammoniak, welches in dem latenten Bilde hier ähnliche sichtbare Verbindungen hervorbringt, wie dort das unterschwefligsaure Natron.

Jedenfalls werden einige kurze Mittheilungen über das „Geschäft“ mit diesen beiden Photographien nicht uninteressant erscheinen, um so mehr, da sie im Wesentlichen für die sämmtlichen in jüngster Zeit urplötzlich aufgetauchten und dann meistens ebenso schnell wieder verschwundenen chemischen Spielereien gelten können. Nachdem der Erfinder beider Photographien, Wilhelm Grüne in Berlin, das Verfahren der von ihm anfangs „sympathetische“ genannten Zauberphotographie durch Veröffentlichung zum Allgemeingut gemacht, warf sich augenblicklich der Schwindel mit ungeheurem Eifer darauf. Es ist jedenfalls höchst merkwürdig zu beobachten, welche außerordentliche Regsamkeit der Industrie selbst ein so winziger, anscheinend werthloser Artikel hervorzubringen vermag – und dies zeigte sich hier in staunenswerther Weise. Obschon für das Geschäft von Ed. Grüne, Bruder des Erfinders, drei der größten Anstalten für photographische Reproduction in Berlin zwischen zwanzig- bis sechszigtausend Bilder lieferten, so ward dadurch der Bedarf doch nur zum kleinsten Theile gedeckt und die ehrenhafte wie schwindlerische Concurrenz fand ebenfalls einen so bedeutenden Aufschwung, daß man wohl behaupten darf, im Ganzen werden in Berlin viele Millionen von Zauberphotographien producirt.

Gleich den Streichhölzchen, von denen man unmöglich jedes einzelne probiren kann, war auch die Zauberphotographie ein unendlich ergiebiger Gegenstand für den Schwindel. Daß unter einem halben Dutzend Couverts mindestens zwei bis drei gar keine Zauberphotographien enthielten, war das Geringste; in andern befanden sich unsichtbar gemachte Stücke von verdorbenen großen Photographien oder die schlechtesten, nicht mehr verkäuflichen Visitenkarten etc. Ein industrieller Unternehmer hatte einfach seine schlechtesten, verdorbenen Visitenkarten mit Löschpapier überklebt, durch welches beim Befeuchten dann die Bilder allerdings zum Vorschein kamen, ohne hervor“gezaubert“ zu sein. Andere boten, namentlich in Provinzialstädten, das längst veröffentlichte Verfahren noch als Geheimniß für fünf, drei, zwei, selbst einen Thaler aus und haben jedenfalls noch ihr Geschäft dabei gemacht. Möchte diese Warnung in der weitverbreiteten „Gartenlaube“ auch für viele ähnliche Fälle beherzigt werden!

Mit den Cigarrendampf-Photographien suchte der Erfinder sich besser zu sichern. Da Preußen für dergleichen originelle Erfindungen keinen gesetzlichen Schutz bietet, so nahm er rechtzeitig in England, Frankreich und Oesterreich Patente darauf, ließ die Spitzen in größter Heimlichkeit buchstäblich zu Millionen arbeiten und schickte sie zum größten Theile in jene Länder so daß diese deutsche Erfindung als „porte-cigarre photofumique“ in Paris bereits mehrere Wochen früher als bei uns bekannt geworden ist. Den Hauptvortheil bei uns hat ihm sofort wieder die Concurrenz fortgeschnappt; die Käufer mögen sich daher wohl vorsehen.

Karl Ruß.




