Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Von den Studienjahren in Breslau

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[121]
V
Von den Studienjahren in Breslau


1.

Am nächsten Tage stand ich vor dem berühmten „schwarzen Brett“. Es waren eine ganze Reihe von Wandtafeln in einem schmalen Gang unserer lieben alten Breslauer Universität. Sie waren bedeckt mit kleinen weißen Zetteln, auf denen die Dozenten Thema, Zeit, Ort und Beginn ihrer Vorlesungen ankündigten. Man mußte das alles genau studieren, denn es kamen manche Abweichungen von dem gedruckten Vorlesungsverzeichnis vor. Hier stellte ich mir meinen Stundenplan zusammen. Es war gut, daß manche von den Kollegs, die ich in Betracht zog, zeitlich zusammenfielen, so daß ich eine Auswahl treffen mußte. Sonst wäre ich wohl auf 40-50 Wochenstunden gekommen. Es blieben auch so immer noch genug: Indogermanisch, Urgermanisch und neu-deutsche Grammatik, Geschichte des deutschen Dramas, Preußische Geschichte im Zeitalter Friedrichs des Großen und Englische Verfassungsgeschichte, ein griechischer Anfängerkursus (ich war immer sehr unzufrieden, daß wir kein humanistisches Mädchengymnasium hatten, und wollte jetzt etwas von dem Versäumten nachholen; außerdem wurden für das Geschichtsstudium auch einige Kenntnisse im Griechischen durch die Prüfungsbestimmungen verlangt); dazu kam das, worauf ich am meisten gespannt war: eine vierstündige Einführung in die Psychologie bei William Stern und ein einstündiges Kolleg über Naturphilosophie bei Richard Hönigswald. Beide nahmen mich auch schon im ersten Semester in ihr Seminar auf. Das Psychologie-Kolleg war das erste, was ich überhaupt hörte. Das mochte ein Vorzeichen sein, denn ich habe mich in den vier Semestern, die ich in Breslau studierte, wohl am meisten mit Psychologie beschäftigt. Sterns Vorlesung war sehr einfach und leichtverständlich gehalten, Ich saß darin wie in einer angenehmen Unterhaltungsstunde und war etwas enttäuscht. Um so mehr mußte man sich bei Hönigswald anstrengen. Sein bohrender Scharfsinn und seine strenge Gedankenführung entzückten mich. Er war ausgesprochener Kritizist und gehört ja heute zu den wenigen, die dieser Richtung noch treu geblieben sind; man mußte sich den Begriffsapparat des Kantianismus zu eigen machen, um ihm folgen zu können. Es hatte für die jungen Leute in seinem Seminar etwas Verführerisches, sich mit diesen scharfgeschliffenen [122] Waffen in dialektischen Kämpfen zu üben. Wer etwas herbeitragen wollte, was nicht auf diesem Boden gewachsen war, wurde von Hönigswald mit seiner überlegenen Dialektik und beißenden Ironie mundtot gemacht, aber schwerlich innerlich überwunden. Ein älterer, sehr selbständiger Student sagte mir einmal: „Es gibt Dinge, die man in Hönigswalds Seminar nicht zu denken wagt. Aber außerhalb kann ich mich ihnen doch nicht verschließen“. Immerhin war es eine ausgezeichnete Schulung im logischen Denken, und das genügte damals für mich, um mich glücklich zu machen. Außerdem waren seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, die ich später hörte, ausgezeichnet in ihrer klaren und scharfen Herausarbeitung des Gedankensystems. Im Vergleich dazu lehnte ich seinen damals berühmten und vielumschwärmten Fachkollegen Eugen Kühnemann mit seinem pathetischen Schwung und seiner für alles bereitstehenden Begeisterung als „Schöngeist“ ab. Übrigens war man außerhalb Breslaus immer erstaunt zu hören, daß er das Ordinariat für Philosophie innehabe. Er war bekannt durch seine Werke über Schiller und Herder, und Uneingeweihte hielten ihn darum für einen Literaturhistoriker. Stern und Hönigswald stand in ihrer akademischen Laufbahn die jüdische Abstammung im Wege. Der Lehrstuhl für Psychologie war in Breslau Extraordinariat, und Hönigswald war noch Privatdozent und blieb es auch noch mehrere Jahre. Er erreichte es später, daß ihm die Psychologie übertragen wurde, als Stern einen Ruf nach Hamburg annahm. Die Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl (München) wurde ihm erst sehr spät zuteil. Er hat darunter augenscheinlich sehr gelitten.

Die „akademische Freiheit“, in die ich eintrat, war ein zweischneidiges Schwert. Es gab damals für uns keinen vorgeschriebenen Studiengang wie z.B. für die Mediziner, die für jedes Semester einen festgelegten Plan haben. Das einzige Bindende für uns waren die staatlichen Bestimmungen über die Prüfung für das höhere Lehramt. Daraus konnten wir ersehen, was am Ende von uns verlangt würde. Ich kaufte mir diese Bestimmungen schon im ersten Semester, angeregt durch eine Studiengefährtin, die von Anfang an sehr zielbewußt auf das Staatsexamen hinarbeitete. Das lag mir an sich fern. Das Staatsexamen wollte ich ja nur „für meine Familie“ machen, mir war es vorläufig nur um die Wissenschaft zu tun. Ich sah aber ein, daß es vernünftig sei, von vornherein bei der Aufstellung des Semesterplans das Notwendige mit zu berücksichtigen. Natürlich durften die Dinge, die mir am Herzen lagen, dadurch nicht zu kurz kommen. Eine für mich erfreuliche Tatsache entnahm ich den Prüfungsbestimmungen: daß „Philosophische Propädeutik“ Prüfungsfach sei. Natürlich beschloß ich sofort, dieses Fach zu wählen. [123] Damit hatte ich ja eine moralische Deckung für mein Lieblingsstudium. Ich behielt anfangs trotzdem die andern Fächer, die ich vorgesehen hatte, alle bei. Nach einigen Semestern sah ich ein, daß 4 Hauptfächer eine zu große Zersplitterung bedeuteten. (Für die Prüfung wurden als Minimum 1-2 verlangt – d.h. ein Fach für die Oberstufe und zwei für die Mittelstufe). Da ich außerdem bemerkte, daß die klassischen Sprachen eigentlich nicht zu trennen waren und daß Latein ohne Griechisch eine halbe Sache sei, entschloß ich mich – nicht ohne Bedauern – das Lateinstudium der Philosophie zu opfern.

Ich trug einmal in der Zeit des Überlegens meine Gründe pro et contra meiner Mutter vor. „Liebes Kind“, sagte sie, „ich kann dir leider darin gar nicht raten. Tu, was du für richtig halst; du wirst es selbst am besten wissen“. Ich wußte auch sonst niemanden, der mir raten konnte. Und so suchte ich mir ganz getrost selbst meinen Weg. Es gibt viele Leute, die mehrere Semester an der Universität verbringen, ehe ihnen klar wird, was sie eigentlich anfangen sollen. Viele wechseln das Studienfach, weil sie merken, daß sie sich auf der Schule über ihre Begabung und Neigung getäuscht haben. Besonders bei Mathematik ist das häufig, weil hier durch bloßen Fleiß ohne die spezifische Veranlagung nichts zu erreichen ist. Manche werden durch diese Unsicherheit sehr entmutigt und kommen vielleicht gar nicht ans Ziel. Am besten sind natürlich die dran, die aus einer Gelehrtenfamilie stammen und vom Vater die rechte Anleitung bekommen. Immerhin, zu der Erkenntnis kommt wohl jeder am Ende seines Studiums: daß er jetzt erst wüßte, wie es anzufangen sei.

Ich litt damals unter meiner Freiheit keineswegs. Ich ließ es mir an der vollbesetzten Tagesordnung wohl sein und schwamm seelenvergnügt wie ein Fisch im klaren Wasser und bei warmem Sonnenschein. Erst lange Jahre später ist mir die Erkenntnis gekommen, welche verhängnisvolle Folgen auch bei mir der Mangel einer sachkundigen Leitung hatte.

Die erwähnte zielbewußte Studiengefährtin lernte ich bald in den ersten Wochen kennen. Sie hatte kein Abitur, sondern Lehrerinnenexamen und zwei Jahre Schulpraxis hinter sich: der sogenannte „4. Weg“ zur Universität, der von der Frauenbewegung als ein Danaergeschenk abgelehnt wurde, weil er keine geeignete Vorbereitung zum Studium war und darum die Gefahr eines ungünstigen Urteils über die Leistungen der studierenden Frauen mit sich brachte. Die meisten Lehrerinnen sahen den Mangel zunächst nicht ein und begrüßten die Erleichterung der Zulassung freudig. Die umsichtigsten aber machten von der Erleichterung keinen Gebrauch, sondern holten das Abitur nach oder suchten sich wenigstens die fehlenden [124] Kenntnisse anzueignen. Kaethe Scholz war ein ungewöhnlich tüchtiger und begabter Mensch. Ich kannte sie schon vom Sehen, denn sie hatte während ihrer beiden praktischen Jahre an der Viktoriaschule in den Vorschulklassen unterrichtet. Das genügte als Anknüpfung. Bald hatten wir verschiedene Arbeits-Verabredungen und wandelten in den Pausen zwischen den Vorlesungen in lebhaften Gesprächen in den Gängen der Universität auf und ab. Wir waren nicht das einzige solche feste „Pärchen“. Es ist allgemeine Erscheinung, daß sich solche feste Verbindungen beim Studium herausbilden, und wenn man ein paar Monate an einer Universität ist, dann kennt man diese Kombination genau. Kaethe Scholz stammte aus einer protestantischen Familie vom Lande. Sie war groß, schlank und blond, aus ihren hellen Augen leuchteten Frische, Lebenslust und ein übersprudelndes Temperament. Wenn sie von Anfang an auf die Prüfung und den Lehrerberuf hinarbeitete, so war sie doch nicht mit geringerer Freude als ich beim Studium. Überdies war sie sehr „geschäftstüchtig“. Sie hatte mehrere Zirkel, in denen sie Damen der Gesellschaft in geschichtliche und philosophische Fragen einführte. Das war viel einträglicher als gewöhnliche Privatstunden – sie konnte davon ihr Studium bestreiten. Es machte ihr außerdem Freude und war eine gute Methode, sich das, was sie im Kolleg gehört hatte, einzuprägen. Ihre Eltern wohnten draußen in Brokkau; sie kam jeden Morgen mit der Eisenbahn hereingefahren und blieb tagsüber in Breslau. Sie kam sehr gern in ihren freien Stunden zu mir zu gemeinsamer Arbeit und war bald ganz bei uns zu Hause. Dankbar und ohne Ziererei nahm sie es an, wenn uns eine kleine Stärkung gebracht wurde. Auch in der Universität verspeiste sie oft mit gutem Appetit mein Frühstücksbrot. Wir lernten zusammen eifrig Griechisch. Für den Anfängerkursus waren drei Wochenstunden angesetzt; in einem Sommersemester wurde die ganze Grammatik, natürlich in großen Umrissen, durchgenommen.

