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Die Gartenlaube (1876)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 19.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Doctor Bruck widersprach mit keinem Worte, allein es war, als schließe er gewaltsam die Lippen gegen die Versuchung, zu sprechen. Seine Augen sahen seitwärts mit einem festen, ausdrucksvollen Blick auf sie nieder, und die Rechte, die er auf den Gartentisch gestützt hatte, zog sich wie im Krampfe zusammen. In dieser Stellung, in allen Linien seines schönen Gesichts lag das Grundgepräge dieses Männercharakters, die Verschlossenheit, die Willenskraft, die sich nur im äußersten Falle eine Erklärung abringen läßt.

„Ich bin mit innerem Widerstreben hierher zurückgekehrt,“ hob sie wieder an. „Die alte Dame da drüben“ – sie zeigte in der Richtung nach der Villa Baumgarten – „hat mit ihrem Präsidentenstolz meine Kindheit vergiftet, wo es ihr irgend möglich war, und die bitteren Thränen, die sie mit ihrer fortgesetzten Impertinenz meiner armen Lukas damals erpreßt, kann ich ihr nie vergessen. Sie wissen, wie mir bei meiner Ankunft vor dem Zusammentreffen mit meiner geistesstolzen Schwester Flora bangte, und wie ich angesichts der Villa am liebsten Kehrt gemacht und zur selben Stunde die Rückreise in mein Dresdener Heim angetreten hätte – wäre ich doch gegangen! Neben dem Beamtenstolze und der geistigen Ueberhebung macht sich nun auch der unerträgliche Geldhochmuth breit – es weht eine von Goldstaub und Anmaßung erfüllte Luft dort drüben, in der auch das lebensfrischeste Denken und Empfinden verkümmern muß. Meiner ganzen Natur nach bin ich unfähig, in einem solchen Boden Fuß zu fassen, aber hier“ – mit gehobenem Arme deutete sie über Haus und Garten hin – „hier war ich heimisch; hier hätte ich selbst meine Dresdener Heimath vergessen können, warum – ich weiß es ja selbst nicht.“

Wie lieblich stand sie im schneeweißen Kleide da, den flechtengeschmückten Kopf sinnend gesenkt! „Die alte prächtige Frau hat mir’s angethan, glaub’ ich,“ setzte sie mit einem hellen Aufblicke hinzu, „ihre edle, einfache Erscheinung verhilft mir immer wieder zu innerem Gleichgewicht; sie geht leise und geräuschlos ihren Weg, und wenn man auch nie einen eigentlichen Widerspruch von ihren Lippen hört, nie ein eigensinniges Beharren bemerkt, so weicht sie doch nicht um eine Linie von dem, was sie für gut und recht hält, ab. Das thut wohl im Hinblicke auf so viel inhaltslose Vornehmthuerei, auf so viel lügenhafte Aufbauschung und Aufgeblasenheit und auch – so manche beklagenswerthe Schwäche, in die leider selbst der männliche Geist verfallen kann.“ Die Brauen finster faltend, warf sie einen kleinen, blüthenschweren Zweig, den sie unterwegs gepflückt und bisher spielend zwischen den Fingern gedreht hatte, verächtlich weit von sich.

Diese eine Bewegung reizte und empörte den vor ihr stehenden Mann sichtlich. Ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen auf – er hatte sie verstanden. „Sie haben vorhin eine Tugend der ‚alten, prächtigen Frau‘ aufzuzählen vergessen: die Milde und Vorsicht im Richten,“ sagte er scharf und strafend. „Nie würde sie ein so unbedingt verdammendes Urtheil in der unfehlbaren Weise aussprechen, wie Sie eben gethan, weil sie weiß, wie leicht man mißversteht, und daß gar manchmal – wie es sich denn auch in dem von Ihnen betonten Fall verhält – gerade hinter der vermeinten Schwäche sich ein Aufbieten aller inneren Kraft verbirgt.“ Er sprach in heftiger Steigerung; die schlichte Gelassenheit, die er nicht einmal bei dem mächtigen Wechsel seiner Lebensstellung auch nur momentan eingebüßt, war von ihm gewichen.

Wohl senkte Käthe in der ersten Bestürzung die Wimpern tief auf die heißen Wangen, aber sie fühlte sich im Recht; er war namenlos schwach gegen sich selbst, in seiner Liebesleidenschaft, wie in seiner Abneigung – das letztere hatte sie ja eben an sich selbst erfahren müssen. Sie warf trotzig den Kopf zurück.

In diesem Augenblicke kamen die kleinen Schülerinnen im Haschespiele um die Hausecke gelaufen. Käthe erblicken und jubelnd auf sie losstürmen war Eins. Daß der Doctor mit seinem tiefverfinsterten Gesicht neben dem Mädchen stand und die Hände abwehrend ausstreckte, kümmerte die fröhliche Schaar nicht – im Nu war die schlanke, weiße Gestalt umringt; die kleinen Hände stießen und drängten sich gegenseitig weg, Jedes wollte die Aermchen um „die schöne Tante“ legen, oder wenigstens eine ihrer Hände erhaschen.

Trotz ihrer inneren Bewegung hätte Käthe beinahe hell aufgelacht; denn so fest sie auch auf ihren Füßen stand, sie schwankte unter dem Anpralle der elastischen Kinderleiber und konnte sich ihrer kaum erwehren, der Doctor aber ergrimmte, wie sie ihn ihn noch nie gesehen. Er schalt die Kleinen zudringlich, schob sie unsanft weiter und gebot ihnen mit harter Stimme, sich wieder hinter das Haus zu verfügen und dort zu warten, bis man sie entlasse.

Die Kinder schlichen betrübt und eingeschüchtert davon.

Käthe biß sich auf die Unterlippe, und ihr umflorter Blick [312] verfolgte die kleinen Mädchen, bis sie hinter der Hausecke verschwunden waren. „Wie gern ginge ich mit ihnen, um sie zu beruhigen, aber ich werde natürlich nicht um einen Schritt auf dem Terrain zurückgehen, das ich bereits für immer verlassen habe,“ sagte sie mit einem Gemisch von Schmerz und heftigem Zürnen.

„Beruhigen!“ antwortete der Doctor in persiflirendem Tone. „Möchten Sie mich nicht auch noch zum Unmenschen stempeln, wie ich vorhin als Schwächling bezeichnet wurde? – Trösten Sie sich – solch’ ein Kindergemüth trägt die Beruhigungsmittel in sich selber; Lachen und Weinen wohnen eng zusammen. Hören Sie, wie dort drüben bereits wieder gekichert wird?“ – Er zeigte mit einem flüchtig um seine Lippen spielenden Lächeln über die Schulter zurück. „Ich wette, das gilt mir und meiner Strenge. Ich habe um Ihretwillen die ausgelassene Schaar in die Schranken gewiesen – ich konnte das nicht sehen; wie mögen Sie es dulden, daß man Sie heftig attaquirt? Die Kinder sind schlecht erzogen –“

„Weil sie mich lieb haben? Gott sei Dank, daß es so ist! Ja, Gott sei Dank, daß ich wenigstens da noch glauben darf!“ rief sie, die festverschränkten Hände auf die Brust pressend. „Oder wollen Sie mich vielleicht auch angesichts dieser Zuneigung glauben machen, daß der Zärtlichkeitsbeweis einzig und allein meinem Geldschranke gelte? – Ach nein, auf dieser trostvollen Ueberzeugung stehe ich fest; da lasse ich mich nicht auch weghetzen – darauf verlassen Sie sich!“ Wie herzzerschneidend klang diese bittere Verwahrung von den jungen Lippen!

Er trat erstaunt zurück.

„Welche seltsame Idee –“

„Ach, ist es Ihnen wirklich so verwunderlich, daß ich endlich aufgerüttelt bin aus meiner mehr als kindischen Vertrauensseligkeit, die da gemeint hat, warmes Fühlen und braves, redliches Wollen gelten auch etwas in der Welt? Nicht wahr, es hat lange genug gedauert, bis der schwerfällige deutsche Michel in meiner Seele die Augen aufgeschlagen hat, um zu sehen, daß er sich unsterblich lächerlich mache mit seinen altmodischen Ansichten von gut und schlecht, von Wahrheit und Lüge?“ Sie wurde ganz blaß und schauerte in sich zusammen. „Es ist etwas Schreckliches um die plötzliche Erkenntniß, daß man eigentlich gar nicht mehr existirt als das, was man ach eingebildet hat zu sein, als ein junges Menschenkind mit der Berechtigung, dereinst auf seine Art glücklich zu werden.“

Er wandte schweigend die Augen von ihr weg, und sie fuhr nach einem tiefen Athemholen fort: „Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich mein plötzliches Reichwerden auffasse; ich bin erst in diesem Augenblicke fähig, Ihnen darauf die richtige Antwort zu geben. Ich komme mir vor, wie verunglückt in diesem Geldmeere; es strecken wohl Viele die Hand aus, aber nicht, um mich meiner selbst wegen an sich zu ziehen, sondern nur, weil die Goldwogen mir folgen.“

Der Doctor fuhr wie entsetzt empor. „Um Gott, wie kommen Sie zu dieser grauenhaften Vorstellung?“

Sie lachte herzerschütternd auf. „Das fragen Sie noch? Zwingt man mich nicht täglich, stündlich, diese grauenhafte Vorstellung mit der Gottesluft zu athmen, mit jedem Tranke zu schlürfen? Da soll man mich in meinem lieben Dresdener Heim nur cajoliren, weil ich der ‚Goldfisch‘ bin; meine Lehrer nähren das schwache Fünkchen des musikalischen Talentes in mir nur um des reichen sicheren Honorars willen, das ich zahle, und der Vormund freit um die Mündel, weil er sie – am besten zu taxiren versteht.“

Sie hatte, indem sie vor sich hinsprach, den Blick ziellos über den Abendhimmel schweifen lassen; jetzt sah sie den Doctor an – er hatte eine Bewegung gemacht, als gehe ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. „Ist das bereits Thatsache?“ stammelte er und strich sich wiederholt über die Augen, wie wenn ihn ein Schwindel überkomme. „Und es macht Ihnen wohl tiefen Kummer, sich vorstellen zu müssen, daß auch Moritz so denke?“ setzte er nach einem augenblicklichen Schweigen gepreßt hinzu.

Betroffen horchte sie auf – seine Stimme klang so auffallend matt und gebrochen. „Mehr noch verletzt es mich, daß sich Jedes für berechtigt hält, in dieser Angelegenheit mitzusprechen,“ entgegnete sie, und ihre schöne, kraftvolle Gestalt majestätisch aufrichtend, stand sie da, die verkörperte Abwehr gegen fremde Anmaßung. Sie schüttelte den Kopf mit einem bitteren Spottlächeln. „Solch ein armer Goldfisch, wie muß er sich allen Ernstes wehren, wenn er nicht in den Händen der Egoisten zum erbärmlichen Spielball werden will, und ich will nicht – absolut nicht! Sehen Sie sich vor, Herr Doctor! Sie gehören auch zu denen, die meinen, ein verwaistes junges Mädchen müsse sich dirigiren lassen, wie der Vortheil, das Behagen Anderer sein Kommen und Gehen erheische. Hier verbannen Sie mich, und dort möchten Sie mir eine Kette um den Fuß legen, damit ich bleibe. Ich möchte wissen, was Sie zu dieser Willkür berechtigt, oder nein“ – ihre Lippen zuckten im Kampfe mit aufquellenden Thränen – „ich möchte mit Henriette fragen: ‚Was habe ich Ihnen gethan?‘“

Das letzte dieser in leidenschaftlicher Klage herausgestoßenen Worte erlosch ihr auf den Lippen – der Doctor hatte ihr Handgelenk umfaßt. Seine kalten Finger drückten wie Eisen.

„Kein Wort mehr, Käthe!“ raunte er ihr in Lauten zu, die sie erschreckten. „Ich weiß zum Glück, daß nicht eine Spur von komödienhafter Falschheit in Ihnen lebt, sonst müßte ich glauben, Sie hätten die raffinirteste Folterqual ersonnen, um mir ein streng behütetes Geheimniß zu entreißen;“ er ließ ihre Hand fallen; „aber auch ich will nicht – absolut nicht!“

Er schlug die Arme über der Brust zusammen und entfernte sich um einige Schritte, als wolle er rasch nach dem Hause gehen, aber plötzlich wandte er sich dem wie erstarrt dastehenden Mädchen wieder zu. „Es interessirt mich übrigens, zu erfahren, inwiefern ich Ihnen eine Kette um den Fuß legen möchte, damit Sie bleiben,“ sagte er ruhiger. Er kam zurück und blieb vor ihr stehen.

Käthe erröthete tief; einen Augenblick zögerte sie in mädchenhafter Scheu, dann aber versetzte sie entschlossen: „Sie wünschen, daß ich die – Herrin in der Villa Baumgarten werde –“

„Ich – ich?“ Er drückte die geballten Hände gegen die Brust und brach in jenes hohnvolle Lachen aus, das sie schon vorhin bei seiner Unterredung mit der Tante erschreckt hatte. „Und wie begründen Sie diese Beschuldigung? Warum soll ich wünschen, Sie als Herrin der Villa Baumgarten zu sehen?“ fragte er, sich mühsam bezwingend.

„Weil Sie, wie Flora sagt, Henriette nicht so ohne Weiteres ihrem Schicksale überlassen wollen,“ antwortete sie mit der ganzen entschlossenen Aufrichtigkeit, die auf eine entschiedene Frage kein Ausweichen zuläßt. „Sie finden, daß ich meine arme Schwester mit hingebender Liebe pflege, und um ihr das Haus des Commerzienrathes, unser ehemaliges Vaterhaus, auch als fernere Heimath zu sichern, soll ich die schwesterliche Liebe und Hingebung noch weiter bethätigen, indem ich – die Frau des Commerzienrathes werde.“

„Und Sie glauben, daß ich an der Spitze einer derartigen Familienintrigue stehe? Sie glauben das ernstlich? Haben Sie vergessen, daß ich mich gleich zu Anfang dieser aufopfernden Pflege und Ihrem längeren Bleiben in Römer’s Hause widersetzt habe?“

„Seitdem hat sich Vieles geändert,“ entgegnete sie rasch und bitter. „Sie werden im September M. für immer verlassen; dann kann es Ihnen gleichgültig sein, wer in der Villa schaltet und waltet; Ihr Behagen wird nicht mehr gestört durch eine unsympathische Persönlichkeit –“

„Käthe!“ stieß er heraus.

„Herr Doctor?“ Sie hielt, den Kopf stolz hebend, seinen flammenden Blick ruhig aus. „Der Gedanke eines solchen Arrangements liegt eigentlich sehr nahe, und nur einem so langsam capirenden Wesen wie mir konnte es passiren, so lange blind an all’ dem vorüberzugehen,“ setzte sie scheinbar gelassen hinzu. Es war etwas Ueberlegenes in ihrem Tone und Wesen, als sei sie plötzlich um Jahre an Erfahrung und Erkenntniß gereift. „Dann käme kein fremdes Element in den Familienkreis; die ganzen häuslichen Einrichtungen könnten bleiben, wie sie sind, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten in der Villa, wie drüben im Thurme würden nicht alterirt; Nichts, nicht einmal mein eiserner Spind in Moritzens ‚Schatzkammer‘ brauchte von seiner Stelle gerückt zu werden; das ist so praktisch gedacht –“

„Und leuchtet Ihnen so sehr ein, daß Sie nicht einen [313] Augenblick schwanken, zu bleiben,“ ergänzte er fliegenden Athems mit einem so ungeduldig verzehrenden Blicke, als zürne er den Lippen, daß sie nicht rasch genug bestätigten.

„Nein, Herr Doctor, Sie triumphiren zu früh,“ rief sie mit einer Art von wilder Schadenfreude. „Der obstinate Goldfisch durchbricht das Netz. Ich gehe, ich gehe heute noch. Ich kam vorhin nur, um mich von der Frau Diakonus zu verabschieden, und würde daher gelächelt haben über das Verbannungsdecret, das Sie gegen mich richteten, wenn es mich nicht so schmerzlich berührt hätte. Meine Schwestern haben mir vorhin die blinden Augen geöffnet und mir in prächtiger Perspective ‚das Glück‘ gezeigt, das man für mich beabsichtigt. Ich hatte im Moment der Eröffnung das Gefühl, als gäbe es aus dem blauen Salon der Frau Präsidentin nur noch einen Weg für mich, den directen, sofortigen nach der Eisenbahn, die mich heimbefördere, und ich wäre auch gegangen, wenn ich mich nicht meiner übernommenen Pflichten erinnert hätte. Ich gehe nicht für lange, nur für die Zeit, in der ich Moritz von der Ferne aus überzeugt haben werde, daß er mir nie und nimmer mit einer anderen, als seiner streng vormundschaftlichen Beziehung kommen darf, daß ich ihm stets die entschiedenste Abneigung zeigen werde, sobald er Miene macht, einen anderen Ton, als den des väterlichen Berathers anzuschlagen.“

Ihr Busen hob sich in tiefen, befreienden Athemzügen, und die heiße Gluth, die ihr Gesicht bis an die Haarwurzeln überströmte, war das hinreißende Erröthen widerstrebender Scham, aber man sah, sie wollte es um jeden Preis klar werden lassen zwischen sich und dem Manne, der sich, während sie sprach, emporrichtete, hoch und elastisch, als werde plötzlich eine niederdrückende Wucht von seinen Schultern genommen.

