Zum Ehrengedächtniß Christian Philipp Heinrich Brandt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: J. T. Müller, Johannes Fronmüller, Adolph Stählin
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zum Ehrengedächtniß eines treuen Knechtes Christi, des hochhwürdigen Herrn Christ. Phil. Heinr. Brandt, weil. K. B. Kirchenraths, evangel.-luth. Pfarrers zu Kattenhochstadt bei Weissenburg a. S
Untertitel: Dan. 12, 3.
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage: 1
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Joh. Phil. Raw
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Nürnberg
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons, BSB München
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


|
Zum
Ehrengedächtniß
eines
treuen Knechtes Christi,
des hochwürdigen
Herrn Christ. Phil. Heinr.
Brandt,
weil. K. B. Kirchenraths, evangel.-luth. Pfarrers
zu
Kattenhochstadt
bei Weissenburg a. S.
 Dan. 12, 3.

Der Rein-Ertrag ist für das Pfarrwaisenhaus in Windsbach bestimmt.

Nürnberg, 1857.
Joh. Phil. Raw’sche Buchhandlung.
(C. A. Braun.)

|
Druck der U. E. Sebald’schen Officin in Nürnberg.


Inhalt
|
I.
Rede am Grabe des Entschlafenen,
gehalten
am 13. Januar 1857
von
J. T. Müller,
Dekan und erstem Pfarrer zu Windsbach.


Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserm HErrn JEsu Christo! Amen.
Als ich, Geliebte in dem HErrn, beim vorgestrigen Sonntagsgottesdienste die uns alle so hochbetrübende Nachricht, daß der theure ehrwürdige Vater Brandt nach langem Leidenskampfe sanft und selig im HErrn entschlafen sei, meiner Gemeinde mittheilte, welche vordem auch die seinige war und 16 Jahre lang seiner Treue und Hingebung genossen hat, schloß ich solche Verkündigung mit den Worten, welche der heilige Geist durch St. Johannes in der Offenbarung zu uns redet: „Selig sind die Todten, die im HErrn sterben, von nun an; ja der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach.“ Ich wiederhole diese Worte der seligsten Verheißung nun hier an seinem Grabe, zum Troste uns, die wir um den| Heimgegangenen trauern, zum Preise aber der göttlichen Gnade, die ja wahrlich an ihm nicht vergeblich, sondern wirksam wie in wenigen gewesen ist. Denn er war ein frommer und getreuer Knecht, schwachen Leibes so viele Jahre her, aber stark am Geiste, stark in dem HErrn und in der Macht seiner Stärke, wohl geübt im guten Kampf des Glaubens, nimmer müde im Wirken für das Reich Gottes, fröhlich tragend die Schmach und das Kreuz Christi, ein Zeuge und Bekenner der Wahrheit zu einer Zeit, wo Gottes Wort noch theuer war im Lande, hat er durch Wort und Schrift, durch That und Vorangang viele zur Gerechtigkeit gewiesen. Nun ist er im HErrn gestorben und ruhet von seiner Arbeit, aber seine Werke folgen ihm nach und von dem guten Samen, den er unablässig ausgestreut, empfängt sein erlöster Geist die verheißene Segensärndte im Anschauen der Herrlichkeit Gottes seines Heilandes. Es ist nicht meine Aufgabe, von dem Wirken des Vollendeten, von seiner Glaubens- und Geistessaat hier mehr zu sagen; mir liegt nur ob, auf eines seiner Werke, oder vielmehr der Werke Gottes durch ihn, hinzuweisen, auf unser Pfarrwaisenhaus, als dessen Vertreter wir, begleitet von diesen Zöglingen desselben, an seinem Grabe erschienen sind. Ihm hatte Gott den Gedanken in das Herz gegeben, armen Waisen ein Haus zu bauen, wo ihre verlassene Jugend eine Zufluchtsstätte finden und sie nach den Grundsätzen einer wahrhaft christlichen Erziehung zu Kindern Gottes herangebildet werden möchten. Die Theil genommen haben an der Gründung dieses Hauses, die wissen wohl, wie viel Sorge und Mühe, Hingebung und Selbstaufopferung von Seite des Vollendeten dazu gehörte, um diese Anstalt in den Stand zu setzen, in dem sie sich jetzt befindet. Dem großen Meister in solchen Werken,| einem Aug. Herm. Francke, vergleichbar, hat er mit wenigen Groschen einen Bau begonnen, der viele Tausende zu seiner Vollendung erforderte, und der getreue Gott, dem er damit dienen wollte, hat sich zu seiner Glaubensthat bekannt, hat ihn diese Tausende finden und doch noch zwanzig Jahre lang das segensreiche Gedeihen der Anstalt sehen lassen. In diesen zwanzig Jahren haben mehrere Hunderte von armen Waisen dort ihre Erziehung gefunden, sie segnen mit uns das Andenken des Vaters und Freundes ihrer Jugend, sie halten seinen Namen in Ehren, sie bitten mit uns den HErrn, ihm nun vor seinem Angesichte die Verheißung zu erfüllen: „Was ihr gethan habt einem der geringsten unter diesen, das habt ihr mir gethan.“ Es war ja freilich unser sehnlicher Wunsch, das freundliche Angesicht des Vielliebenden und Vielgeliebten, der eben sowohl ein Mann unter Männern, als ein Kind unter Kindern zu sein vermochte, noch einmal wenigstens in unsrer Mitte zu sehen, aber unsere Gedanken waren nicht Gottes Gedanken. Das betrübt, das schmerzt uns, doch nicht ohne daß wir zugleich dem HErrn danken sollten, daß Er ihn erlöset hat von allem Uebel und ihm ausgeholfen zu seinem himmlischen Reiche. Unser Verlust ist sein Gewinn, sein ewiger seliger Gewinn geworden, denn

Sein Jammer, Trübsal und Elend
Ist kommen zu einem seligen End,
Er hat getragen Christi Joch,
Ist gestorben und lebet noch. Amen.



|
II.
Leichenpredigt
über
Psalm 119, 76:
vom Trost der Gnade,
gehalten
von dem Vicar des Entschlafenen
Johannes Fronmüller.

Unser im Frieden entschlafener lieber Bruder in Christo hat den Seinigen einen schriftlichen Abschied hinterlassen, ein für sie hochtheures Erbe, in welchem er über seine Beerdigung folgende Anordnung getroffen hat: „Wenn dann der HErr über Leben und Tod mich aus Eurer Mitte und wie ich um Christi willen hoffe und fest glaube, zu Sich aufnimmt in Sein himmlisches Reich, so wünsche ich, daß man meine Beerdigung so einfach als möglich veranstalte und nach den Worten des 76. Verses im 119. Psalm die Gnade Gottes gerühmt, nichts aber zu meinem Lob gesprochen werde. Denn Gnade, unverdiente Gnade war es, die mich gesucht, getragen, getröstet hat und heimgeholt.“

 So will ich auch ihn nicht loben. Aber loben und rühmen soll und will ich den ewigen König der Ehren, der| Seine Knechte tröstet mit Seiner Gnade, loben und rühmen will ich unsern treuen Heiland und Hirten JEsus Christus, welcher Sich Seine Jünger und Knechte bereitet und erzieht in großer Geduld, welcher sie Sich erzieht in großem, schweren, bittern Kreuz, aber auch durchs Kreuz zieht zu Seiner herrlichen, ewigen Gemeinschaft nach dem Wort, das ER gesprochen: „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“ –

 „Deine Gnade müsse mein Trost sein, wie Du Deinem Knechte zugesagt hast,“ – darein faßte unser seliger Bruder sein Gebet und Flehen zusammen. Und weil dies Flehen erhört worden ist in seinem Leben und in seinem Sterben, weil ihm jetzt JEsus die ewigen Tröstungen und Erquickungen in Seinem himmlischen Reich gibt, so rühmt und preist er seinen HErrn, und wir auf Erden sollen mit ihm rühmen und preisen unsern HErrn nach dem Worte des 119. Psalms,