Im Winter folgte noch ein einstündiger Fortbildungskursus zur ersten Einführung in die Lektüre: Xenophons Anabasis und ein wenig Homer. Natürlich konnte dieser Unterricht nichts anderes sein als eine Anregung für eigene Arbeit. Die meisten Teilnehmer – Juristen, Theologen und Historiker – konnten sich dazu nicht entschließen und blieben nach wenigen Stunden fort. Sie wollten nur später eine Bescheinigung ihrer Teilnahme vorweisen können. Wir beiden gaben uns viel Mühe, uns die vielen Verbformen einzuprägen, und hielten durch. Aber freilich – wir waren Studentinnen und mochten dem eigentlichen Studium nicht gar zu viel Zeit für dieses schulmäßige Lernen entziehen. So bin ich zu meinem großen Schmerz nie zu einer so gründlichen und sicheren Beherrschung [125] der griechischen Sprache gelangt, wie ich sie für das Lateinische hatte. Auch das Studium des Althochdeutschen begannen wir gemeinsam. Tations Evangelienharmonien und etwas später Ulfilas’ Bibelübersetzung vermittelten mir die erste Bekanntschaft mit dem Evangelium (abgesehen von Bruchstücken, die ich in den Schulandachten kennen gelernt hatte). In unserm gotischen Lesebuch stand unter dem gotischen der griechische Urtext. Ich wurde aber damals nicht religiös davon ergriffen. Auch bei Kaethe Scholz habe ich nicht bemerkt, daß die Schrift für sie etwas Heiliges bedeutet hätte. Die Verschiedenheit der Konfession und Abstammung störte unsere Freundschaft nicht und wir hätten über religiöse Fragen ebenso offen wie über andere gesprochen, wenn sie uns bewegt hätten. Eine kleine Verstimmung gab es manchmal bei politischen Gesprächen. Ich stand damals stark unter liberalen Einflüssen. Die schlesische Landbevölkerung war unter dem Druck des beherrschenden Großgrundbesitzes überwiegend preußisch-konservativ. Kaethes Bruder begann damals gerade die Offizierslaufbahn. Dieses Milieu wirkte noch etwas bei ihr nach, obgleich sie viel in anderen Kreisen verkehrte. Später hat sie mancherlei Gesinnungswandlungen durchgemacht. Auch bei mir begann damals eine Veränderung in meinem Verhältnis zum Staat sich anzubahnen. Dazu trug mein Geschichtsstudium bei. Der alte Geheimrat Kaufmann, ein Greis mit schönem schneeweißem Haar und jugendlich-leuchtenden blauen Augen, und der noch ziemlich junge, kleine, aber straffe und schneidige Professor Ziekursel waren national-liberale Politiker. Sie hatten den freudigen Stolz auf das neue Reich, in dem wir alle erzogen waren, aber es war keine blinde Vergötterung des Herrscherhauses und keine Einengung durch den preußischen Gesichtswinkel. Die großzügige Belichtung weltgeschichtlicher Zusammenhänge weckte meine alte Liebe zur Geschichte wieder auf, so daß ich in den ersten Semestern noch schwankte, ob ich nicht sie zu meinem Hauptarbeitsgebiet machen sollte. Diese Liebe zur Geschichte war bei mir keine bloß romantische Versenkung in vergangene Zeiten; mit ihr hing aufs engste zusammen eine leidenschaftliche Teilnahme an dem politischen Geschehen der Gegenwart als der werdenden Geschichte, und beides entsprang wohl einem ungewöhnlich starken sozialen Verantwortungsbewußtsein, einem Gefühl für die Solidarität der Menschheit, aber auch der engeren Gemeinschaften. So sehr mich ein darwinistischer Nationalismus abstieß, so fest war ich doch immer von dem Sinn und der natürlichen wie geschichtlichen Notwendigkeit einzelner Staaten und verschieden gearteter Völker und Nationen überzeugt. Darum konnten sozialistische Auffassungen und andere internationale Bestrebungen niemals Einfluß auf mich gewinnen. [126] Mehr und mehr machte ich mich auch von den liberalen Ideen frei, in denen ich aufgewachsen war, und kam zu einer positiven, der konservativen nahestehenden Staatsauffassung, wenn ich mich auch von der besonderen Prägung des preußischen Konservatismus immer freihielt. Zu den rein theoretischen Erwägungen kam als ein persönliches Motiv eine tiefe Dankbarkeit gegen den Staat, der mir das akademische Bürgerrecht und damit den freien Zugang zu den Geisteswissenschaften der Menschheit gewährte.

Alle die kleinen Vergünstigungen, die uns unsere Studentenkarte sicherte – die billigen Theater- und Konzertkarten u.dgl. sah ich als eine liebevolle Fürsorge an, die der Staat seinen bevorzugten Kindern angedeihen ließ, und sie erweckten in mir den Wunsch, später durch meine Berufsarbeit dem Volk und dem Staat meinen Dank abzustatten. Ich war empört über die Gleichgültigkeit, mit der die Mehrzahl der Kommilitonen den allgemeinen Fragen gegenüberstand: ein Teil ging in den ersten Semestern nur dem Vergnügen nach, andere waren ängstlich darauf bedacht, das nötige Examenswissen zusammenzubekommen und sich später eine Futterkrippe zu sichern. Aus diesem starken sozialen Verantwortlichkeitsgefühl heraus trat ich auch entschieden für das Frauenstimmrecht ein; das war damals innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung noch durchaus nicht selbstverständlich. Der preußische Verein für Frauenstimmrecht, dem ich mit meinen Freundinnen beitrat, weil er die volle politische Gleichberechtigung für die Frauen anstrebte, umfaßte überwiegend Sozialistinnen.


2.

Wenn auch die große Mehrzahl der Studenten ziemlich stumpf dahinlebte (ich nannte sie in zorniger Verachtung „die Idioten“ und hatte in den Hörsälen keinen Blick für sie), so stand ich doch mit meinen Idealen nicht allein und fand bald Gesinnungsgenossen. Von unserm engsten Freundeskreis – meiner Schwester Erna, Hans Biberstein, Rose Guttmann und Lilli Platau – ist ja schon ausführlich die Rede gewesen. Mit Rose traf ich in den philosophischen und psychologischen Vorlesungen zusammen, und durch sie wurde ich einem Kreis von jungen Menschen zugeführt, dem ich wohl das Wertvollste in meiner Breslauer Studentenzeit verdankte. Er nannte sich Pädagogische Gruppe und war hauptsächlich aus Schülern und Schülerinnen des Sternschen Seminars hervorgegangen. Diese künftigen Lehrer und Lehrerinnen empfanden es als unerträglichen Mangel, daß an der Universität eigentlich nichts zur Vorbereitung [127] auf den späteren Lehrberuf geschah. Es gab wohl theoretische Vorlesungen über Pädagogik und man mußte im Staatsexamen einige Kenntnisse daraus nachweisen. Aber in lebendiger Verbindung mit den großen Erziehungsfragen und mit der Schulpraxis kam man dadurch nicht. Es war der Mangel, der später zur Reform der Lehrerbildung und zur Begründung der Pädagogischen Akademien führte. So hatten diese jungen Menschen zur Selbsthilfe gegriffen.

Stern stellte in seiner gütigen Weise das psychologische Seminar als Versammlungslokal zur Verfügung. Es war damals im II. Stock des ehemaligen Konviktgebäudes Schmiedebrücke 35 untergebracht. (Wir erlebten es noch, daß es mit dem Philosophischen Seminar zusammen in die schöneren und würdigeren Räume des I. Stocks verlegt wurde, und durften mit dorthin übersiedeln.) Dort kamen wir jede Woche einmal abends von 8-10 zusammen. Um 10 wurde das Haus geschlossen. Wenn die Diskussion dann noch nicht zu Ende war, ging man noch in ein Café, im Sommer auch manchmal in den Scheitinger Park (einen schönen, alten, englischen Park im Osten der Stadt), um die Nachtigallen schlagen zu hören. An diesen Abenden gab es Vorträge und Aussprachen über pädagogische Fragen. Am liebsten hatten wir Rektoren oder Lehrer der verschiedenen Schulgattungen, die uns aus ihren Erfahrungen berichten konnten. Öfters kamen auch Dozenten der Universität; Stern durften wir jedes Semester einmal zu uns bitten. Wenn niemand anders zu haben war, referierte jemand von uns über ein Buch oder eine Frage, die ihn gerade beschäftigte. Fr. W. Förster, Kerschensteiner, Gaudig, Wyneken beschäftigten uns oft und lebhaft. Wir waren auch alle Mitglieder des „Bundes für Schulreform“ und besuchten gemeinsam seine Versammlungen. Ich empfand aber schon damals, daß dort noch sehr viel Unklarheit herrschte und oft weit übers Ziel hinaus geschossen wurde. In jedem Semester wurden mehrere Besichtigungen gemacht: wir besuchten unter sachkundiger Leitung Hilfschulen, Taubstummen- und Blindenanstalten, Fürsorgeerziehungsanstalten, Heime für Schwachbefähigte und für verwahrloste Kinder. Den tiefsten Eindruck machte uns ein Kinderheim auf dem Warteberg, das wir mehrmals besuchten. Es war ein ehemaliges Schloß in landschaftlich schöner Lage in der Nähe von Obernigk, mit ausgedehntem Garten. In den hellen, freundlichen Räumen waren Kinder aus verwahrlosten Familien untergebracht. Die Jüngsten waren damals Zwillinge von zwei Jahren. Sie lagen im Garten in einem Zwillingswagen, sauber und wohlgenährt und vergnügt. Die Ältesten konnten schon zur Pflege und Beaufsichtigung der Kleinen herangezogen werden. Diakonissen aus dem Mutterhaus der „Mutter Eva“ (Gräfin Thiele-Winkler) in Miechowitz–Oberschlesien [128] verwalteten das Haus. Die Leiterin, die kleine bescheidene und freundliche Schwester Frieda, führte uns durch alle Räume und gab die nötigen Erklärungen. Die Kinder waren in „Familien“ eingeteilt: Große und Kleine, Jungen und Mädchen gehörten zusammen, wie es in der natürlichen Familie ist. Die Familien hatten Blumennamen, ihre Zimmer waren entsprechend ausgemalt: mit Heckenrosen, Kornblumen u.s.w., und die Mädchen hatten Schleifchen von der passenden Farbe in den Haaren.

In einem Arbeitsraum zeigte uns Schwester Frieda eine Nähmaschine. „Wir brauchten so nötig eine Maschine“, erzählte sie ganz einfach und natürlich, „da haben wir darum gebetet, und bald bekamen wir eine“. Es waren wohl alle Freigeister, zu denen sie das sagte. Aber niemand lächelte. Wir beugten alle den Kopf vor diesem kindlichen Vertrauen. Schwester Frieda ist während des Krieges ohne alle Mittel nach Warschau gegangen und hat dort ein Kinderheim gegründet, um der schrecklichen Kindernot zu wehren.

Nach dem Rundgang durch Haus und Garten wurden wir im kühlen Speisesaal mit Kaffee und Butterbrot und großen Schüsseln voll Erdbeeren aus dem eigenen Garten bewirtet. Zum Abschied sangen uns die Schwestern einen Choral.