„Seit dem Tage, wo wir Henriette so schwer leidend in Ihr Haus brachten, besteht ein schönes Verhältniß zwischen der Frau Diakonus und meiner armen Schwester,“ fuhr Käthe rascher fort; „ich kann ruhigen Herzens gehen, wenn die Tante sich Henriettens annimmt. Um diesen Liebesdienst wollte ich sie bitten; deshalb kam ich hierher. Ich werde ihr nun von Dresden aus schreiben; denn Sie begreifen wohl, daß die von Ihrem Grund und Boden Verbannte auch nicht einmal die kurze Strecke von hier bis zu dem Hausflure je wieder beschreiten wird.“

Mit diesen Worten ging sie an ihm vorüber. „Leben Sie wohl, Herr Doctor!“ sagte sie mit einer leichten Verbeugung und schritt nach der Brücke. Jenseits des Holzbogens, beim Umschreiten der Pappel, wandte sie den Kopf noch einmal nach dem lieben, alten Hause zurück. Dort an der Ecke lugten die Kinderköpfchen neugierig und kichernd eines über dem anderen, neben dem Gartentische aber stand der Doctor, beide Hände sonderbar schwer auf die Tischplatte stützend, und aus seinem aschfahlen Gesichte starrten die Augen mit einem fast wilden Blicke ihr nach.

Seltsames Mädchenherz! Sie flog ohne Besinnung über die Brücke zurück, über den verpönten Weg, den sie nie mehr beschreiten wollte – sie wäre noch weiter gelaufen, in die weite Welt hinein, ihm zu Hülfe.

„Ach, Sie sind krank?“ stammelte sie, ihre warmen, geschmeidigen Hände angstvoll auf die seinen legend.

„Nein, nicht krank, Käthe – nur das, was Sie mir, wenn auch in einem anderen Sinne, schuld gegeben – ein erbärmlicher Schwächling!“ stöhnte er und strich sich mit einer heftigen Geberde das nach vorn gefallene reiche Lockenhaar aus der Stirn zurück. „Gehen Sie, gehen Sie! Sehen Sie denn nicht, daß ich in einem Seelenzustande bin, für den jedes Wort der Theilnahme, jeder warme Blick zum Dolchstoß wird?“ rief er rauh, und doch bog er sich blitzschnell nieder und preßte seine Lippen fest und heiß, wie in wahnsinnigem Schmerz auf die Mädchenhand, die noch auf seiner Linken lag.

Erschreckt fuhr das junge Mädchen zusammen, allein sie fühlte ihr Herz von einem nie gekannten, beseligenden Zärtlichkeitsgefühl überströmen, und es schwebte ihr auf den Lippen zu sagen: „Nein, ich gehe nicht – Du bedarfst meiner.“ Da stand er jedoch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr und winkte mit schmerzentstelltem Gesicht stumm, aber gebieterisch nach der Brücke – und jetzt floh das Mädchen, als schreite der Engel mit dem feurigen Schwerte hinter ihr. …

Einige Stunden später stieg sie in Hut und Schleier, eine Reisetasche in der Hand, eine Seitentreppe der Villa geräuschlos herab – sie ging, wie sie gekommen war, plötzlich, unerwartet. Henriette hatte, wenn auch tödtlich bestürzt und unter heißen Thränen, dennoch in die schleunige Abreise und mehrwöchentliche Abwesenheit der Schwester gewilligt, da sie sich selbst sagen mußte, daß auf Flora’s unumwundene, tactlose Mittheilungen hin nun eine Reihe peinlicher Auftritte für alle Theile folgen würde. Sie war auch damit einverstanden, daß Käthe stillschweigend gehe und von Dresden aus ihre Willensmeinung äußere, während sie selbst es übernahm, die Verwandten von der Abreise in Kenntniß zu setzen. Dafür stellte sie die Bedingung, daß Käthe sofort zurückkehre, gleichviel wann, und möge sie auch sein, wo sie wolle, sobald die kranke Schwester eine Stütze brauche und sie rufe.

Henriette blieb droben an der Treppe stehen und streckte der Scheidenden die Hände nach, während Käthe den Schleier über die verweinten Augen zog. Wie ein Lichtmeer wogte es durch das Haus; alle Gasflammen loderten, und am Portale fuhr donnernd eine Equipage nach der anderen vor. Für einen Moment war Käthe gezwungen, in einen Seitencorridor zu flüchten; dort, an die Wand gedrückt, sah sie Damen in eleganter Abendtoilette vorüberrauschen. Die Lakaien schlugen die Thüren des blauen Salons weit zurück, und drinnen stand Flora im spitzenbesetzten, blaßrothen Seidenkleide, strahlend schön und vornehm lächelnd wie ein Fürstenkind, und begrüßte die Gäste, die um ihretwillen kamen – der Commerzienrath gab ihrem Geburtstag zu Ehren eine große Soirée.

Bei diesem Anblick war es der Lauschenden draußen, als gingen schneidende Schwerter durch ihre Seele. Dort stand die Uebermüthige, umschwebt vom Glück, das ihr förmlich bettelnd nachgelaufen war, ob sie es auch verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen hatte – und hier verbarg sich die Hoffnungslosigkeit, scheu wie die Sünde. Warum war aller Glücksreichthum, die ganze Fülle von Liebesseligkeit auf dieses eine Haupt gehäuft, das ihrer entbehren konnte, während die andere Schwester inmitten ihrer Goldschätze hungernd und entsagend durch das Leben gehen sollte?

Die Thürflügel fielen zu, und Käthe eilte hinaus in den Park, von einer Verzweiflung erfüllt, wie sie nur ein junges, heißes Herz zu erschüttern vermag, und während die Kammerjungfer droben ahnungslos ihrer harrte, um auch ihr beim Ankleiden für die Soirée behülflich zu sein, pochte sie an das erleuchtete Mühlenfenster und berief Franz, sie nach dem Bahnhof zu begleiten. …




22.


Seitdem waren mehr als drei Monate verstrichen. Nie hatte sich Käthe so eifrig in ihr Musikstudium versenkt, wie in dieser Zeit, aber auch ihr übriges Wissen hatte sie auszudehnen und zu vertiefen gewußt mit jener fieberhaften Hast, die in angestrengter Arbeit und Thätigkeit – Vergessenheit sucht. Henriette hatte eine Art Tagebuch für sie angefangen, das sie allwöchentlich schickte. Diese Blätter erzählten ihr, wie sich seit ihrer Abreise das Leben in der Villa weiterspann. Sie las nur zwischen den Zeilen, daß die Präsidentin förmlich neu auflebe, aber auch anmaßender und despotischer als je im Hause herrsche; unumwundener dagegen sprach Henriette aus, daß die Großmama Käthe’s plötzlichen Entschluß, „um des dabei an den Tag gelegten Tactes willen“, geradezu in den Himmel hebe, während Flora die Achseln zucke und von Backfischstreichen spreche. Der Commerzienrath hatte mehrere Tage mit ihr gegrollt, ihrer unbefugten Einmischung wegen. Er war an jenem Abend, wo ihm Henriette in einer Ecke des Musiksalons leise das Geschehene mitgetheilt, blaß geworden vor Schreck und Verdruß, und nur die Anwesenheit der Gäste hatte eine heftige Familienscene verhindert, die jedenfalls um so erbitterter ausgefallen wäre, als auch Flora den ganzen Abend sehr verstimmt und pikirt gewesen war – der Bräutigam hatte sich mit Berufspflichten entschuldigt und war in der Geburtstagssoirée nicht erschienen.

Der Commerzienrath hatte gleich zu Anfang an Käthe und [314] die Doctorin geschrieben und „behufs einer Aussprechung“ seinen Besuch in Dresden für den Juni angekündigt, allein das Tagebuch theilte in jener Zeit mit, daß häufiger als je Depeschen in der Villa einliefen, daß der Commerzienrath weit mehr in Berlin als daheim und mit Geschäften vollständig überbürdet sei. Der Besuch unterblieb; nur selten kam ein flüchtiger Geschäftsbrief von der Hand des Vormundes, und die letzte Geldsendung hatte – was bisher nie geschehen – der Buchhalter abgeschickt.

Käthe athmete auf; der gefürchtete Conflict war ohne allen Zweifel beseitigt. Der Herr Vormund hatte aus ihrem Antwortschreiben die Ueberzeugung gewonnen, daß er niemals hoffen dürfe, und sich vernünftiger Weise beschieden. Das junge Mädchen hätte nunmehr als Pflegerin zurückkehren können, dem aber widersetzte sich die Doctorin energisch, weil Käthe, wie sie oft tadelnd und bekümmert aussprach, so sehr verändert, mit dem Verluste ihres jugendlichen Frohsinns und ihrer frischblühenden Gesichtsfarbe heimgekommen sei. Zudem hatte die Baronin Steiner in der That mit ihrem Gefolge für zwei volle Monate Einzug in der Villa gehalten und sich dermaßen ausgebreitet, daß kein Winkelchen in der Beletage unbesetzt geblieben war.

Käthe selbst schauderte bei dem Gedanken an eine Rückkehr, so lange die Uebersiedelung nach L…..g nicht stattgefunden hatte. Sie wußte nur zu gut, daß sie jetzt nicht mehr monatelang mit äußerer Ruhe inmitten der dortigen Verhältnisse ausharren könne – bedurfte es doch selbst in Dresden all’ ihrer Kraft, nicht zu zeigen, daß sie ihren inneren Frieden verloren habe, daß sie fast übermenschlich ringe mit der süßen, zwingenden Gewalt, die sich ihrer Seele bemächtigt, und welche die Menschen Sünde nannten. Henriette hatte ja auch noch nicht „gerufen“, trotz ihrer leidenschaftlichen Klagen über die Sehnsucht nach „der starken, besonnenen Schwester“; sie sprach im Gegentheil mit enthusiastischem Danke von der Aufopferung, mit der sie von Seiten der Tante einstweilen gepflegt und verhätschelt werde. Ihr Tagebuch war eigentlich auch nur eine fortlaufende Schilderung, in der zwei Menschen die Hauptrolle spielten, der Doctor und die Tante. Alles, was sich im Hause am Flusse ereignete, wurde getreulich mitgetheilt, und war es auch nur der jähe Tod der gelben Henne, die endlich doch ein tückisches Zuschnappen des grimmen Feindes vor der Hundehütte aus der Welt befördert, oder der außergewöhnliche Traubenreichthum, der in diesem Jahre am Weinspalier hing; selbst ein neu angeschafftes silberweißes Kätzchen, „das sich auf dem Sopha der Tante breit mache“, wurde als Merkwürdigkeit aufgezählt – das waren die harmlosen Momente, sonst aber trug das Tagebuch eine düstere Färbung. Manche Stellen lasen sich, als müßten die Briefblätter noch thränenfeucht sein, andere wieder so leidenschaftlich fortreißend, als sei aus den schreibenden Fingern Feuer in die Feder geströmt. Ueber das bräutliche Verhältniß zwischen Flora und dem Doctor fiel auch hier kein Wort, wohl aber wurde angstvoll geklagt, daß der Letztere in Folge seiner aufreibenden ärztlichen Thätigkeit sich auffallend verändere; nur den Kranken gegenüber sei er mild und geduldig, im geselligen Umgange dagegen verfinstert, wortkarg wie nie und sichtlich reizbar; in seiner äußeren Erscheinung verfalle er zum Befremden Aller.

So war allmählich der Zeitpunkt herangerückt, auf welchen man die Hochzeit festgesetzt hatte. Flora hatte es unterlassen, die ferne Stiefschwester einzuladen; sie habe den Kopf voll – schrieb Henriette – eine Reihe von Fêten, die ihr zu Ehren noch gegeben würden, lasse sie kaum zu Athem kommen; dazu sei sie capriciös wie immer, auch bezüglich ihrer Aussteuer und der Vermählungsfeierlichkeiten – es werde fortwährend noch ausgewählt und geändert zur Verzweiflung der Lieferanten. Henriette befand sich in unbeschreiblicher Aufregung; sie betonte wiederholt, daß sie in dem Hochzeitstrubel um keinen Preis allein bleiben wolle. Die Tante Diakonus werde ihr in „den entsetzlichen Tagen“ voraussichtlich keine Stütze sein, da sie selbst schon jetzt unter dem Trennungsweh leide und oft auffällig verstimmt und bewegt sei. Diese Klagen steigerten sich von Blatt zu Blatt, bis eines Abends, wenige Tage vor der Hochzeit ein Telegramm einlief, welches lautete: „Komme sofort! Ich bin auch körperlich sehr elend.“

Da galt kein Zögern; auch die Doctorin war damit einverstanden, daß Käthe gehe – und das junge Mädchen selbst? Ein Nervenschauer um den anderen durchschüttelte sie aus Angst vor dem Kommenden, und dabei jubelte sie auf in unbeschreiblicher Seligkeit, daß sie den noch einmal sehen sollte, der – ihr Schwager wurde.

Da stand sie nun an einem Septembermorgen wieder in der Schloßmühlenstube. Sie war mit dem Nachtzuge gefahren und eben angekommen. Bei ihrer Abfahrt hatte sie Franz telegraphisch ihre Ankunft mitgetheilt, und liebevoller hätten Mutterhände ihre Aufnahme nicht vorbereiten können, als die alte Suse gethan. Die große, von dem durch die Kastanienwipfel hereinfallenden grünen Dämmerlichte angehauchte Stube war erfüllt von den Düften der Heliotropen, Rosen und Reseden, die auf den Fenstersimsen standen; saubere Decken lagen auf allen Tischen; im Alkoven lockte ein blüthenweißes Bett, und auf dem großen Eichentische mit den plump ausgespreizten Füßen stand die wohlbekannte kupferne Kohlenpfanne, mit ihrer Gluth den Kaffee warm erhaltend. Sogar der selbstgebackene Kuchen war noch fertig geworden und stand, zuckerbestreut, in bräunlicher Schöne neben der vergoldeten Tasse, dem Prachtstücke aus dem Glasschranke der seligen Schloßmüllerin.

Nun schütterten die schneeweiß gescheuerten Dielen wieder unter den Füßen des jungen Mädchens, und durch die offenen Fenster kam das Rucksen der Tauben und das Tosen des fernen Wehres – sie war daheim. Von hier aus wollte sie die kranke Schwester besuchen und um keinen Preis die Gastfreundschaft im Hause des Commerzienrathes annehmen, mochte auch die Frau Präsidentin die Nase rümpfen über den anstößigen Verkehr zwischen Villa und Mühle.

Käthe war in einer seltsamen Stimmung. Furcht vor dem ersten Wiedersehen in der Villa, schmerzliche Sehnsucht nach dem Hause am Flusse, dessen Wetterfahnen sie mit hochklopfendem Herzen von dem südlichen Eckfenster aus erblickte, und das sie doch nicht betreten durfte, leidenschaftliche Ungeduld, der hohen Gestalt, wenn auch nur noch ein einziges Mal, zu begegnen, die sie hier in der Mühle zum ersten Male gesehen und – das sagte sie sich ja täglich unter tausend Schmerzen – seit jenem Momente geliebt hatte: das Alles wogte in ihr, und daneben schlich eine unerklärliche Bangigkeit und Beklemmung. Schon seit Monaten füllten die Sensationsnachrichten von dem Zusammenbrechen des Gründungsschwindels in Wien und später in der preußischen Hauptstadt die Spalten der Zeitungen. In allen öffentlichen Localen, in allen Salons war der welterschütternde Einsturz dieses modernen Thurmes zu Babel das Tagesgespräch, und selbst in dem kleinen ästhetischen Cirkel der Doctorin hatte man die Ereignisse wiederholt erörtert. Während der Eisenbahnfahrt von Dresden nach M. waren sie auch das ununterbrochene Gesprächsthema der Mitreisenden gewesen – man hatte haarsträubende Dinge erzählt und noch Schrecklicheres prophezeit, und nun sah Käthe mit eigenen Augen eine der Folgen dieser Calamität. In das Gelärme der Tauben und das Rauschen des Wehres hinein klang das laute Durcheinander von Menschenstimmen, und schräg hinter der letzten Kastanie hervor konnte das junge Mädchen den großen Kiesplatz vor der Spinnerei überblicken; er wimmelte, genau wie an jenem Tage des Attentates, von Arbeitern, die bald mit allen Zeichen der Niedergeschlagenheit, bald heftig streitend und drohend unter einander verkehrten – die Actiengesellschaft, welche die Spinnerei von dem Commerzienrathe gekauft, hatte Bankerott gemacht; eben war die Gerichtscommission in der Fabrik erschienen, und die Leute stoben im ersten Schrecken wie Spreu aus einander.

„Ja, ja, so geht’s,“ sagte Franz, der eben Käthe’s kleinen Koffer heraufgetragen hatte. „Den Leuten war’s zu wohl, und sie meinen, es ginge ihnen noch lange nicht gut genug; nun gehen sie von einer Hand in die andere und kommen mit der Zeit vom Pferde auf den Esel. ’s ist aber auch eine schlimme Zeit, eine heillose Zeit. Jeder will sein Geld mit Sünden verdienen und womöglich die Ducaten von der Straße auflesen, und man kann’s den Kleinen kaum noch verdenken, die Großen machen’s ja nicht besser.“


(Fortsetzung folgt.)




[315]
Am Lethestrom.
Erinnerungen von Karl Gutzkow.


1.

Ein wunderholder Maitag in den fünfziger Jahren war’s. Tiefblau spannte sich der Himmel wie mit nie von ihm versagter Huld über die blüthengesegneten Ufer der Elbe. Es war die Zeit, wo in einem gewissen Orte, zu Leipzig im Sachsenlande, der Sturm nur allzugewaltig in Blüthenhoffnungen Jahr ein Jahr aus einzubrechen pflegt, während dagegen andere kräftig aufgehen und allerdings wohlschmeckende Früchte bringen: Die Buchhändler zogen zur Leipziger Messe. Aber viele vergaßen manche trübe Erwartung, die ihrer am Abrechnungstische harrte, und Einer der Trefflichsten, die je einen Autor mit den Worten: „Ich bin gern bereit –“ beglückt haben, der frühgeschiedene Eduard Trewendt von Breslau, besuchte mich, froher Erwartung voll, mit dem mir schon aus früheren Zeiten bekannten Jugendschriftsteller Franz Hoffmann. Sie luden mich zu einem Abendimbiß, vielleicht auf der Brühl’schen Terrasse oder im Hôtel, ein. Die Bestimmung des Ortes wurde noch offen gelassen. Gustav Nieritz würde der Vierte im Bunde sein.