Trenck’s Trinkbecher. In der „Gartenlaube“ vom Jahre 1865, Nr. 1, S. 6 bis 7 ward zuerst ausführliche Nachricht gegeben über die Gefängnißbibel des Freiherrn Friedrich von der Trenck, die sich zu jener Zeit in dem Besitze des Buchhändlers und Autographensammlers O. A. Schulz in Leipzig befand. Der Verfasser des beregten Artikels sprach damals den Wunsch aus, daß diese merkwürdige Bibel, worin Trenck außer vielen anderen interessanten Mittheilungen mit seinem Blute seine eigene traurige Leidensgeschichte im Kerker niederschrieb, einmal in eine große Bibliothek, oder eine Sammlung historischer Merkwürdigkeiten übergehen möchte; dieser Wunsch hat Erfüllung gefunden. Der König Johann von Sachsen brachte, in Folge des oben erwähnten Aufsatzes in der Gartenlaube, die genannte Bibel käuflich an sich. Außer diesem ehrwürdigen Buche kam aber nachmals auch ein zinnerner Becher, den Trenck in seiner grausamen Gefangenschaft benutzte, in den Besitz des Königs.

Auch diesen Becher gebrauchte Trenck, um mit einem fein zugespitzten [824] Bretnagel eine Menge Verse, nebst dazu gehörigen Bildern, so zierlich und kunstvoll darauf einzugraviren, daß dieselben, theilweise nur durch das Mikroskop zu entziffern sind. Noch andere Becher sollen sich in Berlin, sowie in Wien, einer auch in der Gegend von Merseburg befinden; und außerdem trifft man in den Trenck’schen Gedichtsammlungen aus den Jahren 1767, 1786 und 1789 auf eine große Anzahl von Becherversen, die wahrscheinlich wieder anderen dergleichen Bechern angehört haben. In den Versen des einen Bechers finden sich Anklänge an die Verse eines anderen Bechers, oder es wiederholen sich auch einzelne Verse mit fast übereinstimmendem Wortlaute auf verschiedenen Bechern. Die folgenden Verse stehen unter anderen auf dem vom Könige Johann von Sachsen erworbenen Zinnbecher; sie lauten wortgetreu also:

„Mein Leser! wann Du mich auf diesem Becher siehst!
Frey, Edel, Menschlich denkst und Vorurtheile fliehst?
So wirst Du Stof für mich und Dich zum Denken finden.
Dann hilff dem Armen Trenck, Verläumder überwinden!
Ach forsche was mich drückt! Sprich, wo ich seufzend schweige!
Und reiche mir die Hand, eh’ ich zum Grabe steige!“

Eine genaue Beschreibung dieses Bechers giebt J. Petzholdt in einer kleinen Broschüre, welche vor Kurzem bei G. Schönfeld in Dresden unter dem Titel „Fr. v. d. Trenck’s Erzählung seiner Fluchtversuche aus Magdeburg“ erschienen ist. Wir erlauben uns nun, den Lesern der „Gartenlaube“ einige weitere Proben der auf dem Becher befindlichen Verse nebst den dazu gehörigen Bildern zu geben:

Eines der Bilder stellt Trenck in Ketten dar: vor ihm steht die Göttin der Vernunft mit einem Lichte.

Die dazu gehörigen Verse lauten wörtlich also: „Hier in meiner Trauer Höhlen, hält mir die Vernunft das Licht und mit Vorwurffs freyer Seelen, fehlt es mir an Großmud nicht. Will sogar kein Petrus sagen, daß er Gott im Leiden kennt; wie kann ich als Mensch denn klagen, wen ein Freund sich von mir trennt? wenn Verläumdung zaumfrey wütet: wenn der Trieb zur Welt mich nagt: wenn Cupido Schwermut brütet, bleibt mein Herz doch unverzagt. und weil das mich nicht verdammet, wird die Zeit mein Richter sein. Urtheil, das vom Pöbel stammet, macht mich weder schwarz noch rein, Unglück ist ja kein Verbrechen: Strafe schimpfft nicht, nein die That. Nur die kluge Welt soll sprechen, was der Trenck verdienet hat. Mancher trägt der Sklaven Last, der da sollte Ordens tragen: und den Kerker sollten plagen, der wohnt glücklich im Pallast. Wer in Fesseln edel denket, und im Unglück lachen kan, bleibt, wird gleich sein Recht gekränket, in sich selbst ein großer Mann.“ –