Begründer und Seele unserer Pädagogischen Gruppe war Hugo Hermsen, ein Niederdeutscher, aus einer kleinen Stadt in Braunschweig gebürtig. Er war etwa 27 Jahre alt, als ich anfing zu studieren, und stand vor dem Abschluß seiner Studien. Klein, aber kräftig, gesund und sportlich geschult. Ein Kopf, den man nicht leicht wieder vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte: sonnengebräunt, mit schönen, edlen Zügen; aus den grauen, etwas tiefliegenden Augen leuchtete ein heiliges Feuer. Der weichen, etwas verschleierten Stimme hörte man es an, daß alles, was er sagte, aus dem tiefsten Herzen kam. Einmal nahm er Rose und mich mit zu einem Nestabend bei den Wandervögeln. Er las den Jungen plattdeutsche Märchen vor – die Sprache seiner Heimat. Ich habe besonders das Märchen vom „Machandelboom“ in Erinnerung und glaube noch jetzt – nach mehr als 20 Jahren – die leise und verhaltene Stimme zu hören, mit der er das eingestreute Verschen sang:

Mîn Suster, das Marlencken
Sammelt mîne Bencken
In een sîden Dôk,
Kiwitt, Kiwitt,
Wat forn schoenen Vogel bun ik.

Die moderne Massenerziehung war ihm zuwider. Sein Ideal war die Hofmeistererziehung des 18. Jh.’s. Er suchte es auch praktisch zu verwirklichen. Damals war ihm ein junger Graf Rothschild, [129] Jurist im ersten Semester, anvertraut. Sie hatten eine gemeinsame Wohnung und Hermsen hatte ihn überall bei sich; er kam auch mit zu unsern Gruppenveranstaltungen. Später ging er auf das Gut des Grafen Yorck von Wartenburg; er sollte dort die Erziehung eines kranken Knaben übernehmen, aber bald hing die ganze zahlreiche Kinderschar an ihm. Nachdem er in Breslau Doktor- und Staatsexamen gemacht hatte, wurde er als Erzieher des Prinzen von Wied berufen. Von dort aus ging er in den Krieg und kehrte nicht wieder.

Hermsen hatte die Leitung der Gruppe an einen andern abgegeben, als ich eingeführt wurde. Aber er beherrschte sie immer noch. Unwillkürlich sahen alle nach ihm und warteten auf sein Urteil, wenn er anwesend war. Und wenn er nicht kommen konnte, dann fehlte das Beste. Ich glaube, daß seit meiner Kinderzeit kein Mensch mehr einen so starken Einfluß auf mich ausgeübt hatte. Wir sahen uns nur bei den Gruppen Veranstaltungen und sprachen ganz selten einmal persönlich miteinander. Diese wenigen Male sind mir deutlich in Erinnerung. Das erstemal war es in einem Café nach einem Vortrag, den Professor Stern uns gehalten hatte. Wir saßen in größerem Kreis zusammen, Hermsen und ich nebeneinander, Stern uns gegenüber. Am vorausgehenden Gruppenabend hatte ich zum erstenmal in unserm Kreis gesprochen: über Koedukation. (In meinem jugendlichen Idealismus und in meiner Unerfahrenheit, die von den wirklichen Schwierigkeiten noch nichts wußte, hatte ich die Frage positiv beantwortet.) Stern interessierte sich für das Thema, war aber an jenem Abend verhindert. So wollte er sich jetzt erzählen lassen, was ich gesagt hatte. Hermsen und ich antworteten abwechselnd auf seine Fragen. Nach einer Weile mußte der Professor abbrechen, um sich den andern zu widmen, die natürlich auch auf ein paar Worte von ihm warteten. Und nun begann mein Nachbar leise ein vertrauliches Gespräch mit mir. Es handelte sich um ein Mißverständnis zwischen ihm und einem gemeinsamen Bekannten; er hoffe, daß ich Gelegenheit bekäme, zur Aussöhnung zu helfen. Wir waren bald so vertieft, daß wir unsere Umgebung völlig vergaßen und wie aus einem Traum aufwachten, als alles um uns herum aufbrach.

Ein andermal saßen wir auf der Rückfahrt vom Warteberg nebeneinander. Das Rattern des Zuges verbot eine allgemeine Unterhaltung; Hermsen erzählte mir leise von seinen Erfahrungen im Hause Yorck und von seinen Zukunftsplänen.

Kurz ehe wir beide Breslau verließen – ich, um nach Göttingen, er um nach Neuwied zu gehen – lud eine studierende Lehrerin, mit der er viel zusammengearbeitet hatte und die ihn sehr gern [130] hatte, uns beide und Rose Guttmann zu einem Abschiedsabend ein. Hermsen begleitete mich nach Hause. Nach den Gruppenabenden hatte er das immer andern überlassen, weil er weit entfernt von mir wohnte. Als wir vor unserm Hause angekommen waren, sagte er: „Nun wünsche ich Ihnen, daß Sie in Göttingen Menschen treffen möchten, die Ihnen recht zusagen. Denn hier sind Sie doch etwas gar zu kritisch geworden“. Über diese Worte war ich sehr betroffen. Ich war an gar keinen Tadel mehr gewöhnt. Zu Hause wagte mir kaum noch jemand etwas zu sagen; meine Freundinnen hingen mit Liebe und Bewunderung an mir. So lebte ich in der naiven Selbsttäuschung, daß alles an mir recht sei: wie es bei ungläubigen Menschen mit einem hochgespannten ethischen Idealismus häufig ist. Weil man für das Gute begeistert ist, glaubt man selbst gut zu sein. Ich hatte es auch immer als mein gutes Recht angesehen, auf alles Negative, was mir auffiel, auf Schwächen, Irrtümer, Fehler anderer Menschen, schonungslos den Finger zu legen, oft in spottendem und ironischem Ton. Es gab Leute, die mich „entzückend boshaft“ fanden. So mußten mich diese ernsten Abschiedsworte eines Mannes, den ich hochschätzte und liebte, sehr schmerzlich berühren. Ich war ihm nicht böse darum. Ich schüttelte sie auch nicht als ungerechten Vorwurf ab. Sie waren wie ein erster Weckruf, der mich nachdenklich machte.

Wir begegneten uns noch einmal, als wir beide zum Ferienaufenthalt in Breslau waren. Hermsen versprach mir, mich in Göttingen zu besuchen, wenn er von Neuwied in seine Heimat führe. In den ersten Augusttagen 1914, kurz nach Kriegsausbruch, bekam ich eine Karte von Göttingen nach Breslau nachgesandt, in der er seinen Besuch ankündigte. Ob es für ihn noch zu dieser Reise gekommen ist oder ob auch seine Pläne durch die Kriegsereignisse durchkreuzt wurden, weiß ich nicht. Ich erhielt keine persönliche Nachricht mehr von ihm, nur später durch Rose die Mitteilung, daß er als „vermißt“ gemeldet sei und einen Bericht über seine letzten Tage im Karpathenwinter, bis sich seine Spur verlor. Als ich im Herbst 1916 nach Freiburg i.Br. kam, sah ich im Schaufenster eines Photographen in der Kaiserstraße Hermsens Bild; er trug die kleidsame Uniform des deutschen Alpenjägerregiments, das im Schwarzwald für den Hochgebirgskampf geübt wurde. Die Platte war noch vorhanden, und ich konnte die alten Freunde des Toten mit Abzügen erfreuen.

Nach Hermsen war das einflußreichste Gruppenmitglied Hermann Popp. Er war schon über 30 Jahre alt, hatte mehrere Jahre als Lehrer in der Volksschule gestanden, ehe er das Abitur machte und auf die Universität kam. Er war lang und mager; seine äußere Erscheinung [131] erinnerte etwas an Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Man konnte in jeder Diskussion sicher sein, daß er das Wort ergreifen würde und daß dann nicht so bald jemand anders an die Reihe käme. Er hatte schon seine festen Grundsätze, wonach er zu jeder Frage mit Sicherheit Stellung nahm. Er trug seine Meinung mit viel Temperament und Nachdruck, mit schallender Stimme und oft in komisch übertreibender Weise vor. Es war nicht leicht, ernst dabei zu bleiben, auch wenn es ihm selbst ganz ernst war. Wir schätzten ihn aber alle hoch als einen charakterfesten und aufrechten Menschen, einen selbständigen und scharfsinnigen Denker. Er machte seine Doktorarbeit bei Stern (über das Assoziationsproblem), hatte sich aber von der Leitung dieses „Meisters“ ganz frei gemacht. Überhaupt war unser Verhältnis zu unserem Lehrer ein sehr selbständiges. Stern vertrat einen bestimmten Typus jüdischen Menschentums. Er war damals anfangs der 40er, gut mittelgroß, wirkte aber kleiner, weil er etwas gebückt ging. Das blasse Gesicht war von einem braunen Bart umrahmt, die Augen blickten klug und gütig, der Gesichtsausdruck und der Klang der Stimme waren überaus milde und freundlich. Als er einmal bei einem Maskenfest in orientalischem Kostüm erschien, sah er aus wie Nathan der Weise. Er hat immer versichert, daß er im tiefsten Herzen Philosoph sei (darum eiferte er auch gegen die Trennung der philosophischen und psychologischen Lehrstühle) und daß sein großes philosophisches Werk „Person und Sache“ ihm wichtiger sei als alle andern. Trotzdem war er mehr und mehr in die experimentelle Psychologie hineingeraten und verdankte seinen Ruhm den psychologischen Schriften, die in alle Kultursprachen übersetzt wurden. Sein Werk über „Kindersprache“ und die „Psychologie der frühen Kindheit“ stützten sich auf genaue Beobachtungen an seinen eigenen Kindern und auf die sorgfältigen Tagebücher seiner klugen und liebenswürdigen Frau, die seine treueste Mitarbeiterin war. Damals war er viel mit Methoden der Intelligenzprüfung beschäftigt; sein Verfahren der Berufseignungsprüfungen, mit dem er später im Hamburg praktisch durchdrang, wurde darin vorbereitet. Wir hatten gegen alle diese Dinge starke Bedenken, ebenso gegen sein allgemeines Prinzip der „goldenen Mitte“. Sein boshafter Kollege Hönigswald äußerte sich einmal zur Frage der Einführung von „Schulpsychologen“: „Der Schulpsychologe wird dann der mächtigste Mann im Staat. Er bestimmt einem jeden Menschen, was er werden soll, und wenn er jemanden ganz besonders gewogen ist, dann bestimmt er ihn zum Schulpsychologen!“ Sterns eifrigste Schüler waren seine schärfsten sachlichen Gegner. Wir saßen im Seminar an dem hufeisenförmigen Tisch rechts und links von ihm und antworteten oft wie [132] aus einem Munde mit einem lebhaften und entschiedenen „Nein!“ Er nahm uns das nicht übel, war immer gleich gütig und freundlich, behielt aber seine eigene Linie unbeirrt bei. Popp, dieser radikale Denker, konnte sich natürlich bei einer so vorsichtigen Mittellinie nicht beruhigen. Er ging seine eigenen Wege. Ich wurde gründlich in seine Probleme eingeweiht, denn von meiner ersten Einführung in die Gruppe an war es sein Ehrenamt, mich heimzubegleiten. Er hat es sich nie von jemand anderm abnehmen lassen, obwohl sich meist noch mehrere andere uns anschlossen. Wenn wir vor unserm Hause anlangten, war er gewöhnlich noch lange nicht mit seinen Erörterungen fertig. Ich mußte dann eine ganze Weile mit ihm vor dem Gitter unseres Vorgärtchens auf- und abspazieren, um den Vortrag zu Ende anzuhören. Manchmal kam inzwischen mein Bruder heim, ich habe die beiden vor dem Gittertürchen einander vorgestellt.