 Daraus, daß unser lieber seliger Bruder seines Herzens Gebet und Flehen und des heiligen Geistes Zusprache an seine Seele dies Wort sein ließ: „Deine Gnade müsse mein Trost sein,“ und daß er wünschte, man solle JEsum nach seinem Tode dafür loben, weil ER ihn, Seinen Knecht, getröstet habe, geht hervor, wie der theuer Entschlafene trostesbedürftig war und wie seine Seele nach des HErrn Tröstungen Verlangen trug. Wo soll auch Trost süß und mild eingehen, als in einem trostbedürftigen Herzen? Nun scheint es zwar, ja es scheint nicht blos, sondern| es ist gewiß, daß alle Menschen Trostes bedürftig sind, weil sie alle leben in dem Elend und Jammer dieser Welt, weil über alle Herzeleid und Trübsal hereinbrechen in tausendfältiger Gestalt, weil die Zahl der äußern und innern Menschennoth, bis sie endlich der Tod schließt, Legion ist. Aber den Wenigsten ist es gegeben, ihre Bedürftigkeit des Trostes einzusehen und zu erkennen, und sich aus aller Noth und aus allem Elend dieser Welt heraus auszustrecken nach dem Tröster JEsus Christus. Die meisten gehen dahin in allem Leid dieser Erde und bringen es nicht zu dem Leidtragen, worauf der Trost folgt, wie Christus spricht: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Es muß eben, wer getröstet werden will, um am Ende Gott Lob und Dank sagen zu können für Seinen Trost, werden wie jener Mensch in Jerusalem mit Namen Simeon, der fromm war und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels. Und dazu, daß man so werde, ist nothwendig eine rechte Anschauung alles Elends in der Welt, Erkenntniß sein selbst, ein offenes, aufmerksames, treues Auge, das inwendig hineinschaut. Der Blick, den ein treues Auge in sich thut, soll schauen, wie alles Elend der Sünde Schuld und Folge ist, und wie darum alles Elend nur durch den gehoben werden kann, der Sünde tilgt und wegnimmt, nemlich durch JEsum Christ. Wer sich anschaut mit einem Aug geschärft durch JEsu Auge, der wird klein und gering, demüthig und seines Gottes wartend, der wird elend und jämmerlich, arm, blind und blos. Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Die reichen, satten Seelen, deren Augen herumschweifen in der ganzen Welt, alle Nichtigkeiten, Thorheiten, Eitelkeiten dieser Erde anschauen und sich daran weiden, nur nicht den Blick einwärts kehren, zu| viel Erkenntniß kommen, nur nicht zur Erkenntniß ihrer selbst, die bedürfen des Trostes nicht, für die ist er nicht bereitet, die können nicht dafür loben. Aber der, welcher nun befreit und erlöst von allem Jammer bei JEsu Christo ist und Ihn lobt, für Seinen Trost, heiligt und führt sein Lob damit ein, daß er sich bekennt als einen trostesbedürftigen, trostbedürftig in seiner Seele wegen seiner Sünde, trostbedürftig in allem Kreuz seines Lebens, trostbedürftig in aller Verlegenheit und Rathlosigkeit, trostbedürftig in Angst, trostbedürftig im Tod. Und der Trost bleibt nicht aus. Die wirklich Trostbedürftigen finden so reichen, daß sie loben und rühmen, preisen und danken müssen. Denn wer in Erkenntniß seiner Sünde bei sich selbst keinen Rath und keine Hülfe weiß noch findet, der sieht JEsum stehen mit offenem Herz und ausgebreiteten Armen und hört Ihn sprechen: „Kommt her zu mir alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken.“ Wessen Seele über seine Sünde bekümmert wird und aus ihr sich das Davidsgebet ringt: „Tröste mich wieder mit Deiner Hülfe. Tröste mich Gott mein Heiland,“ der kann auch einstimmen: „In der Angst rief ich den HErrn an und der HErr erhöret mich und tröstet mich.“ Dem wird alles Elend, alles Wehe und Bitterkeit dieses Lebens, Krankheit und Kummer zum Kreuz, unter das er sich beugt und unter dem er aufschaut zu dem Vater aller Barmherzigkeit und Gott alles Trostes, der uns tröstet in allerlei Trübsal. Unter den bittersten Schmerzen des Leibes und den herbsten Anfechtungen von innen und von außen singt seine Seele doch das Lied: „Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist doch Du Gott meines Herzens Trost und Theil.“ Und wenn die größte Noth| herankommt, die Todesnoth, wenn vergeht das Gesicht und alle Sinne weichen, so weicht und vergeht doch der Trost nicht, sondern JEsus ist da; und wie eine liebevolle Mutter ihr Kind, das weder reden noch lallen kann, doch versteht, und ihm ihre Worte, die es weder zu hören noch zu fassen scheint, doch hörbar und faßbar macht, so steht ER am Sterbelager und spricht Sein sanftes, seliges Wort: Ich will Dich trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Und wenn nun unser seliger Bruder Trost Gottes erfahren hat von dem ersten Augenblick an, da er angeweht ward vom heiligen Geist, durch all sein Leiden und Streiten hindurch, in aller Mühe und Trübsal des Lebens und zuletzt in Todesnoth, da hat er ganz Recht, daß er verlangt, man solle den loben, der ihm stets nahe und gegenwärtig gewesen mit Seinem Trost; und von seinem Grabe weg solle der und jener nicht ein Wort eitlen Rühmens des Entschlafenen mit hinnehmen, aber vielleicht angeregt werden, seine Seele zu fragen, ob sie nicht auch trostbedürftig sei, ob sie nicht auch trostbedürftig werden wolle, ob sie nicht auch sich wolle trösten lassen mit Gottes Trost, um endlich JEsu danken und Ihn loben und rühmen zu können, weil ER Seine Knechte tröstet.
 Aber nicht blos auf Trost im Allgemeinen weist uns unser Textwort, daß wir ungewiß sein könnten, was es denn für ein Trost sei und welcher Art, was unter dem Trost zu verstehen sei und wie weit er vorhalte im Leben und Sterben. An einen ganz bestimmten Trost sind wir gewiesen, und wer den HErrn recht loben will für Seinen Trost, der muß getröstet werden mit diesem: „Deine Gnade müsse mein Trost sein.“ Damit werden wir hineingeführt| in den Kern und Mittelpunkt alles Trostes, in den Kern und Mittelpunkt unsers Glaubens, hin an den seligen Ort, da JEsus uns Trost erworben, zu Seinem hochheiligen Kreuz, hin zu dem Gnadenstuhl. „Gnade – sagt unser seliger Bruder – unverdiente Gnade war es, die mich gesucht, getragen, getröstet hat und heimholt.“ Sein ganzes Sein und Wirken, Leben und Sterben nahm er also aus Gottes guter gnädiger Hand. Am Rand des Grabes, an den Pforten der Ewigkeit wirft er einen Blick zurück auf sein Leben. Es entschwindet ihm, was er gestritten und erstritten, was er gepflanzt und erbaut, was er trug und litt. Nur Eines sieht er, nur den Gnadenborn JEsu, aus dem ihm sein Leben floß, sein leibliches und geistliches, aus dem ihm zuströmte Gnade um Gnade, Hülfe und Barmherzigkeit, Trost und Erquickung. Zur Gnade nimmt er seine Zuflucht, zur unverdienten, zur Gnade desjenigen, der ihn erkauft hat mit Seinem Blut, der ihn rein gewaschen hat von seinen Sünden, der ihn bereitet hat zu Seinem Werkzeug und einem Gefäß Seines Geistes, der ihm geschenkt hat – wie er selbst schrieb: „Vergebung der Sünde, Leben und Seligkeit, daß ich in dieser Zuversicht meinen Lauf in Frieden vollenden konnte.“ An der Wirkung und Erkenntniß dieser Gnade hebt sein geistliches Leben an. Wie er auszieht zu dem mühevollen Tagwerk seines Lebens, ein streitbarer Held im Panner JEsu mit der Fahne des Glaubens, seine Arme stärkt zum Streit, seine Seele zum Sieg, tritt er hin an die Gnadenquelle JEsu und schreibt sich in sein Herz und auf sein Schild: Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir an Gott haben sollen und werden ohne Verdienst gerecht aus Seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum JEsum geschehen ist. Und – als er heimzieht,| da wird die Todesnacht ihm zur Weihnacht und er eilt zu seinem JEsu, auf daß er durch desselben Gnade gerecht und ein Erbe des ewigen Lebens sei nach der Hoffnung. Ja, meine Brüder, es gibt keinen andern Trost im Leben und im Sterben, als die Gnade, welche unser HErr und Heiland uns errungen in Seinem Leben und Sterben, als die Gnade, welche gewirkt ist durch JEsu allgenugsames Verdienst, als die Gnade, mit welcher der Vater zudeckt all unsere Sünden und uns annimmt zu Seinen Kindern und Miterben Seines geliebten Sohnes. All’ anderer Trost verdirbt und vergeht. Der Menschen und Freunde Trost – ach wie bald und wie oft wendet er sich in eitel Bitterkeit und Harm! Und der Trost an der Arbeit, die man gethan hat, an den Werken, in denen man sich JEsu hingeopfert hat, hält doch nicht Stand! Wenn die Stunde der Anfechtung kommt, und der Angst und des Zagens, tröstet nichts als JEsu Gnade; und in der Todesnoth ist nichts mehr offen, wohin wir uns flüchten könnten, als die Gnadenwunden unsers theuern Heilands. Was soll uns erscheinen zum Trost in der Verlassenheit und Einsamkeit des letzten Kampfes, als die Perlenkrone der Gnade, davon geschrieben steht: „Du krönest sie mit Gnade – Du krönest sie mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Und in der Stunde des Gerichts, was soll uns decken und schirmen, es sei denn der Schild der Gnade, wenn in der Seele vor dem Gerechten und allein Heiligen sich das Wort regt: „Was ist ein Mensch, daß der sollte rein sein, und daß er sollte gerecht sein, der vom Weib geboren ist? Siehe, unter Seinen Heiligen ist keiner ohne Tadel, und die Himmel sind nicht rein vor Ihm!“ Gelobt sei der Gott reich an Gnaden, weil ER unserm seligen Bruder die Erkenntniß geschenkt hat, daß nichts tröstet als Gnade, weil ER| Seinen Knecht reichlich getröstet hat mit Gnade. Gepriesen sei ER, daß wir heute an dem Grabe – wahrlich nicht unserm entschlafenen Bruder zu Ehren, sondern dem Dreieinigen zu Lob und Ehren – sprechen können: Von Gottes Gnade war er, was er war, und Seine Gnade ist an ihm nicht vergeblich gewesen. –
 Und wie ist unser seliger Bruder zu der Gnade gekommen, zu der großen, reichen Gnade? Allein so, daß er sich hielt an Gottes Wort, wie ER Seinem Knechte zugesagt hat,“ allein so, daß er der Verheißung glaubte. Der Glaube ist die Hand, die sich herausstreckt aus allem Jammer und Elend dieser Erde, aus aller Schwachheit und Angst, daß JEsus nach Seiner Zusage sie fülle mit Trost der Gnade, mit Kraft und Stärke. In einfältigem, kindlichen, innigen Glauben hat unser theuer entschlafener Freund Gottes Wort getrieben und in dem Gottes Wort gefunden all’ die seligen Verheißungen, die Er Seinen Knechten gegeben hat, daß ER bei ihnen sein wolle mit Seiner Gnade und mit Seinem ewigen Erbarmen, hat gefunden, wie ER selbst spricht zu jedem Seiner treuen Knechte: „Sei getrost, fürchte dich nicht. Ich bin mit dir. Sei getrost und unverzagt,“ hat gelernt, daß, so hoch der Himmel über der Erde ist, der HErr Seine Gnade walten lasse über die, so Ihn fürchten, hat gelernt, daß ER, der uns beruft, treu ist, und daß was ER zusagt, ER auch gewißlich halte. In dem Glauben ist er seinem Heiland nachgegangen und hat treulich gebetet sein: „HErr, erbarme Dich meiner.“ In dem Glauben hat er mit Gott gerungen und Ihn nicht gelassen, ER segnete ihn denn; hat Ihm vorgehalten Sein Wort, Seine Verheißungen,| Seine Zusage, durch die ER selbst sich gebunden hat gegen uns, hat getrost gehofft und geglaubt, daß Der nicht lügt, sondern daß es gehen müsse nach Seiner Zusage, und daß erfüllt werden müsse unser Gebet: „Deine Gnade müsse mein Trost sein, wie Du Deinem Knechte zugesagt hast.“ In dem Glauben hat er sich geworfen seinem Heiland zu Füßen und an die Brust; in dem Glauben hat er sich eingeschlossen in seines Erlösers Herz. In dem Glauben hat er das Lied seiner Wallfahrt sein lassen, welches er sich bestimmte zu seinem letzten Lied auf Erden: „HErr, mein Hirt, Brunn aller Freuden! Ich bin Dein, Du bist mein, Niemand kann uns scheiden. Ich bin Dein, weil Du Dein Leben und Dein Blut mir zu gut in den Tod gegeben. Du bist mein, weil ich Dich fasse und Dich nicht, o mein Licht, aus dem Herzen lasse.“
.
 In dem Glauben an Gottes Zusage ist er hingegangen, hat gekämpft und gesiegt. Aus dem Glauben an Gottes Zusage ist ihm gekommen Friede und Ruhe in die Seele, Freude und Trost ins Gemüth. Im Glauben an Gottes Zusage ist er dahingefahren gleich der stillen, sanften Abendsonne, die ihr Tagewerk vollbracht hat und gesegnet hat auf ihrem ganzen Lauf. Doch nein! mein lieber, seliger Vater! Ich soll dich ja nicht loben. Dein Glaube, dein Friede, deine Freude war nur ein schwaches Gegengrüßen gegen die viel tausend Grüße, mit denen dich dein gnädiger Tröster JEsus Christus erquickt und gesegnet hat. Aber nun ist dein Glaube gewandelt in’s Schauen! Nun stehst du vor Gottes Thron und schaust Ihn, den du geglaubt, geliebt und bekannt hast dein Leben lang! Nun nimm deine ewige Harfe und stimme ihre Saiten zu den Tönen des Liedes: „Ich will singen von der Gnade des HErrn ewiglich und seine Wahrheit verkündigen| mit meinem Munde für und für, und sage also: daß eine ewige Gnade aufgehen wird und du wirst deine Wahrheit treulich halten im Himmel.“ Nun bestätige dein zum Schauen gewordener Glaube, was Millionen schon bestätigt haben, daß JEsus treu ist, und daß Seine Verheißung, wie ER Seinem Knechte zugesagt hat, in Ihm Ja und Amen ist. –

 Und wir, meine Brüder?! Ihr meine älteren hochwürdigen und ehrwürdigen, geliebten Brüder, habt in hundert Fällen erfahren, daß nichts trösten kann, als Gnade, Gnade ergriffen im Glauben, der sich an Gottes Zusage hält, und daß unser Glaube der Sieg ist, welcher die Welt überwindet. Wie es dem seligen Knecht verheißen war, so ist auch uns verheißen, daß Gottes Gnade uns tröste in aller Noth. Ihr wisset und prediget, daß es darum blos heiße: Fürchte dich nicht. Sei getrost, glaube nur. Glaube deinem Heiland, daß ER bei dir sein, daß ER dir helfen, daß ER dich stärken, daß ER dich trösten wolle. Glaube deinem Heiland, daß ER dich gerecht macht und selig im Leben, gerecht und selig im Sterben, gerecht und selig in der Stunde des Gerichts, gerecht und selig in Ewigkeit! – An dem Grabe stärke sich Euer Glaube! Inbrünstiger werde in Euren Seelen das Gebet: „Deine Gnade müsse mein Trost sein, wie Du Deinem Knechte zugesagt hast.“

 Wir, meine lieben jüngeren Brüder im Amt, wollen aus dem Leben des selig Entschlafenen lernen, treu, eifrig, gehorsam, demüthig, geduldig und deß gewiß sein, daß Gottes Gnade nicht ausbleibt. Wir wollen lernen, daß es nichts höheres und nichts besseres weder im Himmel noch auf Erden gibt, als JEsum im Herzen zu tragen, und daß es nach dem die größte Freude auf Erden ist, schauen zu| dürfen, wie die Saat, die man ausgestreut hat im Glauben, wenn gleich in Kummer und Thränen, doch aufgeht, schauen zu dürfen, wie auf dem Lebensbaum, den man hat mitbegießen dürfen, eine Frucht nach der andern reift und zeitigt, eine Frucht nach der andern süß und mild und angenehm wird Gott und den Menschen. –

 Du Gemeinde des Entschlafenen! der ich an seiner Seite und bis in die letzten Wochen in seiner Gegenwart das Evangelium verkündigt habe, schaue an das Ende deines seligen Hirten! Lerne von ihm, daß es einen Trost gibt in Lebens- und Todesnoth, einen gewissen, seligen, ewigen Trost – die theure Gnade JEsu Christi!

 Ihr, meine Lieben! Du Schwester und Ihr Töchter meines seligen Pfarrherrn! Was soll ich Euch noch sagen nach dem herrlichen Trost, den Euch Euer entschlafener Vater gegeben hat? – Preßt der Schmerz aus Eurer Seele das Wort: „Vater und Mutter verlassen mich,“ so füge der Glaube hinzu: „Aber der HErr nimmt mich auf.“ Wills Euch hier bange werden, daß Eure Seele fragt: „Weß soll ich mich trösten?“ Hofft auf den HErrn! Seine Gnade, die Eures seligen Vaters Trost gewesen ist, müsse Euer Trost sein Euer Leben lang! Haltet Euch an Gottes Wort und Zusage, und ER, der treu ist, hat’s ja gesagt: Ich will dich nicht verlassen, noch versäumen.“

 Du aber, o HErr JEsu! mein höchster Trost! Dein bin ich todt und lebendig. Leb’ ich, so leb ich Dir. Sterb’ ich, so sterb ich Dir. Du hast mir durch Dein Blut das ewige Leben erworben. Erhalte mich in Deiner Liebe. Umfahe mich mit Deiner Gnade! Laß mich Dein Eigenthum sein hier zeitlich und dort ewiglich. Amen.


|
III.
Lebenslauf,
verfaßt von dem Schwiegersohne des Entschlafenen,
Adolph Stählin,
Pfarrer zu Tauberscheckenbach bei Rothenburg a. T.

Christian Philipp Heinrich Brandt,
ist geboren am 19. December 1790 in Kloster Auhausen, einem bei Oettingen gelegenen, durch die daselbst im Jahre 1608 abgeschlossene Union protestantischer Fürsten bekannten Dorfe. Sein Vater war Johann Daniel Brandt, Pfarrer zu Kloster Auhausen und Senior des ehrwürdigen Wassertrüdinger Capitels, seine Mutter Anna Regina, die Tochter des Wildmeisters Griesmeier zu Auhausen. Er war der einzige Sohn unter 7 Kindern, und wurde durch die heilige Taufe am 21. December der christlichen Kirche einverleibt. Die Pathenstelle vertraten Felix Hieronymus Hinkeldey, fürstlich Oetting’scher Pfarrer zu Dornstadt und Philipp Thomas Schäfer, Wildmeister zu Fischbach. Das Kind stammte aus einem geistlichen Geschlechte in zwiefachem Sinne. Vater und Großvater waren Pfarrherrn, der erstere 30, der andere 20 Jahre in seinem Geburtsorte und beide rechtschaffene Diener des| Evangeliums, der erstere namentlich ein salbungsvoller Prediger. Seine Mutter war eine im Gebet geübte, in Gottes Wort bewanderte – wie sie denn den Psalter, die Sprüche Salomonis und mehrere andere biblische Bücher auswendig konnte – aus den alten guten Erbauungsbüchern unserer Kirche, einem Arndt und Scriver, geistlich genährte, in den Kernliedern derselben lebende und webende Frau, die in ihrer herzlichen Einfalt durch Vorbild und Ermahnung einen tiefen Eindruck auf des Knaben Seele machte.

 Mit dieser geistlichen Weihe, die so seinem frühsten Leben zu Theil wurde, verband sich bald die Gewöhnung an den Ernst und mancherlei Entbehrung des Lebens. In Folge der Kriegsjahre und besonderer häuslicher Verhältnisse war die Lage seiner Eltern großentheils eine kümmerliche und sorgenvolle. Er lernte das Joch tragen in seiner Jugend.

 Den ersten Unterricht genoß er bei seinem treuen Vater und einem ebenso treuen Lehrer, der jede Schule mit einem ernsten Gebete aus dem Herzen begann und schloß. Man dachte nicht anders, als der Knabe werde mit seinem künftigen Berufe in die Fußstapfen des Vaters und Großvaters treten. Mit seinem 9. Jahre wurde er in solcher Absicht auf die lateinische Schule zu Oettingen gebracht, mit welcher ein Lyceum verbunden war, so daß er daselbst bis zum Abgang auf die Universität bleiben konnte. Hart war dieser erste Anfang, von seinem 14. Jahre an gab er Privatunterricht, nicht wenige Bücher hat er sich wörtlich abgeschrieben, um sie sich nicht anschaffen zu müssen.

 Ostern 1809 bezog er die Nürnbergische Universität Altdorf, nachdem er zuvor fast auf das theologische Studium| wegen geringer Aussicht auf den erforderlichen Unterhalt hatte gemeint verzichten zu müssen, und nahe daran gewesen war, unter das Militär zu treten, wo sich dem wissenschaftlich Gebildeten damals sehr günstige Aussichten eröffneten. Gottes Wille, menschlicherseits vor allem die Gebete seiner Mutter verhinderten solches – er sollte ein anderer Streiter werden, unter einer andern Fahne kämpfen lernen. Eine merkwürdige Führung gleich Anfangs war bezeichnend für den Weg, den er jetzt und ins künftige gehen sollte. Ein Anverwandter hatte ihm eine monatliche Unterstützung versprochen, und nächst dem Vertrauen auf Gott gewährte diese, wie es schien, sichtbare Hülfe, Muth und Freudigkeit zur Ausführung des Vorhabens. Aber schon nach 2 Jahren nahm derselbe in Folge einer Verheirathung sein Versprechen zurück. Es war ihm dies ein harter Schlag, der ihn jedoch frühe lehren konnte, nicht Fleisch für seinen Arm zu halten, sondern seine Zuversicht zu setzen auf den lebendigen Gott, der den Seinen hilft. Dies Vertrauen betrog ihn auch nicht. Noch im Herbste 1809 konnte er von Altdorf nach Erlangen übersiedeln. Bei der damals fast ausnahmslos herrschenden Dürre auf dem Gebiete der Theologie und der zum Theil höchst unfruchtbaren Weise des theologischen Studiums konnte das väterliche und mütterliche Erbe einer gesunden Frömmigkeit in dem Jünglinge gerade keine besondere Bereicherung finden, genug, daß es nicht gefährdet und verschleudert wurde. Seinen Studien selbst lag er mit dem größten Fleiße ob – wie denn Fleiß und Ausdauer ein Grundzug seines Wesens war und blieb – und verließ im April 1812 die Universität Erlangen.
.
 Mit Freudenthränen nahmen die Eltern den nun 22jährigen Sohn nach glücklich in Nürnberg bestandener| Prüfung auf. Das erste Jahr brachte er bei seinem Vater zu dessen Aushülfe zu, verließ aber dann das älterliche Haus, weil seine damals noch schwächere Brust der großen Kirche in Auhausen nicht gewachsen war, und weilte in diesen Erstlingsjahren als Pfarrverweser in oder doch nicht fern von dem Thale, in welchem er als müder Greis seinen Lauf schließen sollte, in Wettelsheim, Solenhofen und Heidenheim. Unter mancherlei Anfechtungen, in der Schule des heiligen Amtes selber, namentlich der Seelsorge und des Krankenbettes entfalteten sich die früh in ihn gepflanzten Keime zu tieferem Glaubensleben. Mit erstarkter Gesundheit und reifender Amtserfahrung kehrte er zum Vater zurück im Herbst 1814. Schon nach 4 Tagen ging aber der gute Vater im 62. Lebensjahre zu seiner ewigen Ruhe ein, nachdem er zuvor die Stunde seines Todes pünktlich genau vorausgesagt hatte, wie er denn durch eine besondere Wahrnehmung immer auch vorher wußte, wann eines seiner Gemeindeglieder heimgeholt wurde.  Schon 14 Tage nach des Vaters Tode wurde er von dem Fürsten von Oettingen-Spielberg auf dessen Stelle präsentirt und es schien sich so fügen zu wollen, daß er in Auhausen Pfarrer wurde als der dritte eines und desselben Geschlechtes in ununterbrochener Folge. Wie auffallend zeigte sich aber hier der in seinem Leben so oft wiederkehrende schmerzensreiche und doch immer selige Widerstreit von Gottes Gedanken gegen unsere Gedanken! Das Präsentationsrecht wurde vom Könige bestritten, drei Jahre verzog sich der Prozeß, während dessen er mit Mutter und zwei Schwestern von dem geringen Verwesersgehalte lebte; und zuletzt bekam er trotz aller Bemühung von Seiten der Gemeinde die ersehnte Stelle doch nicht, da Auhausen königlich besetzt wurde. Dafür wurde ihm aber die Pfarrei| Bettenfeld bei Rothenburg a/T. zu Theil, von welcher der neue Pfarrer in Auhausen herkam.

 Mit dem an Abraham ergangenen Worte des HErrn: „gehe aus deiner Freundschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen werde,“ nahm er Abschied von der Gemeinde, deren geistliche Versorgung 53 Jahre lang einer Familie, ihm selbst, Vater und Großvater übertragen war und zog am 17. Juni 1817 mit Mutter und Schwestern in Bettenfeld auf. Die Zeit seines dortigen Aufenthalts, im Ganzen 5 Jahre, war für ihn und seine Gemeinde an geistlichem Segen und geistlicher Freude reich. Er genoß Liebe und Vertrauen der Gemeinde im seltensten Maaße, trat zu ihr in innige seelsorgerliche Verbindung, suchte schon damals durch Verbreitung guter Bücher geistliches Leben zu wecken und zu fördern, wie er denn selbst reichen Segen zog aus dem Umgang mit dem ehrwürdigen Dekan Bucher in Insingen, aus dessen Bibliothek er anfing, mit den vergrabenen Schätzen einer gottgelehrten Weisheit in den Schriften der alten Lehrer unserer Kirche bekannt zu werden, was für ihn und seine ganze spätere Wirksamkeit von der größten Bedeutung war. Mit Dank und Wonne blickte er noch oft in mancher spätern Stunde seines Lebens auf diesen schönen, Glück verheißenden Morgen seiner Arbeit im Weinberge des HErrn zurück.

 Im darauf folgenden Jahre, am 18. September 1818 trat er in den heiligen Ehestand mit Jungfrau Friederike Luise Steurer aus Niederoberbach bei Ansbach, die ihm in Bettenfeld zwei, im Ganzen fünf noch lebende Kinder gebar, und ihm um 10 Jahre früher in die Ewigkeit vorangegangen ist.

 Nach 5 Jahren verließ er Bettenfeld unter schmerzlichem| Abschied für ihn und die Gemeinde, die ihm ihre Liebe und Anhänglichkeit noch auf die rührendste Weise bezeugt hatte und ihn auch heute noch nicht vergessen, und bezog am 27. April 1822 mit Gattin und zwei Kindern unter Gottes Geleite die zweite Pfarrstelle zu Roth am Sand.  Mit regem Eifer wirkte er hier für Kirche und Schule, besonders auch für letztere hatte er in Roth ein reiches Feld der Thätigkeit. Er stiftete hier einen Verein zur Verbreitung kleiner Erbauungsschriften, durch welchen er in wenigen Jahren viel tausend Exemplare guter Schriften verbreitete und der später von seinen Freunden fortgeführt wurde. Er faßte von nun an überhaupt das Bedürfniß nicht blos der ihm anvertrauten Gemeinde, sondern der ganzen Kirche ins Auge. Traurig genug sah es dazumal großentheils unter Hirten und Heerden aus durch Abwendung vom Glauben der Väter. Schon seinen ehrwürdigen Vater hatte der Jüngling oft mit Wehmuth klagen hören über die unter den Geistlichen um sich greifende Neologie. Seitdem war es noch schlimmer geworden. Lautre Predigt des göttlichen Wortes ward selten gehört, und nicht wenige, statt Wächter und Hirten des Volks zu sein, legten es wie geflissentlich darauf an, christliches Leben und christliche Sitte in demselben auszurotten. Sein treues Herz trauerte über den tiefen Schaden der Kirche. Mochten einzelne in vereinzelten Bestrebungen auch mit Macht dem hereingebrochenen Verderben sich entgegensetzen, es mangelte an einer Vereinigung streitbarer Kräfte gegenüber dem allgemeinen Sturmlaufen wider die Grundlagen unseres Glaubens. Da ließ es ihn nicht länger mehr ruhen. Hatte ja Gott dem theuern Manne einen bewundernswürdigen, rastlosen Trieb ins Herz gepflanzt, zu wirken| und zu schaffen für Sein Reich, wo und wie er nur konnte. Er ließ ihn auch jetzt das rechte Mittel finden, der schweren Kirchennoth zu steuern.
.
 Aus der tiefen Empfindung dieses Nothstandes, den er auf betendem Herzen trug, erwuchs das homiletisch-liturgische Correspondenzblatt, von welchem vom Jahre 1825 an bis zum Jahre 1838 im Ganzen 14 Jahrgänge erschienen, das erste Blatt, wenigstens das erste von irgend tiefer greifendem Einfluß, das sich entschieden zu Christo bekannte und der neuen, glaubensleeren Richtung offene Fehde ankündigte. Nähere und entferntere kirchliche Angelegenheiten wurden darinnen im Lichte des Glaubens besprochen, vorhandene Schäden ohne Schonung aufgedeckt, dem Greuel der Verwüstung mannhaft entgegengetreten, die Heilsbrunnen des göttlichen Wortes und die Schatzkammern unserer Kirche in ihren Lehr- und Erbauungsbüchern mit begeistertem Eifer aufgeschlossen. Eine Schaar treuer Zeugen sammelte sich, ihr Zeugniß schallte wie heller Posaunenruf über die verödeten Gefilde der Kirche, weckte die Schläfer, kräftigte die Unentschiedenen, tröstete die Vereinsamten, schreckte die Feinde. Wohl in keinem andern Blatte ist die alte Wahrheit gegen die aufgekommene Menschenweisheit in so scharfen, schneidenden Gegensatz getreten als in diesem. Zeiten des Uebergangs und neuer Entwickelungen bedürfen solcher Entschiedenheit. Wie viele sind gerade durch dieses Blattes klaren, überzeugungsvollen Ton, durch seine siegesgewisse Entschlossenheit zum geistlichen Leben, zum geistlichen Kampf für Christi Sache aufgerufen worden! Es wehete in ihm der frische, warme Hauch eines ersehnten Frühlings, welcher nach langem Winterschlafe in unserer Kirche sich zu regen begann, zu dessen Feier edle Kräfte in der Nähe und Ferne einmüthig| sich verbanden, über dessen Anbruch Freude sich kund gab auch über die Grenzen Deutschlands, ja über die Schranken des evangelischen Bekenntnisses hinaus. So bezeugte einmal dem Heimgegangenen ein Leser des Correspondenzblattes in Liverpool seine Freude über dasselbe unter Zusendung eines namhaften Geschenkes, und ein edler römischer Christ, als Schriftsteller berühmt, dem Christus das erste und Rom das zweite war, begrüßte es in einem Briefe an den Herausgeber als die anbrechende Morgenröthe besserer Zeiten innerhalb der evangelischen Kirche.

 Schriftlich und mündlich hat der Heimgegangene in seiner Demuth oft bekannt, daß er bei dieser ganzen Arbeit für Christi Reich nichts anderes sein wollte als ein geringer Handlanger. In der That war er der einigende und leitende Mittelpunkt von Bestrebungen, die an der Belebung, ja Wiedergeburt unserer Landeskirche, an Förderung christlichen und kirchlichen Lebens in deutschen Landen überhaupt den entschiedensten Antheil hatten. Er war es, der die Verantwortung des ganzen Werkes übernommen und um desselben willen Verkennung, Schmach und Anfeindung in unglaublichem Maaße erduldet hat. Er trug sie gerne – wie oft hat er Gott darum gepriesen – zum Heile seines inwendigen Menschen, es war ja Christi Schmach. Es ist vieles seitdem anders, besser geworden. Aber unvergeßlich bleibe uns jene schöne Zeit, da der Entschlafene und seine ehrwürdigen Mitstreiter, die nun auch allmählig einer nach dem andern vom Schauplatze abtreten und sich zur Ruhe legen, mit unerschrockenem Zeugenmuthe im Namen des HErrn das Panier des alten Christenglaubens aufwarfen, mit scharfem Schwerdt und kühnem Hammer in ritterlichem Kampfe den Bollwerken einer falschen Aufklärung und seichten Vernunftgläubigkeit entgegen traten.

|  Theils allein, theils in Verbindung mit Freunden gab er noch so manche andere Schriften heraus, unter welchen seine beiden Predigtbücher, namentlich das Evangelienpredigtbuch wohl die bedeutendste ist, welch’ letzteres, in klarem, einfältigen, warmen Tone dem Volke die seligmachende Wahrheit verkündend, durch 6 Auflagen die größte Verbreitung gefunden hat, auch bis nach Polen und Rußland gedrungen ist.  Am 8. September des Jahres 1831 verließ er seine Rother Pfarrgemeinde, die noch am Scheidewege ihn dringend gebeten hatte, doch ja einmal als ihr Dekan zu ihr zurück zu kehren, um nach Windsbach, dem eigentlichen Mittelpunkt seiner geistlichen Amtsthätigkeit und allgemein kirchlichen Wirksamkeit, als Dekan und Distriktsschulinspektor überzusiedeln. Schien er hier auch Anfangs die offene Thür nicht zu finden für sein geistliches Wirken, wie in seinen früheren Gemeinden, hatte er hier besondere Schwierigkeiten wohl auch in Folge von außen kommender Einwirkung auf seine Gemeinde zu überwinden; so gelang es doch einer nachhaltigen seelsorgerlichen Liebe, einer rastlosen Thätigkeit nach allen Seiten hin, dem Nachdruck reiner Lehre, dem Vorbild heiligen Lebens eben so sehr, ein Verhältniß des Vertrauens zu begründen, auf dessen Grundlage er gerade hier viel Ersprießliches wirken sollte. Windsbach hat ja mehr als ein Denkmal seiner Treue und seines Eifers in seinen verschiedenen Aemtern aufzuweisen. Wie er das schwierige Amt eines Dekans geführt, wie der heilige Ernst einer wahrhaft geistlichen Beziehung zu seinen Mitarbeitern mit wohlthuender Milde und persönlicher Hingebung gepaart war, wie er allenthalben sich selbst vergaß und nur den einen hohen Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Amtes ins Auge faßte und um denselben einen lieblichen| Kreis harmonischen Zusammenwirkens zu ziehen wußte, möge hier mehr angedeutet als ausgeführt werden. Wir unterlassen dies um unsertwillen, die wir jenen Verhältnissen so ferne stehen, um des Heimgegangenen willen, der auf jene Zeit zurückblickend die enge Verbindung rühmt, „in welche er mit vielen theuern Amtsbrüdern getreten; denen er aber bei seinen geringen Kräften nicht so viel sein konnte, als er ihnen gerne gewesen wäre.“
.
 So demüthig konnte der Entschlafene sich äußern, weil die Seele all seines Wirkens der Glaube war, der ja sich selbst vergißt und alles von Gottes Macht und Gnade erwartet und eben deßhalb auch Gottes Segen findet. Eine That des Glaubens war es, als er wider die allgemeine Strömung der Zeit mit gleichgesinnten Freunden den unbeweglichen Fels der alten Wahrheit hinstellte, eine Uebung des Glaubens war das ganze Leben des Seligen, der sich ihm bei allem Schaffen und Wirken für Gottes Reich zugleich unter seltenen Trübsalen bewähren mußte. Zu diesem Glauben, in dem er litt und stritt, den er bezeugte und der an ihm sich bezeugte, konnte das Thatzeugniß der Liebe nicht fehlen. Und ein sonderliches Werk der Liebe ist es, um dessentwillen Viele den Namen des Heimgegangenen gesegnet, ein Werk, nicht im Eigenwählen und Eigenwünschen begründet, sondern aus innerstem Drange und persönlichster Erfahrung hervorgegangen. Wir wissen bereits, wie das Leben des Seligen von Anfang an mit den Freuden und Schmerzen des Pfarrstandes tief verwachsen war. Wenige wohl haben neben seiner stillen Herrlichkeit die Sorgen, Mühen, Kämpfe dieses Standes erfahren wie er. So zieht sich denn auch die redliche Sorge für den Stand, in welchem er Gott von seinen Voreltern her diente, durch sein ganzes Leben hindurch. Noch auf| seinem ersten Arbeitsfeld hatte ihn dieselbe zur Stiftung einer Privat-Pfarrwittwen- und Waisen-Unterstützungs-Anstalt geführt, die mehrere Jahre eines recht gesegneten Fortgangs sich erfreute, und führte ihn nunmehr auf den Gedanken, ein allgemeines Waisenhaus für minderjährige Pfarrsöhne zu gründen. Er verbarg sich die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens nicht, besprach sich eingehend darüber mit seinen Amtsbrüdern, rang vor allem, wie er selbst sagt, mit dem HErrn im Gebete und griff dann in Gottes Namen, ein Capital von ursprünglich nicht mehr als 35 Kreuzern in der Hand, das Werk an. Von des edlen Francke’s Sinn und Geist beseelt, durfte er auch Francke’schen Segen schauen, legte am 25. August 1836 in der Kraft und Freudigkeit des HErrn den Grundstein und konnte das Haus am 20. September 1837 einweihen zu einer leiblichen und geistlichen Pflegstätte armer Pfarrwaisen. Längst war der tiefere und köstlichere Grundstein brünstigen Gebets und lebendigen Gottvertrauens gelegt – auf diesem Grunde stehend, möge die edle Stiftung unter Gottes Segen weiter blühen und gedeihen, noch späteren Geschlechtern ein tröstlich und ermunternd Denkmal liebethätigen Glaubens!
.
 Bei einer außerordentlichen Thätigkeit, den vielen Anstrengungen, die ihm seine Amtsgeschäfte, seine schriftstellerischen Arbeiten, die Leitung der von ihm gegründeten Anstalt, seine ausgedehnte Correspondenz, die jährlich nahe an ein Paar tausend Briefe erheischte, seine Sorge für eine große Gemeinde bereitete, den mancherlei Mühsalen seines Lebens darf es uns nicht Wunder nehmen, wenn seine Gesundheit früher brach, als es eine von Haus aus gute und kernhafte Natur hätte erwarten lassen. Auf die Länge war er der vollen Bürde seines Amtes nicht mehr| gewachsen. Im Jahre 1842 ward ihm ein Amtsgehülfe nöthig, im Jahre 1846 trat er auch die Funktionen eines Dekans und Distriktsschulinspektors ab. Er hatte im Dienste des HErrn seine Kräfte verzehrt. Man hat es bei ihm vielleicht übersehen, weil es ihm ganz zur andern Natur geworden war, wie er die schwere Kunst verstand, sich selber abnehmen und ohne Leid andere zunehmen zu sehen. So sah er nunmehr auch gerne jüngere Kräfte an seine Stelle rücken. Er hatte im Ganzen 7 Vikare, von denen einer ihm in die Freude des ewigen Lebens vorangegangen, die wohl alle die Zeit segnen, die sie an der Seite eines solchen Arbeiters und Streiters zubringen durften. Nicht Druck und Qual, sondern herzliche Mitfreude über jede Gabe, jeden Erfolg, den er an seinen Gehülfen im Amte wahrnahm, bereitete ihm das neue Verhältniß und diente ihm eben deshalb zur eigenen Erfrischung.

 Bedurfte er in seinem amtlichen Leben der Unterstützung Anderer, so waren ihm die mancherlei Leiden seines häuslichen Lebens eine unausgesetzte Mahnung, Stütze und Trost bei der rechten Quelle der Gnade Gottes in JEsu Christo zu holen. Hat er sie Andern so reichlich geöffnet, so durfte sie ihm selber ungetrübt fließen, und mußte es, wenn er unter den vielen Trübungen seiner irdischen Wallfahrt getrost und unverzagt, des gottgewiesenen Zieles gewiß, seinen Gang weiter gehen sollte. Am 7. Juni 1846 wurde ihm die treue Lebensgefährtin entrissen, von langwieriger Krankheit durch einen sanften, seligen Tod erlöst, nachdem des HErrn Gnade in der letzten Zeit noch sonderlich sich an ihr verherrlichet hatte.

 Von nun an sollte sein Leben zum großen Theil recht eigentlich die Todesgestalt tragen, aber auch ein unausgesetzter Preis sein des Gottes, der da hilft und vom Tode| errettet, der Sterben und Leben Seines Sohnes an Seinen Knechten auch leiblicher Weise offenbart. Oft war er bedenklich krank; mehr denn einmal dem Tode nahe; mehr denn einmal hatten theure Freunde, wie sie glaubten, schon den letzten Abschied von ihm genommen. Wiederholte Badereisen, zu denen er sich entschließen mußte, hatten ihm den gewünschten Erfolg nicht gebracht. Doch half ihm Gott noch im Jahre 1847 wieder so weit, daß er nach reiflicher Ueberlegung und heißem Flehen zu Gott es glaubte wagen zu dürfen, um die zu dieser Zeit gerade erledigte Pfarrei Kattenhochstadt sich zu melden. Auf dem Krankenlager, auf welches er abermals gelegt wurde, überraschte und erfreute ihn die Gewißheit seiner Beförderung dahin. Während Andere zagen wollten, hielt ihn die Hoffnung aufrecht, daß es Gottes Wille sei und Gottes Hülfe auch nicht fehlen könne.

 Es war für ihn und für Viele ein Trauertag, als er Windsbach, die Stätte seines längsten, reichsten und gesegnetsten Wirkens verließ, letzteres um so mehr, als den meisten der Lebenstag des theuern Mannes sich zum Ende zu neigen schien. Am 2. November 1847 bezog er die Pfarrei Kattenhochstadt und wurde mit Liebe von seiner neuen Gemeinde empfangen.

 So wurde dem von vielen Kämpfen des Lebens und Amtes Ermüdeten noch ein schöner Ruhesitz im gesegneten Altmühlthale zu Theil. Sichtlich erholte er sich hier alsobald und noch 9 Jahre hat ihn Gottes Güte den Seinen, seiner Gemeinde, der Kirche geschenkt. In brüderlichem Verkehr mit ältern und jüngern Freunden, die ihn fleißig heimsuchten, in enger Verbindung mit seinen Amtsgehülfen, denen er ein geistlicher Vater und deren Verhältniß zu ihm durch dankbare Liebe und Pietät geweiht war, in seelsorgerlicher| Pflege einer ihm theuern Gemeinde, in trautem, harmonischem Familienkreis durfte dieser Knecht Christi noch einen lieblichen Abend seines reich bewegten Lebens begehen. Man nahete sich ihm so gerne, und gieng erquickt, gestärkt, getröstet von ihm. War er doch eine durch und durch ehrwürdige, patriarchalische Erscheinung, an der alles zeugte von den Mühen und Kämpfen vergangener Jahre, und die zugleich den Frieden und das Morgenroth einer bessern Zukunft auf der Stirne trug.

 Völlig zu ruhen, war ihm freilich unmöglich. An allen öffentlichen und kirchlichen Angelegenheiten jener so tiefbewegten Zeit nahm er den lebendigsten Antheil, suchte selbst noch mit zu rathen und zu thaten, ward gerne mit den Jüngern wieder jung, las viel und bewahrte sich eine seltene Geistesfrische bis zuletzt. Zweimal hat er sein Amt noch allein, das einemal 7, das anderemal 19 Wochen versehen. Einmal hat er auch noch im Eifer für des HErrn Ehre zum Schwerdt gegriffen, als auch sein stilles Thal, in welchem christlicher Glaube und christliche Sitte im Volke noch fester wurzeln als in manchen andern Gegenden unsers Vaterlandes, von verderblicher fremder Irrlehre bedroht war.

 Aber ohne manche sorgliche Schwankungen seines äußern Befindens verflossen ihm auch diese ersten Jahre seiner Ruhezeit nicht. Und diese selbst waren nur das Vorspiel des härtesten Anfalls, den er zu bestehen hatte. Gerade nach seiner besten Zeit wurde er im Herbst 1850 von der schwersten Krankheit seines Lebens ergriffen, die räthselhaft in ihrem Ausgang wie in ihren Erscheinungen, den ganzen Organismus erschütternd, alle Lebenskraft bindend, den herben Kelch körperlicher Leiden ihm vollauf zu schmecken gab. Es war das heißeste Feuer der Anfechtung,| in welches der himmlische Schmelzer ihn noch zuletzt führte, um ihm siebenfach bewährt Seines Reiches ewige Freude zu zeigen. Was hat der theure Mann da nicht erlitten! Ohne Ruhe Tag und Nacht, von den heftigsten Schmerzen gefoltert, erlahmt am ganzen Körper, die Hand nicht ausgenommen, die einst so rastlos gearbeitet und nun untüchtig geworden war auch für die gewöhnlichsten Verrichtungen, mußten wir ihn sehen, eine Leidensgestalt ohne gleichen. Das Herz wollte einem oft genug darob brechen, und doch war es zugleich ein erhebender Anblick, die unbeschreibliche Geduld und Stille schauen zu dürfen, mit welcher er litt. Man dachte an Christi Kreuz und segnete sein Kreuz. Durch eine merkwürdige Verknüpfung dieser Leiden mit andern Heimsuchungen wollte die Noth einigemal eine furchtbare Höhe erreichen, die Last zu schwer werden. Da hat dieser Gebundene des HErrn, ein Held auch bei sinkender Leibeshütte, die Seinen, die verzagen wollten, selber getröstet mit Worten einer Glaubenseinfalt, die gerade in solcher Lage am schwersten zu erringen ist: „Ich habe ja auf nichts ein Recht, es ist alles eitel Gnade und Erbarmung.“ Dieser lautere Gnadensinn, eins mit gottgeschenkter Einfalt, an der sein inwendiger Mensch wuchs, war ein köstlicher Ertrag dieser bittern Trübsal, der sich nach anderer Seite hin auch in der seltenen Gemeinschaft von Glaube, Liebe und Gebet offenbarte, die um den theuern Schmerzensmann sich bildete. Schwester-, Kindes-, Freundesliebe durften hier die schönste Erprobung finden. Viel wurde für ihn gebetet, in der Nähe wie in der Ferne, im stillen Kämmerlein wie in den Gottesdiensten des HErrn. Wir haben ihn uns noch einmal erbeten; der Mann, der am Grabe wandelte und besonders einmal schon ganz dem Tode verfallen zu sein schien, erhob sich trotz unzähliger| Rückfälle durch fast drei Jahre hindurch aus tiefer Schwachheit wiederum, ein Wunder vor unsern Augen, den apostolischen Ruhm an seinem Theile bewahrheitend: „als die sterbenden und siehe wir leben.“
.
 Eben so lange, fast drei Jahre sollte er nun noch an einer Gemeinde, die er liebte und von der er geliebt wurde, einen schönen, stillen, gesegneten Vorsabbath feiern. Er genoß während dieser Zeit ununterbrochen einer guten Gesundheit, sah eine Sorge nach der andern schwinden, eine Freude nach der andern sich bereitet, erfuhr in mehr als einem Stücke die seligste Erhörung brünstiger Gebete. Von seinen beiden in Amerika weilenden Söhnen, von denen der eine als lutherischer Pastor in Alleghany, von seinen Amtsbrüdern geachtet, von seiner Gemeinde geliebt für das Reich des HErrn wirkt, und der andere als Kaufmann eines fröhlichen Gedeihens in seinem Berufe auf Gottes Wegen sich erfreut, durfte er fortwährend die frohesten Nachrichten, die auch seine letzten Tage noch erheiterten, hinnehmen. Am 14. Mai 1856 wurde seiner geliebten jüngsten Tochter und seinem ihm ewig dankbaren Schwiegersohne, der ihm in die sechs Jahre an der Seite stund und Zeuge seiner Leiden und Freuden, seiner Kämpfe und Siege sein durfte, die besondere Freude zu Theil, von des greisen Vaters Hand den kirchlichen Segen zum Bunde der Ehe zu empfahen, um unter Gottes Schirm dem HErrn ein Haus zu bauen in derselben Gegend, in welcher der Vater einst seine Segensbahn angetreten. Bald darauf wurde ihm auf Empfehlung seiner kirchlichen Obern durch die Gnade seines Königs Rang und Titel eines k. protest. Kirchenraths in wohlgefälliger Anerkennung seiner vielen Verdienste um Kirche und Schule zu Theil. So sehr ihn am wenigsten nach äußern Ehren dürstete, so erfreute ihn| doch dieser Beweis des Wohlwollens und der Liebe seiner kirchlichen Obern wie der Huld seines irdischen Königs.

 Wir glaubten nicht anders, als daß Gott dem theuern Vater noch manches Jahr schenken werde, da Er bisher sein Leben so reichlich mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt, seinen Mund von neuem fröhlich gemacht, zu preisen Seine Wunder und ihn verjüngt dem Adler gleich. Denn von außen und innen war der ehrwürdige Greis wieder wunderbar gestärkt, Gesundheit und Wohlsein strahlte aus seinen Zügen, Friede und Freude aus seinem Antlitz. Was ihm lange versagt war, wurde ihm wieder bescheert: so führte er auch wieder rüstig die Feder in Sachen seines Amtes und Hauses, letzteres zu besonderer Erquickung der Seinen. Nochmals durfte er die heilige Stätte betreten, und hat seiner letzten Gemeinde in seiner letzten Verkündigung des Lebenswortes am VIII. Sonntag nach Trinitatis v. J. ein ihr für immer theures Vermächtniß hinterlassen.

 Es war der Abendglanz seines sich neigenden Lebenstages, in welchen die Sonne himmlischer Gnade noch gar lieblich hineinschien, um bald ganz und völlig über ihm in einem andern, im ewigen Leben aufzugehen.

 Ganz unvermuthet wurde er von einem Unwohlsein Anfangs November v. J. befallen. Er äußerte wohl gleich Anfangs, diesmal werde er gewiß sterben, er sterbe aber auch gerne. Doch schien gerade diesesmal ärztliche Hülfe gut anzuschlagen, die Krankheit überhaupt nicht so heftig wie sonst auftreten zu wollen. Sichtliche Erleichterung um die Zeit seines letzten Geburtstages, des 19. December v. J., schien vielen eine begründete Hoffnung der nicht fernen Wiedergenesung zu geben. Doch bald darauf stellten sich große Schmerzen und diesen folgend noch größere Schwäche ein. Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie ihm in| der letzten Woche ganz versagte; das Bewußtsein blieb aber fast vollkommen bis ganz zuletzt. Mit seinen Gebeten und Seufzern vereinigten sich die Fürbitten vieler nahverbundenen Seelen. Es waren vor dem Gott, der allzeit hört das Schreien der Seinen, Gebete um ein seliges Stündlein und eine gnadenreiche Erlösung aus diesem Jammerthal. Es wurde ihm alles zu Theil. Schmerzlos, linde, sanft, selig fuhr er von hinnen zum Lob und Preise Gottes seines Erlösers. Am Freitag den 9. Januar 1857 wurde im Gottesdienste für ihn gebetet; als um eilf Uhr die Glocken zusammenschlugen zum Gedächtniß des Todes, durch welchen unser Tod ein Schlaf und eine selige Heimfahrt geworden, betete mit ihm sein Amtsgehülfe, der mit seltener Treue und Aufopferung ihm gedient bis zum letzten Athemzuge, im Verein mit den Seinen:

O Lamm Gottes unschuldig,
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Allzeit gefunden duldig,
Wie wohl Du wardst verachtet:
All Sünd hast Du getragen,
Sonst müßten wir verzagen.
Erbarm Dich unser, o JEsu!

Er bewegte seine Lippen, neigte sein Haupt und sprach in Todesnoth sein letztes Ja und Amen zu dem Glauben, den er durch sein Leben bekannt. Die Bitte der Seinen um Verzeihung beantwortete er mit Thränen. Er verfiel in einen Schlummer und verschied Nachmittags 2 Uhr, nachdem er nur einige Wochen über 66 Jahre in diesem Erdenthale gepilgert.

 Ein vieljähriger Freund aus der Nachbarschaft war kurz vor seinem Ende gekommen und hat ihn eingesegnet| zum letzten Kampf und ewigen Sieg. Der treue Arzt, der in so viel heftigen Erschütterungen ihm mit seiner Kunst unter sichtbarem göttlichen Segen beigestanden, auch in der letzten Krankheit mit großer Hingebung und Sorgfalt sich ihm gewidmet, kam eben zu seinem Ende und meinte, ein solches Sterben habe er noch nicht geschaut.

 Seine gebeugte und doch getröstete älteste Tochter, seine einzige ihn überlebende Schwester, die ihr Leben in edlem Samariterdienst zugebracht, und auch eine treue Pflegerin durch die Tage seines Alters und alle Plage seiner Krankheiten ihm gewesen, die dem Hause befreundete Wittwe eines früh Heimgegangenen Dieners Christi haben an dem theuern Vater kindliche, schwesterliche, christliche Liebespflicht in seinem letzten Leiden reichlich erfüllt. Seinen beiden andern Töchtern zusammt dem Schwiegersohne war es nicht vergönnt, den Theuern noch einmal im Leben zu sehen. Sie eilten trauernd in das durch Scheiden des Hauptes bitter verwaiste Haus.

 Wie ist uns, wo wir solch ein Leben im Lichte seines Endes, im Lichte der Ewigkeit, von deren Kräften es gesättigt war, von deren Seligkeit es nun erfüllt ist, überschauen! Ein Leben voll sauern Ringens, voll tiefen Kampfes, voll bitterer Trübsal, aber ein Leben zugleich, triefend vom Anfang bis zum Ende von Gottes reichen Gnaden und Erbarmungen, ein Leben, im Glauben gewurzelt, in der Liebe athmend, strömend von Frucht und Segen für Andere! An Tiefe und Reichthum der Begabung, an Fülle und Umfang des Wissens haben ihn viele in diesen letzten Zeiten übertroffen, aber wohl wenige an Treue, an selbstverleugnender, demüthig kindlicher Hingebung an des HErrn Werk und Willen. Unter der geringen Kreuz- und Knechtsgestalt schlug ihm ein Herz, glühend für die| Ehre seines HErrn, wohnte ein Sinn, dem Gut und Ehre dieser Welt tief zu Füßen lag und der alle Stund bereit war, jedes Opfer für Ihn zu bringen. Eine tiefe natürliche Gutherzigkeit war in ihm verklärt zum heiligen Ernst christlicher Liebe; linde und gelassen gegen Jedermann, scharf und strenge nur im Kampf gegen den Feind der Wahrheit, schlecht und recht, einfach und würdevoll zugleich, bescheiden und anspruchslos in allen Stücken, gastfrei ohne Murmeln; ein guter Vater, ein treuer Seelsorger, ein redlicher, wohlmeinender Freund, ehrwürdig im Rathe der Alten, anerkennend und neidlos unter den Jüngern, ein ächter Diener und Kreuzträger JEsu – das war der Dahingeschiedene. Fast möchte man sagen, er hat das Maaß menschlichen Leidens ausgekostet; das heilige Kreuz war sein treuster Begleiter vom Morgen bis zum Abend seines Lebens, in keiner Gestalt ist es ihm fremd geblieben und fast jede hat sich an ihm zugleich bis in die vollste Tiefe ihrer Bitterkeit erschöpft. Doch das Kreuz ist ja das Beste, was wir, wenn nicht auf dieser, so doch von dieser Erde zu erwarten haben. Je größer Kreuz, je schönre Krone. Er selbst rühmte sich am liebsten seiner Schwachheit, höchstens daß der vielgeplagte und viel verkannte Mann noch sprach: „ich habe das Meine nicht gesucht.“ Wer wollte ihm diesen Selbstruhm streitig machen! Er aber verzeihe uns, wenn wir in ein Rühmen gekommen wären, von dem er selbst nie etwas wissen wollte. Alles Rühmen sei ein Ruhm der Gnade des HErrn, der dies schwache Werkzeug erwählt, zu einem Vorkämpfer in seines Reiches Kriegen und Siegen, es geschmückt mit Früchten seines Geistes, es gewürdigt, viel zu leiden um Seinetwillen. Schließt er doch selbst, was er über sein Leben aufgezeichnet, mit den Worten: „Das Liebste wäre mir, wenn mein| Gedächtniß als das eines unnützen Knechtes nach meinem Hinscheiden nur von meinen lieben Kindern und theuern Freunden bewahrt bleiben würde. Wenn die gnädige Hand Gottes meinen Namen nur in das Buch der Begnadigten einschreibt, so gehe ich überaus reich aus der Welt. O wie wohl wird mir sein, wenn ich zu schauen gewürdiget werde, was ich geglaubet habe. Wie will ich da dem HErrn danken, daß er auch mich durch sein Blut erlöset und zu den Seinen gezählet hat! Wie ihm danken, daß er mich wunderbarlich zwar, aber doch seliglich geführt hat! Dich JEsum laß ich ewig nicht! Amen.“

 Wie wohl wird mir sein, hat er oft genug geseufzt unter seinen zahllosen Leiden. Ja wahrlich, ihm ist nun wohl!

 Wir wissen und fühlen es, was wir verloren. Wir rufen ihm ein „mein Vater, mein Vater“ wehmüthig nach ins Grab; wir schmecken aber eben so sehr die volle Süßigkeit des Trostes, den Gott dem Glauben leiht beim Heimgang Seiner Gläubigen. Wir schauen an sein Ende und folgen seinem Glauben nach. Als ächte Kinder eines solchen Vaters haben wir ein Erbe, köstlicher als alles Gold und Silber dieser Welt; wir haben ein edles Vermächtniß in den Worten väterlicher Liebe und kindlichen Vertrauens, mit welchen er längst von den Seinen in steter Todesbereitschaft Abschied genommen. Wir wollen es treu bewahren bis an unser Ende, was er uns gesagt; wir wollen treulich ausrichten, was er uns für Andere aufgetragen. „Allen, die mir wohl gethan haben,“ hat er gesprochen, „und deren Zahl ist groß; allen, die meine Schwachheit mit Geduld getragen, die mit Rath, Hülfe und Trost mir beigestanden, saget in meinem Namen den innigsten Dank;| saget ihnen, daß es mein heißes Flehen in der Todesstunde war, daß der HErr sie segnen möge.“

 Wir loben, preisen und anbeten Gott für alles, was Er an ihm und durch ihn gethan; wir gönnen dem müden Streiter die Ruhe aus tiefster Seele. Er ist nun umfahen vom seligen Frieden der Ewigkeit, von den Liebesarmen seines Erlösers, und wenn einst all unser Hoffen seine herrliche Erfüllung wird gefunden haben, dann wird auch er mit den treuen Lehrern leuchten wie des Himmels Glanz und wie die Sterne immer und ewiglich. Und haben wir jetzt noch ein Gebet, einen Seufzer auf der Seele, so ists das Gebet, in welchem er sich mit uns vereinigt, stehend vor Gottes Thron, in welches die streitende und triumphirende Kirche gleicherweise einstimmt, das da lautet: Komm, ja komm HErr JEsu! Amen.