Zum Inhalt springen

Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Vom Werdegang der beiden Jüngsten

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie Edith Stein
Aus dem Leben einer jüdischen Familie
Von den Studienjahren in Breslau »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[65]
IV
Vom Werdegang der beiden Jüngsten


1.

Wenn ich uns sieben Geschwister an meinem Geist vorüberziehen lasse, dann muß ich sagen, daß Erna von uns allen die glücklichsten Anlagen hatte: schön, offen und mitteilsam, von großer Herzensreinheit und -güte, überaus bescheiden und ihrer eigenen Vorzüge unbewußt, gut begabt, geschickt und anpassungsfähig. So war sie wie geschaffen, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Natürlich hatte auch sie ihre Fehler, und sie wurden im Familienkreis nicht übersehen: das leichte Aufbrausen, die allzu große Beeinflußbarkeit und eine gewisse Passivität. Aber diese Fehler waren von der Art, die man leicht erträgt und verzeiht. Wenn auch durch dieses Kind der Mutter schwerer Kummer erwuchs, so geschah es nicht durch Härten und Kanten, sondern durch eine schwere Last, die das Leben ihr auferlegte und an der die Liebe der Angehörigen mit trug.

Ich habe früher von unserer gemeinsamen Kinder- und Jugendzeit gesprochen und von Ernas Berufswahl. Die zehn Monate, die ich in Hamburg verbrachte, waren unsere erste längere Trennung. Sie wurde aber dadurch abgekürzt, daß Erna für die Sommerferien auch nach Hamburg kam. Nach meiner Rückkehr bewohnten wir wieder ein gemeinsames Zimmer. Und als ich ein Jahr darauf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden hatte, sagte sie: „Gott sei Dank; nun brauche ich nicht mehr allein den Schulweg zumachen!“ Ein Jahr lang sind wir dann noch wie in unsern Kinderjahren miteinander jeden Morgen über die Oderbrücke zum Ritterplatz gepilgert. Unterwegs sagte sie mir gern ihre Schulaufgaben her. Auch bei der Vorbereitung zum Abitur mußte ich ihr helfen. Ich suchte in die Eintönigkeit des gedächtnismäßigen Einpaukens etwas Abwechslung zu bringen, indem ich mir die verschiedensten Aufgaben für meine Prüfung ausdachte. Z.B. verlangte ich auf Fragen aus der englischen und französischen Geschichte die Antworten in englischer und französischer Sprache. Sie stöhnte zwar etwas über diese Häufung der Schwierigkeiten, ich versicherte aber, das sei eine sehr nützliche Vorübung für die Prüfung in den neuen [66] Sprachen, und so fügte sie sich nach einigem Widerstreben. Sie mußte sich auf eine scharfe Prüfung gefaßt machen. Unsere Schule bekam erst im folgenden Jahr das Recht, selbst das Abitur für ihre Absolventinnen abzuhalten. Bis dahin wurden alle an ein Knabengymnasium überwiesen und von den fremden Lehrern in fast allen Fächern durchgeprüft. Die Examensnöte wurden natürlich von der ganzen Familie geteilt. Während der mündlichen Prüfung hielt ich mich fast den ganzen Tag in den Vorzimmern auf, um nach jedem Fach sofort das Ergebnis zu hören und in den Pausen nicht nur meine Schwester, sondern auch ihre Leidensgefährtinnen zu ermuntern und zu trösten. Am Abend waren Mutter und Geschwister fast vollzählig zur Stelle, um sie nach geschlagener Schlacht im Triumph heimzuführen. Daß ich mich an ihrer Mulusreise beteiligen durfte, erwähnte ich schon. Auch auf den ersten Wegen zur Universität, z.B. zur Immatrikulation, mußte ich sie begleiten, während meiner Pfingstferien jede Vorlesung einmal mithören, um die Professoren und den ganzen Betrieb kennenzulernen; sogar in die Knochen- und Bändersammlung der Anatomie nahm sie mich mit um ihr beim Lernen Gesellschaft zu leisten. Das war aber nur während der ersten Semesterwochen; sehr bald hatte sie andere Gesellschaft. Die schöne, junge Studentin zog die Augen der Kommilitonen auf sich. Der Keckste stellte sich selbst und einige nähere Bekannte ihr vor. Zwei begleiteten sie nun regelmäßig auf den Wegen von einem Institut zum andern. Bald schlugen sie auch eine Verabredung zum Tennisspielen vor; auf dem Tennisplatz lernte ich den kennen, der bald meinen Platz an der Seite meiner Schwester einnehmen sollte. Allerdings nicht so, daß dies eine Trennung zwischen uns bedeutet hätte. Das war schon darum nicht nötig, weil wir beide – Hans Biberstein und ich – uns recht gut verstanden. Er gefiel mir gleich sehr gut, wie er da auf dem Tennisplatz mir gegenüberstand. Der weiße Tennisanzug stand ihm ausgezeichnet zu dem braunen Gesicht und den glänzend schwarzen Haaren, gegen die sich die sehr hellen Augen eigenartig abhoben. Er war klein, schlank und sehnig und flog selbst leicht wie ein Gummiball von einem Ende des Platzes zum andern. Er spielte mit Leidenschaft, und es konnte ihn in gelinde Verzweiflung bringen, wenn ich mit stoischer Ruhe einem Ball nachsah, den ich nach meiner Berechnung doch nicht kriegen konnte. Hatte man ihn zum Gegner, dann war er ein erbitterter Feind, solange das Spiel dauerte. Sobald es aber zu Ende war, trat er dicht ans Netz und reichte einem darüber hinweg mit treuherzigem Blick die Hand zur Versöhnung. In den Gesprächen auf dem Heimweg stellten sich bald starke gemeinsame Interessen heraus. Er war wie ich [67] begeistert für Geschichte, hätte sie auch gern als Studium gewählt, wenn sie ihm nicht zu sehr als brotlose Kunst erschienen wäre, nahm leidenschaftlichen Anteil an allen politischen Ereignissen und war ein glühender Patriot. Vor meinem Abitur kam er öfters zu mir, um mit mir Geschichte zu arbeiten. Allerdings merkte ich, daß er meine Vorträge über große „Kettenfragen“, wie sie unser Direktor liebte, nicht sehr aufmerksam anhörte. Er hat meiner Schwester später einmal gestanden, daß sie damals einigen Grund gehabt hätte, auf mich eifersüchtig zu sein. Ich ließ mich durch seine Zerstreuung nicht beirren, sondern erledigte das Pensum, das ich mir vorgenommen hatte. Sobald es fertig war, gönnte ich uns beiden aber auch eine Belohnung. Gewöhnlich setzten wir dann Erna ans Klavier und ließen uns zum Tanzen aufspielen. Hans war der beste Tänzer, den man sich wünschen konnte – ich pflegte zu sagen, wenn man mit ihm tanze, verzeihe man ihm alle seine Fehler –, und wir beide hatten die größte Freude am Tanz als solchem. Meine Schwester machte sich weniger daraus, sie tanzte nur mit meinem Schwager gern und gut.

In den ersten Monaten unserer Bekanntschaft sahen wir uns nur außerhalb des Hauses. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir den neuen Freund unserer Mutter vorstellten. Sie sah uns vom Fenster aus entgegen, als wir vom Tennisspielen kamen. Und von der Straße aus zum Fenster hinauf wurde die Bekanntschaft vermittelt. Im folgenden Winter stellten wir bei einem Ball die Mütter einander vor. Seitdem gab es häufig gegenseitige Einladungen in der Familie und gemeinsame Ausflüge. Frau Biberstein war Witwe und lebte allein mit ihrem Sohn. Er hatte wie wir seinen Vater sehr früh verloren. Wenn man Sohn und Mutter kannte, dann konnte man sich nicht nur aus ihren Erzählungen, sondern auch auf Grund ihres Wesens ein Bild von dem Vater machen. Er war Lehrer in Laurahütte bei Kattowitz, nicht nur für die jüdischen Kinder, sondern an einer allgemeinen Volksschule. Er muß ein stiller Gelehrter und ein feiner, gütiger Mensch gewesen sein. Wenn unter den polnischen Bauernkindern in seiner Schule ein armer Junge war, der gern Priester werden wollte, dann bereitete er ihn gern unentgeltlich zum Studium vor. Nach Jahrzehnten kam es in Breslau vor, daß Frau Biberstein auf der Straße von einem katholischen Geistlichen freudig begrüßt wurde und daß er sich dann als ehemaliger Schüler ihres Mannes vorstellte. Auch die andern Schüler bewahrten ihm ihr Leben lang eine dankbare Erinnerung. Die Forschernatur und das Lehrtalent hat Hans von seinem Vater geerbt.

Von der Mutter stammen das lebhafte Temperament und die großen gesellschaftlichen Gaben: er versteht ausgezeichnet zu erzählen und [68] ist unerschöpflich an den überraschendsten witzigen Einfallen. Wenn er Geschichten und Gedichte in oberschlesischer Mundart – z.T. eigene Erzeugnisse – oder jüdische Witze zum Besten gab, dann hörte man ihm gern stundenlang zu und kam aus dem Lachen nicht heraus. Es war kein Wunder, daß er in jedem geselligen Kreis sofort der Mittelpunkt wurde, daß es Einladungen für ihn regnete, daß Mütter und Töchter ihn als eine „Glanzpartie“ ins Auge faßten. Er besaß zwar gar kein Vermögen, aber eine große Laufbahn schien ihm sicher. Frau Biberstein war die zweite Frau ihres Mannes. Aus erster Ehe waren ein Sohn und eine Tochter da. Nach dem Tode des Vaters blieb sie mit den Kindern noch einige Jahre in Laurahütte und verdiente zu ihrer kleinen Pension durch Handarbeitsunterricht etwas bei. Als Hans zehn Jahre alt war, siedelte sie nach Breslau über. Der ältere Sohn, Fritz, studierte Medizin und ließ sich als Hautarzt in Gleiwitz nieder. Da er bald eine gute Praxis hatte und überdies eine vermögende Frau heiratete, konnte er Mutter und Bruder einen regelmäßigen Zuschuß geben, so daß Frau Biberstein nun nicht mehr für den Lebensunterhalt zu arbeiten brauchte. Er ist ein stiller, bescheidener Mensch und gleicht offenbar sehr dem Vater. Die Stiefmutter behauptete stets, daß sie ihn nicht weniger liebe als ihren eigenen Sohn; ebenso war das Verhältnis zwischen den Brüdern das denkbar herzlichste; so lange wie möglich wurde es Hans verheimlicht, daß sie nicht dieselbe Mutter hatten. Dagegen hatte man den Eindruck, daß Frau Biberstein für ihre Stieftochter Rudolfine nicht viel übrig hatte; jedenfalls wußte sie nicht viel Gutes von ihr zu sagen. Wir vermuteten, daß das junge Mädchen, weil es sich zu Hause unglücklich fühlte, in die Ehe mit einem Mann gewilligt hatte, dem es sonst wohl nicht leicht sein Jawort gegeben hätte.

Mutter und Sohn hingen mit zärtlichster Liebe aneinander. Frau Biberstein sonnte sich in ihrem Hans und verwöhnte ihn gründlich. Trotzdem sie in bescheidenen Verhältnissen lebten, wurde er in Essen und Kleidung sehr anspruchsvoll erzogen. Seine Vorzüge wurden in seiner Gegenwart beständig gerühmt – und wehe dem, der nicht einstimmte! Da sich alles um ihn drehte, war er, ohne es selbst zu merken, im häuslichen Leben recht rücksichtslos geworden. Andererseits äußerte sich seine Kindesliebe in ganz rührenden Formen. Seine Mutter war schwer herzleidend und mußte immer auf Anfälle gefaßt sein. Da außer ihm niemand zur Pflege da war – sie hatten als einzige Hilfe gewöhnlich nur ein sehr junges Dienstmädchen, auf das man sich nicht verlassen konnte –, schlief er mit ihr in einem Zimmer. Wenn sie große Handarbeiten anfing, fürchtete er, sie könnte sich überanstrengen, und half dann selbst mit; seine schmalen, [69] geschickten Hände waren dabei ebenso kunstfertig wie beim Präparieren in der Anatomie und später in der ärztlichen Praxis. Er gehorchte auch noch, wo die mütterliche Besorgnis zur liebevollen Tyrannei wurde. So waren wir anfangs sehr erstaunt, daß er nicht mit uns rudern durfte. Es war ihm als zu gefährlich ein für allemal verboten. Alle Sommerferien verbrachte er Jahrzehnte hindurch mit seiner Mutter in demselben Badeort. Und er hatte sich vorgenommen, sich niemals von ihr zu trennen, immer mit ihr zusammen zu leben, im Alter für sie zu sorgen und ihr so zu danken, was sie für ihn getan hatte.

Darum wollte er gar nicht heiraten oder eine reiche Frau, deren Vermögen ihm gestatten würde, den Lebensabend seiner Mutter schön zu gestalten. Für diese jugendlichen Zukunftspläne war es eine Gefahr, als er meine Schwester kennenlernte. Er hat uns öfters erzählt, wie es geschah. Er kam zur Universität mit dem Vorurteil, daß alle Studentinnen häßlich seien, älter als er und eine Brille trügen. Bei der Eintragung in die Matrikel (die Stammrolle der Universität, in die jeder Student seine Personalien eigenhändig eintragen muß) stand Erna vor ihm. Daß sie schön war und keine Brille trug, war ohne weiteres zu sehen. Er konnte ihr aber auch über die Schulter gucken, während sie ihr Geburtsdatum eintrug, und feststellen, daß sie zwei Monate jünger war als er. Einige Tage danach vermittelte sein Schulkamerad Weiß die Bekanntschaft. Bald war man an der Universität gewöhnt, sie immer zusammen zu sehen.

Sie gingen miteinander von einer Vorlesung zur andern, saßen nebeneinander im Hörsaal, arbeiteten zusammen und machten alle Prüfungen zusammen. Eine Mitstudentin nannte sie scherzend (Erna + Biber-) Stein. Man glaubte allgemein, daß sie verlobt seien. Aber sie redeten sich mit „Sie“ an, und in unserer Familie verkehrte Hans nur als Freund. Über die gegenseitige Neigung waren sie sich bald klar. Es setzten zwar noch immer viele Mädchen ihre Hoffnung auf den vielbegehrten jungen Mann, und er liebte das, aber ernstlich zog er niemand anders mehr in Betracht. Und meine gute Schwester hatte für keinen andern Mann mehr einen Blick übrig. Natürlich lernte sie andere Kommilitonen kennen und war freundlich gegen sie, aber keiner konnte sich mit einer Hoffnung schmeicheln. Wie ihr Verhältnis eigentlich war, das habe ich erst viel später genau erfahren. In ihrem täglichen Zusammensein sprachen sie sehr offen miteinander. Hans schilderte ihr die Verpflichtungen, die er seiner Mutter gegenüber hätte, und sie kamen schließlich überein, daß sie niemals heiraten wollten. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie jahrelang dabei geblieben. Dieses eigenartige Verhältnis bedeutete für Erna natürlich eine schwere seelische Belastung. Dazu kamen [70] häufige Zerwürfnisse infolge der großen Empfindlichkeit des verwöhnten einzigen Sohnes. Sie hätte an all dem wohl noch schwerer getragen, wenn nicht treue Freundschaft die Bürde mit ihr geteilt hätte. In der Klasse zwischen uns, die ein Jahr nach Erna und vor mir Abitur machte, war ein Paar unzertrennlicher Freundinnen, Lilli Platau und Rose Guttmann. Ich hatte mit den beiden oft in den Pausen auf dem Schulhof geplaudert, wir hatten uns gegenseitig unsere Aufsätze gezeigt, hatten auch einige Zeit zusammen private Literaturstunden. Erna lernte sie erst näher kennen, als Lilli anfing Medizin zu studieren und viele Vorlesungen und Übungen mit ihr gemeinsam hatte. Beide schlossen sich bald sehr herzlich aneinander an. Rose studierte Mathematik und Naturwissenschaften, und als ich zur Universität kam, fanden wir uns in den philosophischen und psychologischen Vorlesungen zusammen. Bald standen auch wir sehr nahe miteinander, und so erwuchs ein vierblättriges Kleeblatt, das fest zusammenhielt. Da Hans von Erna nicht zu trennen war, gehörte er als fünftes Blättchen mit dazu. Er wurde auch von uns keineswegs nur um ihretwegen mitgeduldet, sondern es verbanden ihn mit jeder einzelnen von uns herzliche freundschaftliche Beziehungen und sachliche Interessen. Nur waren wir keineswegs gesonnen, uns ihm so gefügig zu unterwerfen, wie seine Mutter und Erna das zu tun pflegten, sondern setzten uns sehr entschieden zur Wehr, wo er uns im Unrecht zu sein schien; es gab oft scharfe Auseinandersetzungen, sie endeten aber immer mit einer aufrichtigen und feierlichen Versöhnung. Da wir im Semester an verschiedenen Stellen beschäftigt waren, verabredeten wir alle einen gemeinsamen Abend in der Woche. Im Sommer kamen wir, wenn irgend möglich, im Freien zusammen, und ich erinnere mich noch an die tiefe Freude, wenn wir nach der Last des Tages in einem Garten vor der Stadt unter einem blühenden Apfelbaum beim Nachtessen saßen und freimütig und von Herzen über die Fragen sprachen, die uns bewegten. Im Winter kamen wir abwechselnd in unsern Häusern zusammen und arbeiteten fortlaufend etwas miteinander. Die Mediziner verlangten nämlich, daß die Philosophen etwas für ihre Allgemeinbildung tun müßten. Besonders die überaus lebhafte, geistig bewegliche und vielseitig interessierte Lilli fürchtete sich immer vor der Gefahr, im Fachstudium zu versimpeln. Natürlich stürzten wir uns sofort auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Wie weit wir darin kamen, weiß ich nicht mehr. In einem Semester arbeiteten wir uns mit Todesverachtung durch Meumanns „Experimentelle Psychologie“ hindurch, obwohl uns der dicke Band mit seinen vielen Versuchsberichten sehr langweilte und oft höchst lächerlich vorkam.

Heiß bewegte uns alle damals die Frauenfrage. Hans war unter [71] den Studenten ein weißer Rabe; er trat nämlich so radikal für vollständige Gleichberechtigung der Frauen ein wie nur irgendeiner von uns. Oft sprachen wir über das Problem des doppelten Berufs. Erna und die beiden Freundinnen waren sehr im Zweifel, ob man nicht der Ehe wegen den Beruf aufgeben müsse. Ich allein versicherte stets, daß ich um keinen Preis meinen Beruf opfern würde. Wenn man uns damals die Zukunft vorausgesagt hätte! Die drei andern heirateten und behielten trotzdem ihren Beruf bei. Ich allein blieb unverheiratet, aber ich allein ging eine Bindung ein, der ich mit Freuden jeden andern Beruf zum Opfer bringen wollte.


2.

Außer den Zusammenkünften im engsten Kreise trafen wir uns auch in erweiterter Geselligkeit. Die Familien Guttmann und Platau standen schon in Verkehr und wurden nun auch mit unsern Familien bekannt. Frau Platau war Witwe und hatte noch einen Sohn, der ein Jahr jünger war als Lilli. Ihr Mann war schon vor der Geburt des zweiten Kindes gestorben, und sie hatte sich, wie unsere Mutter, entschließen müssen, selbst für ihre Kinder zu sorgen. Es fiel ihr sehr viel schwerer, weil ihre natürliche Begabung und Neigung gar nicht in diese Richtung ging. Sie eröffnete eine mechanische Stickerei, in der sie eine größere Anzahl Mädchen beschäftigte. Sie war aber immer glücklich, wenn sie das Maschinenzimmer verlassen und sich in ihre einfachen, aber behaglichen Wohnräume begeben konnte.

Ihre beiden Kinder, besonders die begabte und temperamentvolle Lilli, waren ihr Stolz und ihre Freude. Sie liebte ihren Hans sicherlich nicht weniger, aber er war still und bescheiden und wurde von der lebhaften und selbstbewußten Schwester immer etwas in den Schatten gestellt. Das geschah ganz unbewußt, die ungleichen Geschwister hingen mit der größten Liebe aneinander. Ihre Mutter war eine schöne Frau mit edelgeschnittenen Zügen und großen, seelenvollen Augen; bis ins hohe Alter bewahrte sie eine außerordentliche Anmut. Sie nahm an unserm Studium und allen unsern Angelegenheiten lebhaften Anteil, hatte auch von sich aus starkes Verlangen nach geistigen Anregungen, war aber viel ruhiger und zarter als ihre Tochter. Ich fühlte mich zu dieser feinen, gütigen Frau sehr hingezogen, und auch sie faßte zu mir eine tiefe Zuneigung, die sie mir durchs ganze Leben bewahrte. Plataus wohnten ganz in der Nähe der Universität, und Lilli stellte mir für meine Hohlstunden ihr nettes, kleines Arbeitszimmer zur Verfügung. Oft habe ich zwischen zwei Kollegs dort an ihrem Schreibtisch gesessen. Frau Platau kam nur herein, um mich [72] kurz zu begrüßen und mir eine kleine Stärkung zu bringen; dann ließ sie mich ungestört. Besonders schön waren die Abende, an denen Erna und ich allein in diesem gastlichen Hause eingeladen waren. Erst wurde am Teetisch gemütlich geplaudert; die liebevolle Hausfrau sorgte stets dafür, daß er reich mit guten Sachen besetzt war. Dann spielten Frau Platau und Erna vierhändig, Lilli und ich aber zogen uns in ihr Zimmerchen nebenan zurück. Ich mußte mich auf ihre Chaiselongue legen, sie setzte sich daneben, und dann gab es den vertraulichsten Gedankenaustausch.