Diese Gespräche spät abends vor der Haustür waren nicht im Sinne meiner Mutter. Sie glaubte dagegen Einspruch erheben zu müssen und sagte, das erinnere ja ganz an meine Schwester Eise, die auch oft abends, wenn sie heimkam, noch solche „Standerln“ vor der Tür gehabt hätte. Ich wies das mit Empörung zurück: ich bäte dringend, mich nicht mit Eise zu vergleichen. Ich wußte wohl, daß es sich dort um „Verehrer“ gehandelt hatte, und davon war in diesem Fall wirklich keine Spur. Meine Mutter hatte wohl auch nicht diesen Verdacht. Aber natürlich – die Leute aus der Nachbarschaft, die uns bei diesen nächtlichen Promenaden zuschauen mochten, konnten nicht ahnen, daß wir in psychologische oder erkenntnistheoretische Probleme vertieft waren. Doch solche Rücksichten lagen uns damals fern. Wir betonten bei jeder Gelegenheit, es sei uns gleichgültig, was „man“ sagte und was „die Leute“ dächten. Es war eine der wenigen scharfen und ungezogenen Antworten, die meine Mutter von mir bekommen hat; ich habe sie später bitter bereut.

Im Sommer 1912 arbeitete Dr. Popp für sein Staatsexamen. Wenn es in seinem Studierzimmer so heiß wurde, daß sein Kopf nicht mehr funktionieren wollte, ging er in die Küche an den heißen Ofen. Kehrte er nach einer Weile an seinen Schreibtisch zurück, dann empfand er eine so angenehme Abkühlung, daß das Gehirn nun wieder zur Arbeit fähig war. Als er sein Staatsexamen hinter sich hatte und an eine Schule in der Provinz gehen sollte, bat er mich auf einer Postkarte noch um einen Abschiedsspaziergang. Er hätte auf seinen Karten die intimsten Geheimnisse schreiben können, denn niemand außer mir vermochte seine Hieroglyphen zu entziffern. Es war die erste und letzte Verabredung. Er wollte sich vor dem Untertauchen ins Philisterium noch einmal gründlich aussprechen.

[133] Der Verkehr mit Menschen, die soviel älter, reifer und wissenschaftlich fortgeschrittener waren, bot der kleinen Studentin natürlich viel Anregung und Förderung; er war aber auch eine Gefahr. Wenn die Kommilitonen mir von ihren Doktor- und Staatsarbeiten sprachen, so erlaubte mir eine leichte Auffassungsgabe und eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, ihnen im Augenblick zu folgen, vielleicht sogar kritische und anregende Bemerkungen einzustreuen. Das erweckte den Anschein, daß ich ihnen gleichstünde, und täuschte auch mich selbst. Ich besuchte die Kollegs und Seminare für Fortgeschrittene und übersprang manche Grundlagen, die mir nötig gewesen wären.

Leiter der Pädagogischen Gruppe war in jenen Semestern Alfred Mann. Auch er war einige Jahre älter als ich, aber doch erheblich jünger und unreifer als Hermsen und Popp. Er trat auch in den Diskussionen noch bescheiden hinter ihnen zurück. Nur manche Bemerkungen in privatem Gespräch zeigten ausgesprochen demokratische Neigungen (die Gruppe als solche war ganz unpolitisch), scharfe Kritik und einen derben Humor. Er war groß und für seine Jugend schon viel zu dick, sein rundes, hübsches Gesicht war bleich; eine nervöse Schwäche – eine in kurzen Abständen wiederkehrende zuckende Bewegung des Kopfes – wirkte sehr störend. Außerdem war er sehr zerstreut und vergeßlich und kokettierte etwas damit: oft sagte er mir schon morgens vor acht Uhr telephonisch alles, woran ich ihn im Laufe des Tages erinnern sollte. Da ich damals noch ein vorzügliches Gedächtnis hatte, konnte er dann beruhigt sein. Von dem gesteigerten Selbstbewußtsein und der lauten, rücksichtslosen Art, die später im öffentlichen Leben unangenehm auffielen, als er nach der Revolution Leiter der Breslauer Volkshochschule wurde, war damals noch kaum etwas zu bemerken.

Verkehrsgast der Pädagogischen Gruppe und des Sternschen Seminars war Georg Moskiewicz (von seinen Freunden „Mos“ genannt) , damals schon Dr. med. et phil., etwa 33 J. alt, als ich anfing zu studieren. Die nähere persönliche Bekanntschaft zwischen uns vermittelte Rose Guttmann. Mos war der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Mit Rücksicht auf seinen Vater hatte er das „praktische“ Medizinstudium gewählt, später erhielt er aber die Erlaubnis, zur Philosophie und Psychologie überzugehen. Er war Schüler von Ebbinghaus und sollte sich bei ihm habilitieren; aber sein Lehrer starb, ehe es dazu kam. Nun arbeitete er weiter an seiner psychologischen Habilitationsschrift, ohne zu wissen, wer sie ihm abnehmen würde. Er hatte – wie viele Ostjuden – rötliche Haare und helle Augen. Seinem blassen, nervösen Gesicht und dem etwas scheuen und unruhigen Blick merkte man an, daß ihn etwas innerlich [134] quälte. Welche Tragik sein Leben verbarg, das fand ich aber erst später heraus. Damals schmeichelte es mir sehr, daß auch dieser vielseitig gebildete Mann danach verlangte, mit mir zusammen zu arbeiten. Er bat mich zunächst darum, ihm als Versuchsperson für seine Arbeit zu dienen. Es handelte sich um „Ausfrageexperimente“ nach der damals vieldiskutierten „Würzbürger Methode“ (Külpe, Bühler, Messer etc.). Wir trafen uns regelmäßig im psychologischen Seminar; aber wir verbrachten mehr Zeit mit Diskussionen über die Methode als mit wirklichen Versuchen. Ich merkte allmählich, daß von der Arbeit noch kaum etwas vorhanden war außer einer Sammlung von Versuchsprotokollen und daß seine eigenen Zweifel an der Tauglichkeit der Methode ihn lähmten und ihm die Weiterarbeit schließlich unmöglich machten. Dabei bedrückte es ihn schwer, daß seine Familie auf die Habilitation wartete und an seine akademische Laufbahn glaubte; daß sein alter Vater im Vertrauen darauf immer noch für ihn sorgte zu einer Zeit, in der andere längst in Amt und Würden sind und eine eigene Familie haben.

Die Pädagogische Gruppe war nicht die einzige akademische Vereinigung, der ich angehörte. In den ersten Semestern war unser ganzes Kleeblatt im Studentinnenverein. Der Charakter der wöchentlichen Vereinsabende war ein überwiegend geselliger. Wir hatten eine kleine Wohnung in der Nähe der Universität, die wir auch tagsüber benützen konnten. Wenn wir abends zusammen waren, kam kurz nach Beginn ein Laufbursche aus einer nahen Konditorei, nahm unsere Bestellungen entgegen und brachte uns das Gewünschte. Dann saßen wir bei Kaffee, Schokolade oder Tee und Torte in kleinen Gruppen und plauderten ungezwungen, berieten uns über unsere Fachangelegenheiten oder sprachen auch alle zusammen über eine allgemein interessierende Frage. Die Vorbereitungen auf ein großes Kostümfest, das der Verein am Ende meines zweiten Semesters gab, führten zu einem sehr kindlichen Konflikt zwischen unserm ganzen Kreis und der Vorsitzenden. Da wir unsere Lehrer und Studiengefährten eingeladen hatten, mußten wir das Fest noch mitmachen. Hinterher aber erklärten wir geschlossen unseren Austritt. Die Freude an dem fröhlichen Abend ließen wir uns übrigens durch den vorausgehenden und nachfolgenden Verdruß nicht stören. Eine ebenso anmutige wie geistvolle Studentin – Ernas Klassengefährtin Else Heß – hatte die Einladung in munteren Versen verfaßt und hielt auch eine „Herrenrede“ in Versen. Aufführungen und Tanz wechselten miteinander ab bis zum Morgen. Herr Dr. Popp war in altdeutschem Kostüm erschienen. Er holte meine Schwester und mich unermüdlich zum Tanz. Gegen sechs Uhr früh begleitete er uns nach Hause. Meine Schwestern gingen voraus, wir folgten in [135] lebhafter philosophischer Diskussion. Der Hauptreiz war natürlich, unsere Professoren in Kostümen zu sehen und mit ihnen zu tanzen. Es war zur Zeit des Konfliktes zwischen Türkei und Italien: Stern kam als Türke, seine Frau als Italienerin. Kühnemann trug ein griechisches Gewand und einen Kranz auf dem Haupt. Er stellte sich als „Speusippos“ vor. „Er sagt Speusippos“, bemerkte ich boshaft, „aber er meint Plato“. Ich war als Holländerin gekleidet und mußte mir wiederholt anhören, daß mir das sehr gut stünde. Else Heß versicherte mir mit der sachkundigen Miene der erfahrenen Balldame, daß ich „sehr gut gefiele“. Das war mir sehr unsympathisch. Ich tanzte auch jetzt noch sehr gern. Aber ich mochte es lieber, wenn wir es zu Hause zwanglos improvisierten, als diese offiziellen Veranstaltungen. Erna und ich haben wenig Bälle besucht, und wenn wir nach so einem Abend heimkamen, sagten wir beim Zubettgehen zueinander: „Gott sei Dank, daß dies nicht unser Lebensinhalt ist“.

Zu diesen regelmäßigen Veranstaltungen kam gerade in meinem ersten Semester, dem Sommer 1911, noch manches Außerordentliche. Wir feierten damals das 100jährige Jubiläum unserer „Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität“. Sie war 1811, in der Zeit der Franzosenherrschaft von Friedrich Wilhelm III. begründet worden, nicht als völlige Neugründung, sondern durch Zusammenlegung der protestantischen Universität Frankfurt a/O., einer Schöpfung der Reformationszeit, mit dem Breslauer Jesuitenkolleg, der „Leopoldina“, von Kaiser Leopold zu Ende des 17. Jh.’s eingerichtet. Ihr verdankten wir das schöne alte Gebäude mit den dicken Mauern und tiefen Fensternischen, dem üppigen Barockschmuck der „Aula Leopoldina“ und des Musiksaals. Wie festlich waren offizielle Feiern – Kaisers Geburtstag, Rektoratsübergabe u.dgl. – in diesen Räumen, wenn zu der Farbenpracht der Wand- und Deckengemälde und der reichen Stuckverzierung das bunte Bild der Studenten „in Wichs“ kam, der Chargierten, die mit ihren Fahnen die Fensternischen füllten, und wenn schließlich der ganze Lehrkörper einzog, voraus der Pedell mit seinem dicken Stabe, hinterdrein der Rektor, die Dekane und Dozenten mit Talaren und Barets in der Farbe ihrer Fakultät, manche noch mit einer breiten bunten Schärpe über der Brust, dem Abzeichen des Ehrendoktorats (meist von amerikanischen Universitäten)!