Die Schiller-Statue in Marbach,
modellirt von Rau, ausgeführt von Dollinger.

Den allbeliebten Jugendfreund, dessen Wirkungen ich selbst als Familienhaupt täglich erproben konnte, wenn mich gute Laune nach Hause kommen ließ mit einigen im Buchladen mitgenommenen Bändchen „Nieritz’scher Erzählungen“ (die sofortige Lectüre unterdrückte fast den Ausdruck des vollen Jubels) – diesen Zauberer von Seligkeiten der Unterhaltung, ich hatte ihn persönlich noch nicht gesehen. Und wir wohnten doch in einer und derselben Stadt! Aber die Dresdener Elbbrücke ist das, was nach den Franzosen der Rhein sein soll, eine Scheidewand zwischen Nord und Süd wie der Rhein zwischen West und Ost. Der freundliche Schlenderweg, von dem aus man sich in die schönsten Fernsichten verlieren kann, auf die stumpfen Basaltkegel der sächsischen Schweiz hier, auf die freundlichen Meißner Weinberge dort, ist diese Brücke nicht immer. Viel öfter noch schrecken Sturm und Regen ab, sie zu betreten. Und wer möchte auch einen Schulmann aus seinem stillen Gärtneramte abrufen, ihn stören, wenn er gerade das aufgeschlagene Lesebuch, seinen Spaten, in der Hand hält und mitten im Verlesen des geistigen Unkrauts auf seinen Beeten begriffen ist! Sonntags fesselt dann den Verwalter einer kleinen Schule in der Dresdener Neustadt seine Muse oder sie lockt ihn hinaus in eine schöne Gegend, die duftigen Waldgründe am „weißen Hirsch“, auf die von Lerchenwirbeln umschwirrten Höhen, mit denen die Natur Dresdens Umgebung geschmückt hat.

Ein solennes Mahl erwartete uns. Da es Champagner geben sollte, wurde die Scene nicht in die Oeffentlichkeit, sondern in ein Hôtel verlegt. Ein besonderes Zimmer bot da die sicherste Traulichkeit und die Abwesenheit aller Kritik für einen unter dem Disciplinargesetz stehenden Beamten. Nieritz erschien, schon von den Spuren des Alters gezeichnet, von den Zeichen der Mühe seines Schulamts, gefurchten Antlitzes. Aber sein Geist war frisch und rege. Der anwesende süddeutsche Mitarbeiter im gleichen Fache, Franz Hoffmann störte ihn nicht. Sie waren freundschaftlich verbunden. Hoffmann’s Weise war eine andere. Dieser wirkte mehr auf die Einbildungskraft der Kinder, jener auf das Gemüth.

Ein Gespräch zwischen Schriftstellern und einem unternehmungsfreudigen gebildeten Verleger, wie Trewendt war, konnte sich zumeist nur auf die Aeußerlichkeiten des literarischen Wirkens ausdehnen. Zwischen dem köstlichen Lachs, den Hühnern, dem Rehbraten – (die Küche des Monats Mai ist bekanntlich die Sorge aller Speisezettelerfinder; der Mai ist der unergiebigste Proviantmeister der Natur) zwischen Rheinwein und dem unerläßlichen Wein des Victoriaschießens (eben Trewendt hatte ja gute Treffer mit seinen beiden Kinderpoeten gemacht) gab es fast nur die Erörterung der literarischen Chronik des Tages. Nieritz fand mich heimisch in seinen ersten Anfängen. Ich wußte, wie seine kleinen Geschichten erst in der Berliner Kochstraße, im „Gesellschafter“, in der Vereinsbuchhandlung des Professor Gubitz erschienen, wie er jede seiner Geschichten um „ein Ei und ein Butterbrod“, wie man in Hamburg sagt, hingab, bis sich der mir wohlbekannte Professor der Holzschneidekunst, Redacteur, Dichter, Recensent, Buchhändler, ein sächsischer, nach Berlin verpflanzter Landsmann Gustav Nieritz’s, entschloß, für eine zehn Druckbogen füllende Erzählung ein für allemal hundert Thaler zu geben. Erst spätere Anknüpfungen erlösten den wackeren Mann aus diesem Plantagenverhältnisse. – Ab und zu erhob sich denn doch der Thatsachen- und Gedankenaustausch in idealere Regionen. Es galt dann Betrachtungen über die Fassungskraft der Kinder, über den Geschmack der Jugend, der meist so grundverschieden von dem der Alten sei, über die Geheimnisse der Erzählungskunst. Aus diesem Bereiche unserer Gespräche will ich eine Aeußerung des ehrwürdigen Kinderfreundes, der vor Kurzem die Augen geschlossen hat, wie eine in den Strom der Vergessenheit gefallene Blüthe zu retten suchen. Ich will fast wortgetreu wiedergeben, was damals Nieritz über die Wahl seiner Stoffe sagte.

[316] „Wenn ich mich wohl rühmen kann,“ sprach der allbeliebte Erzähler im Tone der Bescheidenheit, „daß ich die Art getroffen habe, die den Kindern wohlthut, so will ich auch sagen, wie ich meine Stoffe finde. Ich nehme nicht das erste Beste und mache den Kindern auf Gerathewohl eine Geschichte vor. Ich muß schon vorher einen Prüfstein der Wirkung haben. Diesen finde ich bei meiner Lectüre. Ich lese Geschichtswerke, Reisebeschreibungen, Biographieen; ich lese aufmerksam täglich die Zeitung. Begegnet mir da etwas, was mich anzieht, so lese ich langsamer, und rührt mich dann etwas, so halte ich inne. Hat mich etwas gerührt, hat mir etwas die Thräne in’s Auge gelockt, da weiß ich sogleich, es strömt meine Quelle. Beziehungen auf Umstände, die diese Wirkungen hervorgebracht haben, sind dann leicht erfunden; ich habe einen Kern, und nun suche ich die passende Schale dazu; die wird manchmal ganz anders, als der Anlaß gewesen, der mich gerührt hatte, z. B. bei einem unerwarteten Edelmuthe, einem nie gehofften Wiedersehen. Aber die Factoren des psychologischen Momentes, diese müssen wieder ganz so herauskommen, daß sie dasselbe Seelische erzeugen, das sich mir aus einer ähnlich vor sich gegangenen Geschichte ergeben hatte.“

Franz Hoffmann ist noch, wie ich an jedem Weihnachtstische der Buchhändler sehe, am Leben. Vielleicht ist sein Gedächtniß stark genug, mir die Wahrheit dieses Einblickes in das Gemüth eines echten Schulmannes und die schriftstellerische Technik eines berufenen Jugendschriftstellers zu bestätigen.




2.


Die Kindesseele! Das Urgeheimniß im Menschen! Das Paradiesesheiligthum des keimenden geistigen Anfangs! Das war in den fünfziger Jahren fast eine Literaturparole geworden. Alles schrieb Jugenderinnerungen. War doch ein Mann aufgestanden, der geradezu erklärt hatte, die Gottheit ruhe im still bei seinem Spiele träumenden Kinde. Das „Buch der Kindheit“ von Bogumil Goltz führte vom rauschenden Gewühle des Tages, von den erbitterten Kämpfen der Parteien und Meinungen in eine uns umgebende, unmittelbar uns umrankende Märchenwelt zurück. Das Paradies sollte nach ihm in uns selbst liegen, wenn wir nur lauschen wollten auf diese wunderbaren Klänge, die aus der Jugendzeit zu uns herübertönten, sie nur sehen wollten, diese blitzenden Edelsteine einer geistigen Schatzkammer Aladdin’s in uns selbst. Sogar Rückert sollte in seinem Preise der Jugend noch nicht alle Siegel gelöst haben, die auf dem Evangelium der reinen Kindesseele ruhten.

Diesen Prediger der Kindesseele, Bogumil Goltz, hat kürzlich Robert Hamerling in Lindau’s „Gegenwart“ als einen Vertreter des „Pessimismus im Stadium der Tobsucht“ geschildert. Und seine Schilderung ist – wahr, vollkommen zutreffend; nur fehlen noch einige nähere Bezeichnungen, einige tieferliegende Erklärungen.

Es war Märzzeit. Sonnenschein und Hagelschauer wechselten noch. Heute herrschte Zephyr, morgen Boreas unter den Linden von Berlin. Ich wohnte im „Hôtel de Rome“, als ich eines Morgens durch ein heftiges Pochen an meiner Thür aus einer trüben hinbrütenden Stimmung geweckt wurde. Ich hatte gegen ein nicht enden wollendes Sausen im Ohre, das die Hörkraft zu vermindern drohte, die Hülfe des damals berühmten, später von den alle Tage auf neue Systeme kommenden Medicinern bei Seite geschobenen Kramer in Anspruch genommen. Sein Verfahren, eine complicirte Maschine durch die Nase bis nahe an die Hirnhöhlen zu führen und dann einen Aetherdampf operiren zu lassen bis an den Herd des Bewußtseins und das so einige Monate durchgeführt, wie er wollte – es war so abschreckend, daß ich nach sieben- bis achtmaliger Marterprocedur abzureisen beschloß.

Bei diesen Erwägungen mußte ich von dem heftigen Eintreten, der schnarrendscharfen Anrede im ost- oder richtiger westpreußischen Dialekt in allen Nerven erschüttert werden.

„Ich heiße Goltz, bin Gutsbesitzer und möchte Schriftsteller werden. Was rathen Sie? Wie fange ich das an?“

„Wenn Sie etwas Ordentliches geschrieben haben, suchen Sie einen Verleger!“ war meine Antwort. Ich erhob mich und machte ihm Platz, sich an meiner Seite niederzulassen.

„Ich stehe lieber,“ antwortete der schon bejahrte, grauschwarzhaarige Mann, dessen gebräunter Teint einem Südländer hätte angehören können. „Ich muß mich bewegen; das Leben ist mein Tummelplatz. In meiner Jugend war ich in Warschau, in den polnischen Wäldern, im Kriegsgetümmel. Da verschlug mich das Schicksal auf ein Gut, das ich ererbte, das ich selbst verwalten mußte, um es zu retten, mir es zu erhalten. Es liegt bei Thorn in Westpreußen. Lange, lange Jahre habe ich da zugebracht, unter dem Miste, unter Polaken, unter halbem Vieh. Aber im Winter, da schrieb ich. Der ganze Boden in meinem Hause liegt voller Manuscripte. Und nun müssen die endlich heraus. Ich bin bald fünfzig Jahre. Es ist die höchste Zeit.“

„Ihre Landsleute nehmen sich Zeit,“ sagte ich, der mir wahrscheinlichen Verblendung eines Autodidakten ausweichend; „auch Kant war, als er seine Kritik der Urtheilskraft herausgab, schon in den Fünfzigen.“ – – Man hat als Schriftsteller von einiger Stellung Gelegenheit genug, die Narrheit unentdeckter Genies, den Wahn angehender Schriftsteller kennen zu lernen. Noch hielt ich den Mann für überspannt und in einem traurigen Wahne begriffen; denn für jede Gattung Literatur, nach deren etwaiger Cultivirung ich ihn fragte, hatte er auf seinem westpreußischen Hausboden ein Belegstück, ob Komödie oder Tragödie, Roman oder Novelle, gleichviel; sein Lager bewies, er hatte sich in Allem versucht.

Inzwischen, wie Canarienvögel durch lautes Sprechen zum Singen gereizt werden, mußte nun auch ich aufstehen und suchen mit dem heftig auf- und niederschreitenden Manne, der jetzt anfing, Alles, was in der Literatur galt, für durch die Bank miserabel zu erklären, in eine bessere Fühlung zu kommen.

„Eines,“ rief ich ihm zu, als er eine lange Rede zu Ende gesprochen hatte, „Eines steht mir schon fest. Sie sind entweder zu einem katholischen Prälaten oder zu einem Schauspieler geboren.“

„Ich bin lutherisch,“ antwortete der Besuch mit dem Ausdrucke des Erstaunens und stillstehend. „Aber Schauspieler?“ meinte er erröthend. „Ich soll Iffland ähnlich sehen –“

„Diese markanten Züge!“ fuhr ich fort. „Diese plastische Form der Stirn, der Nase, das hervorstehende kraftvolle Kinn! Die umbuschten dunkeln Augen –!“

So zergliederte ich einzeln den Beruf der Natur zur Menschendarstellung, den ich hier antraf, kam aber bei den Augen und einem gewissen unheimlichen Feuer, das aus ihnen blitzte, auf den geborenen Domdechanten, den Inhaber einer Pfründe von zehntausend Thalern, wieder zurück. Der scharfe Königsberger Ei-Laut im Sprechen hatte mir auch die Vorstellung des Mönches Zacharias Werner vor die Sinne gebracht. Ich sah den Verfasser der „Weihe der Kraft“, wie ich mir diesen immer vorgestellt hatte, als derselbe, ein Landsmann von Goltz, eben noch von Iffland, ja von Goethe als möglicher Ersatz für Schiller gefeiert wurde und plötzlich auf die Kanzel der Augustinerkirche in Wien entfloh.

Nach einigen Erzählungen seiner Leistungen als Schauspieler bei Liebhabertheatern lenkte die wundersame Beredsamkeit meines Besuches, sein sprühendes, aber unheimliches, ja unwahres Auge, sein staunenswerthes Talent der Reproduction, des Anschaulichmachens seiner apartesten Stimmungen (in Allem sah ich, auch in der stattlichen Figur, dann wieder einen zweiten Schröder, einen Eckhoff, Iffland, leider mit dem Königsberger Ei!) allmählich wieder ausschließlich in die Jugendsphäre ein. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen vor Jammer, was von ihm über dieses Thema allein auf jenem Boden an der Weichsel läge. Die Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel war nichts dagegen.

„Ueber meine Jugend habe ich Bände geschrieben, Herr! Shakespeare kann von mir lernen. Affen sind’s, wenn die Menschen von Kindern sprechen. Jugendzeit – ha, das ist leicht gesagt, lieber Rückert. Aber sie empfunden haben bis auf das Rasseln der Nüsse im Sacke zu Weihnachten, bis auf den Duft der Aepfel, die auf den Teller unter dem Tannenbaum kommen sollen, ja, den Duft des Tannenbaumes noch jetzt einathmen mit Kindernasen- und ‑seelennerven! Herr Gott im Himmel, wo liegt denn all’ unser Ende im Leben anders als im Anfang! ‚Werdet doch wie die Kinder!‘ hat ja [317] schon Jesus gesagt. ‚Und so ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in’s Himmelreich kommen!‘“

Ich trommelte gedankenvoll auf den Fensterscheiben. Das Zimmer ging auf die Charlottenstraße. Gerade gegenüber lag das große Gebäude, wo ich selbst geboren bin, die Akademie. Jeder Fleck ringsum, vom jetzigen Wohnhause des Kaisers an bis zu Professor Hofmann’s chemischem Laboratorium, bis zur Universität und der Hegel-Büste, bezeichnete Spuren dieses Paradieses, das allerdings auch in mir lebendig geblieben war und das mich durch die beredte Schilderung und durch den Gegensatz zu späteren Zeiten nur rühren konnte.

„In seine Jugend soll man zurückkehren, wenn man im Alter den Weg verloren hat,“ fuhr Goltz fort. „Aus der Erinnerung an unsere Kindheit strömt uns Kraft zu, immer Mann zu sein. Als Kinder waren wir Riesen im Bergeversetzen, Feldherren im Schlachtenliefern, unerschrocken, muthig, warm und edel in der Freundschaft, treu in der Liebe.“

„Wir müssen Brockhaus in’s Interesse ziehen,“ riß ich mich von den Bildern meiner eigenen Jugendzeit los, von den Flotten, die mir da drüben ein Spahn auf einer wassergefüllten „Löschtiene“, von den Schlachten, die mir eine Knabenbalgerei in der Charlottenstraße vorstellte. Was mich erschütterte, erfuhr Goltz nicht. Interesse für Andere, das bemerkte ich sogleich, fehlte ihm gänzlich. Ob er nun mich anredete oder Theodor Mundt vor sich gehabt hätte oder Berthold Auerbach, es wäre ihm ganz einerlei gewesen. Er sah Jeden nur darauf an, ob er etwa der Colporteur seiner Interessen sein konnte.

Bogumil Goltzens dann erfolgtes literarisches Auftreten ist bekannt. Nach einer kurzen, höchst wohlthuend auf die der Erquickung so bedürftige pädagogische Welt, besonders der Volksschullehrer, wirkenden Periode brachte ihn Berlins wunderliches Treiben und Drängen erst zu einer Reise nach Aegypten, dann auf Vorlesungen über Allerlei, woraus sich ein reisendes Virtuosenthum als „Lecturer“ à la Boz und Thackeray entwickelte. Diese „Lebensart“ (eines seiner am häufigsten gebrauchten Wörter) brachte ihm keine Schätze ein. Dem Deutschen rollt das Blut nicht sensationell durch die Adern. Vorreiter und Zukunftsmusiktrompeter gab es auch anfangs bei ihm. Dann aber wurde alles stiller, bis ihm Friedrich Wilhelm der Vierte die noch auf der Kante eines Stolzenfels’schen Kamins liegen gebliebenen Freiligrath’schen dreihundert Thaler als Pension gab, die er einige Jahre lang genoß. Eine andre aus der Schillerstiftung kam hinzu.

„Der Pessimismus im Stadium der Tobsucht?“ – Allerdings! In der That konnte Goltz so rasen und Schiller und Goethe und Gott und alle Welt herunterhunzen, wie Hamerling beschreibt. Aber Hamerling hätte hinzufügen müssen: Es war alles das bewußte Schauspielerei. Es war ein Virtuosenkunststück durch und durch. Ein aufgezogenes Musikstück in einer Schweizer Kunstuhr! Bogumil Goltz war nur der Matador seiner selbst. Sein Ich war ihm die Welt. Er hatte das tiefste Gemüth für seine eigenen Zustände, aber nicht die Spur für fremde. Das war das Unheimliche, Zacharias Werner’sche, der Jesuit in seinem Auge. Er spielte nur Komödie und wiederholte hundert Mal dasselbe.

Auf jener Brühl’schen Terrasse, in jenem angenehmen Oval des Belvedere, wo sich so traulich mit Freunden beim Mahle plaudern läßt, wo man durch die rauschende Musik im unteren Geschoß nicht gestört und nur von dem Gefühl belebt wird, daß es noch eine heitere Welt giebt, saßen wir unser zehn bis zwölf von „auf Bogumil Goltz“ Zusammengetrommelten beisammen. Natürlich führte er allein das Wort und war ein Brillantfeuer an Laune und komischen Behauptungen. Immer höher gipfelten sich die Raketen, die er steigen ließ. Auf Champagner hatte ihn Niemand von uns setzen wollen. Er bestellte sich ihn selbst und rief dadurch den Wetteifer der Portemonnaies hervor. Das ging so eine Weile fort. Der Mond draußen leuchtete wunderbar. Die Sterne spiegelten sich in der sanft dahin rollenden Elbfluth. Die Musik hatte schon aufgehört. Auf dem Rundbogen, der sich um den Terrassensaal zieht, saßen noch fröhliche Gesellschaften, hier und da vereinzelte liebende Paare. Schon schlug es elf. Goltz war ein vollständiger Tänzer auf dem Seile der Dialektik. Er bewies, daß das Wirkliche Täuschung und die Täuschung das Wirkliche sei, daß die größten Männer zu früh der Zuchtruthe ihrer Lehrer entlaufen gewesen, daß die Menschheit nur ein Gesammtgehirn, wie ein Ameisenhaufen, hätte, dessen einzelne Bestandtheile er analysirte. Das ging so fort. Alles staunte, Alles horchte, bis er plötzlich – sozusagen vom Seil fiel und das Bein brach. Er konnte nicht weiter. Der Moment war geradezu für den, der ihn verstand, schreckhaft. Man fühlte das Stocken der geistigen Maschine. Sie hatte plötzlich Schaden gelitten. Ein Rad war gebrochen. Sie arbeitete nicht mehr. Der Unsinn schien vor sich selbst zu erröthen. Er blieb ihm wie ein unvollendeter Satz auf der Zunge liegen. Eine spätere Sammlung, gleichsam ein Zusammenbinden des vielleicht nur gerissenen Seiles schien von keiner Seite mehr möglich. Er selbst warf einen langen vielsagenden Blick auf meine Person. Es war der der äußersten Beschämung und Verlegenheit. Ich mußte an die erste Begegnung, an Shakespeare’s bekanntes Wort vom Schauspieler, der sein Stündlein abgespielt hat und still nach Hause schleicht, denken. Den unsrigen hatte vollends noch sein geheimer Souffleur heute im Stiche gelassen. Welche Stimmung – –! Seitdem habe ich den bei alledem originellen Mann nicht wiedergesehen.




3.


Als kürzlich die Scheffel-Feier durch Deutschland brauste, trat an die Mitbewohner des deutschen Parnaß eine eigenthümliche Aufgabe heran. War ein Poet gleicher Meinung über den Gefeierten, wie die akademische und polytechnische Jugend, und stimmte doch nicht hörbar in den Chorus mit ein, so hatte die Conjecturalkritik Gelegenheit, auf Neid zu forschen. Dachte aber der Nichtgefeierte geringer von den Leistungen, die so enthusiastisch gepriesen wurden, so sagte ihm Gracian’s „Handorakel“ (bekanntlich die Moral der an der Tagesordnung befindlichen Schopenhauer’schen Philosophie): Zügle dein Urtheil! Es ist nicht immer an der Zeit, es auszusprechen.

Wie dem sei, ich erzähle ein Nonplusultra, wie sich Dichter geberden können, wenn andere Lieblinge Apoll’s, und noch dazu todte, gepriesen werden.

Friedrich Hebbel, der geistreiche, scharf combinirende Poet, der markige Dichter einer Epoche, die leider in der Poesie durchaus nur das Süßliche und Gemachte begünstigen zu wollen schien, war ein geborener Dithmarsche. Somit gehörte er einem Staate an, der von je Dichter geehrt hat, einem Staate, der in die deutsche Literatur, in Klopstock’s, Schiller’s Leben mit überraschenden Spenden eingriff, einem Staate, der auch noch jetzt Reisestipendien an hervorragende Talente austheilt und, wenn diese zurückkehren, für ihre weitere Versorgung und Auszeichnung sorgt, worunter allerdings der alte Zopf der Adelserhebung fehlt, denn das gemeinte Land hat keinen Adel. Es ist also nicht Deutschland, nicht Preußen oder Bayern, sondern Dänemark.

„Ich mußte selbst nach Kopenhagen,“ erzählte mir einst der bald im guten Bunde, bald auf der Mensur mit mir stehende Hebbel, „um mir auf drei Jahre die für literarische Ermunterungen üblichen sechshundert Reichsthaler zu erobern. Am Sund hatte man mich angeschwärzt. Der Director des Kopenhagener Hoftheaters war selbst Dichter, Professor Heiberg. Seiner Frau, einer unvergleichlichen Schauspielerin lag ganz Dänemark zu Füßen. ‚Emiliens Herzklopfen‘ ist ja auch bis zu uns gedrungen. Es war meinen Gegnern geglückt, mich mit meiner ‚Judith‘ den maßgebenden dänischen Potenzen als einen unbedeutenden Aufdringling darzustellen. Wenigstens schilderten sie mich so bei denen, wo die Entscheidung lag.“

Ich kannte Hebbel’s Fehde mit Heiberg. Er hatte in einer kleinen Schrift „Mein Wort über das Drama“ den Mund etwas zu voll genommen. Aber die Weise der Dänen war ja damit nur nachgeahmt. Denn wir Alle wissen, die neuen dänischen Skalden leisten im Erkennen der Schönheiten, die Gott ihrem Geiste verliehen haben soll, das Unglaubliche. Giebt es nicht zwei ganz verschiedene Lesarten selbst über den guten Christian Andersen, den kürzlich die Norne dahinraffte? Eine, der zufolge die kindliche, aus dem Reich der Elfen und Märchen stammende Natur des Dichters ganz so genommen wird, wie sich diese gegeben haben wollte, und eine andere, die nur einen mit Orden behangenen, von Fürstenhof zu Fürstenhof reisenden, eitlen, sich selbst überschätzenden Mann gesehen hat, einen Schwächling, dem nur unter Damen wohl war, die ihn wie ein Lämmlein [318] behandelten, ihn von Schooß zu Schooß gaben, der nur in Kreisen leben zu können schien, wo er zum tausendsten Male sein „Putt! Putt!“ vorlas und entfloh, wenn sich in seiner Gegenwart ein überlegener Geist über Dinge aussprach, die ihn nicht persönlich betrafen?!

Doch siegte Hebbel. Der wohlwollende Sinn des deutschen Königs Christian des Achten lehnte alle Verhetzungen ab. Der hoffnungsvolle Dichter konnte auf drei Jahre Frankreich und Italien besuchen.

„Mich drängte es doch,“ erzählte er, „da ich einmal in Kopenhagen war, den alten Adam Oehlenschläger zu besuchen. Er lebte noch, war Conferenzrath und hochbetagt. Die deutsche Sprache war ihm von je geläufig. Da ihm die neuere dänische Literatur ein Gräuel geworden war, so hatte ich einen Verbündeten in ihm. Ich erzählte ihm meinen Bildungsgang. Er nahm den lebhaftesten Antheil. Allmählich kam ich durch Zufall auch auf Shakespeare. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich in eine lange bewundernde Charakteristik desselben hineinredete. Oehlenschläger wurde einsilbiger. Ich brach immer mehr in Begeisterung aus, pries Shakespeare’s Kenntniß der menschlichen Seele, seine Macht des natürlichen Ausdrucks, seinen Bilderreichthum. Oehlenschläger wird völlig stumm und hört nur noch zu. Ich komme auf einzelne Charaktere, auf den Othello und die Eifersucht, auf den Macbeth und den Ehrgeiz – plötzlich springt mein Alter mit den langen weißen Haaren vom Sopha, stellt sich mit seinen weit aufgerissenen blauen nordischen Augen vor mich hin und schreit mich wie ein Wilder an: ‚Herr, jetzt hören Sie auf! Andere Leute haben auch etwas geleistet.‘ Ich konnte nichts Besseres thun, als eiligst meinen Hut suchen, um mich vor dem alten Berserker in Sicherheit zu bringen.“

Man sieht, die moralische Prüfung verwandter Genien ist beim allzu zärtlichen Geliebkostwerden des einen für den anderen nicht eben gering.




4.


Und noch ein Zeichen von Selbstbewußtsein der Dichter, das mir der wackere Veteran Eduard Genast in Weimar erzählte.

Zu den Vielen, die, wenn sie einmal in Weimar gewesen, den Versuch machten, die Excellenz Goethe zu sehen und zu sprechen, gehörte eines Tages auch Ernst Raupach.

Der Verfasser der vergessenen „Schleichhändler“ hatte erst in späteren Jahren angefangen, der Muse zu huldigen. Das Schicksal hatte ihn früh von Schlesien nach Petersburg verschlagen. Er wurde Lehrer der Geschichte an der Petersburger Universität, bekleidete demnach einen schweren Posten in den trübsten Zeiten der neuern Geschichte, wo ohne Zweifel seine Collegienhefte nicht selten durchgesehen, mancher seiner Vorträge von einem prüfenden Officier in Epauletten oder einem Chef der obersten Censurbehörde assistirt wurde. Raupach brachte vielleicht in Folge dessen nach Deutschland jenen von ihm bekannten brummischen kurzangebundenen Charakter wieder zurück, der indessen eine vortreffliche Zugabe zu dem Berufe wurde, den er von jetzt an wählte. Denn Grobheit am Dramatiker wird gefürchtet und beachtet. Man gewährte wenigstens in Berlin dem von obenher Protegirten, was er wollte.

Raupach hatte erst einige Trauerspiele, „Die Fürsten Chawansky“, „Die Erdennacht“, geschrieben. Der Verkehr zwischen Petersburg und Weimar war der lebhafteste, und Raupach kam auch nach Weimar mit den glänzendsten Empfehlungen. Im Jahre 1823 hatte man in Weimar „Die Erdennacht“ aufgeführt. Eckermann berichtet Goethe’n darüber und schreibt, Excellenz hätten geäußert, das von ihm gelesene Stück behandle den Gegensatz zwischen Adel und Volk, „woraus sich“ – merkt auf, Ihr Hunderte von Leipziger Genossenschaftsmitgliedern! – „woraus sich,“ so urtheilte Goethe, „kein allgemein menschliches Interesse ergäbe.“ „Coriolan“ also, wo dieser Gegensatz ebenfalls dargestellt ist, gehört nach dieser Aeußerung nicht zu Shakespeare’s populären Stücken und die Bearbeitung des Herrn Commerzienraths Oechelhäuser scheint demnach unschuldig zu sein, wenn man diesen „Gegensatz zwischen Adel und Volk“ nach drei Vorstellungen in Berlin wieder zu den Acten gelegt hat.

Goethe schien sich eine Redensart angewöhnt zu haben, die seinen Jahren entsprach. Wer im Jahre 1749 geboren wurde, hatte wohl ein Recht, von den Nachgeborenen, wenn diese nicht an der Krücke gingen, als wie von „Kindern“ zu sprechen. „Ihr junges Volk“ oder „Ihr jungen Leutchen“ – das hätte er selbst zu Uhland und Rückert gesagt. Fürst Bismarck hatte früher auch so eine seltsame Angewöhnung. Noch aus seiner Junkerzeit übertrug er den Ausdruck „die Herren“ in seinen Reden auf seine liberalen Gegner, und das noch in Zeiten, wo man längst voraussetzte, der Geist besserer Erkenntniß sei über ihn gekommen. „Die Herren“ – es klang im Reichstage immer, wie das geringschätzende „die Herrschaften da drüben“.

Als Goethe, die Hände auf dem Rücken, auf- und niedergehend und sich wahrscheinlich auf den Tadel besinnend, der bei Eckermann verzeichnet steht, zu dem Professor Raupach mit den ungefähren Worten sich herabzulassen begann: „Ja, mein Lieber, wenn Ihr jungen Leute doch nur – das allgemein Menschliche festhalten wolltet! Aber das junge Volk denkt immer, wenn es nur einen Stoff theatralisch zurechtstutzen kann, dann sei es schon getroffen –“ da soll der damals fast schon fünfzigjährige Raupach – die Erzählung versicherte es – ebenfalls den Hut ergriffen und sich sofort mit den Worten empfohlen haben: „Excellenz, aus den Kinderschuhen bin ich herausgewachsen.“




5.


Die Erinnerung an die Feier eines Weinsängers und ein Moment aus dem Leben eines Dichters für die Bühne ruft aus vergangenen Tagen mir ein Bild zurück, das zu meinen schönsten auf der geheimnißvoll präparirten Silberplatte des Gedächtnisses gehört, mich an die Ufer des Rheines versetzt und an dessen schönsten, lieblichsten Theil, wo sich, zwischen Drachenfels und Rolandseck, Erhabenheit und Anmuth paaren. Worte, im Gedächtniß behaltene, der Aufzeichnung werthe, sind dabei gewiß gesprochen worden. Aber die Fülle war zu groß, sie kann nicht wiedergegeben werden. Nur die Situation als solche verdient nicht ausgelöscht zu sein. Hält doch der Maler einen einfachen Abend in der Laube an einem Felsenabhange auf der Leinwand fest, ein Gelag unter einem Rebendach am Drachenfels, lachende Gesichter, Umarmungen der Alten und Jungen, die funkelnden Gläser, der Mond, unten im Fluß sich spiegelnd und all sein goldnes Licht durch die Zweige, durch die beglückten Mienen der Menschen zerstreuend – doch es war ein ganzer Tag voll echter Rheinlust, der mir so in der Erinnerung lebt.

Noch könnte ein Lebender die Wahrheit meines Bildes bestreiten, Levin Schücking. Der allbeliebte Erzähler wird es nicht. Denn auch zu seinen „schöneren Stunden“ muß der herrliche Tag gehören; wir feierten ihn mit seiner leider zu früh dahingegangenen Gattin, der geist- und gemüthvollen Schriftstellerin Luise von Gall, und mit Roderich Benedix. Die Fahrt war von Köln bis Bonn mit Dampf gegangen, von dort nach Remagen im Zweigespann. Wir lohnten letzteres ab, um nach einem Mittagsmahl am Fuß der Apollinariscapelle zu Wasser nach Köln zurückzukehren. Die Sonne hatte sich jedes Wölkchen für diesen Tag verbeten. Der Rhein, hier in seiner Ausdehnung einem See gleichend, zeigte sich in seiner ganzen bekannten hierortigen Herrlichkeit.

Zwei Dramatiker, zwei Novellisten, alle vier zugleich, wenn sich Gelegenheit bot, auch wohl Kritiker und Feuilletonisten, lieferten Gegensätze, Stoff zur Debatte genug. Luise von Gall vermittelte nach Frauenart. Sie hatte die Welt, die Gesellschaft gesehen, kannte kleine Höfe und unterschied treffend die Verschiedenheit der Individualitäten. Ihr Gatte, dem der befreundete Freiligrath bekanntlich „Gespensteraugen“ angesungen hat, das heißt Augen, die im Stande sein sollen, Gespenster zu sehen, hatte nicht blos in das Reich der Ahnung, nicht blos in die alten Schlösser westfälischer Grafengeschlechter forschende und von viel Unheimlichem magnetisch angezogene Blicke geworfen, sondern kannte auch die Zeit und Menschen des hellen lichten Tages nach allen Richtungen hin aus freisinnigem Grunde. Benedix war in jenem Humor, der ihn am Ende seines zu früh geschlossenen Lebens ein Buch gegen Shakespeare schreiben ließ. Er beklagte sich über mangelnde literarische Anerkennung, obschon er dem ebenfalls am Steuerruder der schwankenden Bühne sitzenden Collegen selbst keinen Fetzen von ebensolcher Waare zukommen ließ und als späterer Frankfurter Intendant kaum noch seine [319] Collegen kannte. Meine Huldigung, die ich dem glücklichen Erfinder, dem oft so sinnigen und feinen Verknüpfer einer trefflich angelegten Intrigue, namentlich seinem technisch wahrhaft meisterlich aufgebauten „Vetter“ brachte, war durchaus aufrichtig gemeint und nur in dem einen Wort mag einige Ironie gelegen haben: „Sie müssen ja immer Glück haben mit Ihren Stücken; denn fast alle fangen sie mit einer Hôtelscene an, mit: Kellner, eine Flasche Wein! Da ist der Deutsche sogleich gewonnen.“

Der Wein spielte denn auch beim Mahle im Freien, im Wirthsgarten am Rhein, eine nicht unwesentliche Rolle. Sanft begleitete unser Gespräch die in den weichen Kiessand am Ufer sich verlaufende Welle. Kam ein Dampfer vorüber, so rauschte die Fluth. Zum Pessimismus wäre hier jetzt Niemand von uns geneigt gewesen. Bewußt oder unbewußt – unsere Lehre hieß nur: Pflücke den Tag und leg’ ihn wie eine Blume zum Trocknen in das Herbarium deiner Erinnerung! Nutze ihn aus als Etwas, das nicht an den ewigen „Kampf um’s Dasein“ erinnert, der leider keine Fabel ist! Denn nicht unmöglich, daß das Praktische im Schriftstellerleben, die Honorare der Bühnen, die Auflagen der Verleger die stärkste Partie unsrer Gespräche bildeten.

Das Mahl war vorüber. Eine kurze Rast wurde noch im Garten gehalten. Wir dachten an die Heimfahrt im Nachen. Plötzlich überfiel Benedix die Badelust. Die Sonne brannte. Der vom Weine glühende Mann, stark gebaut, gerötheten Antlitzes, hätte sich den Tod holen können. Wir redeten ihm ab, dem Gelüste zu folgen, aber nun kam sein Ehrgeiz mit in’s Spiel. Es war auf ein Kraftstück à la Ernst Mahner abgesehen, den damaligen „Gesundheitsapostel“, der sich sogar des Winters in die Rhein- und Mainfluthen stürzte. Ein besonderes Boot wurde von Benedix gedungen, noch eine volle Flasche Wein mitgenommen, und nun fuhr er hinaus, allen Dampfern, Schleppern, Flößen, allen ringsum aufgesteckten Wegzeichen zum Trotze; er gewann die Fahrstraße, die sonnenbeschienene wallende grüne Fluth. Uns blieb nichts übrig, als die Zeche abzumachen, rasch einen zweiten Kahn zu miethen und dem Wagemuthigen zu folgen.

Um der Dame den Anblick des sich völlig bis zu adamitischer Nacktheit Entkleidenden zu entziehen, lenkten wir unser Fahrzeug in’s Schilf am Fuße der Capelle ein und streiften durch die verhüllenden grünen Vorhänge so lange hin, bis wir beim Einbiegen in die bewegtere Strömung den schon in die Fluthen gesprungenen kühnen Schwimmer mit Armen und Beinen rudern sahen. Dieser ersten Arbeit folgte dann bei ihm eine wohlige Ruhe, eine gleichmäßige Bewegung; der Strom oder unsichtbare Delphine schienen den Dichter sanft zu tragen. Das deutsche Lustspiel da so mitten in den grünen Wellen des Rheins! Jetzt wendete sich der kühne Schwimmer auf den Rücken und ließ sich nur vom Strome wiegen, und der Schiffer im Kahne, der ihm nahe blieb, mußte ihm die Flasche reichen. Das störte etwas das Bild. Es war nicht mehr der Meerkönig mit der Krone von Binsenkraut! Die Flasche wurde an den Mund gesetzt und dann auf den Bauch gestellt. Mein Idealismus murmelte: Doch Ernst Mahner! Aber es blieb doch der Eindruck: „Das bemooste Haupt“, „Doctor Wespe“, „Der Steckbrief“, „Der Vetter“ – schwimmen da mitten auf dem Rheine –! Im späteren Gedenken der uns nun entschwundenen unerschöpflichen Erfindungskraft, des zusammengebrochenen, zu Staub gewordenen, kraftvollen, breitschulterigen Mannes mit dem schöngepflegten Barte, des nur erfreulichen, wohlthuenden Bildes, das Roderich Benedix von seinem Leben und Schaffen hinterlassen hat, verwandelt sich dieser Zug kraftvollen Selbstgefühls und muthiger auf seine Muskelkraft vertrauender Entschlossenheit, besonders durch den Ort und die Zeit, und sagen wir selbst durch die applaudirende Zeugenschaft, zu einem Literaturbilde, das sich zum Glück ohne nachtheilige Folgen abschloß.

Es fand sich wieder ein Schilfgehege, das der Dame die Garderobe des aus dem Flusse Steigenden entzog; der zweite Kahn ruderte zu uns herüber und wurde abgelohnt. In Königswinter bestiegen wir das Dampfboot, das uns wohl und glücklicher Laune nach Köln zurückbrachte.




6.


Täglich gehe ich jetzt an den Fenstern eines kleinen Universitätshörsaales vorüber, in welchem schon viel bedeutsame Worte gesprochen worden sind und noch jetzt gesprochen werden.

Einen Moment möchte ich festhalten, wo ich mich vor vielen Jahren zufällig veranlaßt fühlte, in dieses Auditorium der Heidelberger Universität einzutreten. Ich wollte mir ein Bild von Schlosser’s, des berühmten Historikers, Art und Weise im Vortrage, seinem wunderlichen friesischen Accent, seinem zerrissenen Satzbau und ähnlichen Eigenheiten verschaffen, die oft von seinen Hörern scherzweise nachgeahmt wurden, oft zum heitern Gelächter im Kreise alter Heidelberger Studiengenossen dienten.

Vor einer verhältnißmäßig ansehnlichen Zuhörerschaft behandelte Schlosser die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, bekanntlich das wahre Tummelfeld seines Ruhmes. Sein Vortrag führte ihn gerade an jenem Tage, wo ich hospitirte, auf die Lage Friedrich’s des Zweiten von Preußen im Jahre 1757, wo ihn die Umstände des Krieges zwangen, bald dahin, bald dorthin einen Streich zu versetzen, sich aber nicht zu weit vorzuwagen und bedeutende ausgreifende Unternehmungen zu vermeiden. Friedrich war damals bedrängt von allen Seiten. Schlosser schilderte das glänzende Ergebniß des Tages von Roßbach: dreiundsechszig Kanonen, zweiundzwanzig Fahnen, siebentausend Gefangene, worunter allein dreihundert Officiere. Als sein Vortrag auch den jähen Schrecken der Flucht erwähnte, das Entsetzen vor Seydlitzens Kürassieren, die Eile der verfolgenden Husaren, da brach über die Hasenfüßigkeit der von Madame de Pompadour ernannten pommadirten Generale im ganzen Auditorium ein jubelndes Gelächter aus. Der alte Schlosser hatte diese Wirkung seiner Erzählung nicht gewollt und stutzte. „Lachen Sie nicht, meine Herren!“ rief er mit erhöhter kräftiger Stimme. „Zu allen Zeiten sind die Franzosen tapfer gewesen. Von Julius Cäsar an bis jetzt ist es eine Nation voll Bravour. Sie waren nur schlecht commandirt.“

Ob wohl ein Geschichtsprofessor der Sorbonne oder sonstwo in Frankreich, wenn dieser die jähe Flucht der Erben des Lorbeers von Roßbach bei Jena im Jahre 1806 erzählt und die Zuhörer ebenfalls vor Jubel über den alten steifen General Möllendorf lachen, eine entsprechende Aeußerung thun würde über die Deutschen und unsern Ruhm der Tapferkeit von des Tacitus’ Zeiten an?




Ehestandsdifferenzen.


(Schluß.)


„Nicht, daß gelegentlich die ‚Frauenfrage‘ rücksichtslos discutirt wird,“ fuhr der Meister mit einem lächelnden Blick nach seiner Schülerin fort. „Das müssen sich diejenigen gefallen lassen, die als gleichberechtigt in die Schranken treten wollen, aber daß im geselligen Verkehr, wie im Innern des Hauses von vielen deutschen Männern ein Uebermaß von Formlosigkeit zur Schau getragen wird, was nahe genug an die Rohheit streift, das dürfte nicht zu leugnen sein. Das war’s auch, was ich vorhin unter der Schuld der Männer verstand.“

„Sollen wir’s vielleicht machen, wie die Franzosen, die den Hut in der Hand mit Madame sprechen, um sich hernach anderswo für den ausgestandenen Zwang zu entschädigen?“ rief Franz.

„Die Hand an den Hut, wenn Du Deiner Frau auf der Straße begegnest, könnte Dir nicht schaden,“ erwiderte Arnold, „und im Uebrigen ist auch bei uns die Grobheit kein ganz untrüglicher Maßstab der ehelichen Treue. Ueberflüssig ist sie jedenfalls und schädlich dazu, denn sie verdirbt den Ton im Hause, lehrt die Herren Söhne mit der Mutter gleichfalls respectlos umgehen und streut so viel Widerwärtigkeit in das Leben, daß die Leute zuletzt ohne eigentliches Unglück nicht mehr glücklich sind. Man sollte wirklich meinen, die Höflichkeit sei nur für Solche, die wir nicht lieben und unsere Nächsten hätten das ausschließliche Recht auf Rücksichtslosigkeit und übele Laune. Ja, ja, lieber Freund,“ fuhr er kopfnickend fort, als sein Schwager [320] wieder Einsprache thun wollte, „dort sitzt ein Haken, der schon manches Glück zerrissen hat. Und manche Vernunftehe ist über Erwarten gut ausgefallen, weil die Gatten sich von vorn herein einer gewissen Rücksicht befleißigten, die fortdauert, wenn die verliebten Leutchen, die sich noch vor drei Monaten wonnevoll Alles an den Augen absahen, schon dreimal am Tage über einander in Harnisch gerathen. Die guten Formen sind überall nothwendig, am nothwendigsten aber zwischen Freunden und Eheleuten, damit man nicht vor lauter Aufrichtigkeit in das plumpe Sichgehenlassen geräth, welches alle Grazie und Poesie ausschließt. Darüber wacht, ihr Frauen, und laßt kein häßliches Wesen im Hause aufkommen, zeigt Euren Männern den Weg zur ‚idealen Existenz‘, statt sie sechs Wochen nach der Hochzeit zu den unerfüllbaren Träumen zu legen! Wir selber danken es Euch am meisten, wenn Ihr diese Forderung erfüllt. Ihr versteht es ja, das so liebenswürdig zu machen, wie die hier, die Haus, Kinder und Mann am Fädchen hat und dabei noch thut, als wüßte sie gar nichts davon.“

„Sei still!“ sagte Felicitas und legte ihm die Hand auf den Mund, „solche Reden schicken sich gar nicht für einen alten Ehemann, wie Du bist.“

Während er sie an sich zog, sagte die Tante trocken: „Du hast gut lachen, könntest auch lange suchen, bis Du wieder so Eine findest.“

„Ganz meine Ansicht,“ rief Doctor Pfefferkorn. „Die Herrschaften betrachten ihren Ausnahme-Standpunkt auf dem Berggipfel als den allgemeinen. Aber sehen Sie doch einmal, was sich da drunten im Thal auf der großen Heerstraße fortwälzt in Schweiß und Staub und trostloser Mühsal, in ewig wiederholtem Kampf um das gemeine Tagesbedürfniß, fern von Ihren idealen Lorbeerhainen und Musentempeln, von kleinen Leidenschaften bewegt, mit elend ausgebrannter Liebe, wenn man Das, was sie zusammenführte, überhaupt so nennen kann – puh!“ er schüttelte sich, „und dann sprechen Sie weiter, wenn Sie das Herz haben, von Ihrer Weltverbesserung!“

„Gerade darum!“ sagte Felicitas tief erregt, „Arnold hat tausendmal Recht, gerade darum! Wenn die Menschen mühsam ringen und streben und um ihr tägliches Brod kämpfen müssen, so sollten sie nicht vergessen, daß der höchste Schatz des Lebens, ohne welchen alle Glücksgüter nur leerer Schein sind, nicht von äußeren Dingen abhängt, sondern Jedem zu Theil wird, der ihn zu heben weiß. Wie hundertfach ist es vorgekommen, daß zwei Menschen, die sich innig liebten, in den härtesten Schicksalen treu zusammen hielten und in ihrer Liebe glücklich waren! Warum sollen denn die kleinen täglichen Widerwärtigkeiten, die mit gutem Willen alle zu überwinden sind, mächtiger auf das Menschenherz wirken, als Noth und Tod?“

„Aus demselben Grunde, warum ein Löwe leichter zu erlangen ist, als ein Schwarm Mücken,“ versetzte der Professor. „Außerdem übersehen Sie, verehrte Freundin, die mächtige Wirkung der Zeit auf das menschliche Gemüth. Die Abkühlung ist natürlich, denn die Liebe hat ihre von der Natur bestimmten Stadien, welche der Einzelne ganz ohne sein Zuthun durchmacht, und es ist unmöglich, etwa im dritten oder vierten mit Gewalt das erste wieder erneuern zu wollen. Das letzte ist die Freundschaft, wenn die Beiden geistig harmoniren, und die Gleichgültigkeit, wenn dies nicht der Fall. Stillschweigend giebt man das in der Praxis zu, und weil eben die meisten Ehen von der einen Seite aus Verliebtheit, von der anderen mit Rücksicht auf die Versorgung geschlossen werden, so kommt dann, wenn die Illusionen verflogen sind und man sich in die guten Verhältnisse gewöhnt hat, das Mißbehagen und die gegenseitige Kritik. Allerdings spielt dafür bei uns die Eifersucht nicht entfernt die Rolle, wie bei den lateinischen Racen, wo der Einzelne es mit dem Wechsel der Person nicht genau nimmt, wenn es gilt, seinen Anspruch auf irdisches Glück durchzuführen.“

„Dazu kann sich die germanische Race gratuliren,“ sprach Doctor Aegidius voll Ueberzeugung. „Die Eifersucht ist und bleibt doch die abgeschmackteste aller Leidenschaften. Ueberflüssig, so lange man geliebt wird, höchst überflüssig, wenn dies nicht mehr der Fall, schadet sie nur der Verdauung und gewährt nicht einmal einen Genuß, wie andere üble Gewohnheiten. Nein, dieses Laster wäre nie das meinige gewesen.“

„Dafür haben Sie ein Dutzend andere,“ sagte seine Freundin.

„Nur schade, daß man mit allen Vernunftgründen gegen ein so natürliches Gefühl nichts ausrichtet!“ erwiderte die Hausfrau. „Ich meine damit nicht die tollen Ausbrüche einer grundlosen Eifersucht, sondern die schmerzliche Angst, zu verlieren, was man am meisten liebt, ohne dagegen ankämpfen zu können. Nur geben viele Frauen ihre Sache allerdings zu früh verloren, weil sie über ihren eigenen Werth zu kleinlich denken.“

„Die Frauen, warum gerade die Frauen? Wir sprechen ja im Allgemeinen,“ fragte boshaft der Doctor. „Oder sollten die Frauen bei uns mehr Ursache zur Eifersucht haben, als die Männer, während es anderwärts umgekehrt ist?“

„Allerdings,“ erwiderte Felicitas, „und den Grund werde ich Ihnen nicht zu sagen brauchen.“

„Nein,“ rief er voll Vergnügen, „aber ich werde ihn Ihnen sagen, und wenn Sie mir auch nachher mit vereinten Kräften den Kopf herunterreißen. Die meisten deutschen Frauen stecken nach der Hochzeit das Interessantsein gänzlich auf, weil es eben nur ein Mittel zum Zweck war und der Zweck erreicht ist. Die poetische Rose verwandelt sich äußerst schnell in eine nutzbare Kartoffel und ist als solche vor indiscreten Schmetterlingen sicher. Ader ein gewisses unangenehmes Gefühl davon hat man doch, und wehe, wenn dann einmal so ein fremder Vogel hereinkommt und die alten Ehemänner anfangen sich nochmals zu begeistern. So etwas kann lebensgefährlich werden.“

„Pfui, pfui, Sie abscheulicher Verleumder!“ erschallte es in großer Entrüstung, auch die Herren versäumten nicht, ihren tiefgefühlten Abscheu gegen die lästerlichen Reden des Doctors kund zu thun, der sich indessen sehr gemüthsruhig wieder das Glas füllte.

Unter den Aufgestandenen war Olga ein paar Schritte seitwärts getreten, und Richard benutzte die allgemeine Aufregung ihr leise zu sagen: „Kommen Sie, Fräulein Olga! Wir als die Unbetheiligten setzen uns dort unter die große Palme. Sie müssen mir noch einen Rath für mein Bild geben. Wenn die Leidenschaften hier den Siedepunkt erreichen, interveniren wir.“

Während die Beiden lachend dem Hintergrunde zuschritten, hatten die Anderen auf das Zureden der Hausfrau wieder Platz genommen, und sie selbst sagte eben: „Es ist auch zudem gar nicht wahr, die Untreue kommt bei uns sehr selten vor, und der Grund ist einzig und allein, daß Männer und Frauen pflichttreuer sind als anderswo.“

„Aber dadurch nicht liebenswürdiger,“ warf der Professor ein. „Man steift sich auf seinen tadellosen Lebenswandel und macht sich gegenseitig das Leben sauer –“

„Mit germanischer Gründlichkeit,“ ergänzte der Doctor unbeirrt, „wie ein Landregen, der nimmer aufhört. Aber wo ist die Frau, die nach einem ehelichen Spectakel, wenn der Mann meinetwegen grob und gefühllos – so heißt es ja wohl meistens? – gewesen ist, von selbst käme und sagte: ‚Ich bin Dir wieder gut.‘ Vor dieser Frau wollte ich knieen, aber so lange die Welt steht, ist das noch nicht vorgekommen.“

„Wäre auch noch schöner,“ rief die Tante erbost. „Das hieße ja ordentlich eine Prämie auf seine Grobheit setzen.“

„Das würde ihn sicherer davon curiren, als der bis jetzt beliebte Modus des Schmollens und Forttrotzens. Es muß einen unendlichen Genuß gewähren, dieses tagelange Herumgehen mit dem Gesichte voll Wetterwolken, die nur auf das Stichwort warten, um ihre Thränenschleußen zu öffnen.“ Er lachte vor sich hin.

„Ein gefährlicher Genuß ist’s,“ sagte Arnold. „Die erste Versöhnung nach kurzem Schmollen ist entzückend. Man glaubt, sich noch viel lieber zu haben als vorher, und im Anfange entschädigen solche Versöhnungsscenen für den vorausgegangenen üblen Eindruck. Nach und nach aber verlieren sie bedeutend an Reiz und Süßigkeit und werden zuletzt der Zeitersparniß halber weggelassen, während man sich die heftigen Reden nicht mehr abgewöhnt. Der Anfang entscheidet hier Alles. ‚Käthchen, hüte Dich vor dem Ersten!‘ pflegte ein gemüthvoller Russe zu seiner jungen Frau zu sagen – er gehörte jedenfalls einer früheren Generation an, Fräulein Olga,“ rief er nach der Palme hinüber. „Aber wo ist sie denn? Sie stand ja eben noch mit Richard dort.“

[321] „Er zeigt ihr das Gewächshaus,“ erwiderte Agnes ironisch, „man kann dort ungestört ein Kunstgespräch führen. Uebrigens, Herr Doctor Frauenfeind, lassen Sie sich sagen, daß das Gesichterschneiden nicht allein bei uns vorkommt. Ich kenne Männer, die auch drei Tage lang wie die Löwen im Hause herumgehen – da fragt es sich eben nur, wer Recht hat.“

„Nein, es fragt sich, wer nachgiebt,“ erwiderte ihr Gegner rasch, „und wenn die Frauen klug wären, würden sie niemals einen Ehrenpunkt aus dem Rechtbehalten machen. Sie verlieren nichts an ihrer Ehre durch’s Nachgeben, selbst wenn sie Recht haben, und werfen uns gerade damit den Zaum am sichersten über den Nacken. Ach, wenn sie es nur wüßten, wie leicht der Thron zu ersteigen ist, zu dem so Viele ihr Lebenlang auf der verkehrten Seite hinaufwollen!“

„Wir begehren gar nicht nach der Herrscherwürde,“ erwiderte Agnes vorsichtig.

„Aber nachgeben ist leichter gesagt als gethan, die Gelegenheit dazu sieht immer verdrießlich aus, und man möchte lieber auf eine dankbarere Weise tugendhaft sein. Da werden das Jahr durch Romane nach Dutzenden gelesen und wenn es so recht edelmüthig darin zugeht, sagt man sich mit glühenden Wangen: Gerade so würde ich’s machen. Wenn die Gelegenheit käme, daß ich um seinetwillen mit einem Federzuge eine Million opfern oder ihn mit Gefahr meines Lebens aus den Händen seiner Feinde retten könnte, dann sollte er sehen, der Undankbare, der mir gestern wegen eines abgerissenen Hemdenknopfes eine solche Scene machte. – – Aber es ist schrecklich, daß man sich heut zu Tage gar nicht mehr aufopfern kann.“

„Diesmal haben Ihre Uebertreibungen einen Grund,“ sagte Felicitas, „und aus diesem Punkte wären drei Viertel aller Ehestandsdifferenzen zu curiren. Die meisten Menschen ziehen geflissentlich alle Prosa des Lebens in die Ehe hinein und bewegen sich nun so zufällig darin fort, wie eben jeder Tag kommt, statt aus der höchsten und schönsten menschlichen Vereinigung die Widerstandskraft gegen die Kleinlichkeit des Lebens stets neu zu schöpfen. Was könnten die Ehen sein, wenn die Menschen und, ich muß es sagen, wenn besonders die Frauen den großen Begriff der Pflicht hätten, einer Pflicht, die nicht allein im Hemdenbügeln und Kochen, in den tausend täglichen Kleinigkeiten besteht, sondern in der geistigen Gemeinschaft, in völliger Hingabe der ganzen Person mit allen Kräften und Fähigkeiten an einen Beruf, der wahrlich, so erfaßt, zu dem höchsten menschlichen gehört! Wie ist es möglich, daß bei so Vielen die Begeisterung der Brautzeit, zu welcher sogar der Ledernste einige Anstrengungen macht, so bald, so kläglich erlischt, daß man selbst nicht daran zurückdenken mag? Was verstehen denn die Menschen unter ihrer ‚Idealität‘, von der sie doch alle gelegentlich sprechen, die besonders immer als Haupteigenschaft der Frauen gepriesen wird?“

„Wenn man eine Sache lang behauptet, fällt es zuletzt Niemandem mehr ein, nachzusehen, ob sie Grund hat,“ versetzte der Doctor. „Es ist mit anderen Dingen ebenso. Man geht in die Kirche: ‚Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst.‘ Kleinigkeit! ‚Liebet Eure Feinde!‘ – natürlich, wer liebt sie nicht? Dafür sind wir ja Christen und hören das jeden Sonntag und lieben bekanntlich unsere Feinde, um uns dadurch von Heiden und Türken zu unterscheiden. Die höchste Leistung des Menschengemüthes haben wir ohne besondere Anstrengung mit vierzehn Jahren schon weg – in der Kirche natürlich, denn draußen – die geringste Beleidigung, und haushoher Zorn lodert in den frommen Herzen.“

„Das theologische Rüstzeug steht Ihnen ausgezeichnet,“ rief Agnes spöttisch.

„Finden Sie? Das freut mich. So darf ich auch wohl meinen Schluß dazu setzen, daß es mit der selbstverständlichen Idealität geht wie mit der selbstverständlichen Nächstenliebe – bei näherem Zusehen findet sich keine Spur davon.“

„Doch, doch,“ rief Felicitas lebhaft, „sie ist vorhanden, aber sie kennt nicht den rechten Weg, um herauszukommen. Man hat bei uns viel zu sehr die Gewohnheit, große Empfindungen und tägliches Leben zu trennen, statt einzusehen, daß im Gegentheil das Ideal auf Schritt und Tritt mit uns gehen kann und gehen muß, wenn wir den rechten Maßstab für Kleines und Großes behalten sollen. Dieselben verdrießlichen Frauen, die nicht um Alles eine Wäsche drei Tage aufschöben, wenn ihr Mann es wünschte, sie würden bei einer großen Gelegenheit ohne Zögern und freudig ihr Leben für ihn und ihre Kinder opfern, wie sie es factisch in kleinen Stücken das ganze Jahr über thun, freilich ohne dadurch Glückliche zu machen oder selbst glücklich zu sein.“

„Zwei gewichtige Worte,“ sagte der Professor. „Wenn nur der Weg nicht so schwierig wäre, Beides zu erreichen!“

„Eins folgt aus dem Andern“ rief Felicitas. „Ich stehe nicht an, es auszusprechen, was in mir schon längst als innigste Ueberzeugung lebt: Das Glück oder Unglück der Ehe liegt hauptsächlich in den Händen der Frau und glücklich machen heißt glücklich sein. In diesen beiden Worten ist Alles enthalten.“

„Wenn man sich liebt,“ sagte der Doctor. „Hilft Ihre Formel auch für die Fälle von ‚klein wenig oder gar nicht‘?“

„In diesen sogar glänzend, denn hier rettet sie vor dem Gefühle des verfehlten Lebens. Wenn eine Frau sich entschließen kann, die Frage, ob sie sich selbst glücklich fühlt oder nicht, einstweilen auf ein paar Jahre zu vertagen und inzwischen frisch anzugreifen und ihre Schuldigkeit im weitesten Umfange zu thun, ohne langes Besinnen und Grübeln, so wird sie nach Ablauf dieser Jahre gar keine Frage nöthig haben, um zu wissen, daß sie glücklich ist und einen dankbaren Mann zur Seite hat. Es giebt ein so ausgezeichnetes Mittel, das unnütze Bedauern mit sich selbst zu vermeiden und die Augen offen zu halten – die Frage: wo habe ich gefehlt? Wer sich gewöhnt, bei jedem beginnenden Verdruß darauf die Antwort zu suchen, der findet sie in den meisten Fällen und damit zugleich die Möglichkeit der Abhülfe. Das Andere aber ist – seinen Kampf schweigend kämpfen und keinen Dritten in die Verstimmung zwischen Eheleuten hereinblicken lassen. Die schwersten gehen vorüber; wenn Niemand davon weiß, sind sie nicht gewesen, und die Welt sieht nach wie vor eine glückliche Familie.“

„Das ist sehr wahr,“ sagte Franz reumüthig und faßte nach der Hand seiner Frau, die ihm willig überlassen wurde. „Die Menschen jagen immer nach Reichthum, Ansehen, äußeren Erfolgen und sind unglücklich, wenn sie ihr Ziel nicht erreichen und Niemand sie beneidet. Daß aber der Anblick eines glücklichen und friedlichen Hauses auch ein sehr beneidenswerther ist und daß es nur von ihnen allein abhängt, ein solches zu schaffen, daran denken die Wenigsten.“

„Die Wenigsten haben auch die Fähigkeit dazu,“ sagte der unverbesserliche Doctor. „Gehen Sie mir mit Ihrem Utopien! Wenn es Ihnen einmal glückt, alle ‚federlosen Zweifüßler‘ zu vernünftigen Menschen zu machen, dann kann das tausendjährige Reich gleich seinen Anfang nehmen, aber bis dahin ist’s noch weit.“

„Ich zweifle auch, daß wir Beide das erleben,“ erwiderte sie lächelnd, „und meine Wünsche beschränken sich auf viel erreichbarere Dinge. Ich möchte, daß unsere Mädchen wirklich gebildet und erzogen würden, wie sie es brauchten, um dereinst fest im Leben zu stehen mit hellem Kopf und einem Charakter, der durch vernünftiges Denken stark geworden ist. Ich möchte das gleichgültige Wesen ohne Geist und Grazie aufhören sehen, das so mechanisch weiter lebt und sich für gut hält, weil es nichts Schlechtes verübt, diesen geistigen Schlendrian, der zuletzt alle besseren Anlagen erstickt. So lange die Frauen von großen, allgemeinen Dingen nur hören und sprechen, um dem betreffenden Mann einen Eindruck zu machen, nicht aber um der Sache selbst willen, so lange man immer ‚Interessen‘ hat und dabei nie etwas lernt, so daß der Kopf mit Vierzig gerade so confus ist, wie mit Zwanzig, so lange ist die Frau freilich weit entfernt, die Stellung auszufüllen, welche ihr die moderne Sitte anweist. Wir haben bis jetzt den Schein statt des Seins, ich lebe aber der sicheren Hoffnung, daß die überall beginnende Reaction gegen das Halbwissen der Institutserziehung, welches schlimmer ist als Nichtwissen, eine bessere Geistes- und Charakterbildung anbahnen wird, daß die Zeiten einmal aufhören, wo der Mann über Beschränktheit und Empfindelei, als unvermeidliche weibliche Eigenschaften, den Kopf schüttelt und brummt: so sind sie eben. Wenn die Frauen einmal die reichen Bildungsmittel, die ihnen ohne alle Emancipation heute schon zu Gebote stehen, aufnehmen und verarbeiten, statt sich ihrer schnellmöglichst zu entledigen, um sich den Kopf mit nichtigem Kleinkram zu füllen, dann werden die Männer mit Ueberraschung erkennen, was es heißt, an seiner Frau die [322] ebenbürtige Gefährtin zu haben, die Freundin des Geistes und die Frau des Herzens. Wenn wir einmal so weit sind, dann wird die deutsche Ehe das sein, als was wir sie heute nur halbberechtigt preisen hören, die beste von allen. Glauben Sie mir, lieber Professor, einer solchen Ehe sind auch Ihre ‚Stadien‘ nicht gefährlich, denn das unsichtbare Band, das aus Geist und natürlicher Neigung zu gleichen Theilen gewebt ist, hält unzerreißbar fest. – Sie sehen,“ schloß sie mit dem anmuthigsten Lächeln, ich frage auch: Wo fehlen wir? Machen Sie es Alle ebenso, und vielleicht ereignet es sich dann einmal, daß unserer verstandesnüchternen Zeit die Erkenntniß aufgeht, es gäbe nichts Praktischeres, als das jetzt so sehr mißachtete Ideal, das unser Volk wie den Einzelnen in Zeiten der Noth innerlich groß und stolz und frei gemacht hat.“

Sie sah mit leuchtenden Blicken von Einem zum Andern und freute sich der Zustimmung, die auf allen Gesichtern zu lesen war.

„Amen! Hoffen wir!“ sprach der Doctor und stieß mit seinem Glase an das ihrige. Mitternacht ist längst vorbei, und mit der Theorie der Ehestandsdifferenzen wären wir im Reinen. Jetzt ist’s an Ihnen,“ wandte er sich zu Franz und Agnes, „die Sache praktisch zu betreiben, nur schade, daß wir nicht gleich mehrere Paare zu einer kleinen Versuchsstation beisammen haben!“

„Eines steht Ihnen noch zu Diensten,“ erscholl es hinter seinem Rücken, und im höchsten Erstaunen sich umdrehend, sah er Richard und Olga Arm in Arm unter der offenen Glashausthür. „Ja, verehrte Frau,“ fuhr der junge Mann zu Felicitas gewandt fort, während sich Alles fragend und glückwünschend um die Erröthende drängte, „Sie haben ihr den Ehrgeiz geweckt, und sie will nun der Welt zeigen, welch wunderbare Frau man sein kann, indem sie gegen ihre Grundsätze einen Deutschen heirathet, um ihn zum bessern Menschen zu erziehen.“

„Aber meiner Kunst bleibe ich dabei doch treu,“ rief ihm Olga neckend zu, indem sie dem Ehepaare die Hände entgegenstreckte.

„So lange Du kannst,“ erwiderte Felicitas und schloß sie in die Arme. „Wenn Du aber nicht mehr kannst,“ flüsterte sie ihr in’s Ohr, „dann denke, daß die Liebe für das Weib das Höchste ist, und sei glücklich darüber!“




Bis zur Schwelle des Pfarramts.

Von Heinrich Lang in Zürich.
Eine Welt aus Rand und Band.


Es war in den letzten Tagen des Februar 1848. Ich saß Abends zwischen vier und fünf auf der Museumsbibliothek, Bücher lesend und ordnend. Ein Lärm dringt von der Straße herauf, der immer lauter wird; ich trete an’s Fenster und öffne es. Drunten vor der Post hält ein Reiter auf schweißtriefendem Pferd, der einigen Umstehenden Dinge mittheilt, durch welche alle in die größte Aufregung versetzt werden. Ich schließe das Fenster und renne hinunter. „Louis Philipp gestürzt, die Republik in Frankreich proclamirt.“ Das war ein Funke in ein Pulverfaß. Längst hatte ich den Zorn über die Zustände der Kirche auf das Bestehende im Staat übergetragen, und Börne, Ruge, Heine, Herwegh hatten mir längst mit den Altären die Throne unterhöhlt. Frankreich eine Republik, das hieß in dem jugendlich erhitzten Gehirn, das keine Schwierigkeiten auf dem Wege sieht, sofort: Deutschland eine Republik. Ich stürmte mit pochendem Herzen in die Gesellschaft, die heute ihren dies academicus hatte, und rief in den Lärm des Kneiptages: „Louis Philipp entthront, Frankreich Republik.“ Man fragte nicht wie und wann und was; Alles löste sich in stürmischer Bewegung auf; man fiel einander vor Glück und Rührung in die Arme, brausende Freiheitsreden und Freiheitslieder erfüllten das Local und die Straßen, bis die Stiftsglocke rief. Am anderen Morgen eilte ich wieder auf das Museum, um alle von der Censur verbotenen Bücher, welche in einem geheimen Schranke aufbewahrt lagen, vor Allem Heine’s „Wintermärchen“, auf den Lesetisch zu legen. Man staunte über die Kühnheit, und auch mein Mitbibliothekar, Friedrich Vischer, dem die radicale Stimmung nicht fehlte, fragte bedenklich, ob denn das schon angehe. Aber es ging; denn es war keine Polizei mehr da. So war es durch ganz Deutschland. Nie hat man eine Welt schneller aus Rand und Band gesehen. Allen Gewalten war der jähe Schreck in die Glieder gefahren; jede Auctorität war gelähmt. Zum ersten Male nach langem Druck durfte man wieder reden und schreiben, was man wollte; der lang verhaltene Groll über Metternich und den deutschen Bund, in welchen Namen sich Alles zusammenfaßte, was das deutsche Volk an Schmach und Unfreiheit nach außen und innen erduldet hatte, machte sich mit Einem Male Luft in der Presse, auf der Straße, in Volksversammlungen. Die Luft schwirrte von Idealen und Wünschen, die in’s Maßlose schweiften; ein Volk von Denkern und Duldern sah sich über Nacht in ein politisches Volk umgewandelt, wenn man ein Schwärmen in’s Blaue ohne Klarheit und praktische Ziele Politik nennen will.

Bei uns in Süddeutschland wurde das politische Fieber gleich in den ersten Tagen noch gesteigert durch seltsame Gerüchte, die vom Rhein herdrangen: zweimalhunderttausend Franzosen seien in den Schwarzwald eingebrochen und bezeichnen, unaufhaltsam vordringend, ihren Weg durch Sengen und Brennen und Morden. Die erhitzte Phantasie solcher Zeiten glaubt Alles, aber wer wollte auch noch zweifeln, wenn er fliehende Familien aus Rottweil und Freudenstadt mit schwerbepackten Wagen ankommen sah und ihre haarsträubenden Erzählungen von dem weithin sichtbaren Rauche der brennenden Dörfer anhörte? Mir blutete das Herz bei dem Gedanken an meine armen Eltern und Geschwister; das Pfarrdorf meines Vaters, Schwenningen, lag nur drei Stunden hinter Rottweil. „Das ist von dem Lumpengesindel schon ganz überschwemmt,“ erzählte eine der geflüchteten Familien. Als endlich aus dem sechs bis sieben Stunden von Tübingen entfernten Städtchen Horb ein Abgeordneter, fast außer Athem vor Schrecken, ankam, von der Terrasse der neuen Aula aus eine Ansprache an die Studenten hielt und unter fürchterlichen Schilderungen von den Verheerungen, welche die vorwärts dringende Mordbrennerbande ringsum anrichte, sie bei allen Heiligen beschwor, seine bedrängte Vaterstadt zu retten, da lief, wie einst in den Tagen der Kreuzzüge, ein begeistertes: Gott will es! Gott will es! durch die Reihen der entzündeten Jugend, und der ergraute Professor Volz, der in früheren Tagen irgendwo eine militärische Charge bekleidet hatte, bot sich mit jugendlichem Feuer der Truppe zum Führer an in dem heiligen Kriege.

Sogleich sandte man nach Stuttgart um eine Ladung entbehrlicher Gewehre; in allen Schmiedewerkstätten hämmerte man Sensen, in allen Messerschmiedläden kaufte man Dolche; was einer Mordwaffe nur ähnlich sah, wurde hervorgeholt. Am zweiten Abend war die Ausrüstung fertig und das Bataillon formirt; es bestand aus fünf- bis sechshundert Mann; Niemand wollte zurückbleiben, außer wer keine Waffen mehr erhalten konnte. Nachts neun Uhr zog man aus, unter dem Absingen von Vaterlands- und Freiheitsliedern – gut, daß die Nacht den komischen Anblick verhüllte. In Rottenburg, dem Sitze des schwäbischen Bischofs, machte man Halt und nahm Erfrischungen ein. Aber seltsam! Das sehnlich erwartete Commando: Vorwärts, marsch! wollte nicht ertönen; man schrie über Feigheit; man murrte über den Feldherrn. Endlich, nach einigen Stunden ungeduldigen Wartens, hieß es: es ist alles nur blinder Lärm. Beschämt kehrte man um und kam gegen Morgen wieder in der Musenstadt an. Aehnliches begegnete an anderen Orten.

Man hatte damals nicht Zeit, nach der Quelle dieses seltsamen Franzosenlärms, der bis München gedrungen war, zu forschen; man vergaß das komische Intermezzo schnell ob den vorwärts drängenden Ereignissen und den raschen Bewegungen des öffentlichen Lebens. Vom Studium war natürlich keine Rede mehr. Unter denn Waffen schweigen die Musen. Die Stiftsordnung hatte überall Löcher bekommen. Eines Abends nach Tisch ertönt im Speisesaale der Ruf: Ferien, Ferien! Man schickt den Aufseher: Der Ephorus soll auf den Platz

[323]

Der Zweck heiligt das Mittel.
Eine harmlose Kreuzgeschichte von S. Hirschfelder in München.



kommen. Der Ephorus kommt, und nun ergreift einer der ernstesten und strebsamsten Jünglinge, ein wahres Muster von Fleiß und Ordnungsliebe, der früh verstorbene Theodor Riecke, das Wort und begründet mit sehr revolutionären Redewendungen die Forderung. Der Ephorus, der mehr als Philologe, denn als Pädagoge tüchtige Professor Walz, erklärt, daß Ferien zu ertheilen nicht in seiner Macht stehe; der hohe Studienrath habe da zu entscheiden. „Wir fragen Nichts mehr nach dem Studienrath,“ tönte es aus den Reihen. Anstatt die Schreier, wie es sich gebührte, in den Carcer abführen zu lassen, entfernte [324] sich der Mann erschrocken, setzte sich in derselben Nacht in die Post nach Stuttgart und brachte am anderen Tage die Ferien in der Tasche mit – vierzehn Tage oder drei Wochen früher, als die Studienordnung es mit sich brachte.

Aber so kam ich nun in die nächste Nähe des Revolutionsherdes. Denn Schwenningen, wo ich die Ferien im elterlichen Hause zubrachte, liegt hart an der Grenze Badens. Hier, in Baden, hatten Hecker und Struve ungeduldig die Fahne der Republik aufgesteckt. Ich machte Ausflüge nach Donaueschingen, Villingen, Triberg und fand überall die monarchische Gesinnung fast bis zum letzten Funken erloschen. Alles jubelte Hecker zu als dem großen Befreier von der Tyrannei der Fürsten.

Unterdessen wurden die Wahlen zum Parlamente ausgeschrieben. Ueberall stellten sich die Bewerber um einen Sitz dem Volke persönlich vor, bald in großen Bezirks-, bald in kleineren Gemeindeversammlungen. Vier bis fünf Stunden weit strömten ganze Caravanen nach Spaichingen, wo sämmtliche Bewerber vom Fenster des Rathhauses aus ihre Programme, respective ihre goldenen Berge dem mündigen Volke vortragen sollten. Zuerst sprach Menzel, der Stuttgarter Literat, unter dem Namen des Franzosenfressers bekannt; er redete gelehrt und doctrinär und erzählte ein Langes und Breites vom „vergeblichen Landtag“ und anderen Dingen, die das Volk nicht verstand. Er wurde ausgepfiffen und mußte zurücktreten. Darauf folgte Rapp, ein protestantischer Pfarrer, ein geborener Redner und talentvoller Schriftsteller. Er wurde anfangs gern gehört, als er aber in höchst drastischer Weise auf die Fürsten und ihre Lola Montez zu reden kam, machten ihm die hinter ihm im Rathszimmer stehenden Beamten und andere ordentliche Leute Vorwürfe und versuchten, ihn vom Fenster wegzuziehen, er aber wandte sich an das Volk und rief: „Die Herren da drinnen wollen daß ich nach ihrer Pfeife tanze, ich bin aber ein Pfarrer und darf nicht tanzen.“ Von dem Augenblicke an war er verurtheilt, das fühlte man. Am besonnensten und tüchtigsten sprach Rheinwald, wenn auch in meinen Augen zu reactionär; er erhielt nachher die meisten Stimmen.

So verliefen die langen Frühlingsferien unter politischer Aufregung. An das Examen, das in vier Monaten drohte, dachte man natürlich nicht. Anstatt in den Kirchenvätern zu lesen, übte ich mich im Schießen; anstatt der alt- und neutestamentlichen Exegese trieb ich die Grundrechte des deutschen Volkes. Als wir wieder in Tübingen einrückten, empfing uns das alte Stift mit strenger, vorwurfsvoller Miene. Mann für Mann mußte entweder seinen Austritt nehmen oder die Erklärung unterzeichnen, daß er sich von jetzt an den Ordnungen der Anstalt unterwerfen wolle. Alle thaten das Letztere, aber der Sturm, der einmal in die Zeit gefahren war, konnte so rasch nicht aus den jungen Köpfen getrieben werden.

Gleich in den ersten Tagen setzte ich eine Adresse an die Oberbehörde auf, in welcher nichts Geringeres verlangt wurde, als die Aufhebung des Stifts. Das sei ein gemeinschädliches Institut. Es locke Unzählige, die keinen inneren Beruf zur Theologie haben, zu dieser heran durch die materiellen Vortheile, die es biete, und erzeuge Dummköpfe oder Heuchler, und diejenigen, welche das Räthsel der Sphinx gelöst und den Muth haben, die gefundene Lösung auszusprechen, entlasse es untüchtig für die Kirche. Es sperre die Theologie von dem Strom des allgemeinen Geisteslebens ab in ein engbegrenztes Haus und bilde gedrückte, eckige, unpraktische Leute – und wie diese Dinge alle hießen. Und wirklich – der größere Theil der Zöglinge zeigte sich bereit, die seltsame Adresse zu unterzeichnen, bis es der Beredsamkeit eines Repetenten, Namens Lechler, gelang, Viele einzuschüchtern und zurückzuschrecken.

Ging es aber im stillen Hause der Studien so lebhaft her, so war draußen die Bewegung nicht geringer. Es hatte sich ein Bürgerverein gebildet, welcher alle die Aufgaben, welche dem engeren und dem weiteren Vaterlande erwuchsen, an die Hand nahm. Alles strömte herbei vom ärmsten Weingärtner bis zum höchsten Staatsbeamten. Die Leitung war in den Händen von Professoren und Studenten. Der Geist war der eines gemäßigten Freisinns. Eines Abends mitten im dichtesten Gedränge, als eben ein Redner die republikanische Bewegung in Baden schmähte, murmelte ich ein Wort des Unmuthes vor mich hin. Man ruft: der Mann soll uns von der Tribüne herab sagen, was er weiß. Schüchtern, weil ungewohnt, in öffentlicher Versammlung zu sprechen, wehre ich mich, aber ich werde durch das Gedränge hindurch halb gestoßen, halb getragen. Nun schildere ich zuerst, was ich auf meinen Streifzügen in Baden gesehen und gehört hatte, und entwerfe sodann mit kecken Zügen ein Programm der Politik. Das Parlament in Frankfurt wähle vor allen Dingen einen General und stelle das Militär sämmtlicher deutschen Staaten unter seinen Oberbefehl. So im Besitze der Macht, entwerfe es die deutsche Verfassung, und diese könne nur die Republik sein, welche allein die Einheit und Kraft des Ganzen mit der nöthigen Selbstständigkeit der einzelnen Glieder und Stämme zu verbinden im Stande sei. Nun furchtbare Bewegung im Saale! Indignation von der einen, Zujauchzen von der anderen Seite. Der allgemeine Tumult übertönt die Glocke des Präsidiums. Dieses nimmt den Hut und verläßt den Saal, ihm nach die Gleichgesinnten, etwa die Hälfte der Versammlung. Als das Strömen und Laufen aufgehört hatte, lade ich die Anwesenden zur Gründung eines neuen, demokratischen Vereins ein; er constituirt sich sofort und einige Bogen füllen sich mit Beitrittserklärungen.

Das war denn doch selbst für jene Zeit zu arg. Ein Theolog an der Schwelle des Examens, ein Stiftler, der Zögling einer Staatsanstalt, welche eine Stiftung des Fürstenhauses war – und Leiter eines demokratischen Vereins, der auf den Sturz des Fürstenhauses ausging! Von Stuttgart kam nach einigen Tagen die Weisung: Candidat L. verlasse entweder das Stift oder trete von der Leitung des demokratischen Vereins zurück! Ich erklärte mich zum letzteren sogleich bereit und kündigte sofort im Blatt die Auflösung des Vereins an, aber nur, um ihn am gleichen Abend unter dem Titel „Volksverein“ mit unveränderten Statuten wieder zu sammeln. Ich ging zu Professor Baur, der Mitglied des Stiftsinspectorates war, und fragte, ob man auch so gegen mich einschreiten werde? „Bitte, schweigen Sie von der Sache! Wir sind dieser Dinge überdrüssig.“ So leitete ich den Verein den ganzen Sommer mit ziemlichem Geräusch, und kein Hahn krähte darnach. Unter allem Schwindel, der natürlich mitlief, machte ich damals die Erfahrung, daß der Mensch wächst mit seinen Zwecken, daß man in großen Zeiten Gaben erhält, von welchen man in kleinen selbst keine Ahnung hat, daß, wer von einer großen Idee ganz erfüllt ist, das Unmöglichscheinende leistet. Ich arbeitete nach allen Seiten; es ging Alles so leicht und mühelos von Statten; ich that das Nöthige für das Examen, hielt täglich Vorträge, schrieb Artikel für unser Zeitungsblatt, verfaßte Aufrufe, Adressen dahin und dorthin, schlief nur wenig und befand mich niemals wohler und gesünder, als in jener Zeit.

Gegen Ende August war das Examen; es lief gut ab. Aber was nun? Als die Ergebnisse der Prüfung in der Aula verkündigt waren und in einem Nebenzimmer Jeder auf einem bereit liegenden Bogen einzutragen hatte, was er in der nächsten Zeit treiben und wo er sich aufhalten werde, da fühlte ich mich gar verlassen und einsam. Ich hätte mit Luther, als ihn der Cardinal fragte: „wo willst Du bleiben, wenn der Papst Dich in den Bann thut?“ nur antworten können: „unter dem Himmel.“ Ich wußte nicht wohin und konnte mir auch nicht denken, wo mich Jemand brauchen könnte. Wenn wieder so ein Trupp freudvoll und leidvoll, unter Küssen und Händedrücken abzog und man das alte Burschenlied sang:

„Bemooster Bursche, zieh ich aus,
Behüt dich Gott, Philisterhaus!
Zur neuen Heimath zieh’ ich ein,
Muß selber nun Philister sein“ –

da fiel mir die ganze Schwere des ungewissen Menschenlooses auf’s Herz; eine neue Heimath kannt’ ich nicht, und zum Philister fehlte mir noch ganz die Stimmung. Ich hätte dieses sorgenlose Leben mit all den Anregungen für Geist und Gemüth so gern noch fortgetrieben; ich hätte noch recht lange baden mögen in diesem Strome freier zweckloser Wissenschaft; ich konnte den Gedanken nicht ertragen, auf immer scheiden zu müssen von der lieben Musenstadt, die mir in jeder Beziehung eine alma mater gewesen war, von diesen reizenden Hügeln und Thälern, die mir so vertraut geworden waren.

Ich beschloß, vorläufig die Ferien über noch zu bleiben, und bezog die vacante Stube eines Freundes gegenüber der [325] „Hölle“ mit der herrlichsten Aussicht auf das Neckarthal und die Hügel der schwäbischen Alb. Zum ersten Male empfand ich die Wonne, mich von der Traulichkeit einer eigenen Stube umfangen zu sehen und die Stunden durch keine Seminarglocke mir bestimmen zu lassen. Ich besorgte die Museumsgeschäfte fort, studirte Zeller’s „Geschichte der griechischen Philosophie“ und widmete die Abende der Politik.

In diese Zeit fielen zwei Ereignisse, die über mein künftiges Schicksal entscheiden sollten. Eines Morgens berief mich der Fabrikant Rau von Gaildorf, ein Hauptwühler im Lande, auf die Post. Kaum saßen wir zusammen, so trat der Polizeidirector Meier, Policen-Meier genannt, herein und setzte sich in einiger Entfernung von uns zu einem Glase Wein. Da man damals keine Polizei fürchtete, theilte mir Rau seinen Plan mit. Er wollte das württembergische Oberland von Tuttlingen an revolutioniren, von Dorf zu Dorf Zuzug sammeln und mit ungeheuren Massen gegen Stuttgart ziehen. Hier werde im geeigneten Augenblicke die Republik ausgerufen; Alles sei bereit, der Revolutionsplan von der Stuttgarter Demokratie bis in’s Einzelne entworfen, die Straßen für Aufwerfung der Barricaden bezeichnet etc. Ich erhob Bedenken gegen den Plan, der mir abenteuerlich klang und schwindelhaft schien, aber Rau reiste in blindem Vertrauen auf den Sieg vorwärts in sein Verderben. Ich bestieg sogleich die Post nach Stuttgart, kam dort gerade zu einer imposanten Volksversammlung an, die aber durch die Schuld der Redner kläglich ablief – man merkte ihren Worten die Furcht vor der Polizei an –, und traf dann Abends die Führer der Rauischen Bewegung in einer behaglichen Bierstimmung in einem Wirthslocale draußen vor der Stadt. Ich wußte nun, was ich zu thun hatte. Die Stürmer in Tübingen brachte ich durch meine Schilderung der Situation zur Ruhe, einen Studenten der Theologie, Namens Weihenmeyer, der ausgereist war, um die Gegenden von Reutlingen bis Plochingen aufzuwiegeln, ließ ich durch zwei Freunde, die ich ihm nachschickte, festnehmen, und als der Landtagsabgeordnete Nagel von Balingen in höchster Eile angefahren kam und anfragte, wie wir in Tübingen uns zu verhalten gedenken, Rau sei mit sechshundert Mann in Balingen eingezogen und es sei große Neigung vorhanden, sich ihm anzuschließen, da bat ich ihn, heimzueilen und seine Mitbürger von dem wahnsinnigen Unternehmen zurückzuhalten. Ich fühlte mich ordentlich, der Retter des Vaterlandes zu sein. Ach! wenn das der König wüßt’? Einen Orden glaubt’ ich mindestens verdient zu haben.

Bald darauf kam die erste Reutlinger Volksversammlung. Der Tübinger Volksverein hatte mich zum Sprecher bestimmt. Auf einer Wiese sammelte sich eine unabsehbare Menschenmenge. Auf der Terrasse eines Landhauses waren die Redner aufgestellt. Professor Kapff (Käryx genannt) eröffnete die Versammlung mit einer kernigen und gediegenen Rede und verlangte von ihr ein Mißtrauensvotum gegen die Rechte des Frankfurter Parlaments und eine Zustimmung zu dem Vorgehen der Linken. Allgemeiner Applaus: angenommen! Damit war ich nun aber gar nicht zufrieden. In scharfer Rede kritisirte ich die ganze bisherige Thätigkeit des Parlaments; die Rechte und das Centrum und die Linke seien in gleicher Verdammniß; es seien Schönredner und Doctrinäre, die unter endlosen Reden über allgemeine Grundsätze die Zeit zum Handeln und Organisiren verpaßt und der fürstlichen Reaction Zeit zum Aufathmen gegeben haben. Das Parlament müsse abberufen und Neuwahlen ausgeschrieben werden, aus ihnen werde friedlich und groß die deutsche Republik hervorgehen, deren Bild nun in glänzenden Farben entworfen wurde. Während ich so von der Tribüne herunter sprach, oft unterbrochen von einem nicht enden wollenden Jubel, vertheilte unten wieder ein junger Theologe, Namens Schuster, die berühmte perikleische Rede über die Herrlichkeit des athenischen Freistaates, die wir aus „Thucydides“ übersetzt und als Flugblatt gedruckt hatten, unter die Bauern und Handwerker, die natürlich Nichts davon verstanden. Die Menge war rasend vor Freude; die Mützen fuhren unter endlosem Halloh in die Luft; ein Amerikaner stürzte auf die Bühne und umarmte mich vor allem Volke. Höher konnte der Rausch nicht mehr steigen und zu dämpfen war er nicht mehr. Die Versammlung war zu Ende; man zerstreute sich wieder. Abends hörten Baur und Zeller, welcher Letztere als Baur’s Tochtermann auf Besuch in Tübingen war, durch die geöffnete Thür der „Hölle“ einem Ständchen zu, das mir die Tübinger Demokratie brachte.

Zwei Tage darauf gab der „Schwäbische Merkur“ den Hauptinhalt meiner Rede mit dem deutlichen Fingerzeig wieder, daß man solche gefährliche Leute eigentlich hinter Schloß und Riegel setzen sollte. Die erschrockenen Eltern, die auf diesem Wege die erste Kunde von meiner politischen Thätigkeit erhielten, schickten sogleich meinen Bruder Theodor ab, um mir ernstlich an’s Herz zu reden. Als sein schwerer Tritt in der Morgenfrühe die Treppe heraufkam – ich lag noch im Bette – dachte ich einen Augenblick: „Wenn es die Polizei wäre, die dich verhaften will!“ Närrischer Gedanke! Was ich gesagt und gethan hatte, das hatten bis dahin tausend Andere auf Straßen, in Parlamenten, in Volksversammlungen, in der Presse gesagt und gethan. Die volle Redefreiheit war garantirt und bisher beschützt worden. Stand ich nicht mit dem Policenmeier auf dem besten Fuße und hatte mit ihm beim Glase Wein oft und viel politisirt? Und sollte mein noch so junges Verdienst um die Rettung des Vaterlandes schon vergessen sein? Und doch war die Furcht nicht ohne Grund. Seit der Rau’schen Schilderhebung war eine merkliche Wendung in dem Verhalten der Staatsgewalt, ja auch in der öffentlichen Meinung eingetreten. Was vorher als unschuldig hingegangen war, wurde jetzt notirt. Doch blieb ich arglos und lachte der Gefahr.

Als zwei befreundete Abgeordnete der Ständekammer, Stockmaier und Pfäfflin, in Landtagsgeschäften nach Tübingen kamen, luden sie mich ein, mit ihnen nach Stuttgart zu fahren; wenn Gefahr drohe, wollten sie mich unter dem Mantel ihres Mandats verbergen. Ich ging fröhlich mit, logirte im Hause von Verwandten, deren streng loyale und monarchische Gesinnung mir Schutz gewährte, und bewegte mich harmlos im Strudel des Cannstatter Volksfestes, das alljährlich am Tage nach der Geburtstagsfeier des Königs, am 28. September, abgehalten wurde. Aber je länger, je weniger behagte mir die Luft. „Was? Du bist da?“ begrüßten mich viele Bekannte verwundert. Es war mir bald, wie wenn ich von Spionen umgeben wäre. Guckte Jemand durch ein Opernglas, so meinte ich, es sei auf mich gerichtet. Da galt kein Zögern mehr. Ich nahm rasch ein Postbillet nach Hause, und richtig! eine Stunde nach meiner Abfahrt erschien die Polizei im Hause der Verwandten, um nach mir zu fragen. In Tübingen benutzte ich die Haltestunde, Nachts zwölf bis ein Uhr, um auf mein Zimmer zu eilen, einige Sachen zu ordnen und auf den Tisch ein Billet an einen Freund zu legen, der mir meine Habseligkeiten nachschicken sollte. Zu Hause wurde ich herzlich willkommen geheißen; kein Wort des Vorwurfs oder Tadels entschlüpfte den Lippen der guten Eltern, doch merkte ich ihnen wohl an, wie schwer es auf ihnen lag.

Lange sollte mir die Rast im elterlichen Hause nicht gestattet sein. Am folgenden Morgen kam mit demselben Postzuge, der mich gestern gebracht hatte, ein Bote von Tübingen mit der Nachricht, daß in der letzten Nacht die Polizei mir an der Post aufgepaßt, weil sie mich von Stuttgart her erwartet habe; es hätte freilich keine Noth gehabt, denn der Volksverein sei in großer Zahl bewaffnet in einer Nebenstraße zu meinem Schutze aufgestellt gewesen, aber weit weg vom Geschütz mache doch langes Leben. Was war da zu thun? Ich bat den Vater um zwei Kronthaler, packte in eine Botanisirbüchse eine Pistole und ein paar Hemden und nahm in derselben Stunde den Weg nach der Schweiz. „Leb’ wohl, mein Heimathland! auf ewig lebe wohl!“[1]


  1. Mit diesen zwei Kronthalern hat Lang, der in Deutschland niemals wieder dauernd gewirkt hat, seine später mit so vielen Ehren fortgesetzte und abgeschlossene Laufbahn in der Schweiz begonnen, auch ein Beweis für die seltene Thatkraft, welche diesem mannhaften Streiter innewohnte.
    D. Red.




[326]
Blätter und Blüthen.


Winke für die Philadelphia-Reisenden. II. Denjenigen, welche in diesem Frühjahre oder Sommer zur Ausstellung reisen, um ihre Kenntnisse in einem bestimmten auf der Ausstellung vertretenen Fache zu erweitern, gesellt sich eine Schaar von Touristen. Wie groß dieselbe von Deutschland aus sein wird, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Kostenfrage spielt bei uns Deutschen in Beziehung auf solche Reisen noch immer eine größere Rolle, als z. B. bei den überall anzutreffenden Engländern. Die „Kölner Zeitung“ hat neulich einen Anschlag der durchschnittlichen Reiseausgaben eines solchen Philadelphia-Touristen mitgetheilt, der im großen Ganzen durchaus zutreffend, ja in manchen Punkten vielleicht noch zu niedrig gegriffen erschien. Anders mag es sich für Diejenigen stellen, welchen durch nahe Verwandte Reise und Aufenthalt in den Vereinigten Staaten erleichtert wird. Bei der großen Zahl der Deutschen drüben läßt sich immerhin annehmen, daß aus unserem Vaterlande außer Denen, welche lediglich oder vorzugsweise der Weltausstellung wegen hinübergehen, noch Viele die Reise vom deutschen Strande über den Ocean machen werden, um liebe Verwandte wieder zu sehen oder um geschäftliche Beziehungen anzuknüpfen, respective zu erneuern oder zu erweitern. Sie Alle werden außer der Ausstellung ein Stück von Amerika, von amerikanischem Leben sehen und kennen lernen wollen. Der aus Europa kommende Tourist erweitere vor allen Dingen, wenn er seine Reisepläne macht, seine Begriffe von Raum, was nicht so leicht ist, wie man denkt. Der europäische Mikrokosmus – so kann man räumlich von unserem Welttheile im Vergleiche zu Nordamerika sprechen – ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Freilich erleichtert die große Zahl von Eisenbahnen drüben das Reisen, und von New-York nach San Francisco zu kommen, erfordert deshalb eine unvergleichlich geringere Zeit, als z. B. von Paris nach Bagdad, obgleich diese Strecke in gerader Richtung noch etwas weiter ist. Allein man kann doch nicht überall hin mit der Eisenbahn gelangen, und es treten dann Dampfer oder Stages (Omnibusse) an ihre Stelle. Auch diese Beförderungsmittel dienen nach Kräften dem Go-ahead-Princip. Während man auf den Fluß- und Küstendampfern bei äußerst comfortabler Einrichtung mit Galerien, Salons und Schlafgemächern großentheils sehr behaglich reist, kann man dies durchaus nicht von den Stages des Westens und Californiens sagen.

Die Wege sind in den gebirgigen Gegenden, obwohl man sie sich viel hat kosten lassen, noch immerhin sehr mangelhaft. In rasender Eile, im Galopp geht es über Berg und Thal, durch Bäche und Flüßchen, doch sind die Kutscher in der Regel Meister der Kunst des Rosselenkens. Die Wagen gleichen in Californien unseren früheren Diligencen und Eilposten, doch wird man auch an manchen Bahnstationen des Westens zu Fahrten von mehreren Tagen in elende Plankarren gepackt, und man führt darin eine nur durch die Gewohnheit erträglicher werdende Existenz. Im Osten ist Alles schon mehr nach europäischem, das heißt englischem Style geordnet und vervollkommnet. Die Zeit, welche der Reisende sich drüben gönnt, wird maßgebend sein für die Wahl seiner Vergnügungstouren. In erster Linie stehen wohl die Niagarafälle, eventuell mit einem Ausfluge auf dem Ontariosee, den man bis Montreal in Canada ausdehnen kann. Ohne Zweifel werden dahin Vergnügungszüge von New-York, Philadelphia etc. in größerer Zahl als sonst abgelassen werden. Viele scheuen gerade die Benutzung dieser Züge, weil sie alle Unbequemlichkeiten und selbst Gefahren solcher Massentransporte mit sich bringen. Es geht dabei noch weit regelloser her, als bei den sonntäglichen Extrazügen aus unseren größeren Hauptstädten in deren Umgegend. Das Gesetz, die Reglements scheinen in der That an solchen Tagen nur dazu da zu sein, um nicht befolgt zu werden; die Beamten können selbst beim besten Willen keine Ordnung halten.

Im September 1872 wurde bei Cleveland die Ackerbauausstellung des Staats abgehalten. Die Züge, welche von der Ausstellung nach der Stadt abgelassen wurden, waren sämmtlich gegen Abend ohne Einspruch der Fahrbeamten, die überhaupt in Amerika in viel geringerer Zahl vorhanden sind als bei uns, derartig vollgepackt, daß auf den Dächern mancher Waggons fast eben so viele Passagiere saßen und lagen, wie im Innern derselben untergebracht worden waren. Ja selbst auf der Locomotive, wo sich ein glasbedachtes Coupé für den Führer und Gehülfen befindet, hatte sich eine größere Anzahl Passagiere eingedrängt. Als der Zug noch im langsamen Einfahren in den Bahnhof war, sprangen einzelne jener „Deckpassagiere“ auf die Dächer von Wagen, die auf einem Nebengleise feststanden, um so, ohne von der drängenden Menge aufgehalten zu werden, aus dem Bahnhofe zu kommen. Dergleichen Dinge, bei welchen einem deutschen Bahnhofsinspector die Haare zu Berge stehen würden, fallen drüben nicht auf, und wenn den Betreffenden ein Unglück passirt, so haben sie es sich eben selbst zuzuschreiben.

Dem Niagarafalle widme der Reisende einen oder lieber zwei Tage. Es wird ihm leichter werden, seinen Aufenthalt zu verlängern, als zu verkürzen. Wer einmal jene mächtige, einhundertachtundsechszig Fuß hohe smaragdene Wasserwand, erglänzend im Strahle des Tagesgestirns oder geisterhaft beleuchtet vom ungewissen Lichte des Mondes, halb eingehüllt von Gischt und Dampf, geschaut, wer das Donnern und Brausen der in rasender Eile herabstürzenden Gewässer gehört hat, der wird, wenn er auch den wunderbaren Anblick von allen nur möglichen Standpunkten, von dem jetzt zusammengestürzten, vielleicht schon wieder aufgebauten Terrapinthurme, von der den Fluß unterhalb des Falles passirenden Fähre, von der Restauration auf der Ziegeninsel, von der Hängebrücke oder dem Thurme an ihrem Eingange, oder endlich von dem sogenannten Museum auf der canadischen Seite aus, genossen, immer das Gefühl haben, daß er ein Unrecht thue, schon wieder abzureisen. Die Prellerei, welcher man auf Schritt und Tritt in Europa bei dem Beschauen derartiger Naturschönheiten begegnet, findet man in dem durch die Fälle emporgeblühten Orte Niagara Falls nicht; es sind eine Menge guter Hôtels da, die Preise nur ein wenig theurer als sonst; Läden und Bazars bieten eine Menge von Erinnerungen, darunter ausgezeichnete Photographien, feil, ja zur Zeit meines Besuches im Spätsommer 1872 hatte ein biederer Canadier auf der britischen Seite, gegenüber dem Hufeisenfalle, sein Photographenzelt aufgeschlagen, und für acht Dollars wurde jeder Besucher, auf einem Baumstamme sitzend, mit dem grandiosen Falle im Hintergrunde, aus Glas abconterfeit.

In der Hitze des amerikanischen Sommers gewährt überdem der Besuch des Niagarafalles den abgespannten Nerven eine unvergleichliche Erfrischung und Erquickung. Gleiches läßt sich von der Menge Seebäder an der Küste des atlantischen Meeres, dem fashionablen New-York an der Spitze, sagen. Das Seebad Coney-Island kann man von New-York aus täglich mit Hülfe der Pferdebahn erreichen. Die oceanischen Wellen stürmen mit einer Wucht und in einer Höhe gegen den Strand, wie wir sie an unseren Nordsee-Inseln nicht kennen. Aber auch für Den, welcher ruhigere Bäder liebt, ist an der Innenseite von Long-Island gesorgt. Hier, geschützt vor der atlantischen Weltmeerströmung, liegen am grünen, oft bewaldeten Ufer eine Menge viel besuchter sogenannter Watering-Places.

N. L.




Wie man heute die Spalten eines Blattes füllt, das lehrt uns die in Basel erscheinende „Allgemeine Schweizer Zeitung“ in der Beilage zu ihrer Nr. 56. Wir finden daselbst einen längeren Artikel „Das Weib eines Juden. Nach den Aufzeichnungen eines Großneffen desselben für das Feuilleton der ‚Allgemeinen Schweizer Zeitung‘ skizzirt von L. G.“ Die Skizze ist nach Inhalt und Form (wenigstens soweit die angezogene Nr. 56 sie zur Einsicht bringt) nichts als ein durch unwesentliche Weglassungen und Hinzufügungen nothdürftig bemäntelter Abklatsch der schönen Mosenthal’schen Historie von der Tante Guttraud, welche wir in unserer Nr. 2 dieses Jahrgangs unter dem Titel „Aus dem jüdischen Familienleben“ zum Abdrucke brachten – und die „Allgemeine Schweizer Zeitung“ ist dreist genug, dieses durch unser Blatt schon Millionen Lesern bekannt gewordene Lebensbild nicht nur ohne Angabe der Quelle, sondern sogar mit dem lügnerischen Zusatze „für das Feuilleton der ‚Allgemeinen Schweizer Zeitung‘ skizzirt“ wiederzugeben. Man weiß nicht, soll man über die Naivetät, mit welcher dieses publicistische Schmarotzerthum sich in Scene setzt, lachen oder die bodenlose moralische Versumpftheit, welche dieser Fall bekundet, im Interesse der Journalistik beklagen?




Johannes Nordmann, der reichbegabte Dichter und wackere und gesinnungstüchtige Journalist, wurde vor Kurzem zum Präsidenten des hochangesehenen Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“ gewählt. Indem wir von dieser glücklichen Wahl Notiz nehmen, benützen wir die Gelegenheit, denjenigen unserer Leser, die sich für österreichische Belletristik interessiren, die von Nordmann in Wien herausgegebene „Neue Illustrirte Zeitung“ bestens zu empfehlen. Das Blatt zeugt von redlichem Streben und hat sich in kurzer Zeit die Achtung und Werthschätzung seines Leserkreises zu erringen gewußt.




Danksagung. Für die überaus zahlreichen und interessanten Mittheilungen aus dem geistigen Leben der Thiere, welche dem Unterzeichneten aus Anlaß seiner in Nr. 46 (1875) der „Gartenlaube“ ausgesprochenen Bitte aus allen Theilen der Erde zugegangen sind, sagt derselbe hiermit allen Correspondenten seinen ergebensten Dank unter Hinzufügung der Bemerkung, daß das betreffende Buch nicht so rasch erscheinen wird, daß nicht einzelne besonders wichtige Beobachtungen oder Mittheilungen noch Aufnahme oder Verwendung finden könnten.

Darmstadt, 14. April 1876.

Dr. Ludwig Büchner.




Eine Mutter sucht ihren Sohn. Der Schlossergeselle Heinrich Curwy, neunzehn Jahre alt, ist im vorigen Sommer auf der Reise von Berlin über Hamburg nach Wilhelmshafen spurlos verschwunden. Bei allen Behörden Deutschlands ist vergeblich nach dem Verbleib des jungen Mannes geforscht worden. Die unglückliche Mutter setzt ihre letzte Hoffnung zur Wiederauffindung des Sohnes auf die „Gartenlaube“, und wir bitten alle Diejenigen unter unseren Lesern, welche etwa Auskunft über den Heinrich Curwy geben können, uns solche baldmöglichst zukommen zu lassen.




Zu unserer heutigen Abbildung der Marbacher Schiller-Statue (Seite 315) die vorläufige Mittheilung, daß eine Schilderung der Enthüllungsfeierlichkeiten derselben in einer der nächsten Nummern nachfolgen wird.




Berichtigung. Durch einen Zufall sind die Unterschriften zu den Abbildungen im Artikel „Ferienstudien am Seestrande“ von Carl Vogt in Genf (Nr. 16, S. 267) in einem Theile der Auflage verwechselt worden. Wir ersuchen die Leser sie folgendermaßen zu berichtigen. Die Unterschrift der Karte muß heißen:

Karte der Umgegend von Roscoff mit der Insel Batz.

Die Unterschrift der oberen Ansicht:

Fig. 2. Nördlicher Jagdgrund der Naturforscher.

Die Unterschrift der unteren Ansicht:

Fig. 1. Westlicher Jagdgrund der Naturforscher mit der Insel Batz.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.