Nicht so unbedingt heimisch wie in diesen wohlgeordneten, harmonischen Verhältnissen fühlten wir uns in der Familie Guttmann. Hier lebten noch beide Eltern. Der Vater war ein großer, stattlicher Mann, etwas rauh und wortkarg. Tonangebend im Hause war seine kleine, behende und sprudelnd lebhafte Frau. An ihr hingen die drei Kinder – Rose, Hede und das verwöhnte Nesthäkchen Karl – mit zärtlicher Liebe und Bewunderung. Während unsere Mutter und Frau Platau für uns alles mit der größten Selbstverständlichkeit taten, ohne Gegenleistungen zu verlangen, wurde hier mehr die Mutter von den Töchtern verwöhnt. Sie nannten sie „Katerchen“ und nahmen ihr möglichst viel von den häuslichen Arbeiten ab; sie waren dazu viel besser angehalten als wir, beide tüchtig und gewandt.

Da die Agenturen des Vaters für den Unterhalt der Familie nicht ausreichten, fingen beide Mädchen auch schon sehr früh an mitzuverdienen, Rose durch Mathematikstunden, Hede durch Musikunterricht. Sie war stets überlastet und oft von Krankheiten heimgesucht, Hede besonders litt schon als junges Mädchen an quälenden Anfällen von Herzasthma. Rose war von schlanker, ebenmäßiger Gestalt und wußte sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden. Ihr schönster Schmuck aber waren zwei lange und schwere glänzendschwarze Zöpfe, die sie einfach um den Kopf geschlungen trug. Sie hatte eine große Anziehungskraft. Sie hatte nicht Lillis lebhafte und warmherzige Art, die jedem Menschen mit ungezwungener Herzlichkeit entgegenkam. Fremden gegenüber war sie zurückhaltend und fast abstoßend; in unserer Familie konnte sich darum außer Erna und mir niemand für sie erwärmen. Menschen, an denen ihr etwas lag, gewann Rose durch ihre außerordentliche Gabe, auf andere einzugehen. Sie verstand vorzüglich zuzuhören, so daß man sich ihr gern anvertraute. In wissenschaftlichen Gesprächen faßte sie die Gedanken anderer schnell und leicht auf und konnte mit großer Redegewandtheit darauf eingehen. Unleugbar und ganz ungewöhnlich war ihr Lehrtalent und ihr starker Einfluß auf ihre Schülerinnen. Als Hans Biberstein und Rose sich kennenlernten, fühlten sich beide stark zueinander hingezogen. Erna, die von Natur aus keineswegs zu [73] Eifersucht neigte, hat in diesem Fall doch nicht immer ruhig bleiben können. Andererseits war es gerade die gemeinsame Neigung, die die beiden Mädchen anfangs nahe miteinander verband.

Als ich zur Universität kam, wurde auch ich von dem Zauber ergriffen, den Rose auszuüben verstand. Sie war anfangs in unserer Freundschaft der führende Teil, aber nicht sehr lange. Durch die Bestimmtheit, mit der ich mir meine Ansichten bildete und sie gegen jedermann vertrat, später wohl auch durch die Fähigkeit zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit, gewann ich einen starken Einfluß auf sie. Ich verschwieg auch nicht, wie ich mir ihre Schwächen erklärte. Sie nahm alles, was ich sagte, dankbar und ohne Empfindlichkeit an, und hielt sich von da an noch viel fester an mich. Ich glaube, daß ihr Verhältnis zu mir nun ein ganz anderes war als die Beziehungen zu andern Menschen. Daß ich sie nicht in bengalischer Beleuchtung sah, sondern bei nüchternem Tageslicht, das war ihr wohl schmerzlich, aber es gab ihr andererseits eine Ruhe und Geborgenheit, die ihr sonst fehlte. Sie hat dies niemals ausgesprochen, ich weiß auch nicht, ob sie sich je darüber klar geworden ist. Sie fühlte sich nur von Zeit zu Zeit gedrängt mir zu schreiben, wie groß ihre Liebe zu mir sei; manchmal fügte sie noch hinzu, es sei eine „unglückliche Liebe“. Das war wohl insofern richtig, als ein solches Verhältnis ja unmöglich wechselseitig sein konnte. Aber eine treue Freundschaft und herzliche Zuneigung habe auch ich ihr immer bewahrt.

Wenn wir mit Guttmanns zusammen waren, wurde viel musiziert. Hede wurde als Pianistin und Musiklehrerin ausgebildet; sie hatte auch eine gute Stimme und war eine geborene Schauspielerin. Wenn sie uns Lieder zur Laute sang, wurden wir nicht müde, zuzuhören. Obgleich diese Gaben sie oft in den Mittelpunkt stellten, fühlte sie sich in unserm Kreise doch immer etwas zurückgesetzt. Sie war äußerlich sehr viel weniger anziehend als ihre Schwester. Außerdem kam sie sich unter den „Akademikern“ – ähnlich wie unsere älteren Schwestern – als nicht ganz ebenbürtig vor. ‘Wir steckten doch immer voll von unsern Studienangelegenheiten und konnten das „Fachsimpeln“ nicht lassen. Eine besondere Freundschaft verband Hede mit Hans Platau, der als junger Kaufmann unsern Gesprächen meist nur sehr bescheiden zuhörte.

Außer den Familienmitgliedern gab es noch eine ganze Reihe anderer Menschen, die im geselligen Verkehr unsern Kreis erweiterten. Da wir verschiedene Studienfächer und Semesterzahl hatten, hatte jede auch noch ihre eigenen Bekannten und brachte sie nach und nach mit den andern in Verbindung. Zu Lilli fanden sich zwei Medizinstudenten von außerhalb als getreue Trabanten, Skupin [74] und Jakobi. Sie waren bei uns gern gesehen, besonders Hans Biberstein freundete sich mit ihnen an. Dagegen wurde ein dritter Freund Lillis, der später hinzukam, von uns allen entschieden abgelehnt. Paul Berg kam aus der Provinz Posen. Er war streng jüdisch erzogen und wußte viel mehr vom Judentum als wir alle. Bei Guttmanns, Bibersteins und Plataus war der Zuschnitt des Hauses noch sehr viel liberaler als bei uns; sie lebten alle nicht mehr rituell. Wir konnten uns nicht darüber beklagen, daß Paul Berg uns mit seinen Anschauungen lästig gefallen wäre, er trat kaum damit hervor. Er hatte auch keineswegs den unangenehmen Tonfall der ungebildeten Ostjuden, der den deutschen „Assimilationsjuden“ noch viel mehr auf die Nerven fällt als den „Ariern“. Er sprach vielmehr ein sehr reines und gepflegtes Deutsch. Wir hatten ihm eigentlich nichts vorzuwerfen, als daß er übertrieben höflich und liebenswürdig war und eine weichliche, süßliche Art hatte, die zu unserm ungezwungenen, etwas kecken Studententon gar nicht paßte. Mich reizte seine Gegenwart immer dazu, ihn durch besonders burschikose Redensarten zu erschrecken, und Hans Biberstein verfolgte ihn beständig mit seinem beißenden Spott. Augenscheinlich hatte er Lilli gegenüber die ernstesten Absichten. Aus ihr selbst wurden wir nicht ganz klug. Sie verteidigte ihn nur schwach gegen unsere Angriffe, hielt aber an der Freundschaft fest, so daß wir uns wohl oder übel an ihn gewöhnen mußten. Als wir vier Freundinnen und unsere Schwester Rosa einmal in den Weihnachtsferien zum Wintersport ins Riesengebirge fuhren, schloß er sich als einziger männlicher Begleiter uns an und war uns allen eine diensteifrige Kammerzofe. Wenn wir naß von Schnee in eine Baude kamen, half er uns allen die Sweater aus- und anziehen; er nähte die abgerissenen Knöpfe an, und wenn eine beim Bergangehen müde wurde, zog er den Rodelschlitten. Wir ließen uns das alles lachend gefallen. Wenn wir dann abends in dem gemütlichen „Landhaus Martha“ in Oberschreiberhau um einen großen runden Tisch saßen und in ernsten Weltanschauungsgesprächen heiße Köpfe bekamen, war er sichtlich mit ganzem Herzen dabei. Wir fühlten, wie dankbar er war, in einen so hochgestimmten Kreis aufgenommen zu sein, und das stimmte uns milder. Von da ab pflegte ich ihn zu verteidigen, wenn in seiner Abwesenheit in der gewöhnlichen Weise über ihn gespottet wurde.

Bei allen gern gesehen war ein junger Mathematiker, den Rose bei uns einführte. Er hieß Willy Strietzel – das enfant terrible Karl Guttmann sagte, mit Rose zusammen gebe das Rosinenstrietzel – und war aus kleinbürgerlicher Familie, der Sohn eines Tischlers, dem Namen nach protestantisch, aber nicht gläubig. Er war klein, hatte blonde Stehhaare und eine etwas aufgestülpte Nase und sprach [75] mit stark schlesischem Anklang, wie es in den „besseren“ Kreisen bei uns durchaus nicht üblich ist. Der Unterschied der Abstammung und des Standes sprang auf den ersten Blick hervor, wurde aber auf beiden Seiten keineswegs als störend empfunden. Seine hervorragende mathematische Begabung sicherte ihm die Achtung der Kommilitonen. Er war hell und geweckt, humorvoll und fröhlich wie ein Kind; in unserm Kreis bewegte er sich mit der größten Ungezwungenheit, auch in Gegenwart der Mutter. Den Höhepunkt unserer geselligen Zusammenkünfte bildete der Sylvesterabend, den die vier Familien jahrelang zusammen feierten. Er wurde als „Picknick“ gestaltet, d.h. alle trugen etwas zur Bewirtung und Unterhaltung bei. Diese gemeinsame Sylvesterfeier war bei Guttmanns und Plataus schon eingeführt, ehe wir sie kennenlernten; als wir hinzukamen, wurde sie in unser Haus verlegt, weil wir die größten Räume hatten. Frau Guttmann verstand es vorzüglich, so etwas zu arrangieren. Sie konnte Knittelverse dichten, im Plakatstil malen und kleine Aufführungen einstudieren. Für Tafellieder und Bierzeitung sorgten besonders Hans Biberstein und ich. So mußte jeder der Anwesenden darauf gefaßt sein, an diesem Abend tüchtig hergenommen zu werden, und die Ereignisse des abgelaufenen Jahres zogen noch einmal in heiteren Bildern an uns vorüber.

Unsere größte Freude im Sommer war seit früher Kindheit ein Familienausflug ins Freie. Meine Mutter mietete dafür einen großen Wagen, und dann ging es an einem Sonntag früh hinaus in den Wald; Proviant wurde mitgenommen, so daß man im Waldlager zu Mittag essen konnte. Es war immer dafür gesorgt, da außer für den engsten Familienkreis noch für eine Reihe von Gästen Platz war. Früher waren das unsere Vettern und Cousinen, jetzt wurden die befreundeten Familien eingeladen. Wenn wir abends heimkamen, stiegen alle bei uns ab; man reinigte sich von dem Staub des Tages, und dann gab es ein einfaches Abendessen. Meine Mutter ließ nicht gern einen Gast unbewirtet aus dem Hause gehen, aber sie liebte auch nicht, „viel herzumachen“; es sollten sich alle zu Hause fühlen und nicht den unbehaglichen Eindruck haben, als würde nun ihretwegen alles auf den Kopf gestellt. Die ungeladenen Gäste waren auch nicht anspruchsvoll, sondern ließen sich Tee oder Milch, Butterbrot und Obst gut schmecken. Am meisten Anklang fand stets das kräftige Roggenbrot, das meine Mutter nach oberschlesischer Sitte immer noch selbst buk.

In den Sommerferien 1911 und 1912, als wir alle in Breslau studierten, ging das vierblättrige Kleeblatt auch zusammen für einige Wochen ins schlesische Gebirge. Das erstemal wählten wir Groß-Aupa als Hauptquartier, ein langgezogenes Dorf auf der [76] böhmischen Seite des Riesengebirges. Es lag weit von der Bahnstrecke entfernt, von Johannesbad führte ein Postauto hin. Außer uns waren, wenn ich mich recht erinnere, gar keine Sommergäste da; wir beherrschten das ganze Dorf. Wenn wir abends bei Mondlicht die Dorfstraße entlang gingen und mit kräftiger Stimme unsere Studentenlieder sangen, horchten in allen Häusern die Leute auf. Einmal wurden wir sogar von den Honoratioren des Ortes gebeten, abends ins Gasthaus zu kommen, wo sie am Stammtisch saßen, und ihnen dort vorzusingen. Wir nahmen die Einladung unbedenklich an, unsere harmlose Fröhlichkeit war für die biederen Leute in diesem stillen Erdenwinkel eine ungewöhnliche Abwechslung.

Auch auf dieser Reise waren wir nicht allein. Frau Guttmann und ihre unverheiratete Schwester, die an Basedow litt, hatten sich angeschlossen. Wir wohnten im Hause eines Bäckers und hatten für sehr wenig Geld mehrere Zimmer zur Verfügung. Die beiden Damen kochten selbst, wir andern aßen Mittag im Gasthaus, für ein einfaches Frühstück und Abendessen sorgten wir selbst. Für einen Teil der Zeit schickte unsere Mutter Frieda zu uns. Es war nicht lange nach der Trennung von ihrem Mann; sie war noch recht bedrückt von dem, was hinter ihr lag, und sollte etwas Ablenkung und Erholung haben. Dazu kamen noch andere Gäste, die uns für kürzer oder länger aufsuchten. Eine Schulgefährtin von Lilli und Rose wurde uns von den besorgten Eltern anvertraut, weil sie von unserer Gesellschaft einen günstigen Einfluß erhofften. Es war ein liebes, stilles Mädchen, das damals anfing, einige Sonderbarkeiten im Verhalten zu zeigen: die ersten Vorboten einer dementia praecox, die nicht lang danach zum Ausbruch kam. Eine sehr muntere Gefährtin war dagegen Lotte Baerthold aus Sagau. Sie hatte mit Erna zusammen das Gymnasium besucht. In diesen Jahren war sie in Breslau in Pension und war fast täglich bei uns, um mit Erna zu arbeiten. Dafür mußte meine Schwester einmal in den Ferien Gast in ihrem Elternhause sein. Ihr Vater hatte in Sagau eine Tuchfabrik; er war ein begeisterter Politiker, echter alter Liberaler, lange Zeit hindurch Stadtverordneter. Die Mutter war eine gütige, liebenswürdige Frau von mädchenhafter Anmut. Lotte war die einzige Tochter, sie hatte nur einen älteren und einen jüngeren Bruder. Sie wurde vorzüglich erzogen, hatte tadellose Umgangsformen, wie sie in guten protestantischen Familien besonders gepflegt wurden, war dabei aber einfach und natürlich geblieben, lebhaft und fröhlich. Mit ungezwungener Herzlichkeit schloß sie sich an uns an; auch diese freundschaftlichen Beziehungen blieben durchs ganze Leben erhalten. Da die Eltern öfters in Breslau zu tun hatten, lernten wir auch sie allmählich kennen; und ich bin später oft in ihrem behaglichen, [77] gastlichen Hause eingekehrt, wenn ich auf dem Heimweg nach Breslau nach langer Bahnfahrt in Sagau Aufenthalt hatte. Lotte entschloß sich nach dem Abitur für das Studium der neuen Sprachen. Sie studierte ein Semester in Berlin und eins in Paris; auf der Fahrt dorthin war ihr ein Mitreisender, ein junger Ingenieur, behilflich. Er suchte sie dann in Paris auf und kam öfters mit ihr zusammen. Als sie am Ende des Semesters nach Hause zurückkehrte, reiste er ihr nach und hielt bei den Eltern um ihre Hand an. Im Sommer 1911 stand sie vor der Hochzeit und sollte sich von den Anstrengungen der Brautzeit noch etwas erholen. Dazu kam sie zu uns nach Groß-Aupa. Andere Bekannte, die ihre Ferien im Gebirge verbrachten, suchten uns gelegentlich für einen Tag oder ein paar Stunden auf. Eine lustige Medizinerin, die uns besuchen wollte, fragte auf der Dorfstraße, in welchem Hause die vielen Fräuleins wohnten, und wurde sofort zu uns gewiesen. Unser Häuschen lag unmittelbar an dem schmalen Aupaflüßchen. Durch die Hintertür kam man direkt ans Wasser. Am andern Ufer war ein grasbedeckter Abhang; wenn wir uns dort lagern wollten, mußten wir auf den flachen Steinen hinüberbalancieren. Das war morgens gewöhnlich unsere erste Übung. Frau Guttmann begleitete dieses Manöver oft mit kleinen Angstrufen um ihre Kissen und Decken, die wir mit hinübernahmen.

Ehrensache war es auch, täglich einmal den steilen Abhang hinaufzuklettern. Dieser Prüfung mußten sich auch unsere Gäste unterziehen. Um bequem liegen zu können, hatten wir alle unsere Ferienfrisuren. Ich trug Schnecken über den Ohren. Die drei andern, die lange und schwere Zöpfe hatten, schlangen sie nicht zur Gretchenfrisur um den ganzen Kopf, sondern vorn über der Stirn mehrmals hin und her, um den Nacken frei zu behalten. Wir hatten uns für die Ferienwochen ausreichend mit Büchern versehen, und jede vertiefte sich in das ihre, während wir draußen lagen. Ich erinnere mich, daß Rose Nietzsches Zarathustra mithatte. Manchmal unterbrach sie sich und rief mich zur Hilfe: „Kücken, du bist doch so gescheit. Kannst du mir sagen, was das bedeutet?“ „Kücken“ nannten sie mich, weil ich die Jüngste im Kleeblatt war. Außerdem sah ich so jung aus, daß Frau Guttmann öfters sagte, wenn wir wieder nach Breslau kämen, würden sie mich für die Schule anmelden. Ich stand damals am Ende meines ersten Semesters und hatte als Ferienlektüre Spinozas Ethik mitgenommen. Ich trennte mich niemals von dem kleinen Büchlein. Wenn wir in den Wald hinaus gingen, trug ich es in der Tasche meines regendichten Wettercapes; und während die andern sich unter den Bäumen lagerten, suchte ich mir in ihrer Nähe eine Hirschkanzel und kletterte ganz oben hinauf; dort ließ ich mich nieder und vertiefte mich abwechselnd [78] in die Deduktionen über die eine Substanz und in den Ausblick auf Himmel, Berge und Wälder.

Einmal durfte uns auch Hans Biberstein von Bad Reinerz aus besuchen. Seine Mutter gab ihm einige Tage Urlaub für einen größeren Ausflug. Er holte uns ab, und wir besuchten zusammen die Felsenstadt von Adersbach-Weckelsdorf. Im nächsten Jahr war die Rücksicht auf ihn schon so beherrschend, daß wir als Ferienaufenthalt einen Ort in der Nähe von Reinerz wählten: Grunwald an der hohen Meuse, das höchstgelegene Dorf in Preußen. Erna und ich kannten es schon aus unserer Kinderzeit: wir hatten einmal mit unserer Schwester Else und unserer Schwägerin Trude eine Ferienreise dorthin gemacht; das war das erstemal, daß ich richtige Berge zu sehen bekam. Wir hatten aber diesen Aufenthalt in wenig angenehmer Erinnerung, denn die beiden unternehmungslustigen jungen Damen hatten damals die beiden Kinder einigemal bei sehr schmaler Kost den ganzen Tag sich selbst überlassen. Wir wohnten im Lehrerhaus, und es geschah uns nichts Schlimmes. Aber wir bekamen es doch schließlich satt, Blaubeeren zu suchen und Honigbrote zu essen, die von einer Mahlzeit zur andern immer trockener wurden, und die Tage dehnten sich endlos in die Länge.

Diesmal wohnten wir im Gasthaus. Es gab außer uns noch einen Kurgast, Bürgermeister Westram aus Ratibor. Er war ein älterer Herr, dem aber die Gesellschaft von vier jungen Kommilitoninnen sehr willkommen war. Er schrieb uns noch jahrelang Briefe und hat uns später einmal einen wichtigen Dienst geleistet. Ehe wir nach Grunwald hinaufgingen, hielten wir uns einige Tage in Altheide auf. Dort trafen wir unsere Schwester Eise, die mit einer Tante zur Erholung von Breslau aus hingefahren war und nun vor der Heimreise stand. Ein größeres Ereignis aber war, daß wir unsere Mutter überredet hatten, mit uns zu kommen. Sie machte sonst nie eine Badereise, hatte überhaupt nie im Leben größere Reisen gemacht.