Das alte graue Gebäude an der Oder (vor einigen Jahren hat man es „im Stil der Zeit“ gelb angestrichen) war mir schnell eine liebe Heimat geworden. In freien Stunden setzte ich mich gern in einen leeren Hörsaal auf eins der breiten Fensterbretter, die die tiefen Mauernischen ausfüllten, und arbeitete dort. Von diesem Hochsitz [136] konnte ich auf den Fluß und die belebte Universitätsbrücke hinaussehen und kam mir vor wie ein Burgfräulein. Ebenso heimisch fühlte ich mich in dem nahegelegenen, ebenso ehrwürdigen Konviktgebäude, wo wir das psychologische und philosophische Seminar hatten, und in der Universitätsbibliothek, einem ehemaligen Augustinerchorherrnstift in der Sandstraße. Daneben liegt die Sandkirche, ein schwerer, frühgotischer Bau. Er ist die Dompfarrkirche, und gleich dahinter führt die kleine Dombrücke auf die Dominsel. Das ist eine stille, in sich abgeschlossene Welt. Die breite, gerade Domstraße führt von der Dombrücke an der Kreuzkirche mit ihrem schlanken, nadelspitzen gotischen Turm vorbei zum Hauptportal des Domes. Zu beiden Seiten liegen die niedrigen vornehm-schlichten Häuser der Domherrn, zunächst dem Dom das Palais des Fürsterzbischofs. Ich wählte gern den Weg über die Dominsel. Ich fühlte mich dort wie in einer Welt der Stille und des Friedens und wie in längst vergangene Jahrhunderte zurückversetzt. In die schönen Kirchen aber ging ich nicht hinein, vor allem nicht, wenn Gottesdienst darin war. Ich hatte ja dort nichts zu suchen und hätte es taktlos gefunden, andere in ihrer Andacht zu stören. Ein einzigesmal war ich mit Julia Heimann während einer Freistunde in der Matthiaskirche, die an der Universität anstößt und früher zu ihr gehörte; ein vermauertes Türchen verrät noch die ehemalige Verbindung.

Ich sah in der Universität wirklich meine „alma mater“, und so war es mir eine große Freude, an ihrem Jubelfest teilzunehmen. Natürlich waren wir bei dem großen Festakt in der Aula zugegen. Einige Bedenken gab es wegen der Teilnahme an dem Festkommers. Dafür war ein Riesenzelt auf dem Exerzierplatz vor dem königlichen Schloss aufgeschlagen, weil kein Saal groß genug war, um die Menge der „Alten Herren“ zu fassen, die zum Fest herbeiströmten. Im Studentinnenverein gab es große Beratungen; wir hatten Nachrichten aus Berlin, daß dort im vorausgegangenen Jahr beim Jubiläum der Berliner Universität der Kommers wenig schön verlaufen sei. Wir sagten darum zunächst ab. Nun kam eine zweite Einladung „Seiner Magnifizenz“, des Herrn Rektors: er würde doch sehr ungern die Studentinnen vermissen und wolle einige Professorendamen mit an unsern Tisch setzen, um uns gegen alle Unannehmlichkeiten zu schützen. Nun versprachen wir unser Erscheinen, die „Bemutterung“ aber lehnten wir als lächerlich ab. Wir wollten so lange bleiben, bis die eigentliche „Fidelitas“ anfinge, und uns dann still zurückziehen. Das ging sehr gut. Der Tisch mit den weißgekleideten Mädchen zog natürlich die Aufmerksamkeit aller Alten Herren auf sich, die in dem großen Zelt umhergingen und sich nach alten Bekannten umsahen: so etwas hatte es ja „zu ihrer [137] Zeit“ nicht gegeben. Es wurde ein reizendes Festspiel aufgeführt, das zwei Alte Herren gedichtet hatten: Redakteur Dr. Hermann Hamburger und Rechtsanwalt Dr. Tarnowski, beide in Breslau als geistvolle und witzige Menschen bekannt (beide Juden).

Als die Aufführungen und Ansprachen vorbei waren, verschwanden wir, ohne daß ein Mißton unsere Freude getrübt hätte.

Zu den vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten kamen noch als weitere Nebenbeschäftigung einige Privatstunden. Ich hätte eigentlich lieber meine ganze Zeit dem Studium gewidmet, obwohl die Mehrzahl der Studenten sich auf diese Weise etwas verdiente. Meine Mutter sorgte ja für Unterhalt und Kolleggelder, und unsere wirtschaftlichen Verhältnisse waren jetzt so, daß niemanden damit ein Opfer auferlegt wurde. Darum schien es mir besser, die Zeit nicht unnötig zu zersplittern. Ich wurde aber immer wieder um Nachhilfestunden oder Vorbereitungsunterricht für eine höhere Gymnasialklasse angesprochen und konnte nicht alle Bittenden abweisen; so hatte ich fast immer einige Schülerinnen. Es fing schon an, als ich selbst noch aufs Gymnasium ging. Eines Tages kam der Schuldiener in unsere Zeichenstunde hinein und meldete, Fräulein Stein solle zum Herrn Direktor kommen. Das war etwas ganz Ungewöhnliches und setzte die ganze Klasse in Aufregung. Während ich die drei Treppen hinunterstieg, ging ich in Gedanken die letzten Wochen durch: es fiel mir nichts ein, wofür ich einen Vorwurf verdient hätte. So betrat ich ganz ruhig das Amtszimmer. Es war ein fremder Herr beim Direktor, der besorgte Vater einer Untertertianerin. Sie stand sehr schlecht und hatte kaum noch Aussicht auf Versetzung. Der Direktor schlug als letzten Versuch Beaufsichtigung der Schularbeiten vor und bat mich, dieses Amt zu übernehmen. Es lockte mich wenig, aber beide Herren drängten so sehr, daß ich schließlich zusagte. Ich bemerkte bald, daß nichts zu machen sei; das Kind hatte weder Begabung noch Neigung zum Studium und quälte sich ganz nutzlos. Ich erklärte dem Direktor, es sei mir peinlich, für eine so aussichtslose Sache Bezahlung anzunehmen. Er redete mir aber zu, bis Ostern auszuhalten. Der Vater wisse, daß keine Aussicht sei und wolle sich nur die Beruhigung verschaffen, alles Erdenkliche getan zu haben. Ostern wurde ich also von dieser ersten Schülerin frei. Aber nicht lange danach kam eine andere.

In der Untertertia war ein reizendes Polenkind, 15 Jahre alt, blondlockig und blauäugig und überaus temperamentvoll. In der Pause sah man sie meist in einem Kreis von älteren Mädchen, die sie bewunderten und sich über ihr komisches Deutsch amüsierten. Ich beteiligte mich nie daran. Eines Tages hängte sie sich auf dem [138] Schulhof plötzlich an meinen Arm und zog mich von meinen Klassengefährtinnen weg. Sie stünde schlecht in der Schule und sollte Pfingsten in Breslau bleiben, um während der Ferien tüchtig zu wiederholen. Ihre Pensionsmutter – eine alte Dame, die mit der Familie des Direktors befreundet war – würde an mich schreiben, aber sie hätte gern schon vorher mit mir sprechen und mich bitten wollen, mit ihr zu arbeiten. Ich ging während der kurzen Pfingstferien jeden Morgen zu ihr. Ich konnte sie nicht zu mir kommen lassen, weil sie nicht allein ausgehen durfte. Lena war gut begabt und lernte jetzt bei mir eifrig. Sie bewunderte mein Wissen sehr und faßte auch in diesen einsamen Ferientagen eine lebhafte Zuneigung zu mir. Eines Tages bat sie mich schmeichelnd, mit ihr in die Oper zu gehen. Ohne Begleitung dürfte sie es nicht und sie wünschte es sich so sehr. Es würde „Carmen“ gegeben. „Ich möchte Carmen sein“, sagte sie mit blitzenden Augen, „daß alle Männer mich lieben müßten!“ Ich sah mir das kleine Persönchen ganz betroffen an. Sie war für ihr Alter gut entwickelt und konnte für 18 Jahre gelten. Und ich kam mir neben diesem Kinde auf einmal vor wie ein unerfahrenes Mädchen neben einer wissenden Frau. Als ich am Morgen des Theaterabends in ihre Pension kam, empfing sie mich mit einer Trauerbotschaft: ihr Vater sei schwer erkrankt und sie müsse sofort heimfahren. Sie bat mich, die Theaterkarten mit meiner Schwester zu benützen. Als sie sah, daß ich in meiner Teilnahme selbst wenig Lust zum Theaterbesuch hatte, redete sie mir zu, doch ja hinzugehen. Dann umarmte und küßte sie mich weinend. Erna und ich gingen in die Oper, aber ich dachte an das arme Kind, das nun allein die traurige Reise machte. Lena kam in Trauerkleidern zurück. Sie hatte ihren Vater nicht mehr lebend getroffen.

Aus derselben Pension Scheel bekam ich noch mehrere Schülerinnen. Ein Bittbrief um Stunden erwartete mich schon als ich zum Beginn meines Studiums aus Chemnitz kam. Das Honorar für meine Tätigkeit lieferte ich meiner Mutter ab. Sie nahm den ersten Verdienst ihrer Jüngsten mit freudigem Stolz entgegen. Er wurde gar nicht wie gewöhnliches Geld behandelt, d.h. er durfte nicht ausgegeben werden. Weihnachten 1911 wollte ich von dem Ersparten mit Erna zusammen eine Winterfahrt ins Riesengebirge machen. Meine Mutter stimmte bereitwillig zu und gab uns auch noch Rosa mit. Die Kosten aber bestritt sie aus ihrer Tasche, und mein Schatz blieb unangetastet. Freilich wurde er nicht in einen Strumpf gesteckt. Alles bare Geld kam bei uns sofort in den Geschäftsbetrieb und wurde uns „gutgeschrieben“. Wir hatten alle ein eigenes Konto im Geschäft. Unsere Großmutter Stein hatte jeder von uns einige tausend Mark hinterlassen. Als unter der Leitung unserer Mutter das [139] Geschäft aufblühte und etwas Grundbesitz erworben war, erhöhte sie diese Konten auf je 10000 M. In den Jahren, in denen ich außerhalb studierte und später ohne entsprechende Einnahmen wissenschaftlich arbeitete, bestritt ich meine Ausgaben von diesem Konto. Ich war erst in Göttingen, dann in Freiburg bei der Dresdener Bank akkreditiert; meine Abhebungen wurden mit unserer Firma verrechnet. Als ich einmal meine Schwester Frieda fragte, ob mein Vermögen nicht längst aufgebraucht sei, antwortete sie, eigentlich wäre es so, aber meine Mutter hätte bei jedem Jahresabschluß die zusammengeschmolzene Summe wieder auf die alte Höhe ergänzt. Während des Krieges wurde zum ersten Mal ein größeres Bankkapital auf der Bank angesammelt. Unser Geschäft war besser als andere mit ausländischen Hölzern eingedeckt; so war der Absatz groß, und die eingehenden Summen konnten nicht wieder in Waren angelegt werden, weil nichts über die Grenzen hereinkam. Kriegsanleihen und Inflation haben dieses Vermögen aufgezehrt.


3.

Wenn ich auf alles das zurückblicke, was ich in meinen ersten Semestern trieb, dann frage ich mich selbst, wo ich die nötige Zeit zum Studium hernahm. Tatsächlich füllte es aber doch meine Tage aus. Die Privatstunden legte ich möglichst auf den frühen Morgen oder auf die Zeit vor dem Nachtessen. Die andern Veranstaltungen waren abends. So behielt ich den Tag frei, und ich nützte ihn gut aus. In den ersten Semestern war meine Hauptarbeitsgefährtin Kaethe Scholz. Als sie später nach Paris ging, trat an ihre Stelle Eduard Metis. Ich lernte ihn bei den sehr seltenen Sitzungen des Akademischen Humboldt-Vereins kennen, die er als Vorsitzender leitete. Ich schenkte ihm dabei ebensowenig Beachtung wie den andern Anwesenden. Es wurden bei diesen Sitzungen nur geschäftliche Dinge – die Verteilung der Kurse u.dgl. – besprochen, und ich war froh, wenn sie vorbei waren. Am Ende des Sommersemesters 1912 wurde ein Sommerfest für die Kursteilnehmer und ihre Familien veranstaltet. Ich liebte solche Volksbelustigungen nicht, aber es war Anstandspflicht gegen die Hörerschaft, mitzutun. So fuhr ich nachmittags mit hinaus ins Freie und suchte das Beste aus der Sache zu machen. Vor allem beteiligte ich mich an den Spielen der Kinder auf dem Rasen. Als es dunkel wurde, brachen die Mütter und Kinder auf. Die Zurückbleibenden rüsteten sich zum Tanz.