In dem Bilde zu den vorstehenden Versen, scheint Trenck seine Leidensgeschichte symbolisch dargestellt zu haben. Nimmt man es jedoch als symbolische Darstellung, so würde die weibliche Figur ohne Zweifel als die Prinzessin Amalie von Preußen zu denken sein, welche ihr Bruder Friedrich der Zweite durchaus mit einem mecklenburgischen Fürsten, dessen Wappen auf dem Bilde mit zu sehen ist, zu verheirathen gewünscht haben soll. –

Auf die Verse: „Ein faulles Pferd wird fett, und achtet nicht der Knüttel. Ein Mensch der sklavisch denkt, verdient den Sklaven Kittel. und meistens wohnet doch der Faulle im Pallast: schlägt den der fleißig ist, vermehrt der Sklaven Last. und ist ein asinus mit Excellenzen tittel,“ folgt ein Bild, welches eine Erntescene darstellt: ein beladener Wagen fährt über eine Schildkröte. Hierzu gehören folgende Verse: „Vor Gewalt hilfft kein Schild: Dieses lehrt der Schildkröt Bild. ihre Schale kann viel tragen, aber nicht beladne Wagen. Mensch wer du auch immer bist! glaub daß niemand sicher ist! denn wann wir am meisten prahlen, so zerbrechen unsre Schalen. Wann uns Glück und Klugheit deckt, hat der Neid den Zahn gebleckt. und wer wierd vor seinen Bissen, Schilde zu erfinden wissen!“

Solcher Bilder mit erklärenden Versen hat unser Trenck’scher Becher vierzehn.

Wie uns Herr Petzholdt berichtet, besitzt Herr Buchhändler O. A Schulz noch eine zweite Trenck’sche Gefängnißbibel, die der unglückliche Gefangene ebenfalls zu Aufzeichnungen mit seinem eigenen Blute benutzte. Trenck begleitete die in dieser Bibel enthaltenen Mittheilungen mit einem von ihm selbst verfaßten Register; wir machen hier nur auf folgende Stücke aufmerksam: 1. „Französischer Brief an Ihro Königliche Hoheit die Prinzessin Amalia“; 2. „Französ. Brief an Ihro Majestät den König“; 3. „Lateinische Anrede an den Leser“; 4. „Der gefangene Damon an Doris“; 5. „Neujahrswunsch an Ihro königl. Hoheit die Prinzessin Amalie“; 6. „Satyrische Erzählung von dem Geschick der Frau Justitia“ etc. Für diese Bibel fordert der gegenwärtige Besitzer vierhundert Thaler.

Das grausame Geschick Trenck’s erhält noch immer in den weitesten Kreisen die Sympathien für ihn wach, und sein Tod durch die Guillotine giebt seinem vielbewegten Leben ein tragisches Ende.
R. D.




„Die Schweden kommen!“ (Zu der Illustration Seite 817.) Vor einigen Wochen schon haben wir Veranlassung genommen, unseren Lesern eine neue literarisch-artistische Erscheinung, das „Album deutscher Kunst und Dichtung, herausgegeben von Friedrich Bodenstedt“, zu empfehlen; wir kommen heute noch einmal auf das Prachtwerk zurück, um noch eine dritte seiner Illustrationen in weiteren Kreisen bekannt zu machen. Es ist ein Blatt von Adolph Menzel, dem rühmlichst genannten Berliner Historienmaler, welcher sich die Darstellung der großen Momente und Gestalten aus der preußischen Geschichte zur Lebensaufgabe gestellt und insbesondere den zweiten Friedrich und seine Generale dem Publicum in einer Anzahl von lebensvollen und charakteristischen Zeichnungen und Gemälden vorgeführt hat. Vorwurf und Scene unsers Bildes, auch eine Episode aus der preußischen Geschichte, das Anrücken der Schweden vor der Schlacht von Fehrbellin, kennzeichnen am besten die nachstehenden Verse aus dem Gedichte Julius Rodenberg’s, welches das Kunstblatt begleitet:

„Die Schweden kommen!“ All’ im Schloß hat dieser Schreckensruf
Geweckt; schon zu vernehmen meint man ihrer Rosse Huf.
„Flink, flink an’s Werk! mit Hab’ und Gut, bergt, was ihr bergen könnt –
Ja, lieber in den Brunnen, als daß ich’s dem Schweden gönnt’!“
Da schleppt die Magd, da schleppt der Knecht, da fügt sich Hand an Hand,
Da räumt man Kist’ und Kasten aus, da leert man Tisch und Wand;
Da rückt man hin, da rückt man her, da geht’s treppauf, treppab,
Da bringt man Stroh, da schaufelt man, als grübe man ein Grab,
Und wo die Treppe nicht mehr reicht, da setzt man Leitern an,
Hinunter in den Keller tief, so tief man immer kann;
Denn sicher vor dem Schweden ist ja nichts – – – –




Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der vierzehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (fünfzehnten) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.




Es gereicht uns zu freudiger Genugthuung anzeigen zu können, daß mit der nächsten Nummer, welche den fünfzehnten Jahrgang unserer Zeitschrift eröffnet, diese in der sowohl in Deutschland als in England und Frankreich bisher unerhörten Auflage von

mehr als 200,000 Exemplaren

vor die deutsche Leserwelt treten wird, nachdem sie ihren gegenwärtigen Jahrgang heute mit einer Abonnentenzahl von 177,000 vollendet. Diese Ziffer möge für uns sprechen; sie wird bekunden, ob es uns gelungen ist, den Ansprüchen gerecht zu werden, welche das Publicum an ein Blatt wie das unsrige zu stellen berechtigt ist.

Unsere Mitarbeiter sind nach wie vor die altbewährten, darunter viele der ersten Namen aus der deutschen Schriftstellerwelt; es sind u. A. die Herren R. Benedix, Berlepsch, Beta, Bock, Brehm, Brunold, Albert Fränkel, Fr. Gerstäcker, G. Hammer, Paul Heyse, G; Hiltl, Fr. Hofmann, E. Marlitt, A. Meißner, Melchior Meyr, Prof. Richter, Max Ring, Carl Ruß, Joh. Scherr, Levin Schücking, Heman Schmid, Schulze-Delitzsch, Albert Traeger, Temme, Carl Vogt, L. Walesrode, Fr. Wallner, M. M. v. Weber, die Damen M. von Humbracht, E. Polko etc., von deren Beiträgen für das nächste Semester hier nur einige wenige angeführt seien, die zunächst zum Abdruck gelangen werden.

Die Herrin von Dernot. Novelle von Edm. Höfer. – Das Geheimniß der alten Mamsell. Erzählung von E. Marlitt, Verfasser der „Goldelse“. – Rousseau und sein Oberster. Von Levin Schücking. – Die Brautschau. Von Herman Schmid.

Ein Künstlerbesuch beim Alten in Weimar. Von Professor J. C. Lobe. Mit Illustration von E. Döpler. – Rom am Rhein. Ein Zeitbild. – Bilder aus dem Thiergarten. Von Brehm. Die Steppenhunde. Mit Illustration. – Vom alten Pfuel. – Pariser Briefe. Von H. A. Berlepsch. – Glückliche Menschen in Palast und Hütte. Illustrationen nach C. Böttcher in Düsseldorf. – Eine gräfliche Büßerin. Charakterskizze nach dem Leben. Mit Portrait. – Der Dresdener Schanzenwall. Mit Abbildung aus der Vogelschau. – Aus Heinrich Zschokke’s Gemüthswelt. Ungedruckte Briefe vom Verfasser der „Stunden der Andacht“. – Im Malkasten. Skizze aus der Düsseldorfer Künstlerwelt. Mit Illustration von Chr. Sell. – „Die Lucca singt.“ Mit Illustration. – Aus Goethe’s Vaterhaus. Mit vielen Illustrationen. – Im Berliner Telegraphenamt. Von G. Hiltl. – Aus der Pariser Weltausstellung. Berichte und Bilder vom Specialcorrespondenten der Gartenlaube. etc.

Leipzig, im December 1866.
Redaction und Verlagshandlung.




Nicht zu übersehen!


Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrgang 1866 höchst

geschmackvolle Decken
nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)