Die Ungunst der Zeit hatte sie um die Hochzeitsreise gebracht (sie heiratete 1871); damals versprach ihr mein Vater, später einmal die Hochzeitsreise nachzuholen, aber da bald Kinder kamen, eins schnell nach dem andern, war das nicht mehr möglich. Wenn sie davon sprach, pflegte sie uns in Aussicht zu stellen, sie werde noch einmal mit uns die versäumte Hochzeitsreise nachholen, und nun nahmen wir sie beim Wort. Sie kam also mit und fühlte sich sehr wohl. Unser Haus lag unmittelbar am Waldrand, und sie war immer sehr empfänglich für Naturschönheit. Aber nach drei Tagen war sie nicht mehr zu halten und fuhr zurück. Wir setzten dann unsern Weg nach Reinerz fort und fuhren von dort im Wagen zu viert mit unserm Gepäck hinauf auf unsern Höhensitz. Diesmal kam [79] Rosa für einige Zeit zu uns herauf. Es war ein verregneter Sommer, und fast jeder Tag brachte strömende Regengüsse. Aber sowie es ein wenig lichter wurde, waren wir draußen im Freien, Beeren und Pilze zu sammeln, weiter hinaufzusteigen. Hans besuchte uns oft, und wir gingen auch häufig nach Reinerz hinunter. Da Frau Biberstein Heidelbeeren liebte, nahmen wir ihr immer einen ganzen Waschkrug voll mit hinunter, und es bereitete uns ein besonderes Vergnügen, so über die Kurpromenade mit den eleganten Badegästen zu gehen. Auch diesmal sollte eine mehrtägige Wanderung den Höhepunkt der Ferienzeit bilden. Hans arbeitete das Programm aus, und da er ein Freund von Rekordmärschen war, sah er etwa 40 km für einen Tag vor. Wir fuhren zunächst nach Wölfelsgrund, um von dort den Glatzer Schneeberg zu besteigen, dann sollte die Fahrt weitergehen ins Altvatergebirge, das uns allen noch unbekannt war.

Rose Guttmann konnte sich damals eine solche Tour nicht zumuten, weil ihr Herz etwas angegriffen war; sie fuhr für diese Tage nach Gräfenberg und sollte dann an der Grenzstation Mittelwalde wieder mit uns zusammentreffen. Unsere Schwester Rosa ergänzte an ihrer Stelle unsere Vierzahl. Leider gab es gleich zu Beginn eine empfindliche Störung. Ich verstauchte mir schon beim Aufstieg zum Schneeberg einen Fuß und konnte nur unter den größten Beschwerden die Wanderung fortsetzen. Bergan ging es etwas leichter; darum gab ich mir immer Mühe, beim Steigen den Zeitverlust wieder einzubringen, den ich bei jedem Weg bergab verursachte. Denn beim Hinuntergehen war jeder Schritt eine Qual und während es sonst meine größte Freude war, in vollem Lauf die Berge hinunter zu springen, mußte ich jetzt mühselig Fuß vor Fuß setzen. Hans war empört. Die schöne Tour, auf die er sich so lange gefreut hatte, war ihm nun ganz verdorben. Wenn ich streckenweise rasch voranschritt, so sah er darin kein Zeichen guten Willens, sondern sagte: „Da sieht man es ja, daß sie kann, wenn sie will“. Er rannte in seinem gewöhnlichen Schritt voran und Erna ging mit ihm, obgleich ihr dabei sehr wenig wohl war. Die Arme hatte das Schlimmste auszuhalten. Sie mußte die Ausbrüche der bösen Laune ihres verwöhnten Freundes anhören und obendrein die Vorwürfe meiner Begleiterinnen, die über das Verhalten der beiden angehenden Ärzte entrüstet waren und sich von mir nicht zurückhalten ließen, ihnen gründlich ihre Meinung zu sagen. Natürlich steigerte sich das Übel mit jedem Tage. Als wir am Schluß noch mehrere Stunden lang eine sehr steile und steinige Schlucht zur Bahnstation hinuntergehen mußten, legte Lilli fest den Arm um mich und trug mich mehr als daß ich ging.

Dabei kamen wir durch die herrlichsten Gebirgslandschaften, und wenn das vorauseilende Pärchen außer Sicht war, dann vergaßen [80] wir drei friedlichen Hinterdreinmarschierenden allen Zwist und freuten uns miteinander. Dazu gab es noch einige komische Intermezzos, die in den folgenden Jahren noch viel Stoff für Tischlieder, Bierzeitungen und dergleichen gaben. Am ersten Abend kamen wir spät bei Nacht in Ramsau an. Von dort aus sollte am nächsten Morgen die Altvaterwanderung beginnen. Auf dem Bahnsteig war es stockdunkel. Mit Hilfe einer Taschenlaterne tasteten wir uns nach dem Ausgang und zu dem entlegenen Gasthaus. Es war schon stark besetzt: Hans wurde in einem taubenschlagähnlichen Zellchen auf dem Hof untergebracht. Wir vier Mädchen bekamen alle zusammen ein Zimmer. Als wir nach dem späten Abendessen in der Gaststube dorthin gewiesen wurden, mußten wir durch ein anderes Zimmer hindurchgehen, in dem zwei Herren und eine Dame gerade im Begriff waren, sich auszukleiden. Wir bedauerten die Leidensgefährtin und priesen uns glücklich, daß man uns wenigstens nicht zugemutet hatte, unseren schmollenden Kavalier mit bei uns zu beherbergen. Es stand nämlich noch ein fünftes Bett in unserm Zimmer. Da die Verbindungstür zu den Nachbarn nicht verschließbar war, ergriffen wir dieses Bett und schoben es davor. Als wir nach allen Anstrengungen, Aufregungen und Abenteuern dieses langen Tages endlich auf ein wenig Schlaf hofften, machten sich bei Lilli unliebsame Nachwirkungen der ungewohnten Reisekost bemerkbar. Mehr als Übelkeit und Schmerzen quälte sie der Umstand, daß auch unsere Nachtruhe dadurch gestört wurde. Wir atmeten alle auf, als der neue Tag uns aus unserm Gefängnis befreite. Wieder ging es bergauf und bergab, von morgens bis abends. Diesmal aber erreichten wir noch vor Einbruch der Nacht einen wirklichen Ruheort, das liebliche Karlsbrunn.

Es wurden uns von der Kurverwaltung in einem reizenden Häuschen saubere und nette Zimmer angewiesen. Als wir hier nach gründlicher Reinigung richtig rasten konnten, fühlten wir uns wie im Himmel. Von der beschwerlichen Schlußwanderung am nächsten Tag erzählte ich soeben. Sie endete an einer Bahnstation, wo wir feststellen mußten, daß der K.K. österreichische Bahndienst sich um Kursbücher wenig kümmerte. Der fahrplanmäßige Zug ging nicht, wir mußten stundenlang warten und konnten Rose nicht zur verabredeten Zeit in Mittelwalde erreichen. Ein Bahntelegramm sollte sie davon in Kenntnis setzen. Als wir wiederum spät am Abend endlich in Mittelwalde anlangten – mit dem letzten Zug, der überhaupt einlief –, war von Rose nichts zu sehen. Wir schlugen den Weg zum nächsten Hotel ein. Es war kein Zimmer mehr frei. Wohl wären in manchen Zimmern noch leere Betten, aber man könnte die Gäste nicht wecken, um noch jemand bei ihnen einzuquartieren. Wir [81] mußten weiterziehen, obgleich mein Fuß schon fast den Dienst versagte. Das zweite Gasthaus war etwas weniger vornehm als das erste. Aber danach fragten wir nicht mehr viel. Der Bescheid lautete ebenso wie im ersten. Das dritte lag schon am äußersten Rande des Städtchens und sah wenig verlockend aus. Immerhin, wir hatten keine Wahl mehr. Ich ging sofort in die Gaststube und erklärte, wir würden hier bis zum Morgen sitzen bleiben, wenn man keine Betten für uns hätte. Daraufhin gestand man, daß noch ein Zimmer frei sei und stellte es uns zur Verfügung, diesmal nun wirklich uns allen zusammen. Es standen zwei Betten und ein Sofa drin. Wir blieben in unsern Kleidern, ja wir hüllten uns noch fest in unsere Mäntel, da wir gegen die Reinlichkeit der Bettwäsche begründete Bedenken hatten. Je zwei Damen richteten sich, so gut es ging auf einem Bett ein. Hans war mit dem Sofa vielleicht noch am besten dran, fand aber offenbar keinen Schlaf; in kurzen Abständen knipste er seine Taschenlampe an, um nach der Uhr zu sehen. Zwischendurch hörte man die Turmuhr schlagen. Am Morgen machten wir nacheinander an dem winzigen Waschtisch Toilette.

Dann gingen wir den Weg zurück, den wir am Abend in der Dunkelheit gekommen waren. Als wir zu dem vornehmen Hotel gelangten, kam Rose gerade gut ausgeschlafen zum Tor heraus. Sie hatte allein ein Zimmer mit vier Betten zur Verfügung gehabt und es erst kurz, ehe wir vergeblich an diese Tür klopften, bezogen. Bis dahin hatte sie am Bahnhof gewartet, gelesen und ein belegtes Butterbrot nach dem andern verspeist; schließlich sagten ihr die Bahnbeamten, es käme nun kein Zug mehr, und zeigten ihr den Weg ins Hotel. Wir besaßen noch Humor genug, um über diese Tücke des Schicksals zu lachen. Überhaupt trug das Wiedersehen mit Rose und der Austausch der Erlebnisse dazu bei, die Atmosphäre zu entspannen. Allerdings, als unsere Schwester Rosa sich von uns trennen mußte, um nach Breslau zurückzufahren, fiel der Abschied von Hans noch recht frostig aus. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, ihr die Hand zu reichen. Mir gegenüber war er schon etwas versöhnlicher gestimmt. Er hatte sich wohl indessen überzeugt, wenn er es auch nicht aussprach, daß das Übel nicht fingiert war; außerdem hatte ich in die Vorwürfe der andern nicht eingestimmt, es bedrückte mich viel zu sehr, daß ich an der gestörten Freude unschuldig-schuldig war. Wir mußten wieder über Reinerz zurück; es gab keinen anderen Weg nach Grunwald. Frau Biberstein empfing uns im Hausflur. Ein Blick in das Gesicht ihres Lieblings zeigte ihr, wie verärgert er war. Damit waren wir für sie erledigt. Nur Erna wurde noch zum Abschied ins Zimmer gebeten. Wir andern erhielten hier unsere Entlassung. Nun begaben wir uns ins Kurbad, [82] um allen Staub der Landstraße und Eisenbahn loszuwerden. Dann saßen wir wieder zu viert in einem geschlossenen Wagen und fuhren nach Grunwald hinauf. Wir atmeten innerlich auf, daß wir wieder unter uns waren, aber es wurde unterwegs kaum gesprochen. Erna saß kleinlaut unter uns in dem Gefühl, von allen für schuldig gehalten zu werden. Als wir oben anlangten, kniete sie gleich in der Gaststube vor mir nieder und zog mir den schweren Wanderschuh von dem dick angeschwollenen Fuß. Nach dem Mittagessen wurde ich zu Bett gebracht, die beiden Medizinerinnen legten einen kunstgerechten Verband an und lagerten den Fuß hoch. Dann gingen Rose und Lilli etwas spazieren; Erna setzte sich zu mir auf den Bettrand und las mir aus Goethes Briefen vor. Nach einiger Zeit kamen die beiden andern sehr frisch und vergnügt zurück. Rose holte eine dicke Tafel Lindt-Schokolade, die sie aus Gräfenberg für uns mitgebracht hatte. Das Kleeblatt machte sich darüber her, und mit diesem Schmaus wurde die Versöhnung vollzogen, ohne daß noch ein Wort über das Vergangene gesprochen wurde. Wie der Frieden diesmal mit Hans geschlossen wurde, daran erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls hat es nicht lange gedauert, bis die Freundschaft wiederhergestellt war. Wir waren immer schnell bereit zu gütlicher Einigung. Aber solche Vorfälle machten uns doch sehr nachdenklich und besorgt um das Los, das Erna erwartete.

Wir vier hatten bei diesen Gebirgsaufenthalten zwei Zimmer mit zwei Betten; Erna und Lilli bewohnten das eine, Rose und ich das andere. In Grunwald lag das Zimmer des Herrn Bürgermeisters zwischen den unsern, und er konnte durch die Wände hören, wie auf der einen Seite medizinische Lehrbücher gemeinsam durchgearbeitet wurden, auf der andern Seite die Grundfragen der Mathematik und theoretischen Physik behandelt. Wir wechselten aber auch manchmal die Kombinationen, damit jede mit jeder sich einmal gründlich aussprechen konnte; denn dafür waren die stillen Abendstunden am geeignetsten, und der Gedankenaustausch ging meist bis tief in die Nacht hinein. Ich weiß nicht mehr im einzelnen, was wir uns in diesen vielen und ausgedehnten Gesprächen zu sagen hatten. Jedenfalls ging uns der Stoff niemals aus und wir kannten nichts Schöneres als so die Herzen zu öffnen. Meist handelte es sich um die Geschichte des Kleeblatts und der Menschen, die ihm nahestanden, um Zukunftspläne, die Gestaltung unseres eigenen Lebens und die Ideale, denen wir durch unser Wirken in der Welt zum Siege verhelfen wollten.


[83]
3.

Der Winter 1912/13 brachte noch die gemeinsame Rodelfahrt nach Schreiberhau. Im Sommersemester 1913 aber trennte sich das Kleeblatt, da Rose und ich Breslau verließen. Für die Klarheit der Darstellung wird es vielleicht gut sein, wenn ich meinen eigenen Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt nachtrage, ehe ich Ernas weitere Schicksale erzähle. Ich habe berichtet, wie ich meinen Kinderglauben verlor und etwa um dieselbe Zeit anfing, mich als „selbständiger Mensch“ aller Leitung durch Mutter und Geschwister zu entziehen. Mit 14½ Jahren hatte ich die neunklassige höhere Mädchenschule durchlaufen. Das war zu Ostern 1906. Aber gerade zu diesem Zeitpunkt wurde die bisher freie „Selecta“, in die immer nur wenige Schülerinnen übergegangen waren, zur 10. Klasse erklärt, und an ihren Besuch wurden bestimmte Berechtigungen geknüpft. Als der Direktor den Brief bekam, in dem ich von der Schule abgemeldet wurde, war er ganz aufgeregt und legte mir alle Gründe vor, die es ratsam erscheinen ließen, noch ein Jahr zu bleiben. Aber ich ließ mich nicht umstimmen.

Ebenso entschieden hatte ich es zwei Jahre früher abgelehnt, ins Gymnasium überzugehen. Damals wurden die bisher vierjährigen Realgymnasialkurse, die sich an unsere 9. Klasse anschlossen, in eine sechsjährige realgymnasiale Studienanstalt umgewandelt, die sich nach dem 7. Schuljahr abspaltete. Unseren Jahrgang traf es so, daß wir in die vierjährigen Kurse nicht mehr aufgenommen werden konnten, in die sechsjährige Anstalt nur mit einem Jahr Zeitverlust. Das hatte mich wohl etwas abgeschreckt. Aber ich glaube, das eigentlich Ausschlaggebende war damals und jetzt ein gesunder Instinkt, der mir sagte, daß ich nun lange genug auf der Schulbank gesessen hätte und mal etwas anderes brauchte. Gerade im 7. Schuljahr hatten meine Leistungen etwas nachgelassen. Ich behauptete immer noch einen der ersten Plätze, aber es kam doch manchmal vor, daß ich versagte. Zum Teil lag es wohl daran, daß mich mancherlei Fragen, vor allem weltanschauliche, zu beschäftigen begannen, von denen in der Schule wenig die Rede war. Hauptsächlich ist es aber wohl durch die körperliche Entwicklung zu erklären, die sich vorbereitete.

Meine Mutter setzte meinem entschiedenen Willen keinen Widerstand entgegen. „Ich werde Dich nicht zwingen“, sagte sie, „ich habe Dich in die Schule eintreten lassen, als Du es wolltest; Du magst auch fortgehen, wenn Du es jetzt willst“. So verließ ich die Schule und fuhr einige Wochen später nach Hamburg.

Nicht lange, ehe ich die Schule verließ, riß der Tod zum zweitenmal [84] eine Lücke in den Geschwisterkreis meiner Mutter. Ihre Zweitälteste Schwester, Cilla Burchard, starb nach einem langen, qualvollen Krebsleiden und einer schweren Operation, die das Ende nur um kurze Zeit verzögerte. Wir erlebten alle Stadien dieser Krankheit mit, denn mit der Familie Burchard verbanden uns besonders nahe Beziehungen. Der Onkel war der treue Freund meiner Mutter, der ihr im Geschäft beistand, so gut er konnte. In der Jugend hatte sie ihn im elterlichen Geschäft angelernt. Er war auch jetzt kein selbständiger Kaufmann und schaute zu der Nichte, die nun seine Schwägerin war, (ich erwähnte früher, daß er der Bruder unserer Großmutter war) mit Bewunderung auf. Er führte ihr eine Zeitlang die Bücher. Als das nicht mehr nötig war, kam er noch ziemlich regelmäßig jeden Tag einmal nachfragen, ob er einen geschäftlichen Gang besorgen könne. Meine Mutter hegte für ihn eine dankbare Zuneigung und trat stets für ihn ein. Im eigenen Hause war er nämlich wenig angesehen. Meine Tante Cilla war ein herber, verschlossener Charakter. Sie war überaus freigebig, und liebte es, als Hausfrau aus dem Vollen zu wirtschaften. Es verletzte ihren Stolz, daß ihr Mann nicht imstande war, zu verdienen, was sie brauchte, daß die Eltern manchmal nachhelfen mußten und daß ihre geliebten Töchter schon früh zum Mitverdienen genötigt waren. Fritz, der einzige Sohn, studierte Medizin. Von ihm war zunächst keine Hilfe zu erwarten. Es war in jener Zeit durchaus üblich, daß die Schwestern angestrengt arbeiteten, um ihren Brüdern das Studium zu ermöglichen. Martha, die ältere Tochter, war nur wenig älter als meine Schwester Ehe und ihre treueste Freundin. Solange Else zu Hause war, erschien Martha regelmäßig jeden Abend bei uns, und wir alle sahen sie wie eine Schwester an. Sie machte das Lehrerinnenexamen, fand aber dann Anstellung als Beamte an der Landesversicherungsanstalt in Breslau und war hier mehrere Jahrzehnte mit großer Gewissenhaftigkeit tätig, bis sie pensioniert wurde. Sie war still und verschlossen wie ihre Mutter; beide Töchter hatten auch ihre Freigebigkeit und unbegrenzte Gastfreundlichkeit geerbt. Nur war Martha nicht herb und kurz angebunden wie die Tante, sondern freundlich und zuvorkommend im Verkehr. Meine Mutter konnte es nicht begreifen, daß diese Menschen, die allen Freunden gegenüber liebenswürdig und hilfsbereit waren, für den eigenen, guten Vater kein freundliches Wort übrig hatten. Als sie Martha das einmal unter vier Augen vorhielt, bekam sie eine schroff abweisende Antwort, aus der hervorging, daß sie ihrem Vater eine Ehrlosigkeit vorwarf. Worin diese bestanden haben sollte, wußte niemand von uns. Meine Mutter war überzeugt, daß eine völlig irrige Auffassung bei meiner Tante vorhanden gewesen sein müsse und sich ihren [85] Töchtern mitgeteilt habe. Adelheid, die Jüngste – Heidel genannt – wurde von ihrer Mutter am meisten verwöhnt. Im Gegensatz zu den sehr ruhigen Geschwistern war sie übergesprächig und laut, in ihrem ganzen Wesen etwas hemmungslos, aber in ihren kaufmännischen Stellungen tüchtig und gewissenhaft, auch im Haushalt recht geschickt, als sie während der Krankheit der Mutter und nach ihrem Tode dazu herangezogen wurde. In diesem Hause haben Erna und ich oft die Vormittage verbracht, ehe wir zur Schule gingen. Unsere Mutter durfte uns jederzeit hinschicken, wenn sie uns gut aufgehoben wissen wollte. Die Tante ließ uns machen, was wir wollten. Nur wenn wir nicht wußten, was wir anfangen sollten, beschäftigte sie uns. So habe ich hier zum ersten Mal einen Strumpf zum Stopfen in die Hand bekommen. Die Tante zeigte mir, wie es gemacht werden müßte, und überließ mich dann mir selbst. Ich war damals vielleicht fünf Jahre alt. Ich saß auf dem hohen Stuhl und vertiefte mich mit großem Eifer und strenger Amtsmiene in das überaus schwierige Geschäft. Ganz empört war ich, als der große Vetter – er war etwa 20 Jahre älter als ich – hinzukam und sich stellte, als wollte er mir die Arbeit wegreißen. Ich sprang schnell vom Stuhl herunter und wurde ein paarmal um den Tisch herumgejagt, bis die Tante mir mit ein paar energischen Worten zu Hilfe kam. Fritz liebte es, mich zu necken. Er war wortkarg wie seine Mutter und hatte wie sie einen trockenen Humor, der bei ihm aber noch nicht durch manchen seelischen Druck eingedämmt war. Wir sahen ihn später selten. Nach seinem Staatsexamen machte er zunächst einige Reisen als Schiffsarzt und kam uns sehr interessant vor, wenn er sonnengebräunt und mit einer blauen Mütze wieder auftauchte. Dann ließ er sich in einem kleinen Städtchen in Thüringen nieder; es wurde uns erzählt, es sei dort nach seiner Ankunft ein Ausrufer mit einem Glöckchen durch die Straßen gegangen und hätte ausgeschellt, daß ein neuer Arzt eingetroffen sei. Später lebte er in Berlin und kam einigemal im Jahr für ein paar Tage zu seinen Angehörigen. Dann sahen wir uns flüchtig und wechselten ein paar Worte. Er behielt alles, was er in meinen Kinderjahren an mir beobachtet hatte, treu im Gedächtnis, und ich hatte immer das Gefühl, daß etwas von der Zuneigung in ihm weiterlebte, die seine Mutter für mich hatte. Denn ich war ihr erklärter Liebling. Das äußerte sich zwar auch in etwas rauher Weise, war aber unverkennbar. Wenn sie früh ihre Morgeneinkäufe für den Haushalt machte, begegneten wir ihr manchmal, und dann bekam ich fast immer etwas geschenkt. Das war gewöhnlich ein Trost auf meinem Weg zu dem verhaßten Kindergarten. Als ich einmal wieder zwangsweise dahin abgeführt wurde, kaufte sie mir eine ganze große Tüte voll [86] gelber Pflaumen. Ich war fast bestürzt über diesen Reichtum. Aber bestechen ließ ich mich durch solche materiellen Dinge doch nicht. Meine Abneigung gegen diesen Ort der Erniedrigung blieb immer gleich groß. Tante Cilla unterstützte mich auch kräftig, als ich so energisch nach der „großen“ Schule verlangte; sie hielt mir später immer vor, daß ich ihr das gewonnene Jahr verdanke, und war sehr stolz auf meine Schulleistungen. Sie brachte auch das in einer mir sehr unangenehmen Form zum Ausdruck: sie nannte mich nämlich mit Vorliebe „Streberin“. Ich fühlte wohl, daß dies eine liebevolle Neckerei war. Aber es enthielt doch für mich einen Stachel.

Von früher Kindheit an wurde ich in der ganzen großen Verwandtschaft hauptsächlich durch zwei Eigenschaften charakterisiert: man warf mir Ehrgeiz vor (sehr mit Recht) und man nannte mich mit Nachdruck die „kluge“ Edith. Beides schmerzte mich sehr. Das Zweite, weil ich herauszuhören glaubte, daß ich mir auf meine Klugheit etwas einbildete; außerdem schien mir darin zu liegen, daß ich nur klug sei; und ich wußte doch von den ersten Lebensjahren an, daß es viel wichtiger sei, gut zu sein als klug. Als meine Cousine Leni Pick zu mir in die Klasse kam, setzte ihr Tante Cilla einen Preis von l Mark aus, wenn sie mich einmal überflügeln würde, d.h. in einem Zeugnis einen besseren Klassenplatz bekäme als ich. Die beiden aber waren von vornherein überzeugt, daß diese Prämie unerreichbar sei.

Bei Burchards war von der Begründung des Haushalts an immer offenes Haus gewesen. In der älteren Zeit trafen sich dort jeden Sonntag alle Brüder und Vettern meiner Mutter, die in Breslau auf der Schule oder Universität oder in kaufmännischen Stellungen waren. Dort waren später auch unsere unzertrennlichen Gefährten, die Zwillinge Hans und Franz, in Pension. Sie wurden von der Tante vorzüglich verpflegt, jeder mit seinen besonderen Lieblingsspeisen, wurden aber gelegentlich auch kräftig angefaßt. Wenn sie in den Flegeljahren einmal nicht gehörig gewaschen waren, wurden sie unter die Wasserleitung gehalten und gründlich abgeseift. Auch die Geburtstagskaffees waren hier besonders anziehend. Nirgends wurden wir im Kinderzimmer so reichlich mit Kuchen und Schlagsahne versehen; nirgends konnten wir ungestörter spielen. Nur eine unliebsame Unterbrechung gab es: wenn man an der Tafel der Großen erscheinen, rings herum die Hand geben und sich von allen älteren Tanten und Cousinen beaugenscheinigen lassen mußte. Mein größter Schrecken war ein Studienfreund meines Vetters, der nie an dieser Kaffeetafel fehlte: ein Arzt von vortrefflichem Charakter und vielseitiger Bildung, aber etwas überspannt und verstiegen in seinen Gedankengängen und Reden. Ich verkündete schon vorher [87] in der Kindergesellschaft, was er sagen würde, wenn er mich erblickte; denn es war jedesmal dasselbe: ich hätte einen Christuskopf und Madonnenaugen; und ob sich immer noch kein Bildhauer gefunden hätte, den meine Alabasterfarbe gelockt hätte, mich als Modell zu wählen. Ich konnte mich kaum beherrschen, wenn ich diese Reden über mich ergehen lassen mußte. Sobald wir draußen waren, schüttelte ich mich vor Widerwillen und machte meinem Ärger in boshaften Bemerkungen Luft. Z.B. sagte ich, der Alabaster hätte ja seine Farbe sowieso und brauchte mich nicht dazu. Als ich erwachsen war, regte mein Erscheinen diesen Stammgast zu andern Gesprächen an, die mir nicht minder peinlich waren: er legte mir dann seine philosophischen Probleme vor, und ich fand, daß dazu die Kaffeetafel und der Kreis meiner Verwandten ein sehr ungeeigneter Ort sei.

In ihrer verschlossenen Art hielt meine Tante die Anzeichen ihres Leidens so lange wie möglich geheim. Als die Schmerzen unerträglich wurden, war es schon so weit vorgeschritten, daß keine Rettung mehr möglich war. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei ihr. Sie lag im Bett und war so schwach, daß sie sich nicht mehr aufrichten, auch nur mit leiser Stimme sprechen konnte. Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich zu ihr ins Zimmer dürfte. Heidel schickte mich aber gleich hinein und gab mir sogar ein Tellerchen mit einer kleinen Stärkung mit, die ich der Kranken löffelweise reichen sollte. Mir war sehr beklommen dabei, denn ich dachte, wie schwer es für diesen stolzen und selbständigen Menschen sein müsse, sich von einem Kinde füttern zu lassen. Sie war das aber schon gewöhnt und ließ es ruhig geschehen. Dann erkundigte sie sich nach meinen Schulangelegenheiten, besonders nach einem peinlichen Ereignis, von dem man ihr erzählt hatte: ich hatte meinen ersten und einzigen Tadel während der ganzen Schulzeit bekommen.

Wir hatten damals Geographieunterricht bei dem strengen und sehr gefürchteten Direktor Röhl. Es war das Fach, das ich am wenigsten gern mochte. Trotzdem hatte es sich als feste Einrichtung eingebürgert, daß ich vor diesen Stunden früh am Morgen für die ganze Klasse an der Landkarte das aufgegebene Pensum vortrug. Der Direktor war allmählich dahintergekommen, hatte aber offenbar nichts dagegen; jedenfalls erkundigte er sich einmal, als eine andere etwas falsch sagte, ganz friedlich bei mir, ob ich denn nicht richtig vorgetragen hätte. Eines Morgens nun kamen meine Cousine Leni und ihre Freundin Johanna sehr spät zur Schule; mein Vortrag war vorbei und es hatte schon zur Morgenandacht geläutet. In ihrer Angst vor dem „Drankommen“ baten mich die beiden, ich sollte mit ihnen in der Aula ganz hinten an der Tür bleiben und sie [88] während der Andacht vorbereiten. Es war mir sehr unangenehm, aber nach echter Schülermoral geht Kameradschaft über alles. Also steckten wir die Köpfe zusammen und ich dozierte im Flüsterton. Leider war eine Lehrerin noch nach uns hereingekommen und hatte uns beobachtet. Was wir sprachen, hatte sie nicht hören können. Aber daß man sprach und sich um die Andacht nicht kümmerte, war ja ein haarsträubendes Verbrechen. Sie stürzte sich auf uns, sobald wir am Schluß zur Türe herauskamen, und hielt uns eine gehörige Standpauke. Da sie in unserer Klasse keinen Unterricht gab, hielt sie es für angemessen, die Sache dem Direktor zu melden. Er hielt uns die zweite Strafpredigt, und trug uns einen Tadel ins Klassenbuch ein. Ich weiß nicht mehr, ob die beiden andern Missetäterinnen auch einen Tadel bekamen oder nur ich als die Hauptrednerin. Jedenfalls meldeten sie sich zum Wort und boten ihre ganze Beredsamkeit auf, um zu beweisen, daß sie allein schuldig seien und daß mir die Strafe erlassen werden müsse. Es half nichts. Der Tadel blieb stehen. Das Lehrerkollegium muß aber doch das Verbrechen nicht für gar so schwer angesehen haben, denn im nächsten Zeugnis stand als Betragensnote: „Sehr gut, bis auf einen Fall“. („Sehr gut“ war bei uns Note 1.)

Von diesem Vorfall mußte ich der sterbenskranken Tante erzählen. Sie lächelte geringschätzig über das Verhalten des Direktors und sagte: „Dummer Kerl!“

Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, auch nach ihrem Tode nicht. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen, und meine Mutter wollte es mir ersparen. Aber ich war bei der Beerdigung und nachher im Trauerhause, als alle Verwandten noch einmal dort zusammenkamen. Es war uns immer befremdlich und abstoßend, das man sich bei solchen Gelegenheiten wie bei Festlichkeiten an einer großen Kaffeetafel zusammenfand und sprach, wenn auch die Stimmung ernst und gedrückt blieb.

Als alles vorbei war, wurde die Wohnung geschlossen. Die Zwillinge hatte man bei andern Verwandten untergebracht; dort blieben sie nun in Pension, bis später ihre Eltern aus Oberschlesien nach Breslau zogen. Martha und Heidel kamen zu uns, bis sie in eine neue Wohnung einziehen konnten. Für den Onkel wurde ein Zimmer uns gegenüber gemietet. Verpflegt wurde auch er bei uns. Martha war ganz starr in ihrem Schmerz. Sie konnte weder weinen noch sprechen. Wir bemühten uns alle um die Wette, es ihr bei uns angenehm zu machen. Besonders Frieda konnte sich damals nicht genug tun an Liebesdiensten, bis sich die Erstarrung gelöst hatte. Später führten die beiden Schwestern einen gemeinsamen Haushalt in derselben Gastfreiheit, wie es zu Lebzeiten ihrer Mutter gewesen [89] war. Auch der Vater lebte bei ihnen bis zu seiner letzten Krankheit. Meine Mutter nahm es ihnen sehr übel, daß sie ihn ins Krankenhaus bringen ließen, als der Zustand hoffnungslos wurde. Er starb im ersten Kriegsjahr. Martha und Heidel blieben zusammen, obgleich sie einander wegen der großen Verschiedenheit ihrer Naturen schwer ertragen konnten. Die schwesterliche Treue und Anhänglichkeit war aber größer als alle Mißstimmungen.

Ich habe diese Erinnerungen hier nachgetragen, weil sie mit meinen letzten Schuleindrücken verwoben sind. Im allgemeinen sind die Bilder aus den letzten Jahren in der Mädchenschule stark verblaßt und in den Hintergrund gedrängt durch die späteren aus der Gymnasial- und Studienzeit. Der Abschied von der Schule fiel mir nicht schwer. Das Lernen hatte ich zunächst einmal satt. Ich hing an keinem von meinen Lehrern oder Lehrerinnen. Backfischmäßiges Schwärmen war mir immer ein Greuel; ich hatte es niemals mitgemacht und bei andern darüber gespottet. Drei Jahre lang hatten wir einen Lehrer, den ich sehr gern mochte. Er war ganz jung, als er zu uns kam: es war seine erste feste Anstellung. Er hatte ein frisches, offenes Wesen und verstand mit Kindern umzugehen; das war damals eine Seltenheit. Darum wurde er uns auch bald weggeholt – als Direktor nach Königsberg. Ich war damals 13 Jahre alt. Unsere Klasse schenkte ihm auf meine Anregung Böcklins „Toteninsel“ zum Abschied; auf die Rückseite des Bildes ließ er einen Zettel kleben, darauf mußten wir alle eigenhändig unsern Namen schreiben. Als Gegengabe erhielt jede sein Bild mit eigenhändiger Unterschrift. Nach einer Reihe von Jahren kam er als Provinzialschulrat nach Breslau zurück. Beim Eintritt in den Schuldienst mußte ich mich ihm vorstellen. Er erkannte mich sofort wieder und sagte: „Sie waren ja bei mir in der 4. Klasse“.

Auch keine meiner Mitschülerinnen stand mir sehr nahe. In den unteren Klassen war ich fast täglich mit einem Kinde zusammen, das nur wenige Häuser von uns entfernt wohnte.

Mit einigen andern stand ich so, daß wir uns gegenseitig zum Geburtstag einluden, aber sonst wenig außerhalb der Schule zusammenkamen. In den höheren Klassen war eine Kindheitsgespielin bei uns, die früher eine andere Schule besucht hatte. Ihre Mutter stammte wie die meine aus Lublinitz; dadurch hatten wir uns schon früh kennengelernt. Kaethe war in Ernas Alter, ihre ältere Schwester Emma war mit Frieda nah befreundet, ihr Bruder Emil verkehrte mit unserm Bruder Arno. Frau Kleemann war eine große, stattliche Frau von imponierender Haltung. Meine Mutter vergaß aber nie, daß sie aus einer wenig angesehenen Lublinitzer Familie stammte und im Hause meiner Großeltern als Schneiderin gearbeitet hatte.

[90] Ihr Mann hatte sich mit Fleiß und Energie vom Schlossergesellen zum vermögenden Fabrikbesitzer emporgearbeitet. Er arbeitete auch jetzt unermüdlich; wir bekamen ihn selten zu sehen, und wenn er da war, hörte man kaum ein Wort von ihm. Kaethe war mehrere Jahre meine Banknachbarin, und wir verstanden uns gut. In den Pausen und auf den Schulwegen hatten wir oft Gespräche über jene Fragen, die in der Schule zu kurz kamen; es war bei ihr wie bei mir das ernste Suchen nach Wahrheit erwacht. Trotzdem hörte auch zwischen uns der Verkehr auf.

Nach dem Verlassen der Schule dauerte es mehrere Jahre, bis Kaethe und ich uns nur einmal wieder begegneten. Es war 1909 bei einer Schiller-Gedenkfeier. Sie hatte sich kurz zuvor verlobt. Wir begrüßten uns mit aufrichtiger Freude, und sie bat mich herzlich, sie doch einmal wieder zu besuchen, möglichst auch Erna mitzubringen. Wir gingen auch bald einmal hin und verbrachten einen angeregten Abend zusammen. Der Bräutigam, ein junger Arzt, war nicht zugegen. Frau Kleemann freute sich besonders, als Arno uns abholen kam, weil er noch mehr als wir „Kleinen“ an die alten Zeiten erinnerte. Er mußte sich noch mit an den Teetisch setzen und einige Zeit bleiben. Es wurde uns ein Gegenbesuch versprochen, Frau Kleemann wollte auch mitkommen, um unsere Mutter wiederzusehen. Aber es kam nicht dazu. Es sollte über 20 Jahre dauern, bis wir uns wieder begegneten.

Es fiel mir auch nicht schwer, von zu Hause fortzugehen. Freilich war der Besuch in Hamburg zunächst nur für einige Wochen gedacht. Mein Vetter Franz sagte vor meiner Abreise, es sei so schlimm, daß ich keine Rückfahrkarte hätte. Sonst wüßte man, daß es sechs Wochen dauerte, und das wäre erträglich. Aber nun sei es ganz unabsehbar. Darüber lachte ich nur, und niemand von den Anwesenden wußte, wie berechtigt seine Befürchtung war. Er schrieb mir anfangs ziemlich häufig. Da ich aber nur ein- oder zweimal antwortete, unterließ er es schließlich. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß er die ausbleibenden Antworten als Zeichen von Gleichgültigkeit auffassen könnte. Als ich nach zehnmonatlicher Abwesenheit spät abends in Breslau ankam und beim Aussteigen ihm zuerst auf dem Bahnsteig begegnete, war mir das nur selbstverständlich. Die Zeit in Hamburg kommt mir, wenn ich jetzt darauf zurückblicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und lebte noch viel ausschließlicher in meiner inneren Welt als zu Hause. Soviel die häusliche Arbeit es erlaubte, las ich. Ich hörte und las auch manches, was mir nicht guttat. Durch das Spezialfach meines Schwagers kamen manche Bücher ins Haus, die nicht gerade für ein Mädchen [91] von 15 Jahren berechnet waren. Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht.

Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt. Über meine Zukunft dachte ich nicht nach, aber ich lebte weiter in der Überzeugung, daß mir etwas Großes bestimmt sei. Meine Cousine Leni, die mit mir zugleich die Schule verließ, begann damals sich durch Privatstunden für eine höhere Gymnasialklasse vorzubereiten. Der Familienrat hatte beschlossen, daß sie Apothekerin werden sollte. Ich erfuhr es – noch in Breslau – durch unsern gemeinsamen Vetter Richard Courant. Lenis Mutter hatte ihn gebeten, die Mathematikstunden zu übernehmen. Er wollte der Tante ungern etwas abschlagen, wollte aber seine Zeit auch nicht für ein aussichtloses Unternehmen opfern. „Wie dumm ist sie denn?“, fragte er mich. Ich sagte, sie sei keineswegs dumm, sondern guter Durchschnitt. Ich bezweifelte aber, ob sie die Ausdauer haben würde, längere Zeit so angespannt zu arbeiten, besonders da der Plan ja nicht von ihr stamme, sondern ihr von außen aufgenötigt sei. „Wenn Du es wolltest, täte ich es natürlich sofort“, meinte er. Nein, ich wollte es nicht (mich aufs Gymnasium vorbereiten). Wenn ich mich recht erinnere, hat er die Aufgabe nicht übernommen; an seiner Stelle wurde Hans Horowitz damit betraut; er war Jurist und kein so erprobter Lehrer wie Richard, aber er hatte ein gutes Abitur gemacht und mußte doch so viel Mathematik und Latein können, wie für die Sekundareife nötig war. Man wandte sich nicht an Fremde, solange in der Familie Hilfe zu finden war. Im Herbst mußte sich Leni zur Aufnahmeprüfung melden und fiel durch. Sie schrieb recht betrübt, als sie mir bald danach nach Hamburg zu meinem Geburtstag gratulierte. Ich antwortete mit einem herzlichen Trostbrief: sie solle über diesen Mißerfolg nicht trauern, vielleicht käme etwas Besseres nach; ich hätte bisher ja noch gar nichts unternommen und sei doch überzeugt, daß noch etwas Rechtes aus mir würde.

Meine Mutter sorgte aus der Ferne, daß es nicht zu einsam für mich würde. Sie veranlaßte meinen ältesten Bruder, seinen Urlaub in Hamburg zu verbringen und gab ihm strenge Weisung, mich zu allen Besichtigungen und Ausflügen mitzunehmen; Else müsse mich dafür freigeben. Das Schönste war eine zweitägige Fahrt nach Helgoland. Bis dahin war ich nicht über Cuxhaven hinausgelangt. Die Fahrt auf der Elbe hatte ich schon öfters gemacht. Diesmal hüllte uns dicker Nebel ein, so daß man von den schönen Ufern gar nichts sah. Alle paar Minuten ertönten die fürchterlichen Sirenen, um vorbeifahrende Schiffe anzukündigen; es war sehr nötig, denn man sah erst, wenn sie ganz nahe waren, gespenstische Umrisse.

[92] Plötzlich riß der Nebel und in hellem Sonnenlicht lag die Rheede von Cuxhaven mit ihren vielen Dampfern, Masten und Segeln vor uns. Dann kam die weite Fläche des Meeres, durchsichtig-klar und grün. Und schließlich stiegen aus den grünen Wellen steil die roten Felsen der kleinen Insel auf. Da war die berühmte „Lästerbrücke“, der Landungssteg, von dem aus die gelangweilten Badegäste die anlegende Schiffe und die Neuankömmlinge musterten. Schnell hatten wir das Unterland mit seinen großen Hotels durchquert; das Oberland mit seinen kleinen Fischerhäuschen und dem großen, weißen Leuchtturm gefiel mir besser. Dort oben nahmen wir in einer Pension Zimmer für die Nacht. Abends gingen wir noch einmal zu dem einsamen Leuchtturm hinaus. Nicht weit davon war ein Schaf an einen Pfahl gebunden. Es blöckte jämmerlich, als wir in seine Nähe kamen, und aus seinen hellgrünen, wasserklaren Augen sprach ein solcher Abgrund der Todesangst und Verständnislosigkeit, daß ich es nie vergessen konnte. Von dem Zimmer, in dem ich schlief, konnte man das Meer sehen. Und nachts drang das Rauschen der Wellen bis zu mir herauf. Das alles freute mich so, daß ich kaum schlafen konnte.

In den Sommerferien kam Erna und zu Weihnachten meine Mutter selbst, zwischendurch noch manche durchreisende Verwandte.

Es ist mir, als sei ich im Verhältnis zu früher und später geistig etwas dumpfer gewesen. Aber körperlich entwickelte ich mich rasch und kräftig; das schmächtige Kind entfaltete sich zu fast frauenhafter Fülle; da außerdem die blonden Haare stark nachdunkelten, erkannte man mich in Breslau nach der Rückkehr kaum wieder. Ich wurde mit meiner Cousine Martha Courant verwechselt, an die ich schon früher immer erinnert hatte.

Wie ich schon früher erwähnte, war die schwere Erkrankung unseres kleinen Neffen Harald der Anlaß, aus dem ich heimgerufen wurde. Es war Anfang März, an einem bitterkalten Abend, als ich ankam. Nur mein Bruder Arno und der treue Vetter Franz erwarteten mich an der Bahn. Meine Mutter ließ es sich sonst selten nehmen, uns selbst abzuholen. Diesmal ließen sie und die Schwestern sich durch die Witterung zurückhalten, sie waren wohl alle durch die Aufregungen der letzten Tage und die häufigen Krankenbesuche etwas angegriffen. Trotz der Trauerstimmung wurde ich mit großer Freude begrüßt. Meine Schwester Frieda erklärte lächelnd: „Wir haben gesagt: wenn sie jetzt nicht kommt, dann ist sie nicht unsere Schwester“. Das berührte mich peinlich zum Empfang, und ich zog mich gleich etwas in mich selbst zurück.

Das kranke Kind starb wenige Tage später. Ich hatte nun eigentlich keine richtige Beschäftigung. Ich half ein wenig im Haushalt [93] und übernahm ihn einmal für acht Tage ganz, während Rosa eine Gebirgswanderung machte. Sonst hatte ich viel freie Zeit. Ich benützte sie hauptsächlich, um zu lesen – am liebsten Dramen: Grillparzer, Hebbel, Ibsen, und vor allem Shakespeare waren mein tägliches Brot. In dieser farbenprächtigen Welt der großen Leidenschaften und Taten war ich viel heimischer als im Alltagsleben. Als ich mir aber eines Tages Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ herbeiholte, protestierten die älteren Schwestern energisch. Sie fürchteten für meine geistige Gesundheit, und ich mußte die beiden Bände ungelesen wieder in die Bibliothek zurücktragen.

Die Zwillinge Hans und Franz kamen wieder fast täglich zu uns, seit ich zurück war; in meiner Abwesenheit hatten sie sich seltener bei uns blicken lassen und sich mehr mit unsern Cousinen Heidel und Grete Pick angefreundet, den älteren Schwestern meiner Klassengefährtin Leni. Sie kamen jetzt gewöhnlich nach dem Abendessen, da sie tagsüber beschäftigt waren, der eine als Jurist, der andere als Bankbeamter. Es wurde wieder viel musiziert, und etwas Sport getrieben: Tennis gespielt und gerudert. Ich war nun kein ganz harmloses Kind mehr. Wenn ich meine Wünsche nicht zu äußern brauchte, sondern mit einem Blick erreichen konnte, was ich wollte, so freute es mich.

Erna war jetzt Unterprimanerin und hatte viel zu arbeiten. Jedesmal, wenn es einen Aufsatz zu machen galt, kam sie stöhnend nach Hause. Dann ließ ich mir das Thema sagen, erkundigte mich nach den Anweisungen des Lehrers und besprach mit ihr, wie die Sache anzufangen sei. Zu jedem Sprichwort oder Zitat fielen mir gleich einige erläuternde Beispiele aus meinen geliebten Büchern ein. Dann machte ich ihr Mut, anzufangen; und wenn das Schmerzenskind geboren war, bekam ich es zur Begutachtung. Manchmal war alles geglückt, nur die Einleitung fehlte noch. Dann schrieb ich die Einleitung dazu. Einmal gefiel mir der ganze Aufsatz nicht recht; ich setzte mich schnell hin und schrieb einen andern. Den fand nun Erna viel schöner als den ihren; sie gab nach einigem Zögern meinen ab. Er gefiel auch dem strengen Professor Olbrich. Übrigens hatte meine Schwester diese Hilfe gar nicht nötig, sie konnte selbst gute Aufsätze machen; aber sie liebte die Anstrengung nicht und hatte keine Freude am Schreiben wie ich. Einmal hatte sie Goethes Gedicht „Auf Micdycis Tod“ zu behandeln. Ich schrieb die Einleitung über die „humoristische“ Schilderung der Weimarer Theaterverhältnisse in der Eingangsstrophe. „Humoristisch?“ Erna guckte mich etwas zweifelnd an. In der Schule war nichts davon erwähnt worden und es kam ihr wohl etwas merkwürdig vor, daß ein Trauergedicht einen humoristischen Anfang haben sollte. Ich ließ mich nicht beirren.

[94] „Lies doch nur! Es ist ganz klar“. Sie beruhigte sich und ließ die Einleitung stehen. Der Professor hatte nichts dagegen einzuwenden.

Damals kam mir manchmal der Gedanke: Es wäre eigentlich gescheiter, selbst aufs Gymnasium zu gehen, als nur so gelegentlich ein bißchen mitzuarbeiten. Aber ich faßte es nicht ernstlich ins Auge; er war mir, als hätte ich vor einigen Jahren für immer den Anschluß verpaßt. Die ganze enge und weitere Familie wartete damals mit Spannung, was ich über meine Zukunft beschließen würde. Die Geschwister machten mir sogar mancherlei Vorschläge. Weil ich als Kind gern und viel gezeichnet hatte, fragten sie, ob ich nicht auf die Kunstschule gehen wollte. Ich lehnte es ab, denn es war mir ganz klar, daß kein ausreichendes Talent vorhanden war. Einmal nahm mich mein Bruder Arno zu einem ihm bekannten Photographen mit und erkundigte sich nach den Bedingungen für die Ausbildung in seinem Atelier. Ich hörte mir alles an und ließ dann die Sache auf sich beruhen. Ich konnte nicht handeln, solange kein innerer Antrieb vorhanden war. Die Entschlüsse stiegen aus einer mir selbst unbekannten Tiefe empor. Wenn so etwas einmal ins helle Licht des Bewußtseins getreten war und feste gedankliche Form angenommen hatte, dann ließ ich mich durch nichts mehr aufhalten; ja ich hatte eine Art sportliches Vergnügen daran, scheinbar Unmögliches durchzusetzen.

Meine Mutter hatte die ganze Zeit geschwiegen; das schützte mich auch vor lästigem Drängen der andern. Gegen Ende des Sommers fragte sie einmal morgens, während sie mich frisierte – sie tat das noch gern, obgleich ich es längst selbst konnte –, ob ich denn zu gar nichts Lust hätte. Ich sagte, es täte mir leid, daß ich nicht aufs Gymnasium gegangen sei. Das brauchte mir doch nicht leid zu tun, meinte sie. Es fingen ja andere Leute mit 30 Jahren noch an; dann würde es wohl für mich mit noch nicht 16 nicht zu spät sein.

Ein paar Tage darauf suchte sie mein Vetter Richard im Geschäft auf. Er hatte den Sommer in Zürich studiert und meldete sich als zurückgekehrt. Meine Mutter fragte ihn sofort meinetwegen um Rat. Er erklärte es für möglich, bis zum nächsten Juli – es war jetzt September – die Aufnahme nach der Obersekunda zu erreichen. Die Mathematikstunden wollte er selbst übernehmen. Für Latein brachte er uns einen Altphilologen, der vor dem Abschluß seines Studiums stand und als tüchtiger Privatlehrer bekannt war. Herr Dr. Marek kam zu einer Besprechung: ein schlanker junger Mann mit einem Zwicker und sehr korrekten Manieren. Meine Mutter fragte ihn, ob er es übernehmen könne, mich bis zum nächsten Sommer für die Obersekunda vorzubereiten. Er erklärte, das könne er heute noch nicht versprechen, denn es hinge ja nicht von ihm [95] allein ab. Ich verstand den zarten Wink: daß er erst die Leistungsfähigkeit seiner Schülerin kennenlernen müsse. Diese Vorsicht erweckte mein Vertrauen und war mir sympathisch. Es begann nun ein ganz anderes Leben. Ich hatte jeden Tag eine Stunde Latein und eine Stunde Mathematikunterricht und bekam dafür soviel Aufgaben, daß ich den ganzen Tag zu tun hatte. In diesen Fächern hatte ich das Pensum von drei Jahren der realgymnasialen Studienanstalt nachzuholen. Diese Klassen hatten aber schon mehr zu bewältigen als die entsprechenden Knabenklassen, da der Lehrstoff auf eine kürzere Zeit verteilt war. In Latein war es die ganze Grammatik, dazu die ersten Schriftsteller Caesar und Ovid. In den andern Fächern langten meine Vorkenntnisse von der Höheren Mädchenschule, ich mußte sie nur ein wenig auffrischen. Das sollte ich ohne Hilfe tun; ich verschob es auf die letzte Zeit vor der Aufnahmeprüfung. Ich wollte das Unternehmen, das mir doch sehr gewagt erschien, vor der weiteren Familie geheimhalten. Ich liebte es überhaupt nicht, daß viel über mich gesprochen wurde. In diesem Fall hatte ich noch das Gefühl, daß vorzeitiges Schwätzen den Erfolg gefährden könnte. Meine Mutter dachte ebenso. Bis zum Dezember schwiegen auch die Geschwister sehr brav. Dann ärgerte sich meine Schwester Frieda, weil ich an ihrem Geburtstag meine Stunden nicht ausfallen lassen wollte und verriet mich an einen Onkel, der ihr gratulieren kam und meinen Mathematiklehrer im Vorzimmer traf. Das war leider nicht mehr mein Vetter Richard. Ich hatte nur wenige Stunden bei ihm gehabt; in diesen Stunden hatte ich ihn erst richtig schätzen gelernt. Dann ging er auf den Rat seiner Freunde nach Göttingen, weil dies für seine spätere Laufbahn von entscheidender Bedeutung war. Es mußte für Ersatz gesorgt werden. Dr. Marek konnte uns seinen Bekannten empfehlen.

Herr Dr. Großmann war ein bejahrter Student, schon über 30 Jahre alt; er hatte sein Studium spät begonnen, vorher in einem praktischen Beruf gestanden. Er war sofort sehr zuversichtlich und machte mir von vornherein keinen sehr zuverlässigen Eindruck. Später fiel er mir durch seine schlechten Angewohnheiten so auf die Nerven, daß jede Stunde eine kleine Tortur war. Er lief während des Unterrichts im Zimmer umher und riß an seinen Nägeln. Außerdem liebte er kleine Scherze, die ich abgeschmackt fand – z.B. verwandelte er die Figur, die er zum pythagoräischen Lehrsatz gezeichnet hatte, in ein Männchen und sagte, das sei der alte Pythagoras –, und versuchte öfters Privatunterhaltungen anzuknüpfen. Das glückte ihm freilich nicht: ich erklärte kurzerhand, wir hätten keine Zeit zu plaudern; wir könnten sonst das Pensum nicht bewältigen. Er erwiderte etwas gekränkt, was ich denn wolle; wenn ich nicht so ungewöhnlich [96] begabt wäre, hätten wir unmöglich das schaffen können, was schon erreicht sei. Aber dann kehrte er wohl oder übel zum Unterrichtsstoff zurück. Öfters versicherte er mir, ich müsse unbedingt Mathematik studieren; ich hätte die Begabung dafür, und es sei viel vorteilhafter als alles andere, weil man es nicht nur in der Schule verwenden könne. An was ich denn sonst dächte. Ich sagte kurz, es käme z.B. Medizin in Betracht. Er war ganz verblüfft, er hatte offenbar nur an die philologischen Fächer gedacht. So hatte die Diskussion ein Ende; nur das hatte ich mit dieser Bemerkung erreichen wollen. Eine andere peinliche Untugend war, daß er nicht pünktlich sein konnte. Er kam manchmal eine Stunde zu spät, manchmal auch gar nicht. Wir waren zu strengster Pünktlichkeit erzogen; das war Courantsches Familienerbe. So war mir diese Unverlässigkeit ein Greuel. Jedesmal, wenn er mir zum Abschied die Hand reichte, sagte ich: „Aber, bitte, das nächste Mal recht pünktlich“. Er versprach es ganz treuherzig, aber er besserte sich nicht. Ich hätte mich gern von diesem unangenehmen Lehrer befreit. Aber ich sagte mir, daß ein neuer Wechsel Zeitverlust bedeuten würde, und ertrug das Übel mit Rücksicht auf mein Ziel. Mit Herrn Dr. Marek dagegen war ich restlos zufrieden. Wir sprachen fast nie ein Wort miteinander, das nicht zur Sache gehörte, und es ging unaufhaltsam, ruhig und sicher voran. Nach einigen Wochen sagte er, wenn ich in diesem Tempo weiterarbeitete, könne ich schon Ostern in die Obersekunda eintreten. Es sei ja auch viel angenehmer zum Eingewöhnen, zu Beginn des Schuljahres anzufangen als später mitten hinein zu kommen. Natürlich war ich hocherfreut. Auf die Einwände des Mathematiklehrers wurde keine Rücksicht genommen. Er wurde noch schärfer als bisher angetrieben und mußte sich seufzend dem Schaffenseifer der rastlosen Schülerin anbequemen. Nachdem meine Mutter anfangs einmal mit den Herren gesprochen hatte, machte ich alles Weitere selbst mit ihnen ab. Sie nannten mich „gnädiges Fräulein“ und begegneten mir mit großer Hochachtung. Ich überreichte ihnen auch jeden Monat ihr Honorar. Das war mir immer etwas peinlich, denn mir selbst erschien es als etwas Beschämendes, Geld anzunehmen. Ich suchte das etwas zu mildern, indem ich nach Möglichkeit mir lauter Goldstücke für diesen Zweck geben ließ. Das schien mir etwas würdiger als Silber oder gar Papier. Die beiden Herren haben sicher von solchen Hemmungen nichts empfunden. Sie waren auf diese Einnahme angewiesen; besonders Herr Großmann war gegen Ende des Monats meist in Verlegenheit und mußte sogar manchmal um Vorschuß bitten.

Dieses halbe Jahr rastloser Arbeit ist mir immer als die erste ganz glückliche Zeit meines Lebens in Erinnerung geblieben. Es lag [97] wohl daran, daß zum ersten Mal meine geistigen Kräfte in einer ihnen entsprechenden Aufgabe voll angespannt waren. Wenn ich ganz allein in dem Zimmer, das mir zur Arbeit angewiesen war – ich hatte damals noch kein eigenes Arbeitszimmer – am Schreibtisch saß, kümmerte mich die ganze übrige Welt nichts mehr. Nach jeder gelösten Mathematikaufgabe pfiff ich ein paar Takte als Triumphlied. Ich zog es nie in Erwägung, Mathematik zu studieren. Ich hatte ein sportliches Vergnügen daran als an einer gesunden geistigen Turnübung. Aber es war nicht das, wofür ich geboren war. Ganz anders war es beim Latein. Das Erlernen der neuen Sprachen hatte mir nicht annähernd soviel Freude gemacht. Diese Grammatik mit ihren strengen Gesetzen entzückte mich. Es war, als ob ich meine Muttersprache erlernen würde. Daß es die Sprache der hl. Kirche ist und daß ich später einmal in dieser Sprache beten sollte, davon ahnte ich damals noch nichts.

Die Familie sah mich in dieser Zeit fast nur bei den Mahlzeiten und nach dem Abendessen. Abends durfte ich nicht weiter arbeiten. Wir waren als Kinder daran gewöhnt, pünktlich um acht Uhr schlafen zu gehen. Später wurde die Zeit auf neun Uhr heraufgedrückt. Ich habe auch in den obersten Gymnasialklassen nicht daran gerüttelt, weil mir daran lag, früh frisch und leistungsfähig zu sein.

In den ersten Monaten der heimlichen Arbeit sagte ich auch meinem treuen Ritter Franz nichts davon. Einmal fand er auf meinem Schreibtisch einen beschriebenen Zettel. Ich haschte schnell danach und nahm ihn an mich, ehe er ihn lesen konnte. Er fragte etwas betrübt, ob ich ein Geheimnis hätte. Nach einem kleinen inneren Kampf reichte ich ihm das Papier. Es standen lateinische Zahlwörter darauf. „Du willst aufs Gymnasium gehen?“ „Ja“. Er wurde sehr nachdenklich, sprach aber keinen Einwand aus. Ich bat ihn noch, gegen alle zu schweigen; dann war dieses Gespräch zu Ende. Ich weiß nicht, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Es ist wohl möglich, daß er sich sagte, ich sei nun für ihn verloren. Er war ernster und grüblerischer als sein Zwillingsbruder – gerade das hatte mich immer angezogen. Aber er lernte schwerer, und nach einer langen Diphterieerkrankung, die ihn sehr angriff, war er sogar eine Klasse zurückgeblieben. Nach schwerem Kampf hatte er sich entschlossen, mit Primareife das Gymnasium zu verlassen und als Lehrling in ein Bankgeschäft zu gehen. Ich hatte ihn damals tief enttäuscht, weil ich für die Schwere der Entscheidung noch kein Verständnis hatte; ich war ja noch ein richtiges Kind, als er die Krisen der Reifezeit durchmachte. Daß ich beim Studium in meinem Element sein würde, wußte er. Aber er mochte sich sagen, [98] daß sich damit unsere Wege trennten. Ich erwähnte früher, daß die Zwillinge kurz nach meinem Eintritt ins Gymnasium ihre täglichen Besuche bei uns einstellten und daß wir uns nur noch selten sahen. Beide blieben unverheiratet. Wir haben niemals darüber gesprochen, warum sich unsere Freundschaft löste. Aus dem Felde schrieb Hans mir einmal, es sei doch schade, daß wir uns nach den schönen gemeinsamen Kinderjahren so fremd geworden seien.

Nachdem einige Zeit der Vorbereitung verstrichen war, suchte meine Mutter mit mir den strengen Direktor Roehl auf. Ich mußte ja zur Aufnahmeprüfung angemeldet werden und einige Ratschläge für die Vorbereitung erbitten. Es war, als wollte er sein Möglichstes tun, um mich zu entmutigen. Er stellte das Ziel als äußerst schwer erreichbar vor, schärfte mir ein, daß ich nicht nur für Latein und Mathematik, sondern auch für alle andern Fächer sehr gut vorbereitet sein müsse. Er riet auch, nach den eingeführten Lehrbüchern zu arbeiten.

Ich begann nun auch Französisch, Englisch und Geschichte zu wiederholen. Dafür bekam ich bald eine Gefährtin. Eine Klassengefährtin erzählte Erna, daß bei ihren Eltern ein junges Mädchen aus Oberschlesien in Pension sei und sich auch für die Obersekunda vorbereitete; sie würde gern etwas mit mir zusammen arbeiten. So kam nun Trude Mervins öfters zu mir. Sie war ein reizendes Persönchen, sehr nett anzusehen, munter und liebenswürdig. Aber ihre Kenntnisse waren so minimal, daß ich wenig Hoffnung für sie hatte. Ich war auch für mich besorgt, als die Prüfung näherkam. Ich hatte noch nie eine Prüfung machen müssen und stellte mir vor, daß man alles wissen müsse, was im Lehrstoff der drei unteren Klassen enthalten war. Daß ein Examinator froh ist, wenn er nur etwas aus seinem Opfer herauslocken kann, erfuhr ich erst, als ich selbst zu prüfen hatte. Wenn meine Geschwister so sprachen, als könnte ich unmöglich durchfallen, so wurde ich ganz aufgebracht. Frieda berichtete mir einmal: „Dein Bruder hat eine sehr gute Meinung von Dir. Er hat gesagt, die Lehrer müßten nicht recht gescheit sein, wenn sie Dich durchfallen ließen. Es könnte doch niemand mehr wissen“. Ich fuhr ganz empört auf: „Er hat keine Ahnung, was dazu gehört“. Ein andermal fragte sie, was ich denn zu tun gedächte, wenn ich wirklich durchfiele. Sie glaubte durchaus nicht daran. Aber gesetzt den Fall... Frieda führte bei uns die Kasse. Die stattliche Anzahl von Goldstücken, die ich ihr für meine Stunden schon entführt hatte, war gegen ihren haushälterischen Sinn, und sie war keineswegs dafür, diesen kostspieligen Privatunterricht noch länger fortzusetzen. Am liebsten hätte sie mich schon aufhören lassen, als Richard Courant fortging. (Der Vetter hatte umsonst unterrichtet).

[99] Nun meinte sie, wenn ich Ostern nicht aufgenommen würde, dann sollte ich das ganze Unternehmen aufgeben. Was ich gelernt hätte, würde mir auf alle Fälle nützen. Ich könnte z.B. eine Nachmittagsstellung bei Kindern zur Beaufsichtigung der Schularbeiten annehmen, wie es Leni Pick getan hatte. Ich war innerlich ganz fassungslos über das Ansinnen, mich in einen so engen Kreis einsperren zu lassen. Aber das sprach ich nicht aus. Ich lehnte die ganze Fragestellung ab. Dazu war Zeit nach der Prüfung.

Anfang März, bei Semesterschluß, verabschiedete sich Dr. Marek von mir. Er wollte die Ferien in seiner Oberschlesischen Heimat verbringen. Mit dem Pensum waren wir fertig; ich sollte mich während der nächsten Wochen noch allein weiter üben. „Kommen Sie wirklich vor der Prüfung nicht mehr wieder?“, fragte ich ganz erschreckt. Nein, er hätte nicht die Absicht. Es sei ja auch nicht nötig. Ob ich mich denn fürchte? Ja, freilich fürchtete ich mich. Er war höchst erstaunt. „Wovor denn? Die Grammatik beherrschen Sie so sicher wie kaum irgendein Mensch, übersetzen können Sie und Verse lesen auch“. Herr Marek hatte mir nie eine Schmeichelei gesagt. So war mir diese Versicherung wirklich beruhigend.

Ende April kam endlich der gefürchtete Tag. Außer Trudi Mervins und mir war noch eine dritte Kandidatin für die Obersekunda zur Stelle. Wir machten uns miteinander bekannt, während wir in einer leeren Klasse auf den Beginn warteten. Die Fremde versicherte uns, sie wüßte sehr viel, aber man würde ihr wohl zu einfache Fragen stellen, und dann könnte es ihr schlecht gehen. Wir wurden in Latein, Mathematik, Französisch und Englisch schriftlich geprüft. Es dauerte mehrere Stunden. Erna erwartete die Examinatoren, wenn sie aus dem Prüfungsraum kamen, und erkundigte sich nach dem Verlauf. Sie durften ja nicht viel sagen, ließen aber doch merken, daß es gut ging. Gegen Mittag kam auch meine Mutter und wartete mit uns in der Aula auf die Verkündigung des Prüfungsergebnisses. Der Direktor verlas, wer für die einzelnen Klassen – von unten angefangen – aufgenommen war. Für die Obersekunda hatte ich als Einzige bestanden. Trudi Mervins wurde der Vorschlag gemacht, nach Obertertia zu gehen. Sie versuchte es auch, in den ersten Wochen schlüpfte sie noch in den Pausen aus ihrer Klasse zu mir und hängte sich an meinen Arm. Aber sie konnte sich doch nicht eingewöhnen und kehrte zu ihren Eltern zurück. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.


[100]
4.

So begann nun das Schulleben von neuem. Als ich am Tage der Prüfung zum Schulbeginn eintrat, begegnete ich dem alten Direktor im Treppenhaus. Er begrüßte mich so freundlich wie vor 10 Jahren, als ich zum ersten Mal hier eingezogen war; ich fragte ihn, wo der Klassenraum der Obersekunda sei, und er zeigte mir selbst den Weg.

Ich war, wenn ich mich recht erinnere, die Erste im Zimmer. Allmählich fanden sich die andern ein. Ein großes Mädchen mit rötlichen Haaren kam herein, warf einen Ranzen auf einen Tisch und sagte seufzend: „Das Leben ist mühsam und zeitraubend“. Da hatte ich gleich den richtigen Schülerjargon. Einige meiner neuen Mitschülerinnen kannte ich, weil sie auch früher die Viktoriaschule besucht hatten. So meine Banknachbarin Julia Heimann. Sie galt als das reichste Mädchen der Stadt und wurde wohl von den Eltern aufs Gymnasium geschickt, weil dies die beste Ausbildungsmöglichkeit war. Auch sonst wurde viel für ihre Bildung getan; sie hatte eine „Miss“, die sie immer mit einem schönen schwarzen Hund von der Schule abholte; außerdem bekam sie auch Privatunterricht in französischer und italienischer Konversation. Sie war nicht sehr begabt, arbeitete aber fleißig und hielt sich dadurch immer unter den Besseren in der Klasse. Von Natur aus war sie zu mancherlei Streichen aufgelegt und wäre wohl ohne die sorgfältige Erziehung kein braves Kind gewesen. Ihre Kleidung war immer sehr gut und geschmackvoll, aber ganz einfach. Schmuck trug sie fast gar nicht, und sie erzählte uns einmal, ihre Eltern hätten allen Verwandten untersagt, ihr welchen zu schenken. Die Großmutter mußte wohl eine Ausnahme machen, denn ich erinnere mich an eine Halskette aus Gold und Türkisen, die sie Julia aus Ägypten mitgebracht hatte. Besonders Eindruck machte mir, daß sie nachts ihren Wecker unter dem Kopfkissen hatte, um die Miss nicht zu stören, die im selben Zimmer schlief.

Außer Julia und mir waren noch sieben jüdische Schülerinnen in der Klasse, aber keine war streng-gläubig erzogen. Von der Obersekunda an hatten wir auch in der Schule keinen Religionsunterricht mehr, weil Religion für uns auch nicht Prüfungsfach war. (Das wurde später geändert.) Ich habe allerdings auch bei den andern Mädchen kaum etwas von tieferer Frömmigkeit bemerkt. Den protestantischen Religionsunterricht gab in den Oberklassen ein Herr, der sichtlich darauf Wert legte, von seinen Schülerinnen angeschwärmt zu werden und für manche wohl eine wirkliche Gefahr bedeutete.

Nur eine einzige Klassengefährtin war katholisch, und diese eine [101] mußte wegen Schwierigkeiten im Latein die Obersekunda wiederholen, so daß wir nach einem Jahr voneinander getrennt wurden. Solange die Schule noch am Ritterplatz war, hatten wir den Schulweg gemeinsam und gingen jeden Mittag zusammen nach Hause. Wenn ich einmal die Schule versäumen mußte, holte ich mir bei ihr die Aufgaben. Es war ein ruhiges, verständiges und gleichmäßig-freundliches Mädchen, und ich mochte sie gern. Über religiöse Dinge haben wir nie gesprochen. Nach meinem Abitur verloren wir uns zunächst aus den Augen. Später hörten wir durch eine gemeinsame Bekannte voneinander; so erfuhr ich auch, daß sie – ziemlich spät – als Benediktinerin in St. Gabriel (Steiermark) eingetreten war. Von da aus hat sie im letzten Jahr brieflich die Beziehung wieder angeknüpft.

Die erste Stunde in meiner neuen Schulperiode war lateinische Lektüre bei Professor Olbrich. Er war ein gründlich gebildeter, kenntnisreicher Lehrer, und wir schätzten seinen Unterricht sehr. Aber die meisten Mädchen fürchteten ihn, denn er stellte hohe Anforderungen und hatte eine schroffe, verletzende Art zu tadeln. Es fiel uns auch auf, daß er uns nie richtig ansah und daß es ihm offenbar unbehaglich war, wenn wir uns einmal nach der Stunde wie bei andern Lehrern um den Katheder drängten, um noch etwas mit ihm zu besprechen oder etwas anzusehen, was er uns zum Zeigen mitgebracht hatte. Darum nannten wir ihn einen Misogyn und hatten den Eindruck, daß er sich eigentlich zu gut für eine Mädchenschule vorkam.

Die Klasse übernahm er neu; er unterrichtete nur auf der Oberstufe. Er hatte mich auch nicht geprüft und mochte dem Urteil seines Kollegen wohl nicht ganz trauen. Jedenfalls nahm er mich gleich als Erste dran, um einige Verse zu lesen. Es war der Anfang von Ovids Autobiographie: „Ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum ...“ Die Stelle war mir schon bekannt, das Versmaß vertraut; so las ich ein längeres Stück mit scharf betontem Rhythmus glatt herunter. „Sie können lesen“, sagte der Gestrenge.

Anfangs wußte ich nicht Bescheid, ob in puncto Vorsagen und Abschreiben im Gymnasium dieselben Bräuche herrschten wie in der Mädchenschule. Bei der ersten Klassenarbeit klärte mich ein freundlicher Rippenstoß meiner Nachbarin Julia darüber auf. Seitdem wußte ich, was ich zu tun hatte, und legte meine Hefte immer so, daß die Nachbarin bequem hineinblicken konnte.

Im Herbst bekamen wir die ersten Zensuren. Offiziell waren die Klassenplätze abgeschafft, aber Professor Olbrich, unser Klassenlehrer, gab uns die Zeugnishefte genau der Rangordnung nach. Das meine lag zu oberst. Ehe er es mir überreichte, hielt er mir vor der ganzen Klasse eine kleine Ansprache: ich sei, offenbar infolge [102] meiner Begabung, bei weitem die Beste. Das solle mich aber nun nicht veranlassen, in meinen Anstrengungen nachzulassen. Diese sehr wohlmeinenden, aber in seiner gewöhnlichen rauhen Art vorgebrachten Worte kränkten mich so, daß mir zunächst die Freude an dem guten Zeugnis ganz verdorben war. Vor der Haustür traf ich mit Erna zusammen, die natürlich begierig nach dem Buch griff und sich meine Mißstimmung mit den guten Noten gar nicht zusammenreimen konnte. Ich berichtete, fast weinend, den Vorgang und sagte: „Für was für eine eingebildete Gans muß er mich halten, daß er mir so etwas sagt“. Zu Hause war natürlich helle Freude über den Erfolg; darüber verschmerzte ich die bittere Pille.

Die Klasse, in die ich eintrat, war in keinem guten Zustand. Sie hatte öfters den Lateinlehrer gewechselt und zuletzt einen gehabt, der eine wahrhaft komische Figur war und in keinem seiner zahlreichen Fächer ganz festen Boden unter den Füßen hatte. So fand Professor Olbrich viel zu tadeln und kanzelte manchmal die ganze Gesellschaft gehörig ab. Als ich schon längere Zeit da war, hielt er gern mich den andern als Muster vor; das war mir immer sehr peinlich. Einmal sagte er, es gehöre schon eine große Charakterfestigkeit dazu, um in solcher Umgebung noch etwas zu leisten. Er nannte keinen Namen, aber sofort nach der Stunde wurde ich von den Mitschülerinnen ironisch als „die Charakterfeste“ begrüßt. Ein andermal sagte er in einer andern Klasse: „In der Klasse unter Ihnen kommt erst Fräulein Stein, dann kommt ein großer Abstand und dann kommen die übrigen“. Das wurde natürlich sofort in der ganzen Schule und dadurch auch ziemlich weit in der Stadt verbreitet. Ich ärgerte mich besonders darüber, weil es geeignet war, das gute Einvernehmen mit den Klassengefährtinnen zu stören. Es litt aber nicht ernstlich darunter. Wir waren nicht viele, bis zum Abitur gelangten nur 15. Diese kleine Schar hielt sehr kameradschaftlich zusammen, und ich glaube, ich besaß das Vertrauen aller. Vor jeder Lateinstunde mußte ich vorübersetzen, was wir zu präparieren hatten. Gewöhnlich saß ich dazu auf einem Tisch mitten in der Klasse, die andern auf Tischen und Stühlen dichtgedrängt um mich herum. Manche brachten mir ihre deutschen und manche die französischen Aufsätze zum Durchsehen, ehe sie sie ins Reine schrieben. Als ich fremd in die Klasse kam, hatten wir uns „Sie“ genannt, aber nach kurzer Zeit standen wir alle auf „Du“. Beim ersten Schulausflug bat mich während einer größeren Ruhepause eine Mitschülerin, ein wenig mit ihr allein spazieren zu gehen, und trug mir bei diesem Gespräch unter vier Augen ihre Freundschaft an. Sie gab mir genau an, mit wem sie bisher außerhalb der Schule verkehrt habe; es sei aber keine darunter, die sie ganz befriedige.

[103] Dieser förmliche Antrag kam mir etwas komisch vor, ich willigte aber ohne weiteres darein, sie demnächst zu besuchen. Ich wurde vor allem der Mutter vorgestellt und fand Gnade vor ihren Augen, lernte auch den Vater und das Schwesterchen kennen. Seitdem besuchten wir uns öfters gegenseitig; im nächsten Sommer mußte ich auch mit der ganzen Familie für einige Wochen ins Riesengebirge gehen. Lene Koppel war jünger als ich und noch sehr kindlich. Als Hans Biberstein sie bei uns kennen lernte, prophezeite er mir, ich würde einmal einen Mann heiraten, der mir sehr inferior wäre. (Lene hat später seinen Vetter, Dr. Martin Biberstein, geheiratet, und zwischen beiden Familien besteht jetzt freundschaftlicher Verkehr.)

Ich ließ mich durch seine Neckereien nicht irremachen. Die jüngere Freundin war offen und treuherzig, und sie hing mit aufrichtiger Zuneigung an mir. Sie war auch gut begabt, besonders in den mathematischen Fächern, und eifrig; wenn wir für eine Mathematik- oder Physik-Arbeit zusammen wiederholten, hatten wir beide Nutzen davon. Durch sie bin ich auch in den Literaturzirkel von Fräulein Freyhan hineingekommen, an dem Rose Guttmann und Lilli Platau teilnahmen.

Mit meiner Nachbarin Julia lebte ich in guter Kameradschaft. In den sehr langweiligen Geschichtsstunden bei Professor Scholz (den ich vorhin eine komische Figur nannte) suchten wir uns aus einzelnen Wörtern in unserm Lehrbuch für alte Geschichte das griechische Alphabet zusammen und übten uns gemeinsam darin. Als wir später weiter von einander entfernt saßen, schrieben wir uns während der Stunden kleine Briefchen in griechischen Buchstaben; nach dem Muster des Briefwechsels zwischen Schiller und Körner unterzeichneten wir uns als „Julius“ und „Raphael“. Julias nahe Freundinnen waren Toni Hamburger und Hedi Kopf. Hedi war die Jüngste aus der Klasse, wie Julia aus sehr begütertem Hause; sie machte den Eindruck eines sehr sorgsam behüteten Kindes. Sie gehörte zu den Begabtesten unter uns, besonders in Mathematik; dabei war sie so bescheiden, daß sie trotz ihrer Leistungen niemals als „glänzende“ Schülerin auffiel. Ihr feines und stilles Wesen zog mich sehr an, ich glaube fast, daß ich sie am liebsten von allen Mitschülerinnen hatte. Trotzdem kamen wir außerhalb der Schule nicht zusammen. Es war nicht meine Art, jemanden zuerst zu mir zu bitten, und bei ihr lag es vielleicht an derselben Zurückhaltung. In den Pausen war ich viel mit ihr und ihren Freundinnen zusammen.

Einmal wurde in der Klasse die Frage aufgeworfen (natürlich nicht im Unterricht, sondern unter uns), wer sich entschließen könnte zu heiraten. Hanna und ich erwogen sehr kritisch das Für und Wider. Als die Frage an Hedi kam, sagte sie einfach: „Ja – wenn [104] sich jemand findet, der mich mag!“ Das gefiel mir viel besser als meine eigene damals stark frauenrechtlerische Haltung. Toni Hamburger verkehrte mit den reichsten Mädchen, stammte aber selbst aus bescheidenen Verhältnissen. Durch ältere Geschwister war sie stark geistig angeregt und fühlte sich durch diese Interessen wohl auch zu mir hingezogen. Sie lud mich zu sich ein, und ich habe manchmal ein paar Stunden bei ihr verbracht. Die Familie war kunstliebend, und ich bekam dort – ebenso auch bei Koppels – manches zu sehen, was bei uns zu Hause fehlte; der Zug zur bildenden Kunst war in unserer Familie im Vergleich zur Literatur und Musik wenig ausgebildet.

Toni war eifrig bestrebt, in der Schule etwas Ordentliches zu leisten; die mathematischen Fächer lagen ihr gut, die Sprachen aber machten ihr große Schwierigkeiten, zeitweise so sehr, daß sie daran dachte, vor dem Abitur abzugehen. Damals wurde auch ich ins Vertrauen gezogen und um Rat gefragt, während sonst außer den beiden nächsten Freundinnen niemand in der Klasse etwas wissen durfte. Wir bemühten uns, ihr über die Krisis hinwegzuhelfen; sie bestand die Prüfung auch glatt und wurde eine sehr tüchtige Chemikerin.

Abgesehen von Professor Scholz, der uns in Obersekunda Deutsch und Geschichte gab, hatten wir sehr tüchtige Lehrer. Der Mathematiker Professor Sumpf, in Unterprima unser Klassenlehrer, war ein Original und hatte einen etwas merkwürdigen Verkehrston: Wenn jemand an der Tafel einen Beweis oder eine Aufgabe lösen sollte und dabei in Verwirrung geriet, sagte er: „Sie sind wohl heute mit dem Dummbeutel geklopft?“ oder „Haben Sie heute wollene Strümpfe an?“ Er nannte uns auch nicht, wie es für die beiden Primen vorgeschrieben war, „Fräulein X.“, sondern nur mit dem Nachnahmen, oder – wenn er besonders gnädig gestimmt war – rief er uns alle „Lotte“. Da dies alles mit einem trockenen, gutmütigen Humor herauskam, nahmen wir es auch mit Humor auf; außerdem schätzten wir seinen ausgezeichneten Unterricht. Als wir in der Literatur erklärt bekamen, was ein Akrostichon sei, machte ich gleich eins auf ihn:

Seht den kleinen Mann,
Unsern Liebling an:
Mit vergnügtem Sinn
Pilgert er dahin,
Fest die Mütze über beiden Ohren“.

[105] Ich hatte immer „Gut“ in Mathematik, aber ich wußte jetzt noch besser als früher, daß ich nicht die spezifische mathematische Begabung besaß, wie einige meiner Mitschülerinnen sie hatten. Es schien mir auch, daß meine Leistungen in den andern Fächern das Urteil des Professors etwas beeinflußten. Nur einmal hat er mir, sicher ohne es zu wollen, sehr weh getan. Es war auf der Rückfahrt von einem Ausflug beim Pfänderspiel, Ich wurde ins Nebenabteil geschickt, und die andern besprachen sich über mich; jedes mußte eine gute oder schlechte Eigenschaft sagen; eine trug mir dann die gesammelten Urteile vor; ich mußte gestehen, was mich am meisten gefreut und was mich am meisten geärgert habe und raten, von wem die betreffende Aussage stamme. Ich fand nur einen Vorwurf kränkend: jemand hatte gesagt, ich sei schadenfroh, und dieser Jemand war unser Klassenlehrer. Ich konnte mir kaum etwas Häßlicheres denken, und daß mir so etwas zugetraut wurde, das ging mir so zu Herzen, daß mir die Tränen kamen. Man war nicht gewöhnt, mich weinen zu sehen. Die Mitschülerinnen gaben sich alle Mühe, um mich zu beruhigen. Sie versicherten mir, es sei wohl nicht so ernst gemeint gewesen; ich könnte vielleicht den Eindruck erweckt haben, weil ich oft über dumme Antworten im Unterricht lachte; die Lehrer wüßten ja nicht viel von uns und können uns nicht beurteilen. Hedi Kopf hatte anfangs zu der Äußerung des Professors zustimmend genickt; das war mir noch besonders schmerzlich. Als sie dann sah, wie ich mir den Vorwurf zu Herzen nahm, guckte sie ganz scheu von der Seite nach mir hin. Der gute Ordinarius sagte gar nichts. Er hatte die ganze Sache wohl als einen harmlosen Scherz aufgefaßt und war verblüfft über die Wirkung.

Unser Neuphilologe, Professor Leugert, hatte sich mit unermüdlichem Fleiß ein gründliches Wissen erworben. Er hatte eine unverhohlene Bewunderung für Menschen, denen es sehr viel leichter wurde als ihm. Man konnte bei ihm etwas lernen, und ich bin ihm mein ganzes Leben hindurch dankbar gewesen für die Sprachkenntnisse, die ich aus seinem Unterricht mitnahm. Aber die Stunden waren sehr langweilig. Die meisten Schülerinnen dösten oder beschäftigten sich mit andern Dingen. Ich hatte zwei Methoden, mich wach zu halten. Die eine bestand darin, daß ich sehr lebhaft am Unterricht teilnahm. Wenn ich den Lehrer scharf ansah, so hatte dies meist die suggestive Wirkung, daß er mich zum Lesen oder Übersetzen drannahm. Aber das ging nicht oft in einer Stunde zu wiederholen, weil ja auch die andern drankommen mußten. Wenn etwas erzählt wurde, was mich interessierte, so streute ich Fragen und ergänzende Bemerkungen ein. Der Professor wandte sich auch manchmal mit Fragen an mich, so daß der Unterricht zum Dialog [106] wurde. Er hatte z.B. herausgefunden, daß ich regelmäßig Zeitung las und zog mich heran, wenn Tagesereignisse zur Sprache kamen. Wenn alles das nichts nützte und die Langeweile kommen wollte, nahm auch ich unter der Bank eine andere Arbeit vor. Herr Leugert merkte das wohl und bemühte sich oft, mich auf einer Unaufmerksamkeit zu ertrappen; aber wenn er mich plötzlich anrief, wußte ich immer, wo man stand, und konnte die angemessene Antwort geben. Dann schüttelte er lachend den Kopf, und ich behielt stets meine „Eins“ in Aufmerksamkeit. Eine boshafte Mitschülerin behauptete, er schaue beständig nach mir und lese die Urteile über die Leistungen der andern mir vom Gesicht ab. Eine andere rief mir einmal während des Unterrichts zu, als ich wieder unaufgefordert eine Bemerkung einschob: „Sei nicht so vorlaut!“ Der Professor nickte zustimmend, wenn auch mit gutmütigem Lächeln. Dies erschien mir nun geradezu als Undankbarkeit. Ich fühlte mich als seine einzige zuverlässige Stütze, „Warte“, dachte ich, „Du sollst es einmal spüren, wie es ist, wenn ich nicht ‚vorlaut’ bin“. In der nächsten Stunde saß ich still auf meinem Platz, ohne aufzusehen. So oft ich gefragt wurde, gab ich ruhig Antwort, rührte mich aber von selbst nicht. Als es zur Pause läutete, trat der gute Leugert (wir nannten ihn „Lämmchen“) an mich heran und fragte, was mir fehle: ob ich eine schlechte Arbeit zurückbekommen hätte oder ob mir etwas geschehen sei. Ich antwortete kurz, es fehle mir nichts, und die andern lachten. Er ging nachdenklich zur Klasse hinaus. Ich blieb innerlich beschämt zurück. Von da an war ich wieder wie immer, und beide Teile waren zufrieden.

Geschichte gab uns in Prima Direktor Roehl. Wir fürchteten uns nicht mehr vor ihm wie als Kinder. Er selbst war mit den Jahren milder geworden. Vor allem aber waren wir jetzt schlau genug, um ihn zu behandeln. Wenn wir kein zu großes Pensum aufbekommen wollten, unterbrachen wir seinen Vortrag mit einer Frage über die Sozialdemokratie. Wir wußten, daß der stockkonservative Mann dann kein Ende fand, bis es läutete. Und so behielten wir den Nachmittag frei für andere Arbeiten. Der Geschichtsunterricht war durchaus preußisch-konservativ. Brandenburg - Preußen - das neue Deutsche Reich: das war die glanzvolle Entwicklung, die uns vorgeführt wurde. Der Große Kurfürst, Friedrich der Große, Wilhelm I. waren die großen Männer. Nur könne man nicht wissen, ob Wilhelm II. nicht schließlich noch alle in den Schatten stellen werde! Ich war gegen diese Beleuchtung schon sehr kritisch. Mein Bruder Arno war eifrig liberaler Politiker; zu Hause wurden nur liberale Zeitungen gelesen. Das war ein Gegenwicht gegen den offiziellen Hurra-Patriotismus. Meine Anfechtung war die „Sedanfeier“ [107] an jedem 2. September. Wenn das Wetter schön war, fuhr die ganze Schule mit Ausnahme der Kleinsten auf einem großen Dampfer die Oder aufwärts nach Schaffgotschgarten. Dort wurde im Freien eine zündende patriotische Rede gehalten (dazu wurden die Lehrer abwechselnd verurteilt), wir sangen vaterländische Lieder, und einige mußten Gedichte deklamieren. Dazu wurde ich zu meiner Freude niemals ausgewählt, denn jegliches Pathos lag mir fern; es war für mich schon peinlich, Deklamationen anzuhören. Die Tatsache, daß man den Sieg über die Franzosen immer noch feierte, war mir an sich schon sehr unsympathisch. Ich war keine Pazifistin, aber ein solches Verhalten einem überwundenen Gegner gegenüber erschien mir unritterlich. Als ich in meinem vorletzten Schuljahr wieder einmal dieser Feier in der Aula beiwohnte, wurde wie gewöhnlich das Gedicht vorgetragen: „Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm...“ Bei der Stelle: „Er warf den Drachen vom goldenen Stuhl mit Donnerkrachen hinab zum Pfuhl“ kam mir der Gedanke: „Das soll doch hier offenbar auf Napoleon III. bezogen werden. Was für ein Blödsinn!“ Und es packte mich plötzlich ein solcher Abscheu von diesem ganzen Treiben, daß ich mir feierlich gelobte, so etwas nicht mehr mitzumachen. Als im nächsten Jahr der 2. September wieder herankam, war ich in einiger Verlegenheit. Man durfte einer Schulfeier ebenso wenig wie dem Unterricht ohne Entschuldigung fernbleiben. Den wahren Grund anzugeben – das war offenbar so unmöglich, daß mir der Gedanke gar nicht kam. Einen falschen vorschieben wollte ich nicht, und dazu hätte sich auch meine Mutter nicht überreden lassen. Es kam mir eine rettende Idee. Meine Schwester hatte einmal mit ihrer Klasse einen zweitägigen Ausflug gemacht. Das war damals etwas ganz Ungewöhnliches, und ich hatte immer schon vor, für uns auch so etwas zu erreichen. Jetzt stellte ich meinen Klassengefährtinnen vor, daß nun für uns die letzte Gelegenheit vor dem Abitur sei, Wenn der Direktor uns den Sedantag und den darauffolgenden freigäbe, dann könnten wir bis auf die Schneekoppe gelangen. Natürlich waren alle gleich Feuer und Flamme. Die Lehrer wiesen uns an den Direktor und hatten wenig Hoffnung, daß wir Gehör fänden. Ich ging mit noch einigen andern Beherzten zu ihm ins Amtszimmer und trug ihm mit eindringlichen Worten unser Anliegen vor. Er sagte schließlich, wenn sich jemand aus dem Lehrerkollegium bereit fände, mit uns zu gehen, und wenn unterwegs des Sedantages gedacht würde, dann wolle er seine Einwilligung geben. Eine Begleiterin hatten wir schon in Bereitschaft; unsere freundliche, noch junge Turnlehrerin ließ sich leicht von uns überreden. Die Sedanrede freilich übernahm sie nicht; dafür mußte ich Sorge tragen. Ich [108] verfaßte eine Rede in Versen, die sich von den üblichen wesentlich unterschied. Unterwegs stellte sich heraus, daß jemand einen Bi-ba-bo mithatte – damals das Modespiel der großen Kinder. (Ein Chinesenköpfchen aus Celluloid, dem man ein Puppenkleid überhängte. Man setzte den Kopf auf zwei Finger, steckte zwei Finger in die leeren Ärmel und konnte dann das Männchen gestikulieren lassen.) Den ließ ich mir geben und ließ ihn die Ansprache halten. Damit war unsere Pflicht erfüllt. Wir erreichten es wirklich, daß wir vor der Dunkelheit auf der Koppe waren – der Gipfel wurde auf dem steinigen und steilen Zickzackweg im Sturm genommen – und oben übernachten konnten. Wir hatten einen gemütlichen Abend mit einer netten Aufführung, Gesang und Tanz, und am nächsten Tag eine schöne Rückwanderung. Die ganze Schule erwartete mit Spannung unsern Bericht über den Verlauf des ungewöhnlichen Unternehmens und bewunderte unsere Kühnheit.

In Unter- und Oberprima hatten wir außer Latein auch Deutsch bei Professor Olbrich. Davon waren alle begeistert. Es war wirklich ein großer Reichtum, den er den empfänglichen, jungen Gemütern bot. In Schillers philosophischen Gedichten fand ich die mir genehme Weltanschauung. Unser reguläres Pensum schloß mit den Klassikern ab. Wir bekamen aber als großmütige Zugabe einen Überblick über die dramatische Dichtung des 19. Jahrhunderts. Grillparzer - Hebbel - Otto Ludwig: das waren ja meine vertrauten Freunde. Ich lauschte mit größter Spannung und konnte bei allem Respekt vor dem „großen O“ manchmal auch hier eine Zwischenbemerkung nicht unterdrücken. Einmal, als er über Hebbels „Rubin“ sprechen wollte und mit der Inhaltsangabe begann, rief ich erstaunt: Das ist ja der ‘Diamant’, nicht der ‘Rubin’!“ Tatsächlich war ihm diese kleine Verwechslung unterlaufen. Nach einer Darstellung der „Agnes Bernauer“ meldete ich mich zum Wort, um meine abweichende Auffassung vorzutragen. An diesem Vormittag trat Olbrich noch einmal in einer Pause an mich heran, um die Diskussion fortzusetzen. Das war etwas Außergewöhnliches. Er ließ sich sonst kaum auf Privatgespräche mit uns ein. Vielleicht war es nicht immer angenehm, eine so kritische Zuhörerin zu haben. Aber das ließ er mich nicht fühlen.

Die Aufsätze, für viele das größte Kreuz, waren immer noch meine Freude. Olbrich fing immer sofort an zu korrigieren, sobald er einen Stoß Hefte bekam. Im alten Schulhaus konnten wir ihn in der Pause von einem gegenüberliegenden Fenster aus beobachten. Wenn er unserer Berechnung nach fertig sein konnte, hielt sich eine von uns’ in der Nähe des Lehrerzimmers. Auf einmal öffnete sich die Tür ein wenig, und durch den Spalt kam eine Hand mit [109] den Heften. Schleunigst wurden sie verteilt und mit Herzklopfen geöffnet. Fand ich eine große I, so hüpfte ich vor Freude. Eine Mitschülerin sagte mir einmal dabei: „Ich freue mich, daß Du Dich noch so freuen kannst. Ich denke immer, Du müßtest es längst gewöhnt sein“. Dieser Zustand aber trat niemals ein. Ich hatte selbst kein Urteil über das, was ich schrieb, und die Note war wie ein Orakelspruch.

Die guten Noten wurden übrigens bei uns eine kostspielige Sache: in den letzten beiden Jahren wurden sie mit Steuern belegt, um Geld für unser Abschiedsfest zu sammeln. Die schlechten Arbeiten waren abgabenfrei; für eine Drei waren 5 Pf. zu entrichten, für eine Zwei 10 Pf., für eine Eins 20 Pf. Eine Eins im Aufsatz aber kostete 50 Pf. Wenn ich zu Hause von meinen Arbeiten erzählte, ersetzte mir meine Mutter mit Freuden die Ausgaben. Trotzdem tat ich es selten, oft erfuhr die Familie erst auf Umwegen meine Schulerfolge. Das kränkte meine Mutter sehr. Natürlich gönnte ich ihr die Freude. Aber die Scheu davor, der Stolz der Familie zu sein, war noch größer.

Meine Gymnasialjahre waren eine glückliche Zeit. In Obersekunda kostete das Eingewöhnen noch einige Anstrengung; die beiden Primen aber waren wie ein Spiel. Wenn wir nicht gerade einen Aufsatz zu machen hatten, war ich um 4 Uhr fast immer mit meinen Arbeiten fertig und hatte den Rest des Nachmittags frei für meine Lieblingsbeschäftigungen. Was ich damals an schöner Literatur las, war ein Vorrat fürs ganze Leben. Es wurde mir später sehr nützlich, als ich selbst Literatur-Unterricht zu geben hatte. Noch größere Freude als das Lesen machte mir der Besuch des Theaters. Wenn in jenen Jahren die Aufführung eines klassischen Dramas angekündigt wurde, so war mir das immer wie eine persönliche Einladung. Ein bevorstehender Theaterabend war mir ein leuchtender Stern, der allmählich näher kam. Ich zählte die Tage und Stunden, die mich noch davon trennten. Es war schon beglückend, im Theaterraum zu sitzen und zu warten, bis der schwere eiserne Vorhang langsam in die Höhe ging – das Klingelzeichen ertönte –, endlich die neue, fremde Welt sich öffnete. Dann lebte ich ganz in dem Geschehen auf der Bühne, und der Alltag versank. Nicht weniger als die großen Tragödien liebte ich die klassischen Opern. Die erste, die ich hörte, war die „Zauberflöte“. Wir kauften uns den Klavierauszug und konnten sie bald auswendig. Ebenso den „Fidelio“, der mir immer das Höchste blieb. Ich hörte auch Wagner und konnte mich während einer Aufführung dem Zauber nicht ganz entziehen. Aber ich lehnte diese Musik ab. Nur mit den „Meistersingern“ machte ich eine Ausnahme. Eine besondere Liebe hatte ich für Bach. Diese Welt der Reinheit und strengen Gesetzmäßigkeit zog mich im Innersten [110] an. Als ich später den gregorianischen Choral kennenlernte, fühlte ich mich erst recht heimisch, und von hier aus verstand ich dann, was mich an Bach so bewegt hatte.

Als das Abitur herannahte, wurde es für alle Zeit, ernstlich an die Berufswahl zu denken. Wir mußten sogar in der Schule zu statistischen Zwecken unsere Studienfächer angeben. Ich hatte kaum noch etwas zu überlegen. Die Frage war zum ersten Mal an mich herangetreten, ehe ich noch ins Gymnasium aufgenommen war. Als es schon in der weiteren Familie bekannt war, daß ich mich vorbereitete, erkundigte sich mein Vetter Franz einmal in einem größeren Kreis, was ich denn studieren wolle. Ich ließ ihn raten. Er riet alle Fakultäten durch. Schließlich sagte er: „Ich weiß - Literaturgeschichte“. Ich nickte: „Literatur und Philosophie“. Das Gesicht meiner Schwester Frieda war bei diesem Gespräch lang und länger geworden. Ich schien ja ans praktische Leben überhaupt nicht zu denken! Ich las ihr das Entsetzen vom Gesicht ab und lächelte im stillen darüber. In der Tat lag mir jede Sorge um das tägliche Brot fern. Aber ich begriff wohl, daß ich auf meine Angehörigen Rücksicht nehmen mußte. Ich überlegte mir, daß die Sachgebiete, die mich interessierten, im Lehrberuf zu verwenden wären. Und wenn mich nun jemand nach meinen Studienplänen fragte, so nannte ich die Fächer, in denen ich Staatsexamen machen wollte: Deutsch, Geschichte und Latein. Die Philosophie behielt ich auf meinem Programm, sprach aber nicht mehr darüber, weil ich noch nicht wußte, daß sie als Prüfungsfach in Betracht käme.

Einmal besuchte uns mein Vetter Richard Courant von Göttingen aus. Man hatte ihm wohl schon von meinen unpraktischen Ideen gesprochen. Auch ihm hatten einst unsere Onkels von seiner Mathematik abgeraten und ihm angeboten, sein Studium zu bezahlen, wenn er Mediziner oder Jurist werden wolle; für eine brotlose Kunst aber wollten sie nichts geben. „Wie kommst du eigentlich darauf, Philosophie zu studieren?“ fragte er mich. „Ei, wie bist du denn darauf gekommen, Mathematik zu studieren?“, gab ich lächelnd zurück. Er verstand wohl, was ich meinte, gab sich aber noch nicht zufrieden. „Hast du dich denn schon damit beschäftigt?“ „Nein, noch nicht eigentlich. Aber ich will es. Ich habe wohl mal etwas Haeckel gelesen. Aber das verdient ja nicht den Namen Philosophie“. Vielleicht erweckte dieses Urteil sein Vertrauen zu meinen philosophischen Fähigkeiten. Er fragte nicht weiter.

Meine Berufswahl wurde von niemanden durchkreuzt. Meine Mutter hielt ihre schützende Hand darüber. Sie sagte wohl gelegentlich, ihr würde Jura gut für mich gefallen. Das konnte ich damit zurückweisen, daß damals Frauen noch nicht zu den juristischen [111] Prüfungen zugelassen wurden. An einen sozialen Beruf dachten wir beide nicht. Im übrigen war das von meiner Mutter nur eine bescheiden geäußerte Anregung. Sie wollte mir ganz freie Hand lassen. „Es hat Dir niemand etwas dreinzureden. Es gibt uns ja auch niemand etwas dazu. Tu, was Du für richtig hältst“. So konnte ich unbekümmert meinen Weg gehen.

Die Klasse, die vor uns Abitur machte, durfte es zum ersten Mal an der eigenen Schule. Damals durfte keiner die mündliche Prüfung erlassen werden, weil es gleichsam eine Prüfung der Anstalt war. Wir hatten daran lebhaften Anteil genommen. Zum Beginn des schriftlichen Examens stifteten wir den Prüflingen eine Torte (das wurde von da ab Tradition), während des „Mündlichen“ fanden wir uns immer wieder in der Schule ein, um uns nach dem Ergehen der einzelnen zu erkundigen, und am Abend überreichten wir jeder ein Veilchensträußchen. Nun waren wir selbst so weit. Für die schriftlichen Arbeiten mußten wir in einen andern Raum übersiedeln. Wir tanzten erst in unserer Klasse kehraus. Es kam die stärkende Torte der Unterprima. Als wir uns ihr gerade widmen wollten, störte uns eine Lehrerin, mit der wir immer etwas auf Kriegsfuß standen; sie gab keinen Unterricht bei uns; aber wenn sie auf unserm Gang Pausenaufsicht hatte, suchte sie uns pflichtgemäß aus unserer Klasse herauszutreiben, während wir immer gerade etwas Dringendes drinnen zu tun hatten. Jetzt ergriff ich schnell die Torte, ging auf sie zu und fragte liebenswürdig: „Dürfen wir Ihnen vielleicht ein Stück anbieten?“ Sie wich erschrocken zurück, verließ die Klasse und ward nicht mehr gesehen.

Es begann mit dem deutschen Aufsatz. Sonst hatte ich bei unsern Klassenaufsätzen immer eine Stunde weniger gebraucht als zur Verfügung stand. Diesmal wurde ich mit der Reinschrift nicht fertig. Das war wahrhaft kein Unglück, denn wir mußten unser Konzept mit abgeben, und das meine sah ganz wie eine Reinschrift aus. Trotzdem war ich am Nachmittag untröstlich. Auch Professor Olbrich war am nächsten Tag etwas besorgt. Er kam während der Lateinarbeit wiederholt zu mir und erkundigte sich, ob ich auch fertig würde. Aber diesmal war ich meiner Sache ganz sicher; ich war mir schon beim Diktieren des Textes klar über die Übersetzung, und das Niederschreiben ging schnell. So ließ ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Auch alles andere ging glatt. Bei uns gab es nun Befreiung vom Mündlichen. Die Lehrer durften uns nichts von dem Ergebnis der schriftlichen Arbeiten verraten, aber ihr Verhalten war ziemlich eindeutig. Die nächsten Wochen waren ja nur der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung gewidmet, und wer nicht hinein mußte, kam überhaupt nicht mehr dran. Ich merkte wohl, daß ich in [112] den Stunden so gut wie ausgeschaltet war, aber ich fühlte mich doch nicht ganz sicher. Immerhin: unnötig zu büffeln, das wäre doch verlorene Zeit gewesen. Im Notfall würde ich am Prüfungstage selbst genügend Zeit zum Wiederholen haben, wenn ich dran käme. Ich hatte während des Jahres allerhand für die mündliche Prüfung vorbereitet. So besaß ich ein Heft, in dem alle Horaz-Oden, die wir durchgenommen hatten, übersetzt und erläutert waren. Ich hatte eine Reihe von Themen für Geschichte ausgearbeitet, auch einige in französischer und englischer Sprache. Alle diese Schätze verteilte ich nun in der Klasse unter die Bedürftigen. Bittende Hände streckten sich danach aus, mit herzlichem Dank wurden die Gaben empfangen. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, in dieser Zeit das „Bierdrama“ zu verfassen. Ich habe es nicht aufbewahrt, erinnere mich aber noch an den Gang der Handlung. Die Heldin war eine Abiturientin nach der Prüfung. Ihr Geist ist durch das viele Lernen in Verwirrung geraten, die Mutter geht mit ihr zu einem Magier, der die bösen Geister austreiben soll. Er beschwört sie, und sie erscheinen einer nach dem andern: Cicero und Horaz, Frau von Stein und Gretchen und Klärchen u.s.w. Am Schluß erwacht die Patientin wie aus einem bösen Traum, fühlt sich sehr wohl, weiß aber nichts mehr. Da findet sie bei sich ein Papier, das ihr jede Sorge nimmt:

Ist auch mein Kopf von Wissen leer,
Ich fürchte nichts und niemand mehr:
Hier steht’s ja klar und deutlich drin,
Daß ich jetzt reif zum Studium bin!

Es wurde außerdem eine Kommission ernannt, um das Abschiedsfest vorzubereiten. Außer mir gehörten ihr meist die Mädchen aus sehr begüterten Häusern an, die wußten, wie man Abschiedsgesellschaften arrangiert. Unsere Steuerkasse reichte natürlich bei weitem nicht für unsere kühnen Pläne. Aus Rücksicht auf unsere unbemittelten Mitschülerinnen wollten wir keine allgemeinen Beiträge mehr einziehen. Die wohlhabenden übernahmen freiwillige Leistungen: eine wollte für Blumenschmuck sorgen, eine für kalte Platten, wieder andere für Getränke, für Kuchen und Torten. So wurde alles sehr vornehm und schön; an den Stil eines Kommerses erinnerte nur das „Bier“-drama und die „Bier“-Zeitung. Wir verschickten die Einladungen schon vor der mündlichen Prüfung. Das wurde uns von den Lehrern als sträflicher Leichtsinn schwer verübelt und trug uns lange Standreden ein. Sie kamen aber dann doch alle, selbst unser alter Direktor, der damals schon sehr leidend war.

Der Prüfungsmorgen, der 3. März 1911, kam heran. Wir mußten [113] erst in einem der Sprechzimmer im Erdgeschoß warten, bis wir in den Prüfungsraum gerufen wurden. Als wir alle, auch ich, ganz in der vorschriftsmäßigen Stimmung hinüberwanderten, sagte Professor Sumpf auf dem Gang mit gutmütigem Lächeln zu mir: „Na, haben Sie große Angst?“ Das klang sehr beruhigend.

Die Prüfungskommission – unsere Lehrer, ein Provinzialschulrat und der zweite Bürgermeister als Vertreter der Stadt – war versammelt. Erst eine feierliche Ansprache – dann wurden die Namen derer genannt, die vom Mündlichen befreit waren; es waren fünf. Wir durften gleich gehen. In unserm Wartezimmer umarmten wir uns gegenseitig – ganz gegen unsere Gewohnheit, denn sonst gab es in der Schule keine Zärtlichkeiten. Wir warteten noch auf die andern, denen der Prüfungsplan bekannt gegeben wurde. Wer später an die Reihe kam, durfte noch einmal nach Hause gehen. Julia Heimann hatte etwa 2 Stunden Zeit. Sie bat mich, sie mit zu mir zu nehmen, denn sie hatte eine Stunde Weg nach Hause, während ich, seit wir in das neugebaute Schulhaus in der Blücherstraße übergesiedelt waren, nur wenige Minuten zu gehen hatte. Daheim erwartete mich schon eine Torte, die in Schokoladenbuchstaben die Glückwünsche der Familie aussprach. Ich konnte mich gar nicht lange den freudigen Begrüßungen meiner Angehörigen überlassen, denn ich mußte mich meinem Gast widmen. Julia hatte verschiedene Wünsche. Ich sollte noch etwas Geschichte mit ihr arbeiten. Außerdem gestand sie mir, daß sie schon lange auf eine Gelegenheit wartete, um mich einmal nach ihrem Geschmack zu frisieren. Ich holte bereitwillig Kamm und Bürste, setzte mich vor den Spiegel, und während sie meinen Kopf bearbeitete, hielt ich ihr den bestellten Vortrag über den dreißigjährigen Krieg. Julia hatte mich früher nicht besucht. Sie sah sich sehr genau bei uns um, und ich hatte fast den Eindruck, als sei sie nicht nur der Zeitersparnis wegen gekommen, sondern auch, um endlich einmal meine häusliche Umgebung kennen zu lernen. Sie äußerte offen ihre Überraschung, in dieser wenig vornehmen Gegend ein so schönes Haus zu finden. Besonders die breite interne Eichentreppe und der „Saal“, in dem ich sie aufnahm, imponierten ihr. Sie ließ es sich auch gut schmecken, als eine meiner Schwestern uns zwei Tassen Schokolade und etwas Gebäck zum zweiten Frühstück heraufbrachte. Während ich mit ihr beschäftigt war, gab meine Mutter die gute Nachricht telephonisch ihren Geschwistern bekannt. Auch der Onkel in Chemnitz hatte sich telephonisch Bericht erbeten. Ich wurde wiederholt gerufen, um persönliche Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Als es schließlich für Julia Zeit wurde, begleitete ich sie zur Schule zurück; ich mußte doch auch nach den andern Prüflingen sehen. Der Besuch in unserm [114] Hause hatte offenbar großen Eindruck auf sie gemacht; jedenfalls wußte ihre Freundin Toni Hamburger aus ihren Erzählungen noch nach Jahren alle Einzelheiten.


5.

Am Morgen nach dem Prüfungstage blieb ich etwas länger als sonst im Bett. Man brachte mir die Post herauf; es waren schon Glückwunschbriefe – auch einer von Onkel David mit der Einladung, nach Chemnitz zu kommen. Ich las und dann lag ich still da und dachte nach. Von dem großen Glücksgefühl, wie ich es nach der Prüfung erwartet hatte, war gar nichts vorhanden, vielmehr eine große innere Leere. Eine liebe und vertraute Lebensweise war für immer vorbei. Was kam nun? Ich erwog die unausgesprochenen Einwände des guten Onkels gegen meine Berufswahl. Hatte ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Wir sind auf der Welt, um der Menschheit zu dienen ... Das kann man am besten, wenn man das tut, wofür man die geeigneten Anlagen mitbringt... Also ... Der Schluß schien mir einwandfrei. Ich schüttelte alle Zweifel ab und schrieb noch am selben Tage den früher erwähnten entschlossenen Brief nach Chemnitz.

Das Abschiedfest verlief gut bis auf einen kleinen Zwischenfall. Es wurde ein Tischlied gesungen, das eine der Schlechtesten aus der Klasse gedichtet hatte. Es stammte von unserm Sedanausflug und wurde jetzt noch einmal wiederholt. Ein Schultag vom ersten bis zum letzten Glockenschlag wurde darin geschildert; eine Strophe behandelte alle unsere Nebenbeschäftigungen in der englischen oder französischen Stunde. Nach der Tafel war der gute Professor Leugert verschwunden. Niemand hatte gemerkt, daß er ging. Als er vermißt wurde, waren alle sehr bestürzt. „Warum habt ihr mich nicht neben ihn gesetzt?“ sagte ich vorwurfsvoll. „Ich hätte ihn bestimmt nicht gehen lassen“. Mir hatte man unsern früheren Religionslehrer zum Tischnachbarn gegeben. Wir hatten längst keinen Unterricht mehr bei ihm, aber er erkundigte sich immer teilnehmend nach unserm Ergehen, wenn er uns im Schulhaus traf. So hatten wir ihn eingeladen, und er war gekommen. Wir hatten auch, wenn ich mich recht erinnere, aus einem rituellen Restaurant das Essen für ihn kommen lassen. Nach dem Fest machte uns Direktor Roehl Vorwürfe wegen des taktlosen Liedes. Die Klassenälteste Elisabeth Spohr (die schon Lehrerin war, ehe sie zu uns kam) und ich wurden beauftragt, den Gekränkten in seiner Wohnung aufzusuchen und zu versöhnen. Professor Leugert empfing uns mit der gewohnten [115] Freundlichkeit. Er sagte ganz offenherzig, daß wir das Lied unter uns gesungen hätten, fände er nicht schlimm. Nur in Gegenwart des Herrn Direktors sei es ihm unangenehm gewesen. Der Arme! Solche Sorgen lagen uns noch fern. Als ich ihn noch einmal bat, unserer Klasse nichts nachzutragen, legte er die Hand aufs Herz und sagte: „Aber, gnädiges Fräulein, Sie kennen mich doch!“

Das Bierdrama hatte mir noch viel Sorge gemacht, weil die Schauspielerinnen ihre Rollen bis zur Generalprobe nicht ordentlich lernten. Bei der Aufführung ging es dann natürlich doch. Ich spielte nicht mit, sondern war Regisseur und Souffleur. Am Schluß aber wurde nach dem Autor verlangt, und Horaz setzte mir auf offener Bühne seinen Kranz auf. Professor Olbrich versicherte mir, er habe noch bei keinem Abschiedsfest ein so wohlgeordnetes Stück gesehen. Das betrachtete ich als ein zweifelhaftes Kompliment.

Die Bierzeitung wurde laut verlesen. Sie enthielt u.a. Xenien auf jede einzelne von uns. Die Lehrer verlangten, daß jede nach dem auf sie gemünzten Verschen aufstehen solle, weil sie nicht immer erraten konnten, wer gemeint war. Das meine lautete:

Gleichheit der Frau und dem Manne
So rufet die Suffragette,
Sicherlich sehen dereinst
Im Ministerium wir sie.

Als ich mich danach erhob, waren alle erstaunt. Es wurde ihnen selbst klar, wie wenig sie uns im Grunde gekannt hatten.

Als wir am Schluß noch plaudernd zusammensaßen, ließen wir uns von den Lehrern noch etwas zum Andenken auf die leere Rückseite der Bierzeitung schreiben. Mein Name verlockte wie gewöhnlich zu Anspielungen. Der einst so gefürchtete Direktor schrieb mir den freundlichen Spruch: „Schlag an den Stein und Schätze springen hervor“. Am besten gefiel mir aber ein kurzes Ibsen-Wort, das Professor Olbrich mir mitgab:

Hammerschlag auf Hammerschlag
Bis zum letzten Erdentag.

Nach der Prüfung brauchten wir nicht mehr in die Schule zu kommen. Die Klasse zerstreute sich, und wir kamen nie mehr wieder zusammen. Nicht einmal die Reifezeugnisse wurden uns feierlich in der Aula überreicht. Sie wurden erst später in die Wohnungen geschickt. Ich war in Berlin, als das meine eintraf, meine Angehörigen schickten mir eine Abschrift davon zu. Meine Mutter war so stolz darauf, daß sie es sogar ihren Geschäftsfreunden zeigte. Nach Jahren erfuhr ich durch eine gemeinsame Bekannte, daß einer [116] von ihnen es sich abgeschrieben hatte und wieder in seinem Freundeskreis weitergab.

Meine Mulusreise ging also zuerst nach Berlin. Der Lieblingsbruder meiner Mutter, Eugen Courant, feierte am 19. März seinen 50. Geburtstag. Ich fuhr etwas früher hin, zu dem Fest kam meine Mutter mit den andern Töchtern nach. Ich blieb noch einige Zeit dort, weil mein Onkel mit seiner Frau eine Reise nach Italien machte und gern wollte, daß ich mit einem seiner Söhne das Haus hüten sollte. Dieser Vetter, Fritz Courant, war uns von den drei Brüdern der liebste, weil die Familieneigenart bei ihm am stärksten ausgeprägt war. Ihre Mutter übrigens war auch mit uns verwandt: väterlicherseits unsere Cousine. Sie war sonst gegen Gäste wenig liebenswürdig, aber mich hatte sie von Kindheit auf besonders in ihr Herz geschlossen. Als „Anstandsdame“ mußte noch eine ältere Cousine bei uns wohnen; tagsüber war sie nicht zu Hause, weil sie kaufmännische Angestellte war. Ich machte mich über die Überwachung lustig und war zugleich innerlich empört darüber, denn in meinem Tugendstolz fand ich den Gedanken, daß wir einer Aufsicht bedürften, ganz absurd. Mit der Cousine aber vertrug ich mich sehr gut. Mein Vetter Fritz hatte seinen Vater in Geschäft und Fabrik zu vertreten und konnte sich tagsüber auch wenig um mich kümmern. Häusliche Pflichten hatte ich auch nicht. Um Zeitausfüllung aber war ich nicht verlegen. Wir hatten viele Verwandte in Berlin und waren immer nur in Gefahr, jemanden von ihnen zu kränken, wenn wir ihnen nicht genug Zeit widmeten. War man nur wenige Tage dort, so konnte man unmöglich bei allen herumkommen, und dann gab es immer „Beleidigte“. Diese Schwierigkeit hat uns schließlich den Aufenthalt in Berlin ganz verleidet. Diesmal hatte ich drei Wochen Zeit und wurde abwechselnd von allen eingeladen – bald zum Mittag-, bald zum Abendessen oder zu einem Theaterbesuch. Diese Theaterbesuche waren aber wenig nach meinem Geschmack. Man führte mich zu den neuesten Operettenschlagern und Berliner Possen – lauter Sachen, die ich mir aus eigener Wahl niemals angesehen hätte. Der brave Vetter holte mich ab, wo ich auch war, und dann endete der Abend gewöhnlich in einem Café. Von den Berliner Verwandten waren mir die liebsten meine Cousinen Adelheid und Martha Courant, beide um einige Jahre älter als ich. Sie waren in Rumänien aufgewachsen, wo ihr Vater als Holzhändler viele Jahre lang ansässig war. Ihre Mutter stammte aus Galizien; sie war in ihrer Jugend eine bildschöne Frau, ihr Temperament und ihre Lieblingsgewohnheiten stimmten aber wenig zu dem, was man in der Familie Courant schätzte; und die Töchter hatten darunter zu leiden. Mein Onkel legte Wert darauf, sie deutsch zu erziehen. Er [117] ließ sie eine Klosterschule besuchen und schickte sie schließlich für ein Jahr nach Deutschland; während dieser Zeit gingen sie mit uns in die Viktoriaschule. Alle Verwandten waren entzückt von ihnen.

Sie waren sehr klein und im Verhältnis zu ihrer Größe etwas stark, aber überaus anmutig und liebenswürdig. Am liebsten sahen wir sie in ihren rumänischen Nationalkostümen, deren reiche Stickereien sie selbst angefertigt hatten. Sie ließen sich aber nur sehr selten überreden, sie einmal für ein paar Stunden an einem Festabend anzulegen. Adelheid schloß sich besonders an mich an; obwohl sie in einer viel höheren Klasse war, verbrachten wir regelmäßig die großen Pausen zusammen. In der Zeit, als ich mich für das Gymnasium vorbereitete, waren sie noch einmal für einige Wochen von Rumänien aus als Gäste bei uns im Haus. Später siedelte die ganze Familie nach Berlin über. Es waren noch zwei Söhne nachgeboren: Sigurd und Helmut, bildhübsche und sehr begabte Jungen. Sigurd war jetzt schon 15 Jahre; er rief mich manchmal zu Hilfe, wenn er eine Mathematikaufgabe nicht lösen konnte, und ich freute mich dann immer an seiner raschen Auffassungsgabe. Den Familienvater, meinen Onkel Berthold, hatte ich bisher noch wenig gekannt, da er von Rumänien aus natürlich nicht oft nach Deutschland gekommen war. Er war ein außerordentlich tüchtiger Kaufmann, im persönlichen Verkehr liebenswürdig und humorvoll, etwas an unsern Großvater erinnernd. Er hatte aber in jener großen geschäftlichen Krisis, die seinen ältesten Bruder Jakob das Leben gekostet hatte, eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Ich war damals noch zu klein, um in alles eingeweiht zu werden, aber es war eine gewisse Scheu vor ihm in mir zurückgeblieben. Jetzt ging es ihm pekuniär wieder sehr gut. Die Familie bewohnte eine große, elegante Wohnung im Westen Berlins, und der Haushalt wurde nach großem Zuschnitt geführt. Die Töchter aber waren bescheiden und häuslich erzogen und tüchtig zu jeder Arbeit. Leider wurde ich bei meinem nächsten Besuch in Berlin in einen der früher geschilderten Familienkonflikte hineingezogen. Es gab damals eine sehr unangenehme geschäftliche Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Berthold und Eugen Courant.

Onkel Eugen war so empört über das Unrecht, das ihm (wirklich oder vermeintlich) geschehen war, daß er mir verbot, bei „B.C.’s“ einen Besuch zu machen. Ich war nur auf der Durchreise in Berlin und hatte nicht viel Zeit. Die Tante fand das Verlangen des Onkels zu weitgehend und erweckte auch in ihm Bedenken. Ich merkte aber daß es ihm ein wohltuendes Vertrauensvotum sein würde, wenn ich zu ihm hielte. Ich dachte an seine Liebe zu meiner Mutter und alles Gute, was er ihr schon getan hatte, und wollte ihm diesen Gefallen tun. Als Martha Courant mich telephonisch begrüßte und [118] fragte, wann ich zu ihnen kommen wolle, sagte ich, ich könnte nicht kommen. Darauf telephonierte ihr Vater noch einmal selbst und verlangte Angabe des Grundes. Er erbot sich, mir alles Material vorzulegen, damit ich mir selbst ein Urteil bilden könne. „Du bist doch ein gebildetes Mädchen und kennst den Spruch: Audiatur et altera pars!“ Aber ich ging nicht darauf ein. Ich sagte, ich hätte in der Sache kein Urteil, aber so, wie das Verhältnis meiner Mutter zu Onkel Eugen immer gewesen sei, fühle ich mich verpflichtet, zu ihm zu stehen. Die ganze Angelegenheit war mir sehr peinlich, und ich habe später mein Verhalten bereut. Onkel Berthold war viele Jahre hindurch nicht nur mir, sondern auch meiner Mutter sehr böse. Da ich dann sehr lange nicht mehr nach Berlin kam, habe ich ihn und auch die lieben Cousinen nicht wiedergesehen. Ich habe ihm nur viel später einmal sagen lassen, daß mir die Sache leid sei, und dann auch von ihm einen Gruß als Zeichen der Versöhnung bekommen.

Nach der Rückkehr der Italienreisenden fuhr ich nach Chemnitz. In dem schönen, wohlgeordneten Hause und in dem ganzen Bekanntenkreis war ich noch von dem früheren Besuch her ganz heimisch. Diesmal war auch mein Vetter Erich zu Hause. Er war ein Jahr jünger als ich und gerade in die Oberprima gekommen. Nun wurde ihm mein gutes Abitur als Muster vorgehalten; das gefiel ihm gar nicht. Als er einmal feststellte, daß ich den II. Teil des „Faust“ gelesen hatte, sagte er ganz erbost: „Ihr habt nur so viel Zeit zu lesen, weil Ihr zu faul seid, Sport zu treiben“. Im übrigen kamen wir recht gut miteinander aus. Als ich einmal mit der Tante von einem Ausgang zurückkehrte, übte er sich gerade mit einem Freunde im Tanzen; die Musik lieferte ein Grammophon. Sobald Erich mich sah, fragte er, ob ich wohl tanzen könne. Die Tante verwies ihm diese Dreistigkeit, ich aber war gern bereit, den Tatbeweis zu liefern.

Durch Hans Biberstein war ich mit allem, was damals letzte Mode war, vertraut. Erich mußte sich als geschlagen erklären und versicherte mit aufrichtiger Bewunderung: „Ein Mädel, das Abitur gemacht hat, vom Mündlichen befreit, den ‘Faust’ gelesen hat und Walzer linksrum tanzen kann – das muß im Hansa-Theater (dem größten Variété von Chemnitz) ausgestellt werden“. Er selbst hat sein Abitur auch recht gut bestanden, aber dann nicht studiert. Er ging als junger Kaufmann nach Amerika. Ich habe auch ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Sein älterer Bruder Walter hatte den Eltern immer viel Kummer gemacht. Die etwas verschwenderische Art der Mutter war bei ihm zu einem fast krankhaften Leichtsinn gesteigert. Mit großer Mühe wurde er bis zum „Einjährigen“ gebracht. Dann kam er als Kaufmannslehrling in ein solides Geschäft [119] möglichst weit entfernt von der Heimat und den alten Beziehungen. Aber weder dort noch in einer späteren Stellung konnte er lange bleiben, weil er immer bald tief in Schulden steckte und in allerhand böse Händel verwickelt war. Sein Vater schickte ihn nach Amerika – aber nach kürzester Zeit tauchte er wieder auf. Zu Beginn des Krieges kam er sofort ins Feld; er war ein tollkühner Soldat und kam sehr bald mit dem Eisernen Kreuz und einer schweren Kieferverletzung wieder zurück. Dann fing das alte Leben wieder an. Mein Onkel wußte sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als daß er alle Beziehungen zu ihm abbrach und ihn nicht mehr ins Elternhaus kommen ließ. Ich habe es selbst miterlebt, daß er in Berlin telephonisch anfragte, wie es den Eltern ginge und ob er nicht kommen dürfte, und daß er kurz abgewiesen wurde. Er heiratete schließlich ein christliches Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er lebte mit in der engen Proletarierwohnung des Schwiegervaters, eines braven Tischlermeisters. Seine Eltern waren wenig erbaut von der „Mißheirat“ und kümmerten sich auch jetzt nicht um ihn und seine Familie. Die Ehe aber war gut und die junge Frau war untröstlich, als er nach kurzer Krankheit starb. Sie blieb mit zwei kleinen Kindern zurück. Zur Beerdigung kamen die Eltern, mein Onkel führte seine Schwiegertochter an seinem Arm zum Grabe. Als der Rabbiner die letzten Gebete gesprochen hatte und das ganze Trauergefolge sich zum Gehen wenden wollte, kniete die junge Frau am Grabe nieder und betete in ihrem Schmerz laut das Vaterunser. Das war natürlich etwas ganz Unerhörtes auf dem jüdischen Friedhof, aber niemand nahm daran Anstoß; es waren alle gerührt.

Während ich in Chemnitz war, unterhandelte mein Onkel über den Verkauf seiner Apotheke. Er war damals leidend und konnte die Luft der Fabrikstadt augenscheinlich nicht mehr vertragen. Außerdem spielte wohl der Einfluß seiner Frau mit, die gern nach Berlin übersiedeln wollte. Es war ein Bewerber da, der die vorzüglich gelegene Apotheke dicht am Markt und das große Haus sehr gern haben wollte; aber die hohe Kaufsumme schreckte ihn immer wieder ab. Mein Onkel blieb ganz ruhig. „Das Zögern kommt dem Mann teuer zu stehen“, sagte er. „Jedesmal, wenn er aufs neue anfragt, kostet es 10000 Mark mehr“. Und dabei blieb er fest. Der Kollege mußte, als er sich endlich entschloß, 30000 Mark über den ursprünglichen Preis hinaus zahlen. Mein Onkel meldete den glücklichen Abschluß telephonisch nach Breslau. Dabei erkundigte ich mich, ob schon bald Vorlesungen anfingen, die für mich in Betracht kämen. Ich hatte Erna beauftragt, am „schwarzen Brett“ nachzulesen. Ich erfuhr, daß schon für den nächsten Tag – den 27. April – einige [120] Vorlesungen angekündigt seien. Obgleich dies der Geburtstag des guten Onkels war, rüstete ich unaufhaltsam zum Aufbruch. Die Tante konnte mich gar nicht begreifen, aber der Onkel ließ mich lächelnd gewähren.



« Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie Edith Stein
Aus dem Leben einer jüdischen Familie
Von den Studienjahren in Breslau »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).