Das war auch für mich das Zeichen zum Aufbruch. Als ich sah, daß Herr Metis sich zurückziehen wollte, schlug ich ihm vor, den [140] Weg zur Stadt zu Fuß zurückzulegen. Denn es strömten große Scharen zum Bahnhof, und ich hatte wenig Lust, mich jetzt in ein überfülltes Abteil zu setzen. Er willigte sehr gern ein. So wanderten wir allein durch den warmen mondhellen Sommerabend. Ich weiß nicht, wovon wir sprachen. Ich empfand die Stille auf dem einsamen Feldweg wohltuend, und wir freuten uns beide wie die Kinder, als in der Ferne ein Zug, von dem man nur noch die Lichter sah, wie eine leuchtende Schlange durch die Nacht fuhr. An der Endstation der Straßenbahn stiegen wir in die Tram, da ich von dort noch einen weiten Wege hatte. Unterwegs bemerkte mein Begleiter, der Heimweg sei das Schönste an der ganzen Veranstaltung gewesen.

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, weil mir Ruhe immer lieber war als große Menschensammlungen. Ich behielt eine angenehme Erinnerung an den nächtlichen Spaziergang. Als etwas Außergewöhnliches war er mir nicht erschienen. Bald darauf machten wir unsere Ferienreise nach Grunwald. Nach unserer Rückkehr erhielt ich eines Tages ein kurzes Briefchen von Herrn Metis, in dem er mich bat, an einem bestimmten Tage, wenn ich gerade in der Universität zu tun hätte, ins Germanistische Seminar hineinzusehen; er hätte mir etwas zu sagen und ich würde ihn dort treffen. Ich nahm an, daß es sich um die Abiturkurse handle, und ging im Vorbeigehen ins Germanistische Seminar, wo ich mich sonst nicht viel aufhielt. Die geschäftlichen Mitteilungen, die mir Herr Metis machte, waren unbedeutend. Als sie erledigt waren, fragte er, ob ich jetzt mit ihm in den Scheitinger Park hinausfahren wolle. Ich merkte, daß er sich dazu innerlich einen Ruck gab und sich sehr kühn vorkam. Das amüsierte mich. Was war denn das Großes, in den Ferien einen kleinen Spaziergang zu machen? Ich ließ mir aber nichts merken und sagte leichthin zu. Auf diesem Spaziergang lernte ich den guten Jungen erst richtig kennen. Er war das einzige Kind seiner Eltern, von seiner zärtlichen Mutter übersorgfältig gehütet und bisher von jedem weiblichen Verkehr ängstlich ferngehalten. Auch unter einer Studentin stellte sie sich offenbar etwas sehr Gefährliches vor, und jener nächtliche Spaziergang hatte sie wohl sehr erschreckt. Tatsächlich hatte er auf das empfängliche Gemüt des unschuldigen jungen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht; die Erinnerung hatte ihn die ganzen Wochen seither nicht losgelassen. Als ich das merkte, wurde mir klar, daß ich jetzt vorsichtig sein müßte. Kurz darauf schlug mir Metis – wieder schriftlich – den gemeinsamen Besuch einer Stadtverordnetensitzung vor, in der über Theaterfragen verhandelt werden sollte. Diesmal ging ich nicht hin. Ich sagte ab und benützte den Brief, um ihm meinen „Standpunkt“ klar zu machen: an einen kameradschaftlichen [141] Verkehr mit Kommilitonen sei ich gewöhnt und auch ihm gegenüber dazu bereit, jeden andern Gedanken aber müsse er aufgeben. Dieser Vorschlag wurde angenommen, und erstaunlicherweise glückte es dem neuen Freunde, die aufkeimende Neigung zu unterdrücken, obwohl wir uns nun fast täglich in der Universität trafen und viel zusammen arbeiteten. Ich habe nie etwas abzuwehren brauchen. Noch in den Ferien fingen wir an, zusammen sehr energisch Gotisch zu treiben, da wir zu Beginn des Wintersemesters in die Oberstufe des Germanistischen Seminars aufgenommen werden wollten und in der Aufnahmeprüfung gründliche Kenntnis des Gotischen nachweisen mußten. Wir lasen den ganzen Evangelientext des Ulfilas durch; um das Übersetzen ins Gotische zu üben, machten wir uns gegenseitig Texte zurecht. Außer Deutsch hatten wir kein Fach gemeinsam. Er hatte daneben neue Sprachen, das Thema für die Doktorarbeit ließ er sich aus der deutschen Literatur geben (über Gutzkows Dramen). Nach Semesteranfang schlug er mir vor, daß wir uns jede Woche einmal auf einem Spaziergang Rechenschaft über unsere Vorlesungen geben sollten. Allerdings war er dann immer beschämt, weil er mir nur einige trockene philologische Daten zu bringen hatte, während ich die interessantesten philosophischen und historischen Vorträge halten konnte und immer viel mehr Stoff hatte als sich in unserer Zeit unterbringen ließ. Er prophezeite mir damals schon ein glänzendes Examen. Auch Herr Popp hatte das schon getan; er stützte sich dabei allerdings weniger auf den Nachweis meiner Kenntnis als auf sein psychologisches Urteil, das mir die geeignete Examensnatur zusprach.

Eduard Metis betätigte sich neben dem Studium schon etwas als Journalist. Er hatte feste Verbindungen zur Breslauer Zeitung, dem alten liberalen Blatt, das in fast allen jüdischen Familien gelesen wurde. Die Sonntagsnummer brachte regelmäßig eine Literaturbeilage, und darin fanden sich meist einige Buchbesprechungen, die E.M. gezeichnet waren. Natürlich las ich sie jetzt mit doppeltem Interesse, seit ich den Verfasser kannte. Es war ihm auch immer sehr wichtig, mein Urteil über diese ersten literarischen Versuche zu hören. Einmal fand ich in der Besprechung eines Novellenbandes erotische Dinge in etwas frivolem Ton behandelt. Das regte mich sehr auf. Ich hatte diesen freundschaftlichen Verkehr aufgenommen in dem festen Vertrauen, es mit einem ganz reinen Menschen zu tun zu haben. Sollte ich mich getäuscht haben? Dann wäre es mit der Freundschaft aus. Ich wollte nicht mit Leuten umgehen, die in diesem Punkt nicht ganz sauber wären. Erna hatte mit Hans Biberstein einmal eine Aussprache über solche Fragen gehabt, und wir waren hinterher beide sehr glücklich, daß wir uns auf ihn verlassen [142] konnten. Ich wollte auch jetzt der Sache auf den Grund gehen. Als wir uns am nächsten Tage in einer Freistunde trafen, mußte der Arme eine gehörige Predigt über sich ergehen lassen. Er hörte sie ganz still an und war vielleicht noch erregter als ich. Als ich fertig war, erklärte er mir, es sei ihm äußerst peinlich gewesen, solche Dinge berühren zu müssen, und er hätte möglichst schnell darüber hinwegkommen wollen. Dazu hatte er den üblichen leichten Journalistenton gewählt. Auf eine solche Wirkung war er nicht gefaßt. An seiner Ehrlichkeit war nicht zu zweifeln. So waren wir schnell wieder versöhnt: „Ach, wenn doch meine Mutter diese Unterredung gehört hätte“, sagte er am Ende. Er hatte etwas mädchenhaft Zartes. Er war groß und schlank, und das schmale Gesicht war meist etwas gerötet; äußerlich war ihm keine Krankheit anzumerken, aber er litt sehr an Migräne und war an manchen Tagen ganz arbeitsunfähig. Da ich meine ganze Studienzeit hindurch immer völlig frisch und gesund war, so hatte ich für ihn immer etwas von dem Mitleid gegenüber dem vital Schwächeren.

Metis hatte etwas, was ihn von all meinen andern Gefährten unterschied: er war ein strenggläubiger und gesetzestreuer Jude. Wir sprachen nicht viel davon; ich ließ ihn gewähren, und er bemühte sich nicht, auf mich Einfluß zu gewinnen. Wenn er bei mir zum Arbeiten war, nahm er nur etwas Obst an. Als ich ihm einmal Gebäck anbot, sagte er lächelnd: „Was ich nicht definieren kann, das sehe ich als verboten an“. Eines Tages, als ich mit ihm unterwegs war, hatte ich in einem Hause etwas zu erledigen. Ich gab ihm vor der Haustür schnell meine Aktenmappe zum Halten und ging hinein. Zu spät fiel mir ein, daß es Samstag sei und daß man am Sabbath nichts tragen dürfte. Im Torbogen fand ich ihn geduldig warten. Ich entschuldigte mich, daß ich ihn in meiner Gedankenlosigkeit zu etwas Verbotenem genötigt hätte. „Ich habe nichts Verbotenes getan“, sagte er ruhig, „nur auf der Straße darf man nichts tragen, im Hause ist es erlaubt“. Dazu war er im Eingang stehen geblieben und hatte sich sorgfältig gehütet, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Das war eine der talmudistischen Spitzfindigkeiten, die mich abstießen. Ich sagte aber nichts.

Als ich später in Göttingen anfing, mich mit religiösen Fragen zu beschäftigen, fragte ich ihn einmal brieflich nach seiner Gottesidee: Ob er an einen persönlichen Gott glaube. Er antwortete kurz: Gott ist Geist. Mehr sei darüber nicht zu sagen. Das war mir, als ob ich einen Stein statt Brot bekommen hätte.

Ich bekam nach Göttingen regelmäßig jede Woche einen Brief. In den Ferien arbeiteten wir zusammen deutsche Literatur: ich fürs Staatsexamen, er zur Doktorprüfung. In dieser Prüfung hatte er [143] zunächst Pech und mußte sie ein zweitesmal machen. Das bedrückte ihn sehr. Bei seiner öffentlichen Promotion war ich zugegen; dabei lernte ich auch seine Eltern kennen und wurde von ihnen freundlich begrüßt, auch von der Mutter, die meinen Einfluß früher so gefürchtet hatte. Als ich später „summa cum laude“ promovierte, schrieb er mir: „Und es kam, wie es kommen mußte“. Zum Kriegsdienst war er untauglich. Er hatte indessen auch Staatsexamen gemacht und trat in den Schuldienst ein. Nach Freiburg bekam ich überraschend die Nachricht, daß er an einer Lungenentzündung gestorben sei.

Meine Angehörigen schickten mir die Todesanzeige und berichteten mir, wie traurig der Anblick der Eltern am Grab des einzigen Kindes gewesen sei. Natürlich schrieb ich ihnen, und später kam mir öfters der Gedanke, ob ich wohl die Mutter einmal aufsuchen solle. Die Erwägung, daß meine spätere Entwicklung ihr wohl ganz unverständlich sei, hielt mich aber immer wieder davon zurück. Ich weiß nicht, wie er selbst sich zu dieser Entwicklung gestellt hätte. Es war schon eine gewisse Entfremdung eingetreten, als ich ins rein wissenschaftliche Fahrwasser einlenkte. Ich hatte ihn in Breslau in die Pädagogische Gruppe eingeführt, und es war ihm schmerzlich, daß die, die ihm die Erziehungsfragen nahe gebracht hatte, nun selbst einen ganz anderen Weg einschlug.


4.

Wenn die vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten und freundschaftlichen Beziehungen der Arbeit nicht schadeten, so hatte doch etwas anderes darunter zu leiden: für das Familienleben blieb mir kaum noch Zeit übrig. Meine Angehörigen bekamen mich fast nur noch bei den Mahlzeiten zu sehen – und auch da nicht einmal immer. Kam ich zu Tisch, so waren meine Gedanken meist noch bei der Arbeit, und ich sprach wenig. Meine Mutter pflegte zu sagen, man könne mir auf den Teller legen, was man wolle, ohne daß ich es merkte. Und sie war noch froh darüber, weil sie so wenigstens dafür sorgen konnte, daß etwas Rechtes auf den Teller kam. In späteren Jahren, wenn ihr meine Appetitlosigkeit Kummer machte, dachte sie mit Sehnsucht an diese Zeit zurück. Ich hatte es schwerer als Erna, von meinem Studium zu erzählen. In den Kliniken gab es immer Erlebnisse, für die jedermann Verständnis und Interesse hatte. Aber meine philosophischen Probleme waren nichts für den Familientisch. Meine Mutter kam einmal in mein Arbeitszimmer, während ich gerade mit Plato beschäftigt war. Sie [144] nahm mir das Buch aus der Hand, um doch einmal zu sehen, in was für Dinge ich da vertieft sei. Ganz verblüfft sagte sie: „ Nun, das weißt du doch längst“. Wenn ich mich nicht irre, war es der „Parmenides“, und sie hatte gerade ein paar Sätze über das Eine und das Viele erwischt, die für den naiven Menschen wie platte Selbstverständlichkeiten klingen.

Es geschah auch nicht selten, daß mich meine Mutter den ganzen Tag, ja manchmal zwei Tage lang überhaupt nicht zu sehen bekam. Früh ging sie oft schon ins Geschäft, ehe ich zum Frühstück herunterkam. Ihre Mittagstunde war zwischen 12 und 1 Uhr, ich aber hatte manchmal bis 1 Uhr Vorlesung und aß dann allein nach. Und wenn ich abends bis 7 Uhr in der Universität zu tun hatte und um 8 Uhr schon wieder bei einer Abendveranstaltung in der inneren Stadt sein wollte, dann lohnte es nicht heimzugehen. Ich verbrachte die Stunde im Philosophischen Seminar oder in der Wohnung des Studentinnenvereins und verzehrte dort die mitgebrachten Butterbrote. Kam ich dann nach Hause, so schlief schon alles; auf dem Tisch im Eßzimmer erwartete mich ein liebevoll bereitgestellter Imbiß und die eingelaufene Post.

Auch darin unterschied ich mich von Erna, daß ich meine Freunde nicht wie sie in die Familie einführte. Ich lud sie überhaupt nicht zu mir ein, wenn es nicht eine gemeinsame Arbeit notwendig machte. Kam jemand zu diesem Zweck zu mir, so fand ich, ich könnte es ihm nicht zumuten, sich mit einer vielköpfigen Familie bekannt machen zu lassen und seine Zeit auf eine allgemeine Unterhaltung zu verschwenden. Nur, wenn wir im Vorzimmer oder Treppenhaus jemandem begegneten, stellte ich vor. Mit großer Beschämung muß ich gestehen, daß mir solche Begegnungen stets sehr unangenehm waren. Ja, ich war so albern, daß ich mich der Arbeitskleidung und der harten Arbeitshände meiner lieben Mutter schämte, wenn sie gerade vom Holzplatz heimkam. Die Freundinnen allerdings, die zu mir kamen, haben immer von selbst dafür gesorgt, daß sie auch mit meinen Angehörigen bekannt wurden, und es war keine darunter, die nicht die ungewöhnlichen Eigenschaften meiner Mutter bald erkannt und mit Liebe und Verehrung zu ihr aufgeblickt hätte.

An Geburtstagsfeiern und andern Familienfesten nahm ich auch weiter teil, mußte dann auch durch die nötigen Gelegenheitsdichtungen für Unterhaltung sorgen. Wie sehr ich mich sonst den Meinen entzogen hatte und daß sie es schmerzlich empfanden, das merkte ich selbst kaum. Ich lebte ganz in meinem Studium und den Bestrebungen, zu denen es mich geführt hatte. Darin sah ich meine Pflichten und war mir keines Unrechts bewußt.

[145] Die ständige Anspannung aller Kräfte erweckte das beglückende Gefühl eines hochgesteigerten Lebens, ich erschien mir als ein reiches und bevorzugtes Geschöpf. Im Anfang meiner Studienzeit bat mich einmal unser alter Direktor zu sich, um mir eine Stundenschülerin zu empfehlen. Natürlich erkundigte er sich auch, wie es mir gehe, und als ich so recht von Herzen erwiderte: „O, mir geht es sehr gut!“, öffnete er seine großen, runden, etwas vorstehenden Augen noch weiter als gewöhnlich und sagte verwundert: „Nun, das hört man selten“. Zu dieser Hochstimmung stand in merkwürdigem Gegensatz ein Erlebnis, das ich wohl nicht viel später hatte. Ich schlief damals – wie immer bis zu ihrer Verheiratung – mit meiner Schwester Erna in einem Zimmer. Wir hatten noch kein elektrisches Licht im Haus, sondern Gasbeleuchtung; an der Lampe in unserm Schlafzimmer war ein Kleinsteller angebracht, und wir pflegten nachts den Hahn nicht abzudrehen, um jederzeit rasch wieder Licht haben zu können. Eines Morgens öffnete unsere Schwester Frieda die Tür zu unserm Zimmer und stieß einen Schrei des Schreckens aus. Ein starker Gasgeruch strömte ihr entgegen; wir beide lagen totenbleich und wie in schwerer Betäubung in unsern Betten. Die Flamme war ausgegangen und das Gas ausgeströmt. Frieda riß schnell das Fenster auf, drehte den Hahn ab und weckte uns. Ich erwachte aus einem Zustand süßer, traumloser Ruhe, und als ich zu mir kam und die Situation erfaßte, war mein erster Gedanke: „Wie schade! Warum hat man mich nicht für immer in dieser tiefen Ruhe gelassen?“ Ich war selbst ganz betroffen über die Entdeckung, wie wenig ich „am Leben hing“.

Auch aus dem wachen Tagesleben erinnere ich mich an eine Zeit, in der die Sonne erloschen schien. Es war wohl im Sommer 1912, als ich den Tendenzroman „Helmut Harringa“ las. Er schilderte das Studentenleben, den wüsten Betrieb in den Verbindungen mit ihrem unsinnigen Alkoholzwang und die moralischen Verirrungen, die daraus folgen, in den abschreckendsten Farben. Das erfüllte mich mit solchem Ekel, daß ich mich wochenlang nicht davon erholen konnte. Ich hatte alles Vertrauen zu den Menschen verloren, unter denen ich mich täglich bewegte, ging herum wie unter dem Druck einer schweren Last und konnte nicht wieder froh werden. Bezeichnend ist, was mich von dieser Depression heilte. In jenem Jahr wurde in Breslau das große Bachfest gefeiert. Bach war ja mein Liebling, und ich hatte eine Karte für alle Vorstellungen: Orgelkonzert, Kammermusik und einen großen Orchester- und Gesangabend. Ich weiß nicht mehr, welches Oratorium an diesem Abend zur Aufführung kam. Ich weiß nur, daß Luthers Trutzlied „Ein feste Burg ...“ darin vorkam. Ich hatte es in unsern Schulandachten [146] immer gern mitgesungen. Als nun so recht kampfesfroh die Strophe erklang: „Und wenn die Welt voll Teufel war’ / und wollt’ uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nimmermehr, / es muß uns doch gelingen ...“, da war mit einmal mein ganzer Weltschmerz verschwunden. Gewiß – die Welt mochte schlecht sein: aber wenn wir unsere ganze Kraft einsetzen, die kleine Schar von Freunden, auf die ich mich verlassen konnte, und ich – dann würden wir schon mit allen „Teufeln“ fertig werden.


5.

Vier Semester hatte ich an der Universität Breslau studiert. Ich hatte am Leben dieser „alma mater“ wie wohl nur wenige Studenten teilgenommen und es mochte scheinen, als sei ich so mit ihr verwachsen, daß ich mich nicht freiwillig von ihr trennen würde. Aber hier wie später noch oft im Leben konnte ich die scheinbar festesten Bande mit einer leichten Bewegung abstreifen und davonfliegen wie ein Vogel, der der Schlinge entronnen ist. Ich hatte es immer vorgehabt, einmal an einer andern Universität zu studieren. Solange ich aufs Gymnasium ging, war es mein Plan, gleich in meinem ersten Semester mit Erna nach Heidelberg zu gehen, dessen Zauber die alten Studentenlieder so verlockend besangen. Dieser Plan wurde dadurch vereitelt, daß Erna in meinem ersten Semester ihr Physikum machte und nicht von Breslau fortkonnte. Im nächsten Sommer hieß es, sie stünde nun schon zu dicht vor dem Staatsexamen und müßte zu Hause bleiben. Der stärkere Magnet war wohl Hans Biberstein; er hatte den Sommer vor meinem Abitur in Freiburg i.Br. studiert und durfte nicht noch einmal fort. Ich sah nun ein, daß ich mich nicht an meine Schwester binden könnte. Und ich wollte nicht warten, bis auch mich die Examensrücksichten festhielten. In meinem vierten Semester bekam ich den Eindruck, daß Breslau mir nichts mehr zu bieten hätte, und daß ich neue Anregungen brauchte. Objektiv stimmte das keineswegs. Es gab noch genügend unausgenutzte Möglichkeiten, und ich hätte hier noch sehr viel dazu lernen können. Es drängte mich aber fort. Für die Wahl der Hochschule spielte nun die Poesie der Studentenlieder keine Rolle mehr. Etwas ganz anderes bestimmte sie eindeutig. Im Sommer 1912 und im Winter 1912/13 wurden in Sterns Seminar Probleme der Denkpsychologie behandelt, hauptsächlich im Anschluß an die Arbeiten der „Würzburger Schule“ (Külpe, Bühler, Messer u.s.w.). Ich übernahm in beiden Semestern ein Referat. In den Abhandlungen, die ich dafür durchzuarbeiten hatte, fand ich [147] immer wieder Edmund Husserls „Logische Untersuchungen“ angeführt. Eines Tages traf mich Dr. Moskiewicz bei dieser Beschäftigung im Psychologischen Seminar. „Lassen Sie doch all das Zeug“, sagte er, „ und lesen Sie das hier; die andern Leute haben ja doch alles nur daher“. Er reichte mir ein dickes Buch: es war der II. Band von Husserls „Logischen Untersuchungen“. Ich konnte mich nicht sofort darauf stürzen, das erlaubten die laufenden Semesterarbeiten nicht; aber ich nahm es mir für die nächsten Ferien vor. Mos kannte Husserl persönlich; er hatte ein Semester bei ihm in Göttingen studiert und sehnte sich immer wieder dorthin. „In Göttingen wird nur philosophiert – Tag und Nacht, beim Essen, auf der Straße, überall. Man spricht nur von ‘Phänomenen’“. Eines Tages war in den illustrierten Zeitungen das Bild einer Göttinger Studentin zu sehen, die eine philosophische Preisarbeit gemacht hatte: Husserls glänzend begabte Schülerin Hedwig Martius. Mos kannte auch sie und wußte, daß sie sich eben mit einem älteren Husserlschüler, Hans Theodor Conrad, verheiratet hatte. Als ich einmal wieder abends spät nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Brief aus Göttingen. Mein Vetter Richard Courant war seit kurzem dort Privatdozent für Mathematik und hatte sich eben mit seiner Studienfreundin Nelli Neumann, einer Breslauerin, verheiratet. Dieser Brief war von Nelli an meine Mutter gerichtet und enthielt den Dank für unser Hochzeitsgeschenk. Er schilderte auch das Leben des jungen Paares; und dabei kam dann der Satz: „Richard hat viele Freunde, aber wenig Freundinnen mit in die Ehe gebracht. Möchtest Du nicht Erna und Edith zum Studium herschicken? Das wäre dann etwas Ausgleich“. Dies war der letzte Tropfen, der bei mir gerade noch fehlte. Am nächsten Tage teilte ich der staunenden Familie mit, daß ich im kommenden Sommersemester nach Göttingen gehen wolle. Da ihnen die ganze vorausgehende Entwicklung unbekannt war, kam es wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Meine Mutter sagte: „Wenn es für dein Studium nötig ist, will ich dir gewiß nicht im Wege sein“. Aber sie war sehr traurig – viel trauriger als es der Trennung für ein kurzes Sommersemester entsprach. „Es gefällt ihr nicht mehr bei uns“, sagte sie einmal in meiner Gegenwart zur kleinen Erika. Das Kind hing sehr an mir. Sie liebte es, bei mir im Zimmer zu sein, während ich arbeitete. Ich setzte sie auf den Teppich und gab ihr ein Buch mit Bildern in die Hand. Dann war sie still beschäftigt und störte mich nicht. Man konnte ihr die besten Bücher geben. Sie beschädigte keines. Und sie verlangte keine andere Unterhaltung, sondern blieb ruhig und zufrieden da, bis sie jemand herausholte.

Der erste Schritt zur Ausführung meines Planes war eine Karte [148] an meinen Vetter mit der Bitte, mir über die Vorlesungen der Göttinger Philosophen im nächsten Semester Auskunft zu verschaffen. Er schickte mir bald darauf die Druckbogen des neuen Vorlesungsverzeichnisses. Die Weihnachtsferien benützte ich zum Studium der „Logischen Untersuchungen“. Da sie damals vergriffen waren, mußte ich das Exemplar des Philosophischen Seminars benützen und verbrachte dort meine Tage. Professor Hönigswald kam auch öfters hin und fragte mich schließlich einmal, was ich denn die ganzen Ferien durch so eifrig studierte. „So, nichts Geringeres als Husserl!“ war seine Antwort auf meine Auskunft. Jetzt ging das Herz auf. „Im Sommer gehe ich nach Göttingen“, erzählte ich freudestrahlend. „O, wenn man nur selbst schon so weit wäre, etwas in dieser Richtung arbeiten zu können!“ Er war etwas verblüfft. In jenem Winter hielt er zum erstenmal eine Vorlesung über Denkpsychologie; es war der Anfang seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, die später in eine scharfe Gegnerschaft ausartete. Damals war seine Ablehnung noch nicht so entschieden; es war ihm aber doch wohl nicht ganz recht, daß eine Schülerin mit fliegenden Fahnen in jene Lager überging. Mir war dieser Gedanke gar nicht gekommen. Bei aller Bewunderung für Hönigswalds Scharfsinn kam es mir nicht in den Sinn, daß er es wagen könnte, sich mit Husserl auf eine Linie zu stellen. Denn davon war ich damals schon überzeugt, daß Husserl der Philosoph unserer Zeit sei. Wenn von da ab in Hönigswalds Seminar die Rede auf Phänomenologie kam, wurde ich als „Sachverständige“ aufgerufen.

Am Sylvesterabend trugen Lilli Platau, Rose und Hede Guttmann eine kleine Scherzdichtung vor. Sie hatten für jeden der Anwesenden eine Strophe mit dem bekannten Refrain: Ist das nicht um Kopf zu stehen? Sie sangen hinter einer Spanischen Wand, über die nur ihre Köpfe hervorragten. Beim Kehrreim verschwanden jedesmal die Köpfe, und es tauchten dafür die Füße auf (tatsächlich ausgestopfte Schuhe und Strümpfe, die sie über die Hände gezogen hatten). Meine Strophe lautete:

Manches Mädchen träumt von Busserl,
Edith aber nur von Husserl.
In Göttingen da wird sie sehn
Den Husserl leibhaft vor sich stehn.

Ich bekam aber auch noch etwas Ernsteres zu hören. In unserer Sylvesterzeitung stand ein Märchen von einem blauen Steinchen, das mir in zarter Symbolik klar machte, wie sehr meine Angehörigen und Freundinnen mein Versinken in der reinen Wissenschaft als menschlichen Verlust empfanden. Lilli hatte es verfaßt.

[T5] EDITH STEIN UND ILSE GORDON [T6] EDITH STEIN [149] Allmählich wurden alle nötigen Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Nachdem für mich selbst der Sommer in Göttingen gesichert war, kam mir ein neuer Gedanke. Göttingen war ja nicht nur ein Paradies für Philosophen, sondern auch für Mathematiker. So machte ich Rose den Vorschlag mit mir zu gehen. Es lockte sie natürlich sehr, aber sie hatte Bedenken, ob sie es sich leisten könnte. Sie pflegte sich ja durch Privatstunden ihr Studium zu verdienen, und davon konnte an einer fremden Universität keine Rede sein; dort mußte dann alle Zeit ausgenützt werden, um die Anregungen aufzunehmen, die sie bot. Das war es aber gerade, was ich für Rose wünschte. Ihre ständige Überarbeitung in so jungen Jahren machte mir Sorge, und ich hätte sie gern wenigstens für ein paar Monate diesem Betrieb entzogen. Eines Tages, als ich mit meiner Mutter allein war, fragte ich scherzend: „Mutti, bist du eine reiche Frau?“ Sie antwortete im selben Ton: „Ja, mein Kind; was möchtest du denn?“ Nun rückte ich mit meinem Anliegen heraus, ob sie Rose die Mittel geben wollte, um ein Semester in Göttingen zu studieren. Sie war sofort dazu bereit. Als ich meiner Freundin das mitteilte, entschloß sie sich, mit mir zu gehen; nach Rücksprache mit ihren Angehörigen ergab es sich auch, daß sie es aus eigenen Mitteln konnte und die Güte meiner Mutter nicht in Anspruch zu nehmen brauchte. Unser Entschluß brachte auch bei Georg Moskiewicz den Plan zur Reife, noch einmal nach Göttingen zu gehen. Das war für uns sehr angenehm, weil er schon dort bekannt war und uns in den Kreis der Phänomenologen einführen konnte.

Ich hatte nie daran gedacht für länger als ein Semester fortzugehen. Wenn das Studium an einer kleinen Universität auch damals ein billiges Vergnügen war, so kostete es immerhin mehr als wenn man zu Hause war. Und die von Kindheit an gewöhnte Sparsamkeit ließ den Wunsch gar nicht aufkommen, eine solche Mehrausgabe für längere Zeit in Anspruch zu nehmen. Darum schien mir auch die Betrübnis meiner Mutter über die bevorstehende Trennung übertrieben. Im tiefsten Herzen hatte ich aber – wie sie wohl auch – eine geheime Ahnung, daß es ein schärfer einschneidender Abschied sei. Und wie um dieser kaum bewußten Ahnung entgegenzuarbeiten, tat ich etwas, was mich zur Rückkehr zwingen sollte: ich ging zu Professor Stern, um mir ein Thema für eine psychologische Doktorarbeit zu erbitten. Ich zog ihn den andern Philosophen vor, weil ich nach meinen bisherigen Erfahrungen glaubte, daß er mir am meisten freie Hand lassen würde. Aber darin hatte ich mich getäuscht. Er hatte unsere Kritik an seinen Methoden im Seminar immer freundlich und ohne jede Empfindlichkeit aufgenommen. Aber er war so festgelegt auf seine Idee, daß er durch [150] nichts darin zu beirren war; und an den Arbeiten seiner Schüler wollte er doch auch eine Hilfe für die seinen haben. Das wurde mir aus unserer Unterredung ganz klar. Er empfing mich gütig wie immer, ging auch bereitwillig auf meinen Wunsch ein, obwohl ich ja noch reichlich jung war; aber was er mir vorschlug, das konnte nicht ernstlich für mich in Betracht kommen: Ich sollte – im Anschluß an das Referat, das ich in diesem Winter gehalten hatte – die Entwicklung des kindlichen Denkens bearbeiten, und zwar mit Ausfrageexperimenten, wie sie der unglückliche Mos zu seiner Qual seit Jahren betrieb. Da ich vorhatte, über Berlin und Hamburg nach Göttingen zu reisen, sollte ich von Berlin aus das „Institut für angewandte Psychologie“ in Klein-Glieneke bei Potsdam besuchen und mir von Sterns Mitarbeiter Dr. Otto Lipmann das dort vorhandene Bildermaterial zeigen lassen, ob etwas für diese Arbeit Passendes darunter sei. Der Besuch in Klein-Glieneke war das Einzige, was ich für meine psychologische Dissertation getan habe.

Moskiewicz war mit Dr. Lipmann befreundet und meldete uns – sich selbst, Rose und mich – für einen Nachmittag dort an. Der Hausherr und seine reizende kleine Frau empfingen uns mit herzlicher Gastfreundschaft. Wir wurden zum Kaffee und Abendessen eingeladen, bekamen die netten Kinder vorgestellt und das ganze Häuschen gezeigt und machten einen schönen Spaziergang an den Havelsee, an dem der Ort liegt. Zwischendurch wurden wir auch einmal in die hellen Kellerräume geführt, in denen das „Institut“ untergebracht war. Die Bildersammlungen, die in einem Schubkasten vorhanden waren, lockten mich wenig, und der kluge Dr. Lipmann bestätigte mir, daß damit nicht viel anzufangen sei.

Ich nahm die Erinnerung an einen netten Nachmittag mit und die Überzeugung, daß aus der Arbeit nichts werden könne. Es war von vornherein verfehlt, an eine psychologische Arbeit zu denken. Mein ganzes Psychologiestudium hatte mich ja nur zu der Einsicht geführt, daß diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke, daß es ihr noch an dem notwendigen Fundament geklärter Grundbegriffe fehle und daß sie selbst nicht imstande sei, sich diese Grundbegriffe zu erarbeiten. Und was ich von der Phänomenologie bisher kennen gelernt hatte, entzückte mich darum so sehr, weil sie ganz eigentlich in solcher Klärungsarbeit bestand und weil man sich hier das gedankliche Rüstzeug, das man brauchte, von Anfang an selbst schmiedete. Die Erinnerung an mein psychologisches Thema war anfangs in Göttingen noch ein leichter Druck, aber ich schüttelte ihn bald ab